Der Pakt – Bis dass der Tod euch scheidet - Michelle Richmond - E-Book

Der Pakt – Bis dass der Tod euch scheidet E-Book

Michelle Richmond

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Beschreibung

Alice und Jake, ein frisch verheiratetes Ehepaar, jung, gutaussehend, erfolgreich. Zur Hochzeit erhalten sie eine Einladung, dem »Pakt« beizutreten, mit dem Ziel, ihre Ehe glücklich und lebendig zu gestalten. Die Grundregeln klingen vernünftig: Anrufe des Partners immer annehmen. Häufig zusammen verreisen. Geschenke machen. Warum also nicht dabei sein? Doch schon bald ist klar, sie können dem Pakt nicht mehr entkommen, schlimmer noch, die Strafen für Vergehen sind drakonisch. Ein Treueschwur, der zu einem der schlimmsten Albträume wird.

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Seitenzahl: 648

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Das Buch

Alice und Jake, ein frisch verheiratetes Ehepaar, jung, gut aussehend, erfolgreich. Zur Hochzeit erhalten sie eine Einladung, dem »Pakt« beizutreten, mit dem Ziel, ihre Ehe glücklich und lebendig zu gestalten. Die Grundregeln klingen vernünftig: Anrufe des Partners immer annehmen. Häufig zusammen verreisen. Geschenke machen. Warum also nicht dabei sein? Doch schon bald ist klar, sie können dem Pakt nicht mehr entkommen, schlimmer noch, die Strafen für Vergehen sind drakonisch. Ein Treueschwur, der zu einem der schlimmsten Albträume wird.

»Ein packender Thriller: temporeich, fesselnd und perfekt konstruiert.«

The Sunday Mirror

Die Autorin

Michelle Richmonds Thriller »Der Pakt – Bis dass der Tod euch scheidet« wurde in dreißig Sprachen übersetzt und eroberte die »Sunday-Times-Bestsellerliste«, die Filmrechte sicherte sich 20th Century Fox. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in San Francisco.

MICHELLERICHMOND

DER

PAKT

BIS DASS DER TOD

UNS SCHEIDET

THRILLER

Aus dem Amerikanischen

von Astrid Finke

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 03/2019

Copyright © 2017 by Michelle Richmond

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel The Marriage Pact bei Bantam, New York

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angelika Lieke

Umschlaggestaltung: Geviert, München, Christian Otto unter Verwendung eines Motivs von © Mark Owen/Trevillion

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-20891-2V002

www.diana-verlag.de

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Für Kevin

1

In einer durch die Luft holpernden Cessna komme ich zu mir. Mein Schädel pocht, und auf dem Hemd ist Blut. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist. In der Erwartung, Fesseln vorzufinden, sehe ich auf meine Hände, aber da ist nichts. Nur ein normaler Sicherheitsgurt um den Bauch. Wer hat mich angeschnallt? Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, in das Flugzeug gestiegen zu sein.

Durch die offene Cockpittür sehe ich den Hinterkopf des Piloten. Wir sind nur zu zweit. Auf den Bergen liegt Schnee, Wind rüttelt die Maschine durch. Der Pilot scheint vollkommen auf seine Knöpfe und Schalter konzentriert, die Schultern sind verkrampft.

Ich betaste meinen Kopf. Das Blut ist getrocknet, übrig geblieben ist ein klebriger Fleck. Mein Magen knurrt. Das Letzte, was ich gegessen habe, war der French Toast zum Frühstück. Wie lange ist das her? Neben mir auf dem Sitz liegen eine Flasche Wasser und ein in Wachspapier gewickeltes Sandwich. Ich öffne die Flasche und trinke.

Dann packe ich das Brot aus – Käse und Schinken – und beiße ab. Mist. Mein Kiefer schmerzt zu stark zum Kauen. Jemand muss mir ins Gesicht geschlagen haben, nachdem ich auf den Boden gestürzt bin.

»Fliegen wir nach Hause?«, frage ich den Piloten.

»Kommt darauf an, wo das für dich ist. Wir sind auf dem Weg nach Half Moon Bay.«

»Die haben dir gar nichts von mir erzählt?«

»Vorname, Flugziel, das war’s auch schon so ungefähr. Ich bin hier nur der Taxifahrer.«

»Aber du bist Mitglied, oder?«

»Klar.« Sein Ton verrät nichts. »Treue gegenüber dem Ehepartner, Loyalität gegenüber dem Pakt. Bis dass der Tod uns scheidet.« Er dreht sich gerade lange genug zu mir um, um mich mit einem Blick vor weiteren Fragen zu warnen.

Wir sacken so heftig in ein Luftloch, dass mir mein Sandwich aus der Hand fliegt. Ein durchdringendes Piepsen ertönt. Der Pilot flucht und drückt hektisch verschiedene Knöpfe. Er brüllt der Flugsicherung etwas zu. Wir verlieren schnell an Höhe, und ich umklammere die Armlehnen. Ich denke an Alice und spiele unser letztes Gespräch noch einmal durch. Es gibt so vieles, was ich ihr gern gesagt hätte.

Dann fängt sich das Flugzeug plötzlich wieder, wir steigen höher, und alles scheint in Ordnung zu sein. Ich hebe die Einzelteile meines Sandwichs vom Boden auf, wickle sie in das Wachspapier und lege es auf den Sitz neben mich.

»Sorry wegen der Turbulenzen«, sagt der Pilot.

»Nicht deine Schuld. Gut reagiert.«

Über dem sonnigen Sacramento entspannt er sich endlich, und wir unterhalten uns über Basketball und den überraschend guten Lauf der Golden State Warriors in dieser Saison.

»Welcher Tag ist heute?«, frage ich.

»Dienstag.«

Erleichtert erkenne ich die vertraute Küste vor dem Fenster, bin froh über den Anblick des kleinen Flughafens von Half Moon Bay. Die Landung verläuft glatt. Sobald wir auf dem Boden aufgesetzt haben, dreht der Pilot sich zu mir um. »Lass das nicht zur Gewohnheit werden, okay?«

»Habe ich nicht vor.«

Ich nehme meine Tasche und steige aus. Ohne den Motor abzustellen, schließt der Mann die Tür, wendet das Flugzeug und hebt wieder ab.

Ich setze mich ins Flughafencafé, bestelle mir eine heiße Schokolade und schicke Alice eine Nachricht. Es ist vierzehn Uhr an einem Wochentag, also ist sie wahrscheinlich mit tausend Terminen beschäftigt. Ich will sie nicht stören, habe aber das dringende Bedürfnis, sie zu sehen.

Eine Antwort kommt.

– Wo bist Du?

– Wieder in HMB.

– Fahre in 5 Min. los.

Von Alice’ Kanzlei nach Half Moon Bay dauert es über zwanzig Minuten. Sie schreibt von einem Stau in der Innenstadt, daher bestelle ich mir etwas zu essen, French Toast und Speck. Das Café ist leer. Die muntere Kellnerin in der faltenfrei gebügelten Uniform drückt sich um meinen Tisch herum. Als ich bezahle, sagt sie: »Schönen Tag noch, Freund.«

Draußen setze ich mich zum Warten auf eine Bank. Es ist kalt, der Nebel drückt in Wellen herab. Als Alice’ alter Jaguar schließlich wenige Meter entfernt anhält, bin ich völlig durchgefroren. Ich stehe auf, und während ich mich vergewissere, dass ich alles beisammen habe, kommt Alice auf die Bank zu. Sie trägt ein elegantes Kostüm, hat aber für die Autofahrt Sneakers statt der hochhackigen Schuhe angezogen. Die schwarzen Haare sind vom Nebel feucht. Ihre Lippen sind dunkelrot geschminkt, und ich frage mich, ob sie es für mich getan hat. Ich hoffe es.

Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, um mich zu küssen. Erst da bemerke ich, wie schrecklich ich sie vermisst habe. Dann tritt sie einen Schritt zurück und mustert mich von Kopf bis Fuß.

»Wenigstens ist noch alles dran.« Sanft berührt sie mein Kinn. »Was ist passiert?«

»Weiß ich auch nicht genau.«

Ich schlinge die Arme um sie.

»Und warum wurdest du einbestellt?«

Es gibt so vieles, was ich ihr erzählen will, aber ich habe Angst. Je mehr sie weiß, desto gefährlicher wird es für sie. Außerdem, daran besteht kein Zweifel, wird sie stinksauer über die Wahrheit sein.

Was würde ich dafür geben, alles wieder auf Anfang zurücksetzen zu können – auf die Zeit vor der Hochzeit, vor Finnegan, vor dem Pakt, der unser Leben auf den Kopf gestellt hat.

2

Ich will ganz ehrlich sein, die Hochzeit war meine Idee. Vielleicht nicht der Ort, das Essen, die Musik, all das, wofür Alice so ein gutes Händchen hatte. Aber die Idee zu dem Ganzen, die hatte ich. Ich kannte Alice damals dreieinhalb Jahre. Ich wollte sie unbedingt behalten, und eine Ehe schien mir der sicherste Weg, sie nie mehr zu verlieren.

Alice eilte nicht unbedingt der Ruf der Beständigkeit voraus. In jungen Jahren war sie wild gewesen, impulsiv, manchmal zu schnell von einem flüchtigen Glanz angezogen. Ich befürchtete, wenn ich zu lange wartete, wäre sie weg. Die Hochzeit war offen gestanden einfach nur Mittel zum Zweck.

Den Antrag machte ich ihr an einem milden Dienstag im Januar. Ihr Vater war gerade gestorben, und wir waren in Alabama. Er war ihr letzter lebender Verwandter gewesen, und sein unerwarteter Tod erschütterte sie auf eine Art und Weise, die ich bei ihr noch nicht erlebt hatte. Wir verbrachten die Tage nach der Beerdigung damit, Alice’ Elternhaus in einem Vorort von Birmingham auszuräumen. An den Vormittagen sahen wir Kisten im Speicher, in der Werkstatt und in der Garage durch. Das Haus war angefüllt mit Andenken an ihr Familienleben: an die militärische Laufbahn ihres Vaters und die Baseball-Heldentaten ihres toten Bruders. Wir fanden die Rezeptbücher ihrer verstorbenen Mutter, verblasste Fotos ihrer Großeltern. Es war wie die archäologische Fundgrube eines kleinen, längst vergessenen Stammes einer untergegangenen Zivilisation.

»Ich bin die Letzte«, sagte Alice. Ihre Stimme klang sachlich, keine Spur von Selbstmitleid. Sie hatte ihre Mutter durch Krebs verloren, ihren Bruder durch Selbstmord. Sie hatte überlebt, war aber nicht unversehrt geblieben. Rückblickend erkenne ich, dass ihre Position als einzig übrig gebliebenes Familienmitglied sie liebevoller und leichtsinniger gemacht hat, als sie sonst vielleicht geworden wäre. Ich bin mir nicht sicher, ob sie Ja gesagt hätte, wenn sie nicht so allein auf der Welt gewesen wäre.

Den Verlobungsring hatte ich schon Wochen vorher bestellt, und er war, Augenblicke nachdem Alice vom Tod ihres Vaters erfahren hatte, von UPS geliefert worden. Warum, kann ich nicht genau sagen, aber ich steckte mir das Schächtelchen in die Reisetasche, als wir zum Flughafen fuhren.

Zwei Wochen später ließen wir einen Immobilienmakler das Haus schätzen. Wir spazierten durch die Zimmer, und der Makler machte sich Notizen, kritzelte hektisch mit, als bereitete er sich auf eine Prüfung vor. Am Ende standen wir auf der Veranda und warteten auf seine Bewertung.

»Sind Sie sich sicher, dass Sie verkaufen wollen?«, fragte er.

»Ja«, sagte Alice.

»Es ist nur …« Er deutete mit dem Klemmbrett auf uns. »Warum bleiben Sie nicht? Heiraten Sie. Bekommen Sie Kinder. Bauen Sie sich ein Leben auf. Diese Stadt braucht Familien. Meine Kinder langweilen sich so. Mein Junge muss Fußball spielen, weil es nicht genug Kinder für ein Baseball-Team gibt.«

»Tja«, sagte Alice und sah auf die Straße. »Darum.«

Das war alles. »Darum.« Schlagartig schaltete der Mann wieder auf Makler-Modus. Er nannte einen Preis, und Alice schlug einen etwas niedrigeren vor. »Aber das ist unter Marktwert für diese Gegend«, sagte er überrascht.

»Macht nichts. Ich will es einfach nur hinter mich bringen«, erwiderte sie.

Er schrieb sich etwas auf sein Klemmbrett. »Das macht es für mich auf jeden Fall leichter.«

Innerhalb von Stunden fuhr ein Lkw vor, Männer stiegen aus und trugen die ganzen abgenutzten Möbel und uralten Geräte aus dem Haus. Nur zwei Liegestühle standen noch neben dem Pool, an dem sich, seit er 1974 ausgeschachtet und verputzt worden war, nichts verändert hatte.

Am nächsten Morgen traf ein anderer Lkw mit anderen Männern ein – vom Makler beauftragte Dekorateure. Sie schleppten eine völlig neue Einrichtung ins Haus. Die Männer arbeiteten schnell und routiniert, hängten große abstrakte Gemälde an die Wände und stellten glänzenden Schnickschnack in die Regale. Als sie fertig waren, war das Haus sauberer, leerer, befreit von all den lästigen Gegenständen, durch die ein Heim seine Seele erhält.

Am Tag danach führte ein Heer von Mitarbeitern des Maklerbüros eine Horde potenzieller Käufer durch die Räume, alle flüsterten, öffneten Schränke und Kommoden, studierten das Informationsblatt mit den Details. Am selben Nachmittag gab der Makler telefonisch vier Angebote durch, und Alice nahm das höchste an. Wir packten unsere Sachen, und ich buchte einen Flug zurück nach San Francisco.

Als am Abend die ersten Sterne zu sehen waren, schlenderte Alice nach draußen, um den Nachthimmel zu betrachten und sich endgültig von Alabama zu verabschieden. Es war ein warmer Abend, Grillduft wehte über den Gartenzaun. Die Außenlampen wurden hell vom Pool reflektiert, und die Liegestühle waren noch immer so bequem, wie sie am ersten Tag gewesen sein mussten, als ihr Vater sie auf die Terrasse geschleift hatte, als seine Frau schön und sonnengebräunt gewesen war und seine kleinen Kinder wild und ungestüm. Ich spürte, dass Alabama sich von seiner besten Seite zeigte, und dennoch wirkte Alice so traurig, so unempfänglich für die Schönheit, die sich ohne Vorwarnung angeschlichen hatte.

Später sollte ich unseren Freunden erzählen, dass mir der Einfall, diesen Moment für meinen Antrag zu nutzen, spontan gekommen war. Ich wollte Alice trösten. Ich wollte ihr zeigen, dass es eine Zukunft gab. Ich wollte sie an einem so traurigen Tag glücklich machen.

Ich ging zum Pool, ließ mich auf ein Knie nieder, holte den Ring aus der Schachtel und hielt ihn Alice wortlos auf meiner schwitzigen Handfläche hin. Sie sah mich an, sah den Ring an, lächelte.

»Okay«, sagte sie.

3

Unsere Hochzeit fand auf einer Viehweide am Ufer des Russian River statt, zwei Autostunden nördlich von San Francisco. Es war Monate her, dass wir sie besichtigt hatten. Wir fuhren mehrfach daran vorbei, weil an der Straße kein Schild stand. Als wir das Gatter öffneten und auf dem Pfad zum Fluss liefen, umarmte Alice mich und sagte: »Ich finde es toll.« Zuerst dachte ich, das wäre als Scherz gemeint. An einigen Stellen stand das Gras eineinhalb Meter hoch.

Das Gelände war ein weitläufiger Milchbauernhof mit Kühen, die über die Weide trotteten. Es gehörte der Rhythmusgitarristin aus Alice’ erster Band. Ja, sie hat mal in einer Band gesungen, darüber später mehr.

Auch am Tag vor der Hochzeit fuhr ich wieder an der Weide vorbei. Dieses Mal allerdings, weil sie völlig anders aussah. Die Gitarristin, Jane, hatte sie wochenlang gemäht, getrimmt und neu angesät. Es war fantastisch. Sie sah aus wie ein Fairway auf dem tadellosesten Golfplatz der Welt. Die Wiese erstreckte sich über den Hügel und fiel dann sanft zum Fluss hin ab. Jane sagte, sie und ihre Frau hätten nach einem Projekt gesucht.

Es gab ein großes Zelt, eine Terrasse, einen Pool und ein modernes Poolhaus. Am Fluss war eine Bühne aufgebaut, und auf einem Hügel stand eine Laube, von der aus man alles überblicken konnte. Immer noch wanderten die Kühe auf ihre langsame, beinahe meditative Art herum.

Stühle wurden gebracht, Tische, Anlage, Lautsprecher und Sonnenschirme. Auch wenn Alice nicht unbedingt ein Fan von Hochzeiten war, liebte sie doch Partys. Zwar hatten wir selbst in den Jahren, seit wir uns kannten, keine veranstaltet, aber ich hatte Geschichten gehört. Riesige Feste in Ballsälen, an Stränden, in ihren früheren Wohnungen. Offenbar besaß sie ein Talent dafür. Als es also an die konkreten Vorbereitungen ging, nahm ich mich zurück und ließ sie ihr Ding machen. Monatelange Planung, alles arrangiert, perfektes Timing.

Zweihundert Leute. Eigentlich sollten es hundert von ihr und hundert von mir sein, am Ende war es allerdings ein bisschen ungleich verteilt. Es war eine witzige Gästeliste wie bei jeder Hochzeit. Meine Eltern und Großmutter, Partner aus der Kanzlei meiner Frau, Kollegen aus der Klinik, in der ich früher gearbeitet hatte, Freunde aus dem College, von der Uni, Alice’ alte Musikerkumpels, dazu eine schräge Mischung von allen möglichen anderen Leuten.

Und Liam Finnegan und seine Frau.

Sie wurden als Letzte eingeladen, 201 und 202 auf der Gästeliste. Alice hatte Finnegan drei Tage vor unserer Hochzeit kennengelernt, in der Kanzlei, in der sie das vergangene Jahr Tag und Nacht gearbeitet hatte. Ich weiß, es erscheint merkwürdig, aber meine Frau ist Anwältin. Würden Sie sie kennen, würde es Sie ebenfalls erstaunen. Aber darum geht es jetzt nicht. Das Wichtige hier ist Finnegan; Finnegan und seine Frau, Liam und Fiona.

Meine Frau hatte als Junior Associate an Finnegans Fall gearbeitet. Es hatte sich um eine Urheberrechtssache gehandelt. Finnegan war inzwischen Geschäftsmann. Jahre zuvor allerdings war er der bekannte Frontmann einer Irish-Folk-Rock-Gruppe gewesen. Sein Name tauchte immer wieder in diesen ganzen britischen Musikmagazinen auf: Q, Uncut, Mojo. Dutzende von Musikern behaupten, maßgeblich von ihm beeinflusst worden zu sein.

Nachdem Alice das Mandat übertragen worden war, liefen bei uns tagelang Finnegans CDs in Endlosschleife. Der Fall war so eindeutig, wie ein Urheberrechtsfall nur sein kann. Eine junge Band hatte eine Passage eines seiner Lieder geklaut und zu einem Riesenhit gemacht. Wenn man wie ich auf technischer Ebene keine Ahnung von Musik hat, bemerkt man die Ähnlichkeiten nicht, aber für einen Musiker, sagte meine Frau, sei der Diebstahl offensichtlich.

Ausgelöst worden war der Rechtsstreit durch eine Bemerkung, die Finnegan ein paar Jahre vorher gemacht hatte. In einem Interview hatte er gesagt, der Hit klinge verdächtig nach einem Song von seinem zweiten Album. Er hatte gar nicht vorgehabt, die Sache weiterzuverfolgen, dann aber wurde er vom Manager der jungen Band in einem Brief aufgefordert, sich für die Bemerkung zu entschuldigen und öffentlich zu erklären, dass das Lied nicht geklaut sei. Die Angelegenheit nahm ihren Lauf und führte letztendlich dazu, dass meine Frau unzählige Stunden in ihren ersten großen Fall investierte.

Wie gesagt, sie war nur Junior Associate. Als schließlich das Urteil zu Finnegans Gunsten fiel, heimsten somit die Partner die ganzen Lorbeeren ein. Einen Monat später, in der Woche vor unserer Hochzeit, stattete Finnegan der Kanzlei einen Besuch ab. Ihm war eine irrwitzige Summe zugesprochen worden, viel mehr, als er eigentlich wollte, mit Sicherheit mehr, als er brauchte, daher wollte er sich bei allen für ihre Arbeit bedanken. Er wurde von den Partnern in einen Konferenzraum gebracht, wo sie ihm ausführlich ihre großartige Strategie darlegten. Am Ende dankte er ihnen, bat aber, all die Menschen kennenlernen zu dürfen, die tatsächlich an dem Fall gearbeitet hatten. Er zitierte aus ein paar Schriftsätzen und Anträgen und verblüffte die Partner damit, wie eingehend er sich mit den Details befasst hatte.

Einen Schriftsatz, der ihm besonders gefiel, hatte Alice verfasst. Es war ein witziger, kreativer Text – soweit ein juristischer Schriftsatz witzig oder kreativ sein kann. Also holten die Partner Alice in den Konferenzraum. Irgendwann erwähnte jemand, dass sie am Wochenende heirate. Finnegan erklärte, er liebe Hochzeiten. Alice fragte, eher scherzhaft: »Möchten Sie zu meiner kommen?«, und er antwortete zur allgemeinen Überraschung: »Es wäre mir eine Ehre.« Bevor er die Kanzlei verließ, kam er kurz an Alice’ Schreibtisch vorbei, und sie überreichte ihm eine Einladung.

Zwei Tage darauf brachte ein Bote eine Kiste zu uns nach Hause. In der Woche waren schon zahlreiche Hochzeitsgeschenke geliefert worden, weshalb uns das nicht wunderte. Der Absender lautete Die Finnegans. Ich öffnete den Umschlag; darin lag eine geschmackvolle weiße Klappkarte mit einer Hochzeitstorte auf der Vorderseite.

Für Alice und Jake. Meine besten Glückwünsche anlässlich Eurer bevorstehenden Vermählung. Achtet die Ehe, und Ihr werdet im Gegenzug reich von ihr beschenkt werden. Liam

Die Geschenke, die wir bis dahin bekommen hatten, waren wenig überraschend gewesen. Es gab eine Gleichung, anhand derer ich den Inhalt eines Päckchens voraussagen konnte, bevor es geöffnet war. Der Wert entsprach normalerweise dem Nettoeinkommen des Schenkers mal die Jahre, die wir denjenigen kannten, geteilt durch Pi. Oder so ungefähr. Meine Oma schenkte uns ein vollständiges Porzellanservice für sechs Personen. Mein Cousin einen Toaster.

Bei Finnegan allerdings hatte ich keinen Anhaltspunkt für eine Berechnung. Er war erfolgreicher Geschäftsmann, hatte gerade einen großen Prozess gewonnen und besaß einen Back-Katalog von Songs, die wahrscheinlich nicht viel Geld einbrachten. Das Problem war, wir kannten ihn noch nicht lange. Na gut, eigentlich kannten wir ihn gar nicht.

Aus Neugier riss ich das Paket gleich auf. Darin war eine schwere Kiste aus recyceltem Holz mit einer eingebrannten Aufschrift. Zuerst dachte ich, es wäre eine Flasche edler irischer Whiskey aus einer Miniproduktion, was gepasst hätte. Genau das hätte die Geschenkegleichung vorhergesagt.

Es machte mich leicht nervös. Alice und ich hatten nie hochprozentigen Alkohol im Haus. Das sollte ich wohl erklären. Wir sind uns in einer Entzugsklinik nördlich von Sonoma das erste Mal begegnet. Zu dem Zeitpunkt praktizierte ich schon mehrere Jahre als Therapeut, und ich ergriff jede Gelegenheit, mich weiterzubilden. Also war ich für einen Freund eingesprungen, um Erfahrungen für meinen Job zu sammeln. Am zweiten Tag leitete ich eine Therapiegruppe, an der Alice teilnahm. Sie sagte, sie trinke zu viel und müsse damit aufhören. Nicht für immer, nur lange genug, um die zur Stabilisierung ihres Lebens notwendigen Veränderungen abzuschließen. Sie sei früher keine starke Trinkerin gewesen, aber eine Reihe von familiären Tragödien habe sie dazu veranlasst, sich unvernünftig zu verhalten, und das wolle sie in den Griff bekommen. Ich war beeindruckt von ihrer Ernsthaftigkeit und Klarheit.

Wochen später, zurück in der Stadt, beschloss ich, sie anzurufen. Ich leitete gerade eine Gruppe für Jugendliche mit ähnlichen Problemen und hoffte, sie wäre vielleicht bereit, sich mit ihnen zu unterhalten. Alice sprach von ihren eigenen Schwierigkeiten auf eine Art, die zum Kern der Sache vorstieß, direkt und fesselnd. Ich wollte eine Beziehung zu den Jugendlichen aufbauen und wusste, sie würden ihr zuhören. Es schadete auch nichts, dass Alice Musikerin war. Mit ihrer abgetragenen Bikerjacke, den kurzen schwarzen Haaren und den Storys vom Leben auf Tour machte sie einen coolen Eindruck.

Die Kurzfassung: Sie erklärte sich bereit, mit meiner Gruppe zu reden, es lief gut, ich lud sie zum Mittagessen ein, wir freundeten uns an, ein paar Monate vergingen, wir wurden ein Paar, wir kauften zusammen ein Haus und dann, wie schon erwähnt, machte ich ihr den Antrag.

Als Finnegans Paket also eintraf, verspannte ich mich, weil ich glaubte, es wäre ein unfassbar seltener Schnaps. Während der ersten Monate, die ich Alice kannte, trank sie keinen Schluck Alkohol. Aber irgendwann danach gönnte sie sich hin und wieder eine Flasche Bier oder ein Glas Wein zum Essen. Das ist nicht der traditionelle Weg für Menschen mit einem Alkoholproblem. Dennoch schien es bei Alice zu funktionieren. Nur Bier und Wein allerdings. Bei Hochprozentigem, witzelte sie immer, »landet am Schluss jemand im Knast«. Das war schwer vorstellbar, da Alice sich besser unter Kontrolle hatte als jeder andere, den ich kannte.

Ich stellte das Geschenk auf den Tisch. Eine solide, elegante Holzkiste. Die Aufschrift vorne jedoch war komisch.

DER PAKT.

Welcher irische Whiskey hieß denn Der Pakt?

In der Kiste befand sich auf blauem Samt ein weiteres Kästchen. Zu beiden Seiten lag in den Stoff gebettet ein extrem teuer aussehender Füller, aus Silber, Weißgold oder vielleicht sogar Platin. Ich nahm einen in die Hand und war erstaunt über das Gewicht, die Form. Es war die Art von Geschenk, die man jemandem machte, der schon alles hatte, weshalb es ein merkwürdiges Geschenk für uns war. Wir arbeiteten beide hart, und es ging uns nicht schlecht, aber wir hatten längst nicht alles. Tatsächlich hatte Alice von mir zum Jura-Examen einen Füller bekommen. Ein wunderschönes Stück, das ich nach monatelanger Recherche auf dem überraschend komplexen Gebiet der erlesenen Schreibgeräte von einem Privathändler in der Schweiz gekauft hatte. Mir war damals zumute, als hätte ich eine Tür geöffnet und statt des dahinter vermuteten kleinen Schranks ein ganzes Universum entdeckt. Den Füller bezahlte ich umständlich auf verschlungenen Wegen, um seinen exorbitanten Preis zu verschleiern. Für den Fall, dass Alice ihn jemals verlor, sollte sie nicht davon belastet werden.

Jetzt malte ich mit Finnegans Geschenk ein paar Kreise auf das Einwickelpapier, dann schrieb ich Danke, Liam Finnegan! Die Tinte floss geschmeidig, der Stift glitt über das weiche Papier.

Auf dem Füller war eine Gravur angebracht.

Sie war so klein, dass ich sie nicht entziffern konnte. Ich erinnerte mich an eine Lupe, die zu einem Brettspiel gehörte, das Alice mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich durchwühlte den Flurschrank. Hinter Risiko, Monopoly und Boggle fand ich die Schachtel; die Lupe steckte noch in der Zellophanhülle. Ich hielt den Füller ins Licht.

ALICE & JAKE, gefolgt vom Datum der Hochzeit, und dann schlicht DUNCAN MILLS, KALIFORNIEN. Ich gebe zu, dass ich etwas enttäuscht war. Von einem der größten lebenden Folksänger der Welt hatte ich mehr erwartet. Hätte die Gravur den Sinn des Lebens enthalten, es hätte mich nicht gewundert.

Ich nahm den zweiten Füller heraus und legte ihn auf den Tisch. Dann nahm ich das Kästchen in die Hand. Es war aus dem gleichen recycelten Holz gefertigt, hatte die gleichen edlen Beschläge und das gleiche eingebrannte Logo: DER PAKT. Es war überraschend schwer.

Ich versuchte, es zu öffnen, aber es war verschlossen. Daher stellte ich es auf den Tisch und suchte in der Kiste nach einem Schlüssel. Statt eines Schlüssels fand ich nur eine handgeschriebene Botschaft:

Alice und Jake, Ihr sollt wissen: Der Pakt wird euch nie verlassen.

Ich starrte den Zettel an. Was konnte das bedeuten?

Alice musste an dem Tag lange arbeiten, weil sie vor der Hochzeit und den Flitterwochen noch einige Projekte abzuschließen hatte. Als sie schließlich nach Hause kam, war bereits eine Million anderer Dinge passiert und Finnegans Geschenk darüber vergessen.

4

Wie eine Hochzeit ablaufen wird, merkt man bereits in den ersten fünf Minuten. Wenn die Gäste ein bisschen spät eintrudeln und sich langsam bewegen, weiß man, dass es vermutlich eine zähe Veranstaltung wird. Bei unserer Hochzeit allerdings trafen alle ungewöhnlich früh ein. Mein Trauzeuge Angelo Foti und seine Frau Tami brauchten für die Fahrt aus der Stadt weniger lange als erwartet. Um Zeit totzuschlagen, hielten sie an einem Café in Guerneville. Dort fielen ihnen vier weitere Paare in hochzeitstypischer Kleidung auf. Sie sprachen sie an, und offenbar begann die Party daraufhin an Ort und Stelle.

Bei dem Strom von Verwandten und Freunden, meiner Nervosität und dem ganzen Drumherum bemerkte ich Finnegan erst, nachdem die Zeremonie schon begonnen hatte. Ich bewunderte gerade Alice in ihrem tollen Kleid, die allein durch die Stuhlreihen schritt, auf dem Weg zu mir, ausgerechnet mir, als ich neben ihrer Schulter Finnegan in der hintersten Reihe entdeckte. Er trug einen edlen Anzug mit rosa Krawatte. Die Frau neben ihm, vielleicht fünf Jahre jünger als er, ein elegantes grünes Kleid. Zu meiner Überraschung lächelte sie, freute sich sichtlich, bei uns zu sein. Aus irgendeinem Grund war ich davon ausgegangen, dass Finnegan und seine Frau ganz unemotional wären: spät kommen, früh gehen, sich bei der Hochzeit der Anwältin zeigen – eine soziale Verpflichtung, Schuldigkeit getan. Aber so war es überhaupt nicht.

Das wusste ich damals noch nicht, aber jetzt weiß ich es: Auf einer Hochzeit kann man, wenn man gut aufpasst, die glücklich verheirateten Paare erkennen. Vielleicht ist es eine Bestätigung ihrer eigenen Entscheidung, vielleicht ist es aber auch nur der Glaube an die Konvention der Ehe. Es gibt da so einen Blick, leicht zu entdecken, schwierig zu beschreiben, und die Finnegans hatten ihn. Bevor ich mich wieder Alice zuwandte, die in ihrem ärmellosen Kleid mit einem Retro-Pillbox-Hut wunderschön aussah, lächelte Finnegan mich an und prostete mir mit einem imaginären Glas zu.

Das Gelübde war sehr schnell vorbei. Der Ring, der Kuss. Innerhalb von Minuten waren wir Mann und Frau, und dann, genauso plötzlich, war das Fest in vollem Gange. Ich wurde in Gespräche mit Freunden, Verwandten, Kollegen, ein paar alten Schulkameraden verwickelt, die alle eifrig ihre Version meines Lebens noch einmal erzählten, oft in der falschen Reihenfolge, aber stets in einem guten Licht. Erst als es langsam dunkel wurde, sah ich Finnegan wieder. Er stand in der Nähe der Bühne und beobachtete Alice’ Musikerfreunde, die sich durch eine bunte Auswahl von Songs arbeiteten. Er hatte die Arme von hinten um die Taille seiner Frau geschlungen, und beide hatten immer noch diesen zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht.

Ich hatte Alice aus den Augen verloren, deshalb suchte ich die Menge nach ihr ab. Dann stellte ich überrascht fest, dass sie auf der Bühne stand. Seit ich sie kannte, war sie nie aufgetreten, es war, als hätte sie mit diesem Teil ihres Lebens gänzlich abgeschlossen. Das Licht war aus, aber im Halbdunkel sah ich sie auf Freunde deuten und hörte, wie sie sie auf die Bühne rief: erst Jane, dann die frühere Schlagzeugerin der Band, einen Freund aus der Kanzlei mit seinem Bass und andere. Es war eine Gruppe von Leuten, die ich nicht gut kannte, von denen ich manchen sogar noch nie begegnet war, deren Anwesenheit von einem ganzen Leben zeugte, das Alice vor mir geführt hatte, einem wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit, zu dem ich irgendwie keinen Zugang hatte. Ich war gleichzeitig traurig und froh, sie so zu erleben: traurig, weil ich mich unwillkürlich ausgeschlossen und unbedeutend fühlte, froh, weil – na ja, weil sie mir ein Rätsel blieb, im besten Sinne. Alice streckte die Hand in Finnegans Richtung aus. Ein bläuliches Licht schimmerte jetzt, und ich bemerkte, dass die Umstehenden leise ihre Handys gezückt hatten und filmten, während Finnegan auf die Bühne zuging.

Sehr, sehr lange stand meine Frau schweigend da. Die Zuschauer verstummten erwartungsvoll. Endlich trat sie ans Mikrofon. »Freunde«, sagte sie, »vielen Dank, dass ihr hier seid.« Dann zeigte sie auf mich, und hinter ihr wurde ein Orgelton angeschlagen. Finnegan war ganz in seinem Element an den Tasten. Es war ein wunderschöner und schwer fassbarer Klang, in den die Orgel die anderen Instrumente langsam mit hineinzog. Alice sah mich an und wiegte sich sanft zur Musik. Als die Scheinwerfer heller wurden, stimmte Finnegan eine Melodie an, die ich sofort erkannte. Es war ein alter Song von Led Zeppelin in ihren besten Zeiten, subtil und verführerisch, ein wundervolles Hochzeitslied: »All My Love«. Alice’ Gesang begann leise und zögernd, wurde dann aber allmählich selbstbewusster. Ich weiß nicht genau, warum, aber sie und Finnegan schienen auf der gleichen Wellenlänge zu liegen.

Als der Song intensiver wurde, stellte sie sich in einen Lichtkegel, schloss die Augen und wiederholte den wunderschönen Refrain, so eine schlichte Aussage, und doch begriff ich zum ersten Mal, dass sie mich tatsächlich liebte. Ich sah mich im Zelt um, und in dem schwachen Licht konnte ich unsere Freunde und Verwandten erkennen, die alle mitwippten.

Dann kam der Moment, als Alice die entscheidende Zeile sang, die ich längst vergessen hatte, eine einfache Frage – doch eine, die den Rest des Textes mit einer dünnen Schicht von Zweideutigkeit und Zweifel überzog. Is this to end or just begin? Einen Moment lang geriet ich aus dem Gleichgewicht. Ich stützte mich auf einer Stuhllehne ab und betrachtete alles um mich herum im Mondschein: die Menschen, die Weide, die dösenden Kühe, den Fluss. Seitlich der Bühne tanzte Finnegans Frau in ihrem grünen Kleid, die Augen geschlossen, ganz in die Musik versunken.

Die Party dauerte noch Stunden. Als es langsam Tag wurde, saßen wir noch mit einer Handvoll Gäste um den Pool und betrachteten den Sonnenaufgang über dem Fluss. Alice und ich teilten uns einen Liegestuhl, die Finnegans den daneben.

Schließlich holten die beiden ihre Jacken und Schuhe. »Wir bringen euch noch zum Auto«, sagte Alice. Während wir sie die Auffahrt hinauf begleiteten, hatte ich das Gefühl, sie schon seit Jahren zu kennen. Erst als sie in ihren Lamborghini stiegen – von einem Freund geliehen, sagte Finnegan mit einem Zwinkern –, fiel mir das Geschenk wieder ein. »Ach«, sagte ich, »ich habe ganz vergessen, mich zu bedanken. Wir hätten über euer faszinierendes Geschenk reden sollen.«

»Aber natürlich«, sagte Finnegan. »Alles zu seiner Zeit.« Seine Frau lächelte. »Morgen fahren wir nach Irland, aber ich maile euch, wenn ihr aus den Flitterwochen wieder da seid.«

Und das war’s. Zwei Wochen in einem weitgehend verwaisten, aber einst vornehmen Hotel an der Adria, ein langer Heimflug, und plötzlich waren wir zurück am Ausgangspunkt. Immer noch dieselben, nur verheiratet. War dies das Ende oder nur der Anfang?

5

Nach unseren Flitterwochen achteten wir beide sorgsam darauf, die Enttäuschung zu vermeiden, die so leicht im Anschluss an die großartige Party und die Wochen an einem friedlichen, sonnigen Strand hätte einsetzen können. Am ersten Abend in unserem Häuschen in San Francisco, zehn Straßen vom Rande des Kontinents und dem Strand mit der wenigsten Sonne überhaupt, holte ich das Porzellan meiner Großmutter aus dem Schrank, kochte ein Vier-Gänge-Menü und deckte den Tisch mit Stoffservietten und Kerzen. Damals wohnten wir schon seit über zwei Jahren zusammen, und ich wollte, dass die Ehe sich anders anfühlte.

Ich verwendete ein Rezept für einen Braten mit Kartoffeln, das ich im Internet gefunden hatte. Es war furchtbar, eine dicke braune, fleischige Katastrophe. Alice aber aß ihre Portion auf und behauptete, es sei köstlich. Obwohl sie klein und zierlich ist, kann sie sich mit ordentlichem Appetit über einen Teller Hausmannskost hermachen. Das mochte ich schon immer an ihr. Zum Glück rettete der Kuchen mit Schokoguss die Mahlzeit. Am folgenden Abend probierte ich es erneut mit einem gemeinsamen Abendessen. Dieses Mal gelang es mir besser.

»Wirke ich zu bemüht?«, fragte ich.

»Vielleicht zu bemüht, mich zu mästen.« Sie tunkte ein Hühnerbein in den Kartoffelbrei.

Schon bald darauf rutschten wir nach und nach wieder in unsere alten Gewohnheiten. Wir bestellten uns Pizza oder chinesisches Essen und aßen vor dem Fernseher. Irgendwann, während wir uns eine gesamte Staffel von Life After Kindergarten am Stück ansahen, meldete Alice’ Handy eine E-Mail.

Sie nahm das Telefon in die Hand. »Die ist von Finnegan«, sagte sie.

»Was schreibt er?«

Sie las vor. »Vielen Dank noch mal, dass Ihr Fiona und mich zu Eurer Vermählung eingeladen habt. Nichts lieben wir mehr als eine schöne Hochzeit und ein rauschendes Fest. Wir waren geehrt, an Eurem besonderen Tag teilnehmen zu dürfen.«

»Wie nett.«

»Fiona sagt, Du und Jake erinnert sie an uns vor zwanzig Jahren. Sie möchte unbedingt, dass Ihr uns nächsten Sommer in unserem Haus im Norden besucht.«

»Wow«, sagte ich. »Klingt, als wollten sie sich richtig mit uns anfreunden.«

»Und zuletzt noch das Geschenk«, fuhr Alice fort. »Der Pakt ist etwas, was Fiona und ich zu unserer eigenen Hochzeit geschenkt bekommen haben. Er wurde uns an einem regnerischen Montagmorgen vor die Tür gestellt. Erst zwei Wochen später erfuhren wir, dass er von meinem Gitarrenlehrer aus Kindertagen war, einem alten Mann aus Belfast.«

»Haben sie die Kiste einfach weiterverschenkt?«, fragte ich verdutzt.

»Nein, das glaube ich nicht.«

Sie sah wieder auf das Handy und las weiter. »Es hat sich als das beste Geschenk erwiesen, das Fiona und ich bekommen haben, und offen gestanden das einzige, an das ich mich überhaupt erinnere. Im Laufe der Jahre haben wir den Pakt mehreren jungen Paaren geschenkt. Er ist nichts für jeden, das sollte ich gleich vorab sagen, aber nach der kurzen Zeit, die ich Dich und Jake jetzt kenne, habe ich so eine Ahnung, dass er für Euch das Richtige sein könnte. Also, dürfte ich euch ein paar Fragen stellen?«

Alice tippte schnell Ja.

Sie starrte auf den Bildschirm.

Pling.

Wieder las sie vor. »Entschuldigt meine Direktheit, aber möchtet Ihr, dass Eure Ehe ewig hält, ja oder nein? Das hier funktioniert nur, wenn Ihr ehrlich seid.«

Etwas verwundert warf Alice mir einen Blick zu, zögerte vielleicht eine Sekunde zu lang und antwortete dann: Ja.

Pling.

Sie wirkte zunehmend gebannt, als führte Finnegan sie durch eine düstere Straße.

»Glaubt Ihr, dass eine lange Ehe glückliche UND traurige Phasen durchläuft, helle UND dunkle?«

Aber sicher.

Pling.

»Seid Ihr beide bereit, Euch anzustrengen, damit Eure Ehe ewig hält?«

»Das versteht sich von selbst«, sagte ich. Alice tippte.

Pling.

»Gibt einer von Euch leicht auf?«

Nein.

»Seid Ihr beide offen für Neues? Und seid Ihr willens, Hilfe von Freunden anzunehmen, wenn es ihnen um Euren Erfolg und Eure Zufriedenheit geht?«

Merkwürdige Fragen. Alice sah mich an. »Was meinst du?«

»Ein Ja, also für mich zumindest«, sagte ich.

»Okay, für mich auch.«

Pling.

»Wunderbar. Habt Ihr am Samstagvormittag Zeit?«

Sie hob den Kopf. »Haben wir Zeit?«

»Klar doch.«

Ja, tippte sie. Seid Ihr in der Stadt?

»Leider bin ich gerade in einem Tonstudio bei Dublin. Aber meine Freundin Vivian wird Euch besuchen, um Euch den Pakt zu erklären. Falls Euch der Sinn danach steht, wäre ich geehrt, wenn Du und Jake Euch entscheidet, Euch unserer ganz besonderen Gruppe anzuschließen. Passt Euch zehn Uhr?«

Alice tippte erst kurz in ihrem Handy-Kalender herum, bevor sie erneut mit Ja antwortete.

Pling.

»Großartig. Ich bin mir sicher, dass Ihr Euch mit Vivian ausgezeichnet verstehen werdet.«

Danach warteten wir, aber es kamen keine weiteren Mails mehr. Alice und ich starrten das Telefon an.

»Kommt dir das nicht auch irgendwie – kompliziert vor?«, fragte ich schließlich.

Alice grinste. »Wie schlimm kann es schon sein?«

6

Ein paar Dinge über mich. Ich arbeite als Therapeut und Eheberater. Obwohl ich liebevolle Eltern hatte und eine, zumindest von außen betrachtet, idyllische Kindheit, war das Erwachsenwerden manchmal schwierig. Rückblickend habe weniger ich mir meinen Beruf ausgesucht als vielmehr umgekehrt der Beruf mich.

Ich begann an der University of California in Los Angeles mit dem Hauptfach Biologie, blieb aber nicht lange dabei. Im zweiten Studienjahr nahm ich eine Stelle als Tutor in meinem Wohnheim am College of Letters and Science an. Die Ausbildung machte mir Spaß, und im Anschluss auch die Arbeit. Ich sprach gern mit Menschen, hörte mir ihre Probleme an, half ihnen, eine Lösung zu finden. Nach dem Abschluss wollte ich nicht, dass meine »therapeutische Laufbahn« endete, daher schrieb ich mich für angewandte Psychologie an der Uni in Santa Barbara ein. Mein Praktikum nach der Promotion führte mich nach Hause nach San Francisco, wo ich anfangs mit gefährdeten Jugendlichen arbeitete.

Heute führe ich zusammen mit zwei Freunden aus dem Praktikum eine kleine therapeutische Praxis. Als wir vor achtzehn Monaten in einer ehemaligen Staubsauger-Reparaturwerkstatt im Stadtteil Outer Richmond anfingen, hatten wir Sorge, ob wir uns über Wasser halten könnten. Irgendwann überlegten wir sogar, nebenher Kaffee zu verkaufen und dazu meine im Bekanntenkreis berühmten Chocolate Chip Cookies, um die Miete zu bezahlen.

Letzten Endes aber überlebte die Praxis auch ohne derartige verzweifelte Maßnahmen. Meine beiden Partner Evelyn (achtunddreißig, Single, superschlau, Einzelkind aus Oregon) und Ian (Brite, einundvierzig, ebenfalls Single, schwul, ältestes von drei Geschwistern) sind beide einnehmende, sympathische und meist fröhliche Menschen, und ich glaube, diese Fröhlichkeit hat uns über die Anfangsschwierigkeiten gerettet.

Jeder von uns hat sein eigenes Gebiet. Evelyn befasst sich hauptsächlich mit Sucht, Ian ist auf Aggressionstherapie und Zwangsstörungen spezialisiert, und ich übernehme die Kinder und Jugendlichen. Klienten, die eindeutig in eine dieser Kategorien passen, bekommen den entsprechenden Kollegen zugewiesen, alle anderen werden gleichmäßig aufgeteilt. Kürzlich allerdings haben wir beschlossen, unser Feld zu erweitern; besser gesagt, Evelyn hat das beschlossen. Als ich aus den Flitterwochen zurückkam, erfuhr ich, dass sie mich für unsere Expansion in die Paartherapie vorgesehen hat.

»Weil ich mich so gut mit der Ehe auskenne?«

»Genau.«

Evelyn, das alte Marketing-Genie, hatte bereits drei neue Klienten für mich an Land gezogen. Auf meinen Protest hin zeigte sie mir die E-Mails, in denen sie den Betreffenden ganz klar mitgeteilt hatte, dass ich jahrelange Erfahrung als Therapeut und exakt zwei Wochen persönliche Erfahrung als Ehemann besaß.

Ich habe immer Angst davor, unvorbereitet zu sein. Als Evelyn also mit der Neuigkeit herausrückte, geriet ich sofort in Panik und las mich ein. Ich recherchierte über die Entstehung der Ehe und entdeckte zu meinem Erstaunen, dass die monogame Ehe erst vor etwa achthundert Jahren in westlichen Gesellschaften eingeführt wurde.

Außerdem erfuhr ich, dass Verheiratete länger leben als Alleinstehende. Das hatte ich zwar schon einmal gehört, mir aber noch nie die dazugehörigen Studien angesehen. Sie sind ziemlich überzeugend.

Vom anderen Ende des Spektrums stammt der Satz von Groucho Marx: Die Ehe ist eine wunderbare Einrichtung, aber wer will schon in einer Einrichtung leben?

Ich schrieb mir noch andere Zitate aus dem Internet und einem Stapel Eheratgebern heraus, die ich in der Buchhandlung nahe meiner Praxis erwarb.

Für eine gute Ehe muss man sich oft verlieben, immer in denselben Menschen.

Man darf einander nicht unterdrücken, im Schatten wächst nichts.

Solche Dinge eben. Zitate mögen ja eine zu starke Vereinfachung darstellen, die letzte Zuflucht des Dilettanten, aber ich habe in Therapiesitzungen immer gern eins parat. Hin und wieder passiert etwas, und ich weiß vielleicht nicht gleich, was ich sagen soll. Dann kann ein bisschen Groucho Marx das Eis brechen, in eine unvorhergesehene Richtung führen oder mir einfach eine kurze Pause verschaffen, um meine Gedanken zu ordnen.

7

Am Samstagmorgen standen wir früh auf, um uns auf Vivians Besuch vorzubereiten. Um 9:45 Uhr war Alice mit dem Staubsaugen fertig, und ich holte die Zimtschnecken aus dem Ofen. Ohne Absprache hatten wir uns beide eine Spur zu schick gemacht. Als ich in einem Button-down-Hemd und einer seit Monaten nicht getragenen Baumwollhose aus dem Schlafzimmer trat, lachte Alice.

»Wenn ich mir einen Flachbildfernseher kaufen will«, sagte sie, »lasse ich mich von dir beraten.«

Natürlich versuchten wir nur, eine etwas bessere Version unserer selbst und unseres winzigen Häuschens mit seinem schmalen Streifen Meerblick zu präsentieren. Warum wir das Bedürfnis hatten, Vivian zu beeindrucken, kann ich nicht genau sagen, aber ohne es laut auszusprechen, war uns beiden klar, dass wir genau das wollten.

Um 9:52 Uhr hatte Alice sich bereits zum dritten Mal umgezogen. Sie kam ins Wohnzimmer und drehte sich in ihrem blauen Blümchenkleid. »Zu viel?«

»Perfekt.«

»Was ist mit den Schuhen?«

Es waren biedere Pumps, die sie sonst nur zur Arbeit trug. »Zu förmlich«, sagte ich.

»Okay.« Sie verschwand in den Flur und kam in einem Paar roten Fluevogs zurück.

»Genau richtig«, sagte ich.

Ich warf einen Blick aus dem Fenster, aber es war niemand zu sehen. Ich war ein wenig nervös, als warteten wir auf ein Vorstellungsgespräch für einen Job, um den wir uns gar nicht beworben hatten. Trotzdem wollten wir ihn. Mit der Kiste und den Füllern und den kryptischen Nachrichten hatte Finnegan es so reizvoll erscheinen lassen – und, das muss ich zugeben, so exklusiv. Tief drinnen ist Alice eine echte Streberin, alles, was sie anfängt, will sie auch zu Ende bringen. Alles, was sie zu Ende bringt, will sie gewinnen, ob es nun gut für sie ist oder nicht.

Um 9:59 Uhr sah ich wieder aus dem Fenster. Der Nebel war dicht, und ich konnte in beide Richtungen keine Autos entdecken.

Dann der Klang von Schuhen auf der Treppe. Absätze, hohe Absätze. Alice schielte nach ihren unkonventionellen Fluevogs, dann zu mir und flüsterte: »Falsche Entscheidung!«

Befangen lief ich zur Tür und öffnete. »Vivian«, sagte ich steifer als geplant.

Sie trug ein gut sitzendes, aber kreischend gelbes Kleid. Tour-de-France-Gelb. Und sie wirkte jünger, als ich erwartet hatte.

»Du musst Jake sein«, sagte sie. »Und du Alice. Du siehst noch umwerfender aus als auf dem Foto.«

Alice errötete nicht; sie errötet nie. Vielmehr legte sie den Kopf schief und musterte Vivian fast prüfend. Wie ich sie kenne, argwöhnte sie wahrscheinlich, dass Vivian Hintergedanken hatte, aber mein Eindruck war, dass sie es aufrichtig meinte. Alice hat so eine Wirkung auf Menschen. Dennoch wusste ich, dass sie ihre hohen Wangenknochen, die großen grünen Augen, die dicken schwarzen Haare, dass sie all das gern eingetauscht hätte gegen eine normale Familie, eine lebende, liebende Familie, eine Mutter, die nicht ihre Leber vergiftete, einen Vater, der nicht seine Lungen vergiftete, und einen Bruder, der nicht den, wie so etwas fälschlicherweise oft genannt wird, feigen Ausweg gewählt hatte.

Vivian selbst war attraktiv auf eine Art und Weise, die Selbstvertrauen, guter Erziehung und Geschmack entspringt. Sie sah zu achtzig Prozent nach Business aus, zu zwanzig Prozent nach »Samstagsbrunch mit Freunden«. In der Hand trug sie eine edle Lederaktentasche und um den Hals eine schimmernde Perlenkette. Als das Licht auf ihr Gesicht fiel, erkannte ich, dass sie wohl doch schon Ende vierzig war. Ihre Haare glänzten, ihre Haut schimmerte zart; meiner Einschätzung nach das Ergebnis einer gesunden Ernährung, regelmäßiger Bewegung und maßvollen Konsums in allen Bereichen. Ich stellte mir vor, dass sie einen guten Job in der Technologiebranche hatte, samt ein paar Aktienoptionen und einem Jahresbonus, der nie enttäuschte.

Wenn ich in meiner Praxis einem Klienten zum ersten Mal begegne, kann ich normalerweise mit einem gründlichen Blick das Ausmaß seiner Probleme einschätzen. Angst, Stress und Unsicherheit hinterlassen im Laufe der Jahre Spuren im Gesicht eines Menschen, bis irgendwann selbst für das bloße Auge ein schwaches Muster sichtbar wird.

In jenem Moment, als das Sonnenlicht durch den Nebel brach, in unser Wohnzimmer strömte und buchstäblich Vivians Gesicht erleuchtete, dachte ich mir, dass diese Frau absolut frei von Stress, Ängsten und Unsicherheiten war.

»Kaffee?«, fragte ich.

»Gern, danke.«

Vivian setzte sich auf den großen blauen Sessel, der die Hälfte von Alice’ erstem Kanzleigehalt gekostet hatte. Sie öffnete die Aktentasche und holte einen Laptop und einen Miniprojektor heraus.

Widerstrebend ging ich in die Küche. Im Nachhinein ist mir klar, dass es mich nervös machte, Alice mit Vivian allein zu lassen. Als ich mit dem Kaffee zurückkam, unterhielten sie sich gerade über unsere Flitterwochen und die Schönheit der Adriaküste. Vivian erkundigte sich nach dem Service in unserem Hotel und nannte dabei dessen Namen. Woher wusste sie, wo wir gewohnt hatten?

Ich setzte mich neben Alice und hob drei Zimtschnecken von der Platte auf drei Desserttellerchen.

»Danke«, sagte Vivian. »Ich liebe Zimtschnecken.«

Sie verband den Projektor mit ihrem Laptop, dann stand sie auf. »Darf ich dieses Bild abnehmen?« Doch sie wartete unsere Antwort nicht ab. Es war eine Fotografie von Martin Parr, die Alice mir zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, ein Bild, das ich immer bewundert hatte, mir aber nie leisten konnte. Es zeigte einen einsamen Mann an einem stürmischen Tag, der in einem maroden öffentlichen Schwimmbad neben dem wilden grünen Meer in einer heruntergekommenen schottischen Kleinstadt seine Bahnen zog. Als ich Alice damals fragte, wo sie es gekauft hatte, lachte sie. »Gekauft? Wenn es doch nur so einfach gewesen wäre.«

»Also.« Vivian drehte sich um. »Was hat Liam euch alles erzählt?«

»Eigentlich«, sagte Alice, »hat er uns gar nichts erzählt.«

»Könnten wir das Kästchen öffnen?«, fragte Vivian. »Ihr müsst nur das kleinere holen. Die Füller brauchen wir auch.«

Ich ging in das Zimmer, in dem wir die Hochzeitsgeschenke lagerten, um die wir uns noch nicht gekümmert hatten. Laut Knigge hat man genau ein Jahr Zeit, einen Dankesbrief zu schreiben, aber in der Welt von E-Mails und SMS ist das eine Ewigkeit. Jedes Mal, wenn ich die Geschenke sah, bekam ich ein schlechtes Gewissen wegen all der Karten, die wir noch verschicken mussten.

Ich stellte das Kästchen auf den Wohnzimmertisch und legte die Füller dazu.

»Noch verschlossen.« Sie lächelte. »Den ersten Test habt ihr bestanden.«

Alice nippte nervös an ihrem Kaffee. Sie hatte die Kiste erst nach den Flitterwochen gesehen. Daraufhin hatte sie vergeblich versucht, das Schloss mit einer Pinzette zu knacken.

Vivian holte einen goldenen Schlüsselbund aus der Aktentasche, fand den richtigen Schlüssel und steckte ihn ins Schloss, drehte ihn aber nicht um.

»Ich brauche eine verbale Bestätigung, dass ihr bereit seid fortzufahren.« Abwartend sah sie Alice an.

In dem Moment hätten wir wissen müssen, dass etwas nicht stimmte, rückblickend ist mir das klar. Wir hätten Vivian wegschicken und Finnegans Anrufe nicht entgegennehmen sollen. Wir hätten aufhören sollen, bevor es richtig anfing. Aber wir waren neugierig, und unsere Ehe war noch jung. Dazu war Finnegans Geschenk so unerwartet gewesen, seine Abgesandte so beflissen, es wäre uns unhöflich erschienen abzulehnen.

Alice nickte. »Wir sind bereit.«

8

Vivian schaltete den Projektor ein, und ein Schriftzug erschien an der Wand, an der noch Minuten vorher mein Martin Parr gehangen hatte.

DER PAKT, stand da.

Große schwarze Buchstaben in Courier-Schrift. Sonst nichts.

»Also.« Vivian wischte sich die Finger an einer von unserer Hochzeit übrig gebliebenen Serviette ab. Es war immer noch ein kleiner Schock – ein angenehmer Schock –, unsere Namen darauf aufgedruckt zu sehen: Alice & Jake. »Ich muss euch beiden ein paar Fragen stellen.«

Sie zog eine schwarze Ledermappe aus ihrer Tasche, in der sich ein großer Block befand. Der Projektor warf immer noch die Überschrift DER PAKT an unsere Wand. Ich versuchte, nicht auf diese beinahe drohend über uns und unserer jungen und zerbrechlichen Ehe hängenden beeindruckenden Worte zu sehen.

»Keiner von euch war schon mal verheiratet, korrekt?«

»Korrekt«, antworteten wir wie aus einem Mund.

»Wie lange hat eure längste bisherige Partnerschaft gehalten?«

»Zwei Jahre«, sagte Alice.

»Sieben«, sagte ich.

»Jahre?«, fragte Vivian.

Ich nickte.

»Interessant.« Sie notierte sich etwas.

»Wie lange waren eure Eltern verheiratet?«

»Neunzehn Jahre«, sagte Alice.

»Über vierzig.« Ich empfand ein unverdientes Gefühl von Stolz auf den ehelichen Erfolg meiner Eltern. »Sie sind es noch.«

»Hervorragend. Und Alice, haben deine Eltern sich scheiden lassen?«

»Nein.« Der Tod ihres Vaters war noch zu frisch, und ich merkte Alice an, dass sie nicht weiter darauf eingehen wollte. Sie ist ziemlich verschlossen. Als Therapeut, und natürlich erst recht als Ehemann, erscheint mir das manchmal als ein nicht besonders leicht zu akzeptierender Wesenszug.

Vivian beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Block. »Was, glaubt ihr, ist der häufigste Grund dafür, dass sich Paare in der westlichen Welt scheiden lassen?«

»Du zuerst.« Alice tippte mir aufs Knie.

Ich musste nicht allzu lange nachdenken. »Untreue.«

Vivian und ich sahen meine Frau an. »Klaustrophobie?«, meinte Alice.

Nicht die Antwort, auf die ich gehofft hatte.

Vivian notierte unsere Antworten. »Findet ihr, dass Menschen die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen sollten?«

»Ja.«

»Ja.«

»Glaubt ihr, Paartherapie kann helfen?«

»Das hoffe ich doch.« Ich lachte.

Sie schrieb mit. Ich lehnte mich ein wenig zur Seite, um mitzulesen, aber ihre Schrift war zu klein. Vivian klappte die Mappe zu und nannte zwei berühmte Schauspieler, die sich gerade getrennt hatten. Im vergangenen Monat hatten die geschmacklosen Einzelheiten ihrer Scheidung in allen Zeitungen gestanden. »Welcher von den beiden«, fragte sie, »ist eurer Meinung nach schuld an der Trennung?«

Alice runzelte die Stirn, weil sie herauszufinden versuchte, was Vivian hören wollte. Wie gesagt, Alice ist eine Streberin, sie will nicht nur die Prüfung bestehen, sie will die Bestnote. »Ich könnte mir vorstellen, dass beide ihren Teil dazu beigetragen haben«, erwiderte sie. »Ich finde zwar nicht, dass das, was sie mit Tyler Doyle gemacht hat, von besonderer Reife zeugt, aber ihr Mann hätte auch anders damit umgehen können. Zum Beispiel hätte er diese Tweets nicht posten sollen.«

Vivian nickte, und Alice drückte den Rücken etwas durch, sichtlich erfreut. Mir schoss durch den Kopf, dass sie sich so damals in der Schule verhalten haben musste, immer das Mädchen mit der Hand in der Luft, lernwillig und fleißig. Jetzt ließ es sie verletzlich erscheinen, auf eine positive Art; es hatte etwas rührend Widersprüchliches, dass meine Frau mit ihrem wichtigen Job und ihren millionenschweren Prozessen und ihrer sehr erwachsenen Garderobe sich so sehr bemühte, die richtige Antwort zu geben.

»Wie immer stimme ich vollkommen mit meiner Frau überein.«

»Gute Antwort«, sagte Vivian mit einem Zwinkern. »Nur noch ein paar. Was ist euer Lieblingsgetränk?«

»Schokomilch«, sagte ich. »Und wenn es kalt ist, heiße Schokolade.«

Alice dachte kurz nach. »Früher Cranberrysaft mit Wodka. Jetzt ist es eine Limo, Calistoga-Beere. Und deins?«

Vivian schien leicht überrascht, dass der Spieß umgedreht wurde. »Wahrscheinlich Green Spot, zwölf Jahre alt, pur, ohne Eis.« Sie blätterte durch ihre Unterlagen. »Und jetzt noch die ganz große Frage: Wollt ihr, dass eure Ehe ewig hält?«

»Ja.« Ich sagte das automatisch. »Natürlich.«

»Ja«, sagte Alice. Es klang aufrichtig. Aber was, wenn sie nur die Prüfung bestehen wollte?

»Fertig«, sagte Vivian und steckte die Mappe in ihre Tasche. »Sollen wir uns die Bilder ansehen?«

9

Bei dem Pakt handelt es sich um eine Gruppe Gleichgesinnter, die alle ein ähnliches Ziel erreichen möchten«, begann Vivian. »Er wurde 1992 auf einer kleinen nordirischen Insel von Orla Scott ins Leben gerufen und hat sich seit diesem Tag hinsichtlich Mitgliederzahl und Engagement exponentiell vergrößert. Auch wenn unsere Regeln und Statuten sich verändert haben und wir weiter verstreut leben, so sind doch Auftrag und Geist des Pakts dem von Orla zu Anfang erdachten Konzept treu geblieben.«

Sie rutschte auf dem Sessel ein Stück nach vorn, sodass unsere Knie nur Zentimeter voneinander entfernt waren.

»Dann ist das also ein Klub?«, fragte Alice.

»Ja«, sagte Vivian. »Und nein.«

Auf dem ersten Foto, das vergrößert auf unserer Wand erschien, war eine große, schlanke Frau vor einem weißen Cottage zu sehen, dahinter das Meer. »Orla Scott war Staatsanwältin«, erzählte Vivian. »Sie war extrem ehrgeizig, eine Karrieristin, in ihren eigenen Worten. Sie war verheiratet, keine Kinder. Sie wollte ihre gesamte Zeit ihrem Beruf widmen, wollte im Justizministerium aufsteigen, und nichts sollte sie davon abhalten. Als sie Ende dreißig war, starben innerhalb eines einzigen Jahres Orlas Eltern, ihr Mann verließ sie, und ihre Stelle wurde gestrichen.«

Alice starrte das Bild an der Wand an. Ich stellte mir vor, dass sie Orlas Lage einigermaßen gut nachvollziehen konnte. Mit Verlust kannte sie sich aus.

»Orla hatte bis zu dem Zeitpunkt mehr als dreitausend Fälle verhandelt«, fuhr Vivian fort. »Angeblich hat sie alle gewonnen. Sie war ein Zahnrädchen im Thatcher-Apparat gewesen, dann verlor Thatcher von heute auf morgen ihre Macht und Orla ihren Job.

Also zog sie sich nach Rathlin zurück, die Insel, auf der sie aufgewachsen war. Sie mietete sich ein Cottage und hatte vor, ein oder zwei Wochen zu bleiben, nachzudenken und ihren nächsten Schritt zu planen. In den folgenden Tagen allerdings fühlte sie sich immer stärker vom Tempo des Insellebens angezogen, dem ruhigen Dasein, das sie als Kind erlebt hatte. Sie erkannte, dass das, was sie für so wichtig erachtet hatte, eigentlich keinen Wert besaß. Sie war auf die Insel gefahren, um den Stress und die Ängste wegen ihres Jobverlusts zu verarbeiten, nur um festzustellen, dass sie ihn gar nicht als so niederschmetternd empfand. Was sie wirklich erschütterte, war das Ende ihrer Ehe.

Ihren Mann hatte sie während des Studiums leidenschaftlich geliebt. Die beiden hatten jung geheiratet und sich dann langsam auseinandergelebt. Als er um die Scheidung bat, war sie geradezu erleichtert, ein komplexes Problem weniger, um das sie sich Gedanken machen musste. Wenn sie einmal brutal ehrlich zu sich war, musste sie zugeben, dass sie die Ehe als lästig empfunden hatte, weil es ihr jedes Mal ein schlechtes Gewissen bereitete, wenn sie wieder lange arbeiten musste.

Sie war aus Idealismus und dem Wunsch, Opfern von Verbrechen zu helfen, in die Strafverfolgung eingestiegen. In den Monaten nach ihrer Scheidung allerdings dachte sie gründlich über ihre berufliche Laufbahn nach. Sie lebte vom Adrenalin, hetzte von einem Termin zum anderen, hatte nie Zeit, die Dinge aus einer weiteren Perspektive zu betrachten. Nach und nach war sie Teil einer sich verändernden politischen Landschaft geworden, vor der sie keinen aufrichtigen Respekt hatte. Die Trägheit des alltäglichen Geschehens riss sie einfach mit.

Als sie das alles begriff, begann sie, den Verlauf ihrer Ehe zu analysieren. Sie machte einen Versuch, die Beziehung wieder anzufachen, aber ihr Mann hatte bereits damit abgeschlossen.«

Vivian redete jetzt schneller, offensichtlich noch immer begeistert von einer Geschichte, die sie wahrscheinlich schon Dutzende Male erzählt hatte.

»Ein Jahr später begegnete Orla auf ihrem täglichen Inselspaziergang Richard, einem amerikanischen Touristen, der auf der Suche nach den fernen Wurzeln seiner Familie allein die nordirischen Inseln bereiste. Richard stornierte seinen Rückflug, kündigte seine Stelle in den Staaten, verlängerte seine Zimmerbuchung im einzigen Gasthaus der Insel und bat Orla schließlich, ihn zu heiraten.«

Ich sah Alice an, dass irgendetwas sie störte. »In dieser Geschichte«, sagte sie, »geben alle ihre Jobs auf. Ist das etwa eine Voraussetzung für das Ganze? Jake und ich lieben nämlich unsere Berufe.«

»Ich versichere euch, dass der Pakt viele Mitglieder hat, einschließlich eures Sponsors, die geschäftlich sehr erfolgreich sind«, gab Vivian zurück. »Ihr sollt ganz ihr selbst sein, nur besser.«

Diesen Spruch hatte ich ziemlich sicher im Ferienlager schon gehört.

»Orla reagierte zögerlich auf Richards Antrag«, fuhr Vivian fort. »Mittlerweile wusste sie, was zur Auflösung ihrer Ehe geführt hatte, und sie wollte ihre Fehler nicht wiederholen. Ihrer Ansicht nach sind wir alle Gewohnheitstiere. Wenn man einmal in einem Trott feststeckt, ändert man sich nur schwer.«

»Aber möglich ist es schon«, widersprach ich. »Darauf gründet meine Praxis, mein gesamtes Arbeitsgebiet.«

»Natürlich ist es das«, sagte Vivian. »Und Orla würde dir auch zustimmen. Sie kam zu dem Schluss, wenn ihre zweite Ehe halten sollte, brauchte sie eine klare Strategie. Tagelang wanderte sie an der Küste auf und ab und dachte über die Ehe nach: was zu ihrem Scheitern führte und was sie gedeihen ließ. In ihrem Cottage tippte sie ihre Ideen in die alte Schreibmaschine, die ihre Mutter, eine aufstrebende Schriftstellerin, Jahrzehnte vorher benutzt hatte. Im Verlauf von siebzehn Tagen stapelten sich die Seiten auf dem Tisch, das Handbuch wuchs an, und das System für eine stabile Ehe wurde geschaffen. Und genau das ist es, ein System – ein höchst effektives, wissenschaftlich begründetes System, dessen Vorteile immer wieder nachgewiesen wurden. Weil Orla überzeugt ist, dass das Gelingen einer Ehe nicht dem Zufall überlassen werden sollte. Letztlich bilden die Ideen, die Orla auf diesen Wanderungen entwickelt hatte, die Grundlage des Pakts.«

»Haben Orla und Richard geheiratet?«, fragte ich.

»Ja.«

Alice lehnte sich vor. »Sind sie noch verheiratet?«

Vivian nickte energisch. »Aber natürlich. Das sind wir alle. Der Pakt funktioniert. Er funktioniert für Orla, er funktioniert für mich, und er wird auch für euch funktionieren. Einfach gesagt ist der Pakt zweierlei. Er ist eine Vereinbarung, die man mit seinem Partner trifft. Und er ist die Mitgliedschaft in einer Gruppe« – sie klickte auf ein neues Bild und deutete auf eine Ansammlung fröhlicher Menschen auf einem grünen Rasen – »einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, um diese Vereinbarung zu unterstützen und durchzusetzen. Ist es jetzt klarer?«

»Nicht unbedingt«, sagte Alice lächelnd. »Aber ich bin fasziniert.«

Vivian klickte ein paar Fotos weiter. Die meisten zeigten offensichtlich gut betuchte Menschen, die sich in vornehmen Gärten oder schick eingerichteten Räumen amüsierten. Bei einem Foto von Orla, die von einem Balkon aus zu einem gebannten Publikum sprach, im Hintergrund die gleißende Sonne und eine weite Wüste, hielt sie an.

»Orla hatte sich schon als junger Mensch für juristische Arbeit interessiert«, sagte Vivian. »Ihr gefiel, dass das Recht bindend war, und wo nicht, gaben Präzedenzfälle eine Orientierung. Sie empfand es als tröstlich, dass die Antworten bereits da waren und nur gefunden werden mussten. Orla erkannte, dass die Ehe, ebenso wie die Gesellschaft, Gesetze benötigt.

Ihrer Meinung nach hatte die britische Gesellschaft dieser Gesetze wegen jahrhundertelang reibungslos funktioniert. Jeder wusste, was von ihm erwartet wurde. Obwohl mancher vielleicht betrügen oder stehlen oder, Gott bewahre, sogar einen Mord begehen wollte, verstieß der Großteil der Bevölkerung nicht gegen die Gesetze, weil er die Konsequenzen kannte. Nachdem Orlas erste Ehe gescheitert war, merkte sie, dass nicht nur die Erwartungen an eine Ehe unklar waren, sondern auch die Konsequenzen, die sie mit sich brachte.«

»Dann ist der Pakt also der Versuch, die Prinzipien des britischen Rechts auf die Ehe zu übertragen?«, fragte ich.

»Mehr als ein Versuch. Es findet wirklich statt.« Vivian schaltete den Projektor aus. »Ich kann den wahren Wert gar nicht genug betonen: Der Pakt bedeutet Unterstützung der Gemeinschaft, Förderung und Struktur für die Institution Ehe.«

»Du hattest Konsequenzen erwähnt«, sagte Alice. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstanden habe.«

»Also, ich war schon einmal verheiratet«, sagte Vivian. »Ich war zweiundzwanzig, er dreiundzwanzig. Wir kannten uns seit der Schule und waren schon ewig zusammen. Anfangs war es aufregend, wie beide gegen den Rest der Welt, aber irgendwann – ich kann nicht mehr sagen, wann genau es anfing – fühlte ich mich so allein. Wir hatten Probleme, und es gab niemanden, an den ich mich wenden konnte. Mein Mann betrog mich. Ich hatte Angst, dass es an mir lag, wusste aber nicht, wie ich reagieren sollte. Die Scheidung kam so schnell, als wäre sie der einzige Ausweg, und ich brauchte einfach nur rausgehen.«

In Vivians Augenwinkel glänzte eine einzelne Träne. Sie straffte die Schultern und wischte sie mit der Fingerspitze weg. »Als ich Jeremy kennenlernte, war ich ein gebranntes Kind. Genau wie Orla. Jeremy machte mir einen Antrag, und ich nahm ihn an, schob die Hochzeit aber immer wieder hinaus. Ich hatte schreckliche Angst, dieselben Fehler noch mal zu machen. Das Verheiratetsein beschwor solche negativen Gedanken herauf.«

»Wie bist du in der Organisation gelandet?«, fragte Alice.

»Irgendwann gingen mir die Ausreden aus. Jeremy war wild entschlossen, einen Termin festzusetzen, und ich ließ ihn, und dann ging alles rasend schnell. Zwei Wochen vor der Hochzeit war ich auf Geschäftsreise. Ich saß in Glasgow in der Virgin Lounge und trank Gin, vielleicht einen zu viel. Und ich weinte. Ich schluchzte so laut, dass die Leute um mich herum aufstanden und weggingen. Peinlich. Aber dann setzte sich ein älterer Herr, gut gekleidet, freundlich, neben mich. Er war auf dem Weg zu seinem Sohn in Palo Alto. Wir redeten und redeten. Ich erzählte ihm von der Hochzeit, und es tat gut, meine Ängste bei diesem Fremden abzuladen, bei jemandem, der nicht von dem Ganzen betroffen war. In Island war ein Vulkan ausgebrochen, daher wurden aus zwei Stunden Aufenthalt acht. Doch mein Gesprächspartner war so nett, so interessant, dass die Wartezeit ein Vergnügen war. Ein paar Tage später traf ein Hochzeitsgeschenk mit der Post ein. Und hier bin ich. Seit sechs Jahren glücklich verheiratet.«

Sie griff nach dem Holzkästchen, drehte den goldenen Schlüssel und klappte den Deckel auf. Darin lag ein Stapel Dokumente aus Pergament, mit dunkelblauer Tinte beschriftet. Vivian legte sie auf den Tisch. Darunter befanden sich zwei exakt gleiche, in goldenes Leder gebundene Büchlein.

Fasziniert strich Alice mit den Fingern über die Bücher.

Vivian gab jedem von uns eines. Zu meinem Schrecken waren darauf unsere Namen eingeprägt, das Hochzeitsdatum und in großen Blockbuchstaben DER PAKT.

»Das ist das Handbuch«, erklärte Vivian. »Ihr werdet es auswendig lernen müssen.«