Niemand, den du kennst - Michelle Richmond - E-Book
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Niemand, den du kennst E-Book

Michelle Richmond

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Beschreibung

Ihr ganzes Leben galten Ellie und ihre ältere Schwester Lila als grundverschieden: Lila mit ihrer außergewöhnlichen Begabung für Mathematik stand stets im Mittelpunkt der Familie, während Ellie, die bodenständigere und beliebtere der beiden, sich im Hintergrund hielt. Trotzdem verband die beiden Schwestern ein enges Band, das eines Tages auf schmerzhafteste Weise zerreißen sollte. Denn als Lila spurlos verschwand, brach für Ellie eine Welt zusammen. Fassungslos wurde sie zur Zeugin einer verzweifelten Fahndung, die mit dem Fund von Lilas Leiche in einem Waldstück bei San Francisco endete – Todesursache ungeklärt.

Mehr als zwanzig Jahre später stößt die inzwischen 38-jährige Ellie zufällig auf Lilas Notizbuch, und alte Wunden brechen wieder auf. Wie getrieben stellt Ellie Nachforschungen an und muss bald einsehen, dass sie nicht alle Seiten ihrer Schwester kannte. Lilas Leben steckte voller Geheimnisse. Dunkler Geheimnisse, die sich selbst Schwestern nicht anvertrauen …

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Über das Buch

Ihr ganzes Leben galten Ellie und ihre ältere Schwester Lila als grundverschieden: Lila mit ihrer außergewöhnlichen Begabung für Mathematik stand stets im Mittelpunkt der Familie, während Ellie, die bodenständigere und beliebtere der beiden, sich im Hintergrund hielt. Trotzdem verband die beiden Schwestern ein enges Band, das eines Tages auf schmerzhafteste Weise zerreißen sollte.

Denn als Lila spurlos verschwand, brach für Ellie eine Welt zusammen. Fassungslos wurde sie zur Zeugin einer verzweifelten Fahndung, die mit dem Fund von Lilas Leiche in einem Waldstück bei San Francisco endete – Todesursache ungeklärt.

Mehr als zwanzig Jahre später stößt die inzwischen 38-jährige Ellie zufällig auf Lilas Notizbuch, und alte Wunden brechen wieder auf. Wie getrieben stellt Ellie Nachforschungen an und muss bald einsehen, dass sie nicht alle Seiten ihrer Schwester kannte.

Lilas Leben steckte voller Geheimnisse. Dunkler Geheimnisse, die sich selbst Schwestern nicht anvertrauen…

Über Michelle Richmond

Michelle Richmond wuchs in Mobile, Alabama, als zweite von drei Schwestern auf. An der University of Miami absolvierte sie den Master of Fine Arts und lehrte anschließend unter anderem an der Universität von San Francisco, am California College of the Arts und an der Universität Notre Dame de Namur. Sie gründete Fiction Attic Press und das San Francisco Journal of Books und ist außerdem als Verlegerin tätig. Michelle Richmond lebt mit ihrem Mann in Paris.

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Michelle Richmond

Niemand, den du kennst

Aus dem Amerikanischen von Astrid Finke

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

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Kapitel 15

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Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Danksagung

Impressum

Für meine Schwestern

Monica und Misty

Man kann beim Studium der Wahrheit drei Hauptziele haben: einmal, sie zu entdecken, wenn man sie sucht; dann: sie zu beweisen, wenn man sie besitzt; und zum Letzten: sie vom Falschen zu unterscheiden, wenn man sie prüft.

BLAISE PASCAL

1

ALS ICH IHN ENDLICH FAND, hatte ich die Suche längst aufgegeben. Es war Nacht und ich aß allein in einem kleinen Café in Diriomo in Nicaragua. Das Lokal war mir im Laufe meiner jährlichen Aufenthalte in dem Dorf lieb und teuer geworden, zu jeder Tages- und Nachtzeit konnte man dort einen Teller Bohnen und eine Tasse Kaffee bekommen.

Ich hatte den Abend damit verbracht, durch die dunklen, menschenleeren Straßen zu wandern. Julitage in Diriomo waren brütend heiß; mit Einbruch der Dunkelheit strahlten die Gebäude die tagsüber gesammelte Hitze ab, sodass die Luft einen verbrannten, staubigen Geruch annahm. Schließlich gelangte ich an die vertraute Kreuzung. Links ging es zu meinem Hotel mit dem harten Bett und dem wenig hilfreichen Deckenventilator. Geradeaus lag ein Baseballfeld, auf dem ich einmal ein Kind aus dem Ort dabei beobachtet hatte, wie es eine Ratte mit einem alten Holzschläger totschlug. Rechts führte eine breite Straße ab, die wiederum in eine gewundene Gasse überging, an deren Ende das Café lockte.

Wenige Minuten später stand ich vor der Tür und zog an der kleinen Kupferglocke. Maria erschien in einem langen blauen Rock, weißer Bluse und ohne Schuhe, sie wirkte, als hätte sie mich erwartet.

»Habe ich Sie geweckt?«

»Nein«, sagte sie. »Willkommen.«

Das war ein Begrüßungsritual zwischen uns. Ich kam nie dahinter, ob Maria in solchen Nächten eigentlich schlief oder ob sie geduldig in ihrer Küche saß und auf Gäste wartete.

»Was gibt es heute?«, fragte ich. Das war ebenfalls ein Ritual, denn wir beide wussten, dass die Speisekarte sich nie änderte, gleich welche Uhr- oder Jahreszeit es war.

»Nacatamales«, sagte sie. »Está usted sola?«

»Sí, señora, ich bin allein.« Meine Antwort blieb, ebenso wie die Speisekarte, seit Jahren unverändert. Und doch stellte sie die Frage jedes Mal, mit einer unverhüllten Hoffnung, dass sich eines Tages das Blatt für mich wenden würde.

Das Café war leer und dunkel, trotz der Hitze draußen beinahe kühl. Sie deutete auf einen kleinen Tisch, auf dem eine Kerze in einem Glas brannte. Ich dankte ihr und setzte mich. In der Küche, die vom Essraum durch einen schmalen, mit rotem Stoff verhängten Durchgang getrennt war, hörte ich sie den Kaffee zubereiten. Ich betrachtete die Muster, die das Kerzenlicht auf die gegenüberliegende Wand zeichnete. Die Bilder schienen mir zu schön und symmetrisch, um zufällig zu sein – ein Vogel, ein Segelboot, ein Stern, gefolgt von einer Reihe rechteckiger Lichtbalken. Es löste ein Gefühl in mir aus, das ich oft in diesem Dorf hatte, und war einer der Gründe, weshalb ich immer wieder hierherkam, wenn mein Beruf als Kaffeeeinkäuferin mich nach Nicaragua führte – das Gefühl, dass selbst die einfachsten natürlichen Vorgänge bestimmten Regeln gehorchten, als herrschte eine namenlose Ordnung über das Belebte wie auch das Unbelebte. So empfand ich selten zu Hause in San Francisco. Kein Wunder, dass die Einheimischen von Diriomo als dem pueblo brujo sprachen – dem verhexten Dorf.

Maria hatte gerade den Teller vor mir auf dem Tisch abgestellt, als die Glocke draußen ertönte. In all den Jahren, seit ich zwischen den Porzellanpuppen und fleischfressenden Pflanzen in Marias Café meine mitternächtlichen Mahlzeiten einnahm, war ich kaum je einem anderen Gast begegnet.

Maria ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Einen kurzen Moment lang wurde mein Tisch von Mondlicht überflutet.

»Buenas noches, Maria«, sagte eine männliche Stimme.

»Buenas noches.«

Die Tür wurde wieder geschlossen und der Raum erneut in fast völlige Dunkelheit getaucht.

Der Mann ging an meinem Tisch vorüber. Sein Gesicht war abgewandt, aber im schwachen Licht aus der Küche bemerkte ich, dass er, wie sehr große Männer es häufig tun, die Schultern nach vorn fallen ließ, wie um sich dafür zu entschuldigen, so viel Raum einzunehmen. Er trug eine Baseballkappe, die er tief in die Stirn gezogen hatte. Unter einem Arm klemmte ein Buch. Er ging zu einem Tisch in der Ecke, dem von meinem am weitesten entfernten. Als er sich hinsetzte, mit dem Rücken zu mir, ächzte der Holzstuhl so heftig, dass ich befürchtete, er könnte zerbrechen.

Maria holte ein Streichholz aus ihrer Schürzentasche, riss es an der Wand an und hielt die Flamme in ein dunkelrotes Glas auf dem Tisch des Mannes. Erst als sie sich wieder in die Küche zurückgezogen hatte, um seinen Kaffee zu holen, drehte er sich um und warf mir unter dem Schirm seiner Kappe hervor einen Blick zu. Im flackernden roten Kerzenlicht war nur sein leicht vorspringendes Kinn zu erkennen, der Rest seines Gesichts duckte sich in die Schatten.

»Hallo«, sagte ich.

»Guten Abend.«

»Sie sind Amerikaner«, sagte ich überrascht. Ausländer waren selten in Diriomo. Einem amerikanischen Landsmann mitten in der Nacht ausgerechnet in diesem Café zu begegnen war ausgesprochen merkwürdig.

»Ja, das bin ich«, sagte er. Dann winkte er höflich mit der Hand, beugte sich über den Tisch und blickte in sein Buch. Er hielt die Kerze über die Seite, und ich überlegte, ob ich ihn darauf aufmerksam machen sollte, dass Lesen im Dunkeln schlecht für die Augen war. Er wirkte wie der Typ Mann, dem man solche Dinge erklären musste, der Typ Mann, um den sich jemand kümmern sollte. Bald brachte Maria ihm Kaffee. Etwas an der Art, wie er die Tasse hielt, wie er die Seiten seines Buches umblätterte, selbst wie er den Kopf in stillem Dank zu Maria hob, als sie ihm eine Serviette und eine Schüssel mit Zuckerstückchen brachte, kam mir bekannt vor. Ich betrachtete ihn eingehend, fragte mich, ob das Gefühl, ihn zu kennen, nur eine Illusion war, ausgelöst davon, dass ich schon zu lange allein unterwegs war. Doch je länger ich dort saß, desto überzeugter war ich, dass es sich nicht nur um die vage Vertrautheit unter Landsleuten handelte, sondern um etwas Persönlicheres.

Während er, scheinbar ohne mich wahrzunehmen, seinen Kaffee trank und in seinem Buch las, versuchte ich, mich an die Umstände zu erinnern, unter denen ich ihm schon einmal begegnet sein könnte. Ich spürte mehr, als dass ich es wusste, dass es vor langer Zeit gewesen war und dass zwischen uns ein gewisser Grad von Intimität bestanden hatte; diese Empfindung von Intimität, gemischt mit meiner mangelnden Erinnerung war in höchstem Maße verunsichernd. Kurz schoss mir durch den Kopf, ob ich mit ihm geschlafen haben könnte. Nach dem Tod meiner Schwester hatte ich eine Phase durchlebt, in der ich mit vielen Männern schlief. Das lag aber schon lange zurück, so lange, dass es mir fast wie ein anderes Leben vorkam.

Maria brachte mein Essen. Ich wartete, bis die dampfenden Kochbananenblätter etwas abgekühlt waren, bevor ich sie abschälte, das nacatamal in die Hände nahm und hineinbiss. Zu Hause hatte ich mehrfach versucht, Marias Mischung aus Schweinefleisch, Reis, Kartoffeln, Minzblättern, Rosinen und Gewürzen nachzukochen, aber es schmeckte irgendwie nie richtig gut. Doch wenn ich ihr das Rezept entlocken wollte, lachte sie nur und tat, als verstünde sie meine Bitte nicht.

»Die sollten Sie mal probieren«, sagte ich zwischen zwei Bissen zu dem Mann.

»Ich kenne Marias nacatamales«, antwortete er und warf wieder einen kurzen Blick in meine Richtung. »Köstlich, aber ich habe schon gegessen.«

Was konnte er hier um diese Uhrzeit machen, überlegte ich, wenn er keinen Hunger mehr hatte? In Diriomo saßen Männer nicht allein im Café und lasen Bücher, nicht einmal amerikanische Männer. Einige Minuten später, als ich mein Geld zum Zahlen herausholte, klappte er sein Buch zu und starrte einige Sekunden lang auf das Cover, als müsse er seinen Mut zusammennehmen, dann stand er auf und kam an meinen Tisch. Unverhohlen beobachtete uns Maria aus dem Küchendurchgang. Der rote Vorhang wurde zur Seite gezogen, der Raum von weichem Licht erfüllt. Mir schoss flüchtig durch den Kopf, dass Maria diese Begegnung vielleicht meinetwegen eingefädelt hatte, vielleicht wollte sie sich im Kuppeln versuchen.

Der Mann zog seine Baseballkappe vom Kopf und hielt sie in beiden Händen. Sein struppiges Haar streifte die niedrige Decke und lud sich statisch auf. »Verzeihung«, sagte er. Jetzt konnte ich sein Gesicht ganz erkennen – die großen dunklen Augen und den breiten Mund, die hohen Wangenknochen und das kräftige, von Stoppeln bedeckte Kinn – und wusste sofort, wer er war.

Ich hatte ihn seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Damals auf dem College hatte ich einige Monate lang ununterbrochen an ihn gedacht. Ich hatte die Zeitung nach seinem Namen abgesucht, war mit dem Auto an seiner Erdgeschosswohnung in Russian Hill vorbeigefahren, hatte in einem kleinen italienischen Restaurant in North Beach, in dem er verkehrte, zu Mittag gegessen, obwohl die Preise mein Studentenbudget deutlich überstiegen. Damals hielt ich es für möglich, dass, wenn ich ihn nur unaufhörlich beschattete, ich etwas begreifen könnte – vielleicht nicht, was er getan hatte, aber doch den Mechanismus, der ihn dazu befähigt hatte. Dieser Mechanismus, dessen war ich mir sicher, war eine psychologische Abnormität: eine Art moralische Stimmgabel, die normalerweise bei Menschen vorhanden war, bei ihm jedoch fehlte.

Dann, eines Nachmittags im August 1991, verschwand er. An jenem Tag betrat ich um halb eins das Restaurant in North Beach, wie ich es drei Monate lang jede Woche getan hatte. Sofort wanderte mein Blick zu einem Tisch in der Ecke, über dem eine Miniatur des Mailänder Doms in Öl hing. Dort saß er sonst immer, an einem Platz, der offenbar speziell für ihn reserviert war. Jeden Montag kam er um Viertel nach zwölf, setzte sich und legte rechts von seinem Brotteller einen Block auf den Tisch. Er sah nur selten auf und nahm seine Umgebung kaum wahr, kritzelte nur fieberhaft mit einem Druckbleistift auf den Block. Er hielt nur inne, um Spaghetti mit Garnelen in Marinarasoße zu bestellen, die er hastig herunterschlang, gefolgt von einem Espresso, den er langsam trank. Die ganze Zeit über arbeitete er an etwas, schrieb mit der rechten Hand und aß mit der Linken. Doch an jenem Tag im August war er nicht da. Ich spürte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Ich tunkte mein Brot in Olivenöl und wartete. Als der Kellner meinen Salat brachte, wusste ich, dass er nicht mehr kommen würde. Um Viertel nach eins meldete ich mich in der Bibliothek der University of San Francisco, wo ich eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft hatte, krank und nahm den Bus nach Russian Hill. An seiner Wohnung hing ein Zu-vermieten-Schild und die Fensterläden standen offen. Durch die großen Fenster konnte ich sehen, dass alles leer war, alle Möbel waren weg. Mir kam der Gedanke, dass ich ihn möglicherweise nie wieder sehen würde.

2

»EINE GESCHICHTE hat weder Anfang noch Ende«, pflegte mein Englischdozent im zweiten College-Jahr immer zu sagen. »Willkürlich wählt man den Moment, von dem aus man ein Erlebnis rückschauend betrachtet oder sich vorstellt, wie es weitergeht.« Dieses Motto wusste Andrew Thorpe in jede Unterrichtsstunde einzuflechten, gleich über welches Buch wir diskutierten. Man konnte fast den Moment erahnen, in dem er es sagen würde, da dem Satz immer eine ausgedehnte Pause vorausging, ein Heben der Augenbrauen, ein schnelles Luftholen.

Ich würde einen Mittwoch im Dezember 1989 wählen. Jedes Mal, wenn ich über die Einzelheiten nachgrübelte, wählte ich diesen Tag, und er wurde zum Ausgangspunkt, von dem aus alle anderen Ereignisse sich entwickelten, wurde zu dem Augenblick, nach dem ich die beiden Teile meines Lebens beurteilte: die Jahre mit Lila und die ohne sie.

An jenem Morgen hörte ich in der Küche Jimmy Cliff im Radio und wartete darauf, dass der Kaffee durchlief. Unsere Eltern waren schon zur Arbeit gefahren. Lila kam in einer schwarzen Rüschenbluse, einem grünen Cordrock und Converse High Tops nach unten. Ihre Augen waren gerötet, und erschrocken stellte ich fest, dass sie geweint hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich Lila zuletzt hatte weinen sehen.

»Was ist denn los?«

»Nichts. Es ist einfach nur eine stressige Woche.« Sie machte eine kleine Handbewegung, als wollte sie die ganze Sache schnell abtun. Sie trug einen Ring, den ich noch nie gesehen hatte, einen zarten Goldreif mit einem kleinen schwarzen Stein.

»Tanz mit mir«, sagte ich, um sie aufzumuntern. Ich nahm ihre Hand und versuchte, sie herumzuwirbeln, aber sie entzog sich mir.

Die Kaffeemaschine piepte. Ich stellte das Radio leiser und goss ihr eine Tasse ein. »Hat es was mit ihm zu tun?«, fragte ich.

»Mit wem?«

»Stimmt doch, oder? Komm schon. Sprich mit mir.«

Sie betrachtete durch das Küchenfenster einen Ast, der in der vorangegangenen Woche während eines Gewitters auf unsere Terrasse gefallen war. Erst später, als ich die Ereignisse dieser Tage in meinem Kopf wieder und wieder durchspielte, kam es mir merkwürdig vor, dass niemand von uns sich die Mühe gemacht hatte, den Ast aufzuheben.

»Wie lange liegt der schon da?«, fragte Lila.

»Eine Weile.«

»Wir sollten ihn wegräumen.«

»Ja.«

Aber keine von uns machte einen Schritt auf die Küchentür zu.

»Sag mir, wie er heißt«, sagte ich schließlich. »Ich kenne ein paar Jungs aus dem Footballteam. Ich kann ihm einen Denkzettel verpassen lassen.« Das war nur halb als Witz gemeint.

Lila reagierte nicht; es war, als hätte sie mich überhaupt nicht gehört. Schon vor langer Zeit hatte ich gelernt, mich durch ihr Schweigen nicht gekränkt zu fühlen. Einmal, als ich ihr vorgehalten hatte, mich zu ignorieren, hatte sie erklärt: »Es ist, als würde ich durch ein Haus wandern. Ich gehe zufällig in ein anderes Zimmer, und die Tür fällt hinter mir zu. Und dann lasse ich mich auf das ein, was in dem Zimmer vorgeht, und alles andere verschwindet irgendwie.«

Ich streckte den Arm aus und berührte ihre Hand, um sie wieder zurückzuholen. »Schöner Ring. Ist das ein Opal?«

Sie steckte die Hand in die Tasche. »Der ist nicht echt.«

»Woher hast du ihn?«

Sie zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht mehr.«

Lila kaufte sich nie selbst Schmuck. Der Ring musste ein Geschenk von ihm sein, wer auch immer er war. Allein der Gedanke, sich Lila in einer Liebesbeziehung vorzustellen, war ungewohnt. Sie hatte während ihrer gesamten Highschool- und College-Zeit höchstens eine Handvoll Verabredungen gehabt. Meine Mutter verkündete gern, dass die Jungs ein Mädchen von solch außergewöhnlicher Intelligenz nicht zu schätzen wussten, aber ich hegte den Verdacht, dass meine Mutter das völlig falsch sah. Jungs waren sehr wohl an Lila interessiert; sie hatte nur einfach keine Verwendung für sie. Als ich in der neunten Klasse war und Lila in der zwölften, hatte ich beobachtet, wie die Jungen sie ansahen. Ich war diejenige, mit der sie sprachen, die sie zu Partys einluden und mit der sie sich verabredeten, die lustige und unkomplizierte Schwester, auf die man zählen konnte, wenn Gruppenausflüge organisiert oder den Lehrern ausgeklügelte Streiche gespielt werden sollten, aber Lila war alles andere als unsichtbar. Mit ihrem langen dunklen Haar, ihrer Unnahbarkeit, ihrem sonderbaren Sinn für Humor, ihrer Leidenschaft für Mathematik schüchterte sie, so stellte ich es mir vor, die Jungs auf eine Art und Weise ein, wie ich es nie können würde. Wenn sie den Flur hinunterlief, allein und tief in Gedanken versunken, gekleidet in die exzentrischen Klamotten, die sie sich selbst auf der alten Singer-Nähmaschine meiner Mutter nähte, muss sie vollkommen unzugänglich gewirkt haben. Obwohl die Jungs nicht mit ihr sprachen, war für mich klar, dass sie sie sahen. Ich wurde gemocht, aber Lila hatte ein Geheimnis.

Selbst nachdem sie die UC Berkeley absolviert und angefangen hatte, in Stanford reine Mathematik zu studieren, reichte es Lila voll und ganz, in ihrem alten Zimmer zu wohnen, an den meisten Abenden mit der Familie zu essen, mit Mom und Dad am Wochenende Videos auszuleihen, während ich mit meinen Freunden unterwegs war. In letzter Zeit jedoch ging sie mehrmals die Woche abends aus und kam erst nach Mitternacht mit einem Lächeln auf dem Gesicht zurück. Wenn ich aus ihr herauszubekommen versuchte, mit wem sie unterwegs gewesen war, antwortete sie jedes Mal: »Nur ein Bekannter.«

Unsere Mutter war, genau wie ich, begeistert von der Vorstellung, dass Lila sich möglicherweise mit einem Mann traf. »Ich will nicht, dass sie einsam durchs Leben geht«, sagte sie mehr als einmal, wenn ich auch argwöhnte, dass Lila nicht unbedingt in der Lage war, Einsamkeit auf dieselbe Weise zu empfinden wie die meisten Leute. In ihrem Kopf ging so viel vor, dass sie sich nie nach der Gesellschaft von Freunden sehnte. Obwohl wir uns stundenlang leise in der Dunkelheit unterhalten konnten, wusste ich, dass sie genauso zufrieden war, wenn sie allein war, einen Bleistift in der Hand, und an irgendeinem komplizierten mathematischen Problem tüftelte. Ich dachte, für andere Mädchen wäre eine Schwester zu haben wie vor einer Milchglasscheibe zu stehen, durch die die eigene Vergangenheit und Persönlichkeit mit interessanten Variationen auf einen selbst zurückgeworfen wird. Abgesehen von unserer äußerlichen Ähnlichkeit aber waren Lila und ich so verschieden, dass ich meine Zweifel hegte, ob wir auch Freundinnen gewesen wären, wenn wir in unterschiedliche Familien geboren worden wären.

Lila trank ihren Kaffee aus, nahm einen Apfel aus einer Schale, schnappte sich ihren Rucksack und sagte: »Richte Mom aus, dass ich heute spät nach Hause komme.«

»Wie spät?«

»Spät.«

»Wer auch immer er sein mag«, sagte ich, »sei nicht zu nachsichtig mit ihm. Er darf nicht glauben, dass er machen kann, was er will.«

Ich sah den Ansatz eines Lächelns auf ihrem Gesicht. »Ist das eine Regel?«

»Eine Grundregel.«

Ich folgte ihr in den Hausflur und nahm ihre schwarze Marinejacke vom Haken neben der Treppe. Während ich ihr hineinhalf, sagte sie, als fiele es ihr gerade ein: »Könnte ich unter Umständen heute das Auto haben?« Seit ich drei Jahre zuvor meinen Führerschein gemacht hatte, teilten wir uns einen blauen Toyota. Lila war diejenige, die jeden Monat unseren Benutzungsplan aufstellte, und in diesem Monat hatte sie mir den Mittwoch zugeteilt.

»An sich schon, aber ich muss bis vier Uhr in der Bibliothek arbeiten und habe um halb fünf einen Zahnarzttermin am anderen Ende der Stadt. Das schaffe ich nie mit dem Bus.«

»Ist auch nicht so wichtig«, sagte sie.

Bevor sie durch die Tür ging, verabschiedete ich sie noch mit unserem traditionellen Pfadfindergruß. Zwei, vielleicht drei Sekunden lang hörte ich die vertrauten Geräusche der Außenwelt in unser stilles Haus eindringen – ein vorbeifahrendes Auto, ein Kind, das mit seinem Skateboard den steilen Bürgersteig hinunterrollte, ein paar Takte Musik aus einem offenen Fenster gegenüber. Dann fiel die Haustür leise hinter ihr ins Schloss und sie war weg. Wann immer ich mir in den folgenden Monaten diesen Augenblick ins Gedächtnis rief, hatte ich das Gefühl, dass das klickende Geräusch nicht das Türschloss gewesen war, sondern etwas in meinem eigenen Kopf, ein kaum vernehmbares übersinnliches Geräusch. Dann redete ich mir ein, wenn ich nur zugehört, wenn ich nur aufgepasst hätte, dann hätte ich den Verlauf der Geschichte irgendwie verändern können.

An jenem Abend richtete ich meinen Eltern aus, was Lila gesagt hatte, und wir alle gingen zur gewohnten Zeit ins Bett. Als ich am nächsten Morgen nach unten kam, stand meine Mutter an die Arbeitsfläche gelehnt, aß Cornflakes und studierte einen juristischen Schriftsatz. Mein Vater saß mit der Zeitung am Tisch und strich Butter auf einen Toast. »Geh deine Schwester wecken, Ellie«, bat meine Mutter. »Ich kann nicht fassen, dass sie noch nicht auf ist. Sie hat um neun Uhr ein Seminar.«

Ich ging nach oben und klopfte an Lilas Zimmer, aber sie reagierte nicht. Also machte ich die Tür auf und sah, dass ihr Bett unbenutzt war, die weißen Kissen und die Tagesdecke ordentlich und glatt. Unser kleines gemeinsames Bad lag direkt neben meinem Zimmer, und Lila hörte immer den Sender KLIV im Radio, wenn sie sich morgens fertig machte. Sie hätte sich unmöglich duschen und anziehen können, ohne dass ich sie gehört hätte.

Ich ging wieder nach unten. Meine Mutter spülte ihre Müslischale unter dem Wasserhahn ab. »Sie ist nicht da«, sagte ich. »Sieht so aus, als wäre sie gestern Nacht nicht nach Hause gekommen.«

Meine Mutter wandte sich zu mir um, die Hände noch nass. »Was?«

Mein Vater sah erschrocken von seiner Zeitung auf. »Sie hat nicht angerufen?«

»Hat sie dir erzählt, was sie gestern Abend vorhatte?«, fragte meine Mutter.

»Nein. Sie war gestern Morgen ein bisschen bedrückt, aber sie wollte nicht sagen, warum.«

»Dieser Mensch, mit dem sie sich immer getroffen hat«, fragte meine Mutter mich, »weißt du, wer das ist?«

»Sie will mir nichts erzählen.«

Ich ging in Lilas Zimmer und nahm den Stundenplan von der Pinnwand über ihrem Schreibtisch. Wir riefen bei der Zeitschrift Composito Mathematica an, wo sie neben dem Studium arbeitete. Sie war am Vortag nicht bei dem Treffen um siebzehn Uhr gewesen. Als Nächstes riefen wir einen Mann namens Steve an, der die Lerngruppe leitete, an der Lila teilnahm; dort hatte sie ebenfalls gefehlt.

An diesem Punkt rief mein Vater die Polizei an und meldete sie als vermisst. Ein Beamter kam zu uns nach Hause und bat um ein Foto von Lila, das er in eine Plastikhülle steckte. Als er weg war, gingen wir ins Wohnzimmer und warteten darauf, dass das Telefon klingelte. Das war am Donnerstag. Zwei Tage lang fehlte jede Spur von ihr. Es war, als wäre meine Schwester in einen Greyhound-Busbahnhof marschiert, hätte sich eine Fahrkarte nach Irgendwo gekauft und wäre verschwunden.

Am Samstag dieser Woche wurde Lilas Rucksack in einem Müllcontainer in Healdsburg gefunden. Ihre Brieftasche, ihr Hausschlüssel und ihre Bücher waren noch darin. Das Einzige, was fehlte, war ein blau kariertes, gebundenes Notizbuch, gute zwei Zentimeter dick. Ich war mir sicher, dass das Notizbuch in ihrem Rucksack gewesen sein musste, als sie das Haus verließ, weil sie es immer und überall dabeihatte. Es war kein Tagebuch im herkömmlichen Sinne. Statt Worten enthielt es Zahlen, Seite um Seite mathematische Formeln. Für mich war der Versuch, eine ihrer Berechnungen zu lesen, ungefähr so, als würde man ein ganz normales Wort so schnell wie möglich ein Dutzend Mal hintereinander aufsagen; für sich genommen sahen die Zahlen und Buchstaben vertraut aus, aber so dicht nebeneinander angeordnet wirkten sie geheimnisvoll, wie ein fremder Code, den nur ein Hochbegabter knacken könnte. Während ich mich in Independent-Musik und osteuropäische Romane vertiefte, füllte Lila ihre Zeit mit Gleichungen und Algorithmen, langen Abfolgen von Buchstaben und Ziffern, die sich quer und längs über das Millimeterpapier zogen.

»Was bedeutet das alles?«, hatte ich sie einmal auf ihrem Bett sitzend und durch das Notizbuch blätternd gefragt. Laut las ich von einer Seite mit Eselsohr vor: »Jede gerade Zahl größer als 2 kann als Summe zweier Primzahlen geschrieben werden.«

Lila probierte gerade ein neues Kleid an. Meine Mutter kaufte ihr ständig modische Kleidung, um ihre skurrile, selbst gemachte Garderobe aufzupeppen. Aus Freundlichkeit probierte Lila sie an, führte sie unseren Eltern vor und gab einen positiven Kommentar ab, bevor sie die Sachen in ihren Schrank hängte, wo sie dann unangetastet blieben, bis ich sie an mich nahm.

»Ach, nur eines der berühmtesten mathematischen Probleme aller Zeiten, die Goldbachsche Vermutung«, sagte Lila. »Seit 1742 versuchen Mathematiker, sie zu beweisen.«

»Lass mich raten. Meine begnadete Schwester wird diejenige sein, die sie löst.«

»Man löst eine Vermutung nicht, man beweist sie.«

»Was ist der Unterschied?«

»Mathe für Anfänger«, sagte sie und zwängte ihre Füße in die Pumps, die meine Mutter passend zu dem Kleid erworben hatte. »Eine Vermutung ist eine mathematische Aussage, die allem Anschein nach wahr ist, aber noch nicht formal bewiesen wurde. Wenn es einen Beweis gibt, dann wird sie zu einem Theorem oder auch Satz. Solange es eine Vermutung ist, kann man sie zwar bei dem Versuch, andere mathematische Beweise zu erbringen, benutzen, aber jedes Ergebnis, auf das man unter Zuhilfenahme einer Vermutung kommt, ist ebenfalls nur eine Vermutung. Kapiert?«

»Danke, dass du das Genie in der Familie bist«, sagte ich. »Nimmt mir den Druck.«

Lila schleuderte die Schuhe von sich und ließ sich aufs Bett fallen. »Wenn ich sie wirklich beweisen sollte, dann kann ich mir nur ein halbes Genie auf die Fahne schreiben. Ich habe einen Partner. Es ist ein Pakt – wir werden das Problem gemeinsam lösen, und wenn es die nächsten dreißig Jahre dauert.«

»Ein Partner, soso. Und wer ist er?«

»Nur so ein Typ, den ich kenne.«

»Wenn es dreißig Jahre dauert, kannst du ihn genauso gut heiraten.«

»Seine Frau könnte etwas dagegen haben.«

»Weiß sie, dass ihr Mann mathematisch mit dir verlobt ist?«

Lila schob einen BH-Träger hoch und zupfte am Ausschnitt des Kleides. »Sie ist Künstlerin. Ich bezweifle, dass sie jemals von der Goldbachschen Vermutung gehört hat.«

Als uns die Nachricht von dem Rucksack erreichte, gingen wir zur Messe. Selbst mein Vater, dessen einziges Zugeständnis an die Religion während seines gesamten Lebens bisher gewesen war, einmal im Jahr am Ostersonntag durch die breiten Kirchentore zu treten, schloss sich an. Gemeinsam zündeten wir eine Kerze für Lila an. Während meine Mutter laut betete, betete ich auch, was ich seit Kindertagen nicht mehr getan hatte. Ich war nicht unbedingt gläubig, aber falls tatsächlich eine Chance bestand, dass Gott zuhörte, dann wollte ich alles richtig machen.

Am Montag, zwei Tage nachdem Lilas Rucksack gefunden worden war, stolperte ein Wanderer in Armstrong Woods, nahe der Stadt Guerneville am Russian River, abseits des Weges über eine teilweise von Laub bedeckte Leiche. Da war keine Wanderausrüstung, kein Ausweis. Es war vier Uhr nachmittags, als meine Eltern nach Guerneville losfuhren, hundertfünfundvierzig Kilometer nördlich von San Francisco. Ich stand an den großen Fenstern unseres Hauses und sah zu, wie der dunkelgraue Volvo aus der Garage rollte. Am Donnerstag war die Müllabfuhr da gewesen, und in dem Chaos nach Lilas Verschwinden hatte keiner von uns daran gedacht, die Tonnen wieder hereinzuholen. Das Auto hielt an, und mein Vater stieg aus und schob die leeren Mülltonnen in die Garage. Dann setzte er sich wieder in den Wagen, und ich hörte das Summen des sich schließenden Garagentors. Durch die Windschutzscheibe konnte ich meine Eltern erkennen, aber nur von den Schultern abwärts. Der dunkelblaue Rock meiner Mutter schob sich knapp über ihr Knie hoch. Die Handtasche ruhte auf ihrem Schoß. In dem Zwischenraum zwischen den beiden Vordersitzen hielten sie und mein Vater sich an den Händen. Als das Auto langsam rückwärts auf die Straße einbog, spürte ich einen Anflug von Panik.

Ich saß am Küchentisch und wartete, starrte auf die Uhr. Um 17:43 klingelte das Telefon. Es war mein Vater. Er rief von dem Apparat im Leichenschauhaus an, und die Verbindung war schlecht. Im Hintergrund lief Fahrstuhlmusik, »Little Surfer Girl« von den Beach Boys. Angestrengt versuchte ich, die Worte meines Vaters zu verstehen, und ließ ihn zweimal wiederholen. »Die Identifikation war positiv.« Selbst als ich mir der eigentlichen Worte sicher war, hatte ich noch Mühe, ihre Bedeutung zu begreifen. »Ihre Kette fehlt«, fügte er hinzu, mehr als Frage denn als Aussage, und ich dachte an das dünne Goldkettchen, das sie immer trug, mit dem winzigen Topas an einem zarten Goldanhänger. Die Kette war ein Geschenk von mir zu ihrem achtzehnten Geburtstag gewesen, gekauft von drei Monate lang gespartem Babysittergeld. Mein Vater sprach weiter. »Der Gerichtsmediziner hat als Todesursache stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf angegeben.«

In diesem Moment hinterfragte ich nicht seinen seltsam monotonen Tonfall oder dass er solch grauenhafte Nachrichten am Telefon übermittelte, während ich allein zu Hause war. Im Nachhinein würde mir klarwerden, dass er vor Schock und Trauer von Sinnen gewesen war; in diesem Augenblick konnte man von ihm keine rationalen Entscheidungen erwarten. Als ich auflegte, dachte ich an das Auto. Inwiefern hätte es die Kette der Ereignisse verändert, wenn ich es Lila am Mittwoch auf ihre Bitte hin gegeben hätte? Hätte ich nicht an meinen Zahnarzttermin gedacht, wäre Lila dann noch am Leben?

Einmal, als sie versucht hatte, mir das merkwürdige Konzept der imaginären Zahlen zu erklären, hatte Lila Leibniz zitiert, der die imaginäre Zahl als »Amphibium zwischen Sein und Nichtsein« bezeichnete. Nach dem Tod meiner Schwester fühlte ich mich manchmal, als wäre ich selbst in einem solchen Zustand gefangen. Mein ganzes Leben lang war ich Lilas kleine Schwester gewesen. Dann, ohne Vorwarnung, wurde ich ein Einzelkind. Ich muss meinen Eltern hoch anrechnen, dass sie ihr Bestes gaben, unseren Familiensinn aufrechtzuerhalten, die Harmonie nachzubilden, die uns verbunden hatte, bevor Lila starb. In einer Welt, in der »zerrüttet« der gängige Ausdruck für häusliches Leben war, hatten wir es als Privileg betrachtet, eine glückliche Familie zu sein. Doch egal wie ausgeglichen eine Familie auch sein mag, egal wie schwer es für die einzelnen Mitglieder ist, weiterzuleben, Trauer ist nichts, was man einfach bewältigen kann. Die Gestalt unserer Familie hatte sich verändert.

Beinahe unmittelbar begann ich, die Welt in Vorher und Nachher einzuteilen. In meinen Erinnerungen an das Vorher war da eine gewisse Leichtigkeit der Empfindung, eine Intensität der Farben, das gemütliche Chaos des Familienlebens. Das Nachher war eine vollkommen andere Sache. Das Nachher bestand aus Schwere: die Schwere der Schuld und die der Trauer. Die Fensterläden waren geschlossen, das Haus war still. Abends hielt sich meine Mutter in ihrem Garten auf, wühlte im Schein der Taschenlampe heftig in der Erde, riss Unkraut aus und setzte Blumenzwiebeln. Nach Mitternacht hörte ich sie durch die Hintertür hereinkommen, ihre kleine Schaufel und die Gartenschere in den großen Blecheimer in der Garage werfen. Dann ein paar Sekunden Stille, gefolgt von dem Rauschen von Wasser in Rohren, dem Geräusch der Waschmaschine, die bebend zum Leben erwachte. Danach ihre Schritte auf der Innentreppe von der Garage ins Hauptstockwerk des Hauses und kurz darauf das Prasseln der Wasserstrahlen in die Duschwanne. Währenddessen saß mein Vater auf dem Holzstuhl im elterlichen Schlafzimmer und las, ein Glas Wasser auf dem Tisch neben sich. Es war kein bequemer Stuhl; vorher hatte er immer im Wohnzimmersessel gelesen, eine Hand um ein Weinglas gelegt, Bob Dylan oder Johnny Cash leise im Hintergrund spielend. Nachher gab es keinen Wein mehr, keine Musik.

Einige Jahre nach Lilas Tod griff ich auf einem Flohmarkt in Collingwood in einen Karton und zog eine alte gebundene Ausgabe von Graham Greenes Das Ende einer Affäre heraus. Der Umschlag war zerrissen und mit Tesafilm wieder zusammengeklebt worden, und die Seiten waren wellig und aufgequollen. Ein Aufkleber vorne auf dem Buch verkündete 25 Cent. Es war ein warmer Samstagmorgen im September, das ganze Wochenende dehnte sich vor mir aus. Ich hatte nichts vor, und die Sonne fühlte sich gut auf meinen nackten Armen an, also blätterte ich zur ersten Seite. »Eine Geschichte hat weder Anfang noch Ende«, hieß es da, »willkürlich wählt man den Moment, von dem aus man ein Erlebnis rückschauend betrachtet oder sich vorstellt, wie es weitergeht.« Es war Andrew Thorpes altes Motto, dort, schwarz auf weiß.

Zweimal, dreimal überflog ich die Zeilen, um sicherzugehen, dass ich richtig las. Dann legte ich einen Vierteldollar auf den Tisch, klemmte mir das Buch unter den Arm und lief los. Es geschah nicht zum ersten Mal, ich nahm an, dass es wieder geschehen würde: Gerade wenn ich glaubte, die Vergangenheit abgehängt, Lilas Geschichte hinter mir gelassen zu haben, tauchte etwas Unerwartetes auf und brachte alles wieder zurück. Es konnte überall passieren, jederzeit: ein flüchtiger Blick auf jemanden, der ihr ähnlich sah, eine Meldung in den Nachrichten über irgendeine bedeutende mathematische Entdeckung, ein paar Takte eines bestimmten Lieds im Radio, die Rezension eines der Bücher von Andrew Thorpe.

Es hätte mich nicht überraschen sollen, dass der Mann, der seine Karriere auf Lilas Geschichte aufgebaut hatte, sich die Worte des Schriftstellers aneignete. Was mich enttäuschte, war meine eigene Leichtgläubigkeit, meine Bereitschaft, zu glauben, was man mir erzählte, ohne es auf Mängel zu überprüfen, ohne jemals die Quelle in Zweifel zu ziehen.

Jede Geschichte ist eine Erfindung, den Launen des Autors unterworfen. Für das Publikum jenseits der Buchseiten marschieren die Worte mit einer gewissen Unvermeidlichkeit voran – als könnte die Geschichte nur auf eine Weise existieren, nämlich auf die, in der sie geschrieben ist. Doch es gibt nie nur eine einzige Weise, eine Geschichte zu erzählen. Jemand hat den Anfang und das Ende gewählt. Jemand hat gewählt, wer sich als Held oder Heldin herausstellen wird und wer den Schurken spielt. Jede Wahl wird auf Kosten einer unendlichen Anzahl von Variationen getroffen. Wer will schon entscheiden, welche Version der Geschichte der Wahrheit entspricht?

3

IN DEM JAHR NACH LILAS TOD führte Andrew Thorpe Dutzende von Interviews, unter anderem mit dem Herausgeber des Stanford Journal of Mathematics, drei von Lilas Professoren und mehreren Kommilitonen. Hätte es Freunde gegeben, hätte Thorpe auch sie interviewt, aber Lila war schon immer mehr an Zahlen interessiert gewesen als an Menschen. Selbst meine Eltern vertrauten sich Thorpe bei einigen Gelegenheiten an – doch das war, bevor wir wussten, dass er ein Buch zu schreiben plante.

Noch ehe er mit irgendjemand anderem sprach, sprach Thorpe mit mir. Während meines dritten Semesters an der University of San Francisco war er mein Dozent für Zeitgenössische Amerikanische Literatur. Lila starb Anfang Dezember, als sich das Semester dem Ende zuneigte. Drei Wochen nach ihrer Beerdigung verabredete ich mich mit Thorpe in einem Café gegenüber dem Campus, weil ich es nicht geschafft hatte, meine Abschlussarbeit abzugeben. Ich war im Herbst einige Male wegen eines Semester-Projekts über Richard Yates und Zeiten des Aufruhrs in seiner Sprechstunde gewesen. Jedes unserer vorherigen Gespräche war weit vom Thema abgekommen und hatte die ursprünglich anberaumte Stunde deutlich überschritten. Ich hatte Thorpe als locker und humorvoll kennengelernt, vielseitig bewandert und zudem gerne bereit, zuzugeben, dass er ein Fan von Actionfilmen, der Band Tears for Fears und Dosenravioli war. Eigentlich kam er aus Tuscaloosa, Alabama, und man konnte noch eine Spur von Akzent heraushören, was ich charmant fand. Obwohl er erst dreißig Jahre alt und genau genommen noch Assistent war, gehörte er zu den besten Lehrern, die ich je gehabt hatte.

»Kein Problem«, sagte er, als ich ihn um eine Fristverlängerung bat. »Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.« Wir saßen auf einem alten Zweiersofa, das in einer Nische des Cafés stand. Er hatte darauf bestanden, mir einen Kaffee und ein Sandwich zu kaufen, das ich kaum angerührt hatte.

»Keinen Hunger?«

Ich nahm das Sandwich in die Hand, legte es wieder weg. »In den vergangenen drei Wochen sind Leute mit den tollsten Sachen bei uns zu Hause aufgetaucht, aber es ist einfach unmöglich, etwas zu essen. Allein der Gedanke an Essen scheint absurd. Irgendwann haben wir angefangen, es an die Nachbarn zu verteilen.«

»Als mein Vater vor ein paar Jahren starb«, erzählte Thorpe, »haben seine Freunde in Tuscaloosa dasselbe getan. Wir hätten genug gebratenes Hähnchen und Bananenpudding gehabt, um eine ganze Footballmannschaft damit satt zu bekommen.« Er sah mir einige Sekunden lang in die Augen, dann sagte er: »Wie kommen Sie zurecht, Ellie?«

Ich kämpfte mit den Tränen. Was sollte ich sagen? Die Geschehnisse lagen noch nicht lange genug zurück, um sie auf irgendeine schlüssige Art und Weise verarbeitet zu haben. Der Schock war noch lange nicht überwunden. Unversehens erzählte ich Thorpe etwas, das an diesem Morgen geschehen war: Beim Aufwachen hatte ich die Decke zurückgeschlagen und war eilig ins Bad gerannt, um vor Lila in die Dusche zu kommen, weil sie jedes Mal den Großteil des heißen Wassers verbrauchte. Als ich den Hahn aufdrehte, fiel mir wieder ein, dass Lila nicht da war, dass sie weder an diesem noch an irgendeinem anderen Tag duschen würde. Ihr Tod war eine Erkenntnis, die ich, seitdem es passiert war, unzählige Male neu gewonnen hatte, doch jedes Mal war es wie eine frische Wunde. Ich wachte mitten in der Nacht auf, und für einen kurzen Moment war alles gut, bis ich mich daran erinnerte, dass sie fort war. Dann lag ich in meinem Bett und konnte mir einfach nicht vorstellen, wie unsere Familie ohne sie weiterleben sollte.

»Für mich ist das Seltsamste an der ganzen Sache, plötzlich allein mit meinen Eltern im Haus zu wohnen«, sagte ich. Wir saßen neben dem Heizlüfter, aber ich fröstelte. »Vorher gab es ein Gleichgewicht: zwei von ihnen, zwei von uns. Jetzt fühle ich mich in meinem eigenen Zuhause wie das fünfte Rad am Wagen, mehr wie ein Gast als eine Tochter. Wenn meine Eltern und ich uns früher einmal nicht verstanden haben oder ich in Schwierigkeiten war, gab es immer Lila als Puffer zwischen uns. Jetzt sitzen wir da und versuchen verzweifelt, Konversation zu machen.« Ich wischte mir die Augen. »Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das erzähle.«

Thorpes Miene drückte Besorgnis aus, aber kein Mitleid. »Erzählen Sie mir, was immer Sie wollen«, sagte er. »Vielleicht hilft es.«

Die Gespräche, die Andrew Thorpe und ich in den Wochen und Monaten nach dem Tod meiner Schwester führten, waren keine Interviews, jedenfalls nahm ich es nicht so wahr. Ich wandte mich an ihn, einfach weil er da war und weil er verständnisvoll war und weil ich nie das Gefühl hatte, dass er über mich oder meine Familie ein Urteil fällte. Mit Gleichaltrigen war es schwer, über Lilas Tod zu sprechen, sie waren in meiner Gegenwart so ernst, als könnte Lachen meinen Kummer verharmlosen. Mit meinen Eltern zu sprechen war unmöglich, sie hatten auf eine gewisse Art dichtgemacht. Nicht, dass sie nicht mehr funktionierten: Sie standen beide morgens auf und gingen zur Arbeit, und am Abend wechselten wir uns, wie immer schon, mit dem Kochen ab. Mein Vater spielte jeden zweiten Freitag Golf, und meine Mutter kümmerte sich weiterhin um ihren Garten, jätete und pflanzte und wässerte abends nach ihren langen Arbeitstagen in der Anwaltskanzlei. Der Unterschied lag nicht in der Handlung, sondern eher in der Emotion. Meine Eltern waren immer fröhliche Menschen gewesen, doch nachdem Lila gestorben war, lachten sie kaum noch. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn einer von ihnen lächelte, wirkte es gezwungen. Die Albernheit, die ein typisches Merkmal unseres Familienlebens gewesen war, erstarb. Und die anhaltende Romantik ihrer Ehe, die ich für selbstverständlich gehalten hatte, verblasste völlig.

Wenn sie über Lila sprachen, dann war das beinahe immer einem vereinzelten und vorübergehenden Moment geschuldet, während dessen sie glaubten, sie wäre noch am Leben. Eines Morgens beispielsweise, wenige Wochen nach Lilas Tod, fuhr ich den Wagen aus der Garage, und mein Vater sagte: »Vergiss nicht, den Tank für Lila aufzufüllen.« Ein anderes Mal holte ich gerade Teller aus dem Schrank, als meine Mutter meinte: »Da fehlt noch einer.« Sie griff nach einem vierten Teller, bis ihr bewusst wurde, dass ich richtig gezählt hatte.

Es war, als hätten meine Eltern die bewusste Entscheidung getroffen, zu vergessen. Im Nachhinein fand ich es merkwürdig, dass wir nicht zusammensaßen und über meine Schwester sprachen, unsere liebsten Erinnerungen an sie wachhielten. Aber damals schien es völlig natürlich, dem Thema auszuweichen, als könnte das Entfernen Lilas aus unseren Gesprächen die Trauer irgendwie ausmerzen.

Aber bei Thorpe hielt ich nichts zurück. Ich sprach mit ihm über Dinge, die Lila und ich als Kinder getan hatten. Ich beschrieb ihre eigenartigen Angewohnheiten und Neurosen: Sie zog immer den linken Schuh zuerst an und machte ein paar Schritte im Zimmer, wie um den Boden zu testen, erst dann zog sie den anderen an. Sie baute Beziehungen zu bestimmten Zahlen auf, wie begeisterte Leser Beziehungen zu Figuren aus Büchern aufbauen – eine ihrer Lieblingszahlen war die Achtundzwanzig.

»Warum die Achtundzwanzig?«, wollte Thorpe wissen.

»Weil sie eines dieser seltenen Phänomene ist, die unter die Kategorie ›vollkommene Zahl‹ fallen«, sagte ich. »Ihre echten Teiler – 1, 2, 4, 7 und 14 – ergeben zusammen 28. Die Summe der ersten fünf Primzahlen ist ebenfalls 28. Es gibt genau 28 einfache konvexe Körper aus regelmäßigen Vielecken. Unser Universum erstreckt sich über 28 Milliarden Lichtjahre von einem Ende zum anderen. Die Achtundzwanzig ist außerdem eine harmonische Teilerzahl, eine Keith-Zahl und die neunte und letzte Zahl im magischen Quadrat Kubera-Kolam.«

»Interessant«, sagte Thorpe.

Davon ermutigt erzählte ich ihm mehr. Obwohl Lila hübsch war, konnte sie Spiegel nicht ausstehen und gab sich alle Mühe, ihnen aus dem Weg zu gehen. In ihrem Zimmer gab es keinen einzigen Spiegel, und als meine Mutter sie endlich in ihrem letzten Jahr auf dem College dazu brachte, Lippenstift zu benutzen, war er häufig leicht über die Konturen gemalt, weil sie ihn blind aufgetragen hatte.

Ein Punkt, der immer wieder in unseren Unterhaltungen zur Sprache kam, war die Frage, wer Lila getötet hatte. Tatsache war, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte. Soweit ich wusste, gab es niemanden, der sie nicht mochte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie sich bei jemandem unbeliebt gemacht hatte. Ich erzählte Thorpe, was ich meinen Eltern nicht erzählte: dass ich hoffte, es wäre ein Fremder gewesen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass es jemand war, den sie kannte und dem sie vertraute.

»Was ist mit dem Mann, mit dem sie sich traf?«, fragte Thorpe einmal. »Könnte er sie ermordet haben?«

Ich zuckte zusammen. »Bitte nicht dieses Wort.« Mord war der von Reportern bevorzugte Begriff, aber ich konnte mich nicht überwinden, ihn zu verwenden. Er war zu plastisch. Ich war dankbar für die Behördensprache: Tötungsdelikt klang irgendwie etwas neutraler. »Natürlich interessiert sich die Polizei stark für ihn«, sagte ich. »Aber niemand weiß, wer er ist. Die beiden waren äußerst diskret.«

Er notierte sich etwas auf einem Block, und ich redete weiter. Bei Thorpe hatte ich das Gefühl, alles sagen zu können. Er hörte zu, nickte, stellte Fragen. Rückblickend betrachtet hätte mir der allzeit gezückte Stift eine Warnung sein müssen, die Art, wie er manchmal mitten im Gespräch auf seinem Block zu kritzeln anfing. Doch jedes Mal, wenn ich mich mit ihm traf, las er gerade studentische Hausarbeiten oder machte sich Unterrichtsnotizen, deshalb dachte ich mir nichts dabei.

In dem Semester nach Lilas Tod belegte ich bei Thorpe den Kurs: »Überblick über die osteuropäische Literatur«. Es war der einzige Kurs, den ich gewissenhaft besuchte. Unsere privaten Gespräche begannen immer mit dem, was wir in der jeweiligen Woche gerade im Unterricht lasen – Milan Kunderas Das Buch vom Lachen und Vergessen, Václav Havels Versuchung, Bohumil Hrabals Allzu laute Einsamkeit –, und endeten mit Lila. Ich hatte allmählich den Eindruck, dass meine Freunde mich mürrisch und schwer zu ertragen fanden; obwohl ich nachvollziehen konnte, dass ein Trauernder nicht unbedingt die angenehmste Gesellschaft ist, konnte ich mich einfach nicht von dem ablenken, was meiner Schwester zugestoßen war. Thorpe war der eine Mensch, der des Themas nie überdrüssig zu werden schien. Mehr als einmal überlegte ich, ob er vielleicht in mich verliebt war. Warum sonst, so fragte ich mich, sollte er weiterhin so viel Geduld mit mir haben?

Meistens trafen wir uns in dem Café, aber manchmal blieb ich auch einfach nach dem Unterricht im Seminarraum. Er hatte große, abgerundete Fenster, durch die ich die Mündung der Bucht und die Golden Gate Bridge sehen konnte. Der Anblick der sich aus dem Nebel erhebenden Brücke, so fern und doch so vertraut, war tröstlich. Lila und ich waren viele Mal zusammen darübergelaufen. Seit ich mich erinnern konnte, hatten wir das zweimal im Jahr gemacht – an ihrem Geburtstag und am ersten Tag im Herbst. Vor diesem Panorama über sie zu reden, mit diesem Mann, den ich inzwischen als Freund betrachtete, fühlte sich natürlich an.

Auch nach dem Ende des Sommersemesters trafen wir uns weiterhin, entweder im Dolores Park, der in der Nähe seiner Wohnung lag, oder in der Creighton’s Bakery in Glen Park. Ein paarmal sahen wir uns im Roxie zusammen einen Film an.

Erst im Juni aber, sechs Monate nach dem Beginn unserer Gespräche, erzählte Thorpe mir, dass er an einem Buch schrieb. Wir aßen im Pancho Villa zu Mittag. Während wir am Fenster saßen und uns unsere burritos schmecken ließen, kommentierte Thorpe die Passanten. Für jeden von ihnen hatte er eine Geschichte parat: die verwahrlost aussehende Frau mit dem Fünfhundert-Dollar-Kinderwagen hatte ihn einer nichtsahnenden Yuppie-Mutter gestohlen; das attraktive, Händchen haltende Paar war auf einer angeblichen Geschäftsreise, und beide betrogen ihre Ehepartner. Das war eine Angewohnheit von Thorpe, Hintergründe und Motivationen für Wildfremde zu erfinden. Ich hatte immer den Verdacht, dass ihre echten Leben weit weniger abenteuerlich waren als die Geschichten, die er sich für sie ausdachte.

Thorpe schlürfte an seiner Orangenlimo und sagte unvermittelt: »Übrigens habe ich interessante Neuigkeiten.«

»Ach ja? Was denn?«

»Ich schreibe an einem Buch.«

»Das ist ja wunderbar«, sagte ich aufrichtig.

Schon ganz am Anfang hatte Thorpe mir gestanden, dass es sein heimlicher Wunsch war, ein Schriftsteller zu sein. Noch während seines Studiums hatte er versucht, einige Kurzgeschichten zu veröffentlichen, aber nach einer Serie von Absagen hatte er aufgegeben. Ich wusste, dass irgendwo in einer Schublade ein halbfertiger Roman herumlag – »das halbe Englischinstitut hat so was«, hatte er einmal zu mir gesagt und Jahre seiner eigenen Arbeit mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan.

»Einen Roman?«, fragte ich jetzt.

»Nein, es ist eher ein Sachbuch.«

»Worum geht es?«

Er biss sich auf die Lippe, spielte mit dem Besteck, und nach einer langen Pause erklärte er schließlich: »Es geht um Lila.«

Zuerst war ich überzeugt, mich verhört zu haben. »Was?«

»Das Buch feiert ihr Leben und untersucht ihren Tod.«

Das klang eingeübt, als hätte er das schon öfter gesagt. Doch die bloße Vorstellung, dass er ein Buch über Lila schreiben könnte, war so befremdlich, dass ich einen Moment lang glaubte, er mache einen Witz.

»Das ist nicht komisch«, sagte ich. »Warum sagst du denn so was?«

»Es ist eine faszinierende Geschichte. Ich glaube, die Leute würden das gerne lesen.«

Ich schob meinen Teller von mir. »Das kann nicht dein Ernst sein.« Immer noch wartete ich darauf, dass er mir sagte, es sei ein Scherz, aber das tat er nicht. Ein Mann kam mit mehreren Hunden an der Leine vorbei, und törichterweise versuchte Thorpe, die Stimmung durch einen Witz aufzulockern. »Der hier hat eine lukrative Karriere als Arzt aufgegeben, um sich seinen Traum vom professionellen Gassigeher zu erfüllen.«

»Lila ist keine Geschichte«, sagte ich so laut, dass das Paar am Nebentisch sich zu uns umdrehte. »Sie ist meine Schwester.«

Thorpe warf den beiden einen entschuldigenden Blick zu und senkte die Stimme. »Es tut mir leid. Ich hätte es nicht so sagen sollen. Es ist nur so, dass mir in den ganzen letzten Monaten, in denen du mir von Lila erzählt hast, klargeworden ist, dass so vieles an diesem Fall noch nicht ans Licht gebracht wurde. Die Mittel der Polizei sind knapp bemessen. Für die ist die Aufklärung des Verbrechens nur ein Job, eine unerwünschte Ablenkung. Vielleicht kann ich den Fall mit einem unvoreingenommenen Blick betrachten.«

»Unter welchem Stein willst du denn noch nachsehen, der nicht längst umgedreht wurde?«

»Irgendjemand muss doch etwas wissen. Zumindest kann ich vielleicht herauskriegen, mit wem Lila sich getroffen hat.«

»Wenn du Privatdetektiv spielen willst, nur zu, aber bitte mach kein Buch daraus. Lila würde das schrecklich finden.«

Ich sah ihm an, dass er schon während ich noch sprach seine Reaktion vorbereitete. »Sie war ein außergewöhnlicher Mensch, enorm begabt«, sagte er. »Das Buch ist eine Hommage an sie.«

Ich spürte mein Gesicht heiß werden. »Aber du kanntest sie doch gar nicht.«

»Mir kommt es aber vor, als hätte ich sie gekannt. Ohne dich wäre sie für mich nichts als eine Meldung in den Nachrichten gewesen. Aber du hast sie für mich real gemacht. Du hast sie wichtig gemacht.«

»Ich flehe dich an«, sagte ich, »ganz im Ernst, als Freund.«

In den letzten Monaten hatte ich Thorpe von Lilas beinahe obsessivem Wunsch nach Privatsphäre erzählt. Das war der Grund, warum sie lieber zu Hause wohnte als in einer Wohnung; in einer Wohnung hätte sie Mitbewohner gehabt. Deshalb ging sie auch nur selten ans Telefon und hatte so wenige Freunde. Wahrscheinlich hatte auch die Tatsache, dass sie Zahlen so sehr mochte, etwas damit zu tun: Zahlen hielten Abstand. Sie kommunizierten ohne die Kompliziertheit von Gefühl. Zahlen wohnte eine Ordnung inne, die in menschlichen Beziehungen unmöglich zu finden war. Ihr wäre übel geworden, wenn sie ihr Gesicht groß auf allen möglichen Titelblättern gesehen, ihren Namen in den Fernsehnachrichten gehört hätte. Ein Buch wäre noch schlimmer. Bücher wanderten von Hand zu Hand, wurden in Bibliotheken aufbewahrt. In einem Buch würde sie ewig das Opfer bleiben.

Thorpe lehnte sich zurück. »Ich stecke schon viel zu tief drin, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Aber ich würde mich besser fühlen, wenn ich deine Billigung hätte. Die Rohfassung ist halb fertig. Es wäre großartig, wenn du es dir mal ansehen würdest. Einen Agenten habe ich schon gefunden.«

»Ist dir denn nie in den Sinn gekommen, dass du mich vorher fragen solltest?«

Er antwortete nicht.

»Ich habe dir vertraut«, sagte ich und kam mir dumm vor. Seine unzähligen Fragen fielen mir ein, sein unablässiges Notizenmachen, und wie ich jede Frage gewissenhaft beantwortet hatte, ohne mir je Gedanken über seine Motive zu machen.

Er streckte seinen Arm über den Tisch und legte seine Hand auf meine. Ich zog sie weg.

»Ich dachte mir schon, dass du vielleicht nicht so begeistert wärest, und ich kann das gut nachvollziehen. Deshalb wollte ich die Sache ins Rollen bringen, bevor ich dir davon erzähle.« Er holte einen Schnellhefter aus seiner Tasche und schob ihn über den Tisch. Ich klappte ihn auf. Der Papierstapel darin war gut fünf Zentimeter dick. Beim Lesen der Titelseite wurde mir schlecht.

MORD IN DER BUCHT

Eine wahre Geschichte aus San Francisco Noir

Von Dr. Andrew Thorpe

In den folgenden Wochen sah ich Thorpe mehrmals bei unterschiedlichen Gelegenheiten. Jedes Mal bat ich ihn inständig, das Buch nicht zu beenden, und jedes Mal lehnte er ab. »Hast du es gelesen?«, fragte er dann erwartungsvoll. »Ich glaube, du würdest es dir anders überlegen, wenn du es gelesen hättest.« Aber ich wollte es nicht lesen. Ich brauchte das Grauen von Lilas Tod nicht durch die Augen eines anderen Menschen noch einmal neu zu erleben.

Unsere letzte Begegnung fand an einem nebligen Tag am Ocean Beach statt, nachdem ich meinen Eltern von dem Buch berichtet hatte. Sie waren am Boden zerstört gewesen, und mein normalerweise ruhiger Vater hatte seine Wut nicht im Zaum halten können.

»Du hast Andrew Thorpe in dieses Haus gebracht«, sagte er. »Er hat mit uns gegessen. Wir haben ihm vertraut, weil er dein Freund war.«

Thorpe und ich spazierten damals am Wasser entlang, die Gesichter kalt und feucht vom Nebel. »Ich bitte dich ein letztes Mal«, begann ich. »Für mich, für meine Eltern, für Lila. Tu es nicht.«

»Das kann ich nicht, Ellie.«

»Ist das alles?«

Er blickte aufs Meer, wo ein gigantisches Schiff langsam auf die Bucht zukroch. »Es tut mir leid«, sagte er.

Ich drehte mich um und ging. Auf halbem Weg zur Promenade hörte ich ihn etwas rufen, aber seine Worte wurden von den Wellen übertönt.

4

NACH LILAS TOD zog ich mehrere Jahre lang ziellos umher. Für meinen Abschluss in Literatur brauchte ich länger, als ich sollte, und danach jobbte ich als Kellnerin und Bürohilfe, um meine Reisen durch die USA zu finanzieren – ausgedehnte Fahrten in Schrottkisten und mit wechselnden Freunden. Schließlich fuhr ich allein nach Europa. Im Sommer nach meinem Highschool-Abschluss und Lilas Examen in Berkeley hatten unsere Eltern uns beiden eine sechswöchige Rucksacktour durch Europa geschenkt. Wir hatten so viel Spaß unterwegs, dass wir uns schworen, den Trip fünf Jahre später zu wiederholen. Aber Lila war nicht mehr da, und das Datum verstrich ohne großes Aufsehen. Ich lebte in einer Art Schwebezustand, hatte noch keinen klaren Weg vorwärts gefunden. Vier Jahre später als geplant kaufte ich mir ein One-way-Ticket über den Atlantik. Den Sommer meines siebenundzwanzigsten Lebensjahres verbrachte ich damit, Lilas und meine gemeinsame Route von damals noch einmal abzufahren, von Amsterdam nach Paris, von Paris nach Barcelona, von da aus quer rüber nach Venedig, hoch durch Deutschland und am Ende zurück in die Niederlande. Ich besuchte dieselben Museen, versuchte sogar, in denselben Unterkünften zu schlafen, obwohl ich sie meistens nicht finden konnte, da ich mir nie die Mühe gemacht hatte, ein Tagebuch zu führen.

Ich kaufte mir ein Buch mit Kurzbiografien berühmter Mathematiker und suchte einige Gräber auf – Blaise Pascal in Saint-Etienne-du-Mont in Paris, Carl Gauß auf dem Albani-Friedhof in Göttingen, Leibniz in Hannover, Christian Doppler auf dem Cimitero di San Michele in Venedig. Die letzten Ruhestätten der Mathematiker zu besichtigen, die Lila so bewundert hatte, war ein posthumes Geschenk an meine Schwester, eines, das keinem praktischen Zweck diente; aber auf eine gewisse Art und Weise, die ich mir selbst nicht recht erklären konnte, fühlte ich mich ihr dadurch näher.

Nach meiner Rückkehr arbeitete ich weiter in Aushilfsjobs, wechselte von einem Büro zum nächsten, ohne ein Gefühl von Freude oder Bestimmung. Oft fragte ich mich, was Lila wohl täte, wenn sie noch lebte. Sie hätte auf jeden Fall etwas aus ihrem Leben gemacht, da war ich mir sicher. Zehn Jahre nach ihrem Tod konnte ich den Gedanken nicht abschütteln, dass ich noch immer das Leben einer imaginären Zahl führte.

Und dann, als ich schon anfing, daran zu zweifeln, dass ich jemals etwas finden würde, wofür ich mich begeistern könnte, entdeckte ich meine Berufung im Kaffee. Die Erkenntnis kam eher zufällig, manche mögen es Glück nennen. Wobei Lila niemals an so etwas geglaubt hatte. Einmal, als ich laut ihr großes Glück bejubelte, einen Walkman in einer Schultombola gewonnen zu haben, hatte Lila gesagt: »Was wir Glück nennen, ist nur das Ergebnis von in Erscheinung tretenden Naturgesetzen, eine Frage von Wahrscheinlichkeiten.«

Ein Kaffeeverkoster muss, wie ein Sommelier oder ein Parfumeur, eine ausgezeichnete Nase haben. Ich habe meine von meiner Mutter geerbt, einer passionierten Gärtnerin, die ihre Pflanzen nicht nach Farbe, sondern nach Geruch arrangierte. Wenn ich als Kind durch den Garten meiner Mutter lief, war ich begeistert davon, wie die berauschende Süße des Jasmins der Säure der Zitronenbäume wich, oder wie der Moschusduft der Glyzinie den harzigen Geruch von Salbei unterstrich. Ich liebte die Frische von Pfefferminze auf einem Teppich aus Zedernrindenmulch, die Erdigkeit von Rosen, gepaart mit zartem Lavendel. Einmal, als ich noch in der Grundschule war, sagte meine Mutter zu mir, ich sei ein Naturtalent mit meiner Nase. Das Kompliment bedeutete mir viel, und ich klammerte mich jahrelang daran. Meine Mutter unterstützte uns Mädchen immer sehr, und nichts hätte ihr mehr Freude bereitet, als viele Anlässe zu bekommen, mich zu loben. Doch während Lilas Geistesgaben sie zu einem Magnet für unwillkürliches und aufrichtiges Lob machten, wusste ich, dass meine Mutter es bei mir etwas schwerer hatte.