Ein einziger Blick - Michelle Richmond - E-Book
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Michelle Richmond

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Beschreibung

Abby hat nur einen Moment nicht auf die sechsjährige Emma geachtet. Gerade ist das kleine Mädchen noch fröhlich am Strand entlang gelaufen und jetzt ist sie fort. Spurlos verschwunden und unauffindbar. Für Abby bricht eine Welt zusammen. Eben noch träumte die junge Fotografin von einer glücklichen Zukunft mit Emma und deren Vater Jake, nun muss die Polizei nach wochenlanger Suche das Schlimmste annehmen. Das Gefühl der Schuld ist erdrückend, und dennoch glaubt Abby fest daran, dass das Mädchen noch lebt.

Wieder und wieder lässt sie den Morgen am Strand in ihrer Erinnerung Revue passieren, in der Hoffnung einen Anhaltspunkt zu finden. In dieser Zeit steht Abby allein da. Jake, der am Verschwinden seiner kleinen Tochter fast zerbricht, wendet sich zunehmend von ihr ab. Und Emmas Mutter Lisbeth, die die Familie Jahre zuvor verließ, taucht plötzlich wieder auf und tut alles, um Jake zurückzugewinnen. Doch Abby gibt nicht auf und findet eine Spur, die zu der Wahrheit über Emmas Verschwinden führen könnte …

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Über das Buch

Abby hat nur einen Moment nicht auf die sechsjährige Emma geachtet. Gerade ist das kleine Mädchen noch fröhlich am Strand entlang gelaufen und jetzt ist sie fort. Spurlos verschwunden und unauffindbar.

Für Abby bricht eine Welt zusammen. Eben noch träumte die junge Fotografin von einer glücklichen Zukunft mit Emma und deren Vater Jake, nun muss die Polizei nach wochenlanger Suche das Schlimmste annehmen.

Das Gefühl der Schuld ist erdrückend, und dennoch glaubt Abby fest daran, dass das Mädchen noch lebt. Wieder und wieder lässt sie den Morgen am Strand in ihrer Erinnerung Revue passieren, in der Hoffnung einen Anhaltspunkt zu finden.

In dieser Zeit steht Abby allein da. Jake, der am Verschwinden seiner kleinen Tochter fast zerbricht, wendet sich zunehmend von ihr ab. Und Emmas Mutter Lisbeth, die die Familie Jahre zuvor verließ, taucht plötzlich wieder auf und tut alles, um Jake zurückzugewinnen.

Doch Abby gibt nicht auf und findet eine Spur, die zu der Wahrheit über Emmas Verschwinden führen könnte …

Über Michelle Richmond

Michelle Richmond wuchs in Mobile, Alabama, als zweite von drei Schwestern auf. An der University of Miami absolvierte sie den Master of Fine Arts und lehrte anschließend unter anderem an der Universität von San Francisco, am California College of the Arts und an der Universität Notre Dame de Namur. Sie gründete Fiction Attic Press und das San Francisco Journal of Books und ist außerdem als Verlegerin tätig. Michelle Richmond lebt mit ihrem Mann in Paris.

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Michelle Richmond

Ein einziger Blick

Roman

Aus dem Amerikanischen von Astrid Finke

Inhaltsübersicht

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Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Danksagung

Impressum

Für Bonnie und John

»Das Licht der Erinnerung, oder vielmehr das Licht, das die Erinnerung den Dingen verleiht, ist matt.«

EUGÈNE IONESCO,HEUTE UND GESTERN, GESTERN UND HEUTE

»Sucherkameras haben einen einfachen Sucher aus Kunststoff oder Glas und keine Vorrichtung zur Schärfenregulierung. Der Sucher liegt unmittelbar über oder seitlich der Linse und zeigt ungefähr an, wie die fertige Fotografie aussehen wird (wobei gewisse Parallaxenprobleme – der Unterschied zwischen dem, was das Auge durch den Sucher sieht, und dem, was tatsächlich durch die Linse aufgenommen wird – im entwickelten Negativ oder auf dem Abzug deutlich werden).«

HENRY HORENSTEIN, BLACK AND WHITE PHOTOGRAPHY:A BASIC MANUAL

1

HIER IST DIE WAHRHEIT, das ist, was ich weiß: Wir liefen Hand in Hand am Ocean Beach entlang. Es war ein kühler Sommermorgen, Juli in San Francisco. Der Nebel lag weiß und dicht über dem Sand und dem Meer – ein alles umhüllender Schleier, so undurchdringlich, dass ich nur ein paar Schritte weit sehen konnte.

Emma suchte nach Sanddollars, diesen stachellosen Seeigeln, die wie im Sand verstreute Blumen aussehen. Manchmal werden sie zu Dutzenden angespült, unversehrt und blendend weiß, doch an jenem Tag war der Strand übersät von Bruchstücken. Emma war enttäuscht. Sie ist ein Kind, das alles am liebsten im Zustand der Vollkommenheit hat: Sanddollars müssen unbeschädigt sein, Schulbücher nagelneu, das Haar ihres Vaters ordentlich oberhalb des Kragens geschnitten.

Ich dachte gerade an das Haar ihres Vaters, an die weiche dunkle Kante, wo es auf seinen Hals trifft, als Emma an meiner Hand zerrte. »Jetzt komm schon«, sagte sie.

»Wozu die Eile?«

»Sonst spülen die Wellen sie weg.«

Trotz unseres bisherigen Pechs war Emma davon überzeugt, dass auf dem Strandstück weiter vorn ein riesiger Schatz perfekter Sanddollars auf uns wartete.

»Sollen wir nicht lieber zu Louis’s Diner gehen?«, schlug ich vor. »Ich hab Hunger.«

»Ich nicht.«

Sie versuchte, mir ihre Finger zu entwinden und sich von mir loszumachen. Ich dachte oft, ohne es je laut auszusprechen, dass ihr Vater sie verwöhnte. Wobei ich das gut verstehen konnte: Sie war ein Kind ohne Mutter, und er wollte das ausgleichen.

»Lass mich los«, sagte sie und drehte ihre Hand mit erstaunlicher Kraft in meiner herum.

Ich beugte mich zu ihr herunter und sah ihr ins Gesicht. Die grünen Augen erwiderten meinen Blick mit Entschlossenheit. Ich war die Erwachsene von uns beiden, das war mir bewusst. Ich war größer, stärker, klüger. Doch ebenso gut wusste ich, dass ich in Bezug auf Willenskraft gegen Emma keine Chance hatte. »Bleibst du in meiner Nähe?«

»Ja.« Sie lächelte, wusste, dass sie gewonnen hatte.

»Such mir einen hübschen Sanddollar.«

»Ich finde den allergrößten für dich.« Sie breitete die Arme weit aus.

Dann hüpfte sie voraus, dieses kleine, sechsjährige Mysterium, dieses hinreißende weibliche Ebenbild ihres Vaters. Sie summte ein Lied, das erst vor wenigen Minuten im Radio gelaufen war. Bei ihrem Anblick verspürte ich einen Stich der Freude und der Furcht. In drei Monaten würde ich ihren Vater heiraten. Noch hatten wir ihr nicht erklärt, dass ich dann für immer bei ihnen leben würde. Dass ich ihr Frühstück machen, sie zur Schule bringen und ihre Ballettvorführungen besuchen würde, wie ihre Mutter es früher getan hatte. Nein, wie ihre Mutter es hätte tun sollen.

»Du tust Emma gut«, sagte Jake immer. »Du wirst eine viel bessere Mutter sein, als meine Exfrau es je war.«

Und ich dachte dann jedes Mal, woher willst du das wissen? Was macht dich da so sicher? Ich blickte Emma mit ihrem gelben Eimerchen, ihren blauen Stoffschuhen, ihrem im Wind wippenden schwarzen Pferdeschwanz hinterher, als sie von mir wegrannte, und ich fragte mich: Wie soll ich das machen? Wie kann ich diesem Mädchen eine Mutter werden?

Ich hielt mir die Holga vors Auge. Als der Auslöser klickte – einmal, ganz leise, fast wie ein Spielzeug –, war mir bewusst, dass Emma auf dem 6 x 6 Schwarz-Weiß-Foto nur schemenhaft zu erkennen sein würde. Sie bewegte sich zu schnell, und das Licht reichte nicht aus. Ich drehte den Transporthebel, knipste, zog wieder auf. Als ich ein letztes Mal auf den Auslöser drückte, war Emma schon beinahe aus meinem Sichtfeld verschwunden.

2

HIER ALSO IST DER FEHLER, der Augenblick meines schlimmsten Versagens. Wenn es im Leben eines jeden Menschen eine Entscheidung gibt, die er um alles in der Welt rückgängig machen möchte, dann ist dies meine: Mein Blick blieb an einer Silhouette im Sand hängen. Zuerst sah es aus wie ein weggeworfenes Kleidungsstück – ein Kinderpulli vielleicht – oder wie eine winzige Decke. Instinktiv hob ich die Kamera vors Gesicht, denn genau das mache ich normalerweise – Fotografieren ist mein Beruf. Ich dokumentiere, was ich sehe. Als ich näher kam, rückte der flauschige Kopf ins Bild, der gewölbte Rücken, schwarze Flecken auf weißem Fell. Die kleine Gestalt war von einer dünnen Sandschicht bedeckt, der Kopf zeigte in meine Richtung, die Flossen ruhten grazil an den Seiten des Körpers.

Ich kniete mich neben das Robbenbaby, wollte es berühren, doch etwas hielt mich davon ab. Die feuchten schwarzen Augen waren weit aufgerissen und blickten starr, sie blinzelten nicht. Spitze Schnurrhaare fächerten sich neben dem Gesicht auf, und drei lange Wimpern über jedem Auge bewegten sich im Wind. Dann bemerkte ich die klaffende Wunde am Bauch, größtenteils von Sand verdeckt, und sofort regte sich ein mütterlicher Drang in mir. Wie lange blieb ich bei dem Robbenbaby? Dreißig Sekunden? Eine Minute? Länger?

Eine winzige Sandkrabbe kletterte über den Sand neben meinem Zeh. Ihr Anblick erinnerte mich an diese klitzekleinen Wesen, von denen der Strand von Gulf Shores in meiner Kindheit übersät war. Meine Schwester fing sie immer ein, steckte sie in Weckgläser und bestaunte ihre rosa Bäuche, wenn sie herauszuklettern versuchten und ihre Beine gegen das Glas klopften. Diese Krabbe hier schleuderte ein Sandklümpchen hoch und verschwand; allenfalls weitere zehn Sekunden vergingen darüber.

Ich blickte nach Osten, Richtung Park, wo der Nebel abrupt aufhörte und nach oben hin auf grelles Blau stieß. Da ich aus dem hellen, schwülen Süden des Landes in diese Stadt verpflanzt worden war, hatte ich diesen Nebel lieben gelernt, seine dramatische Präsenz, die Art, wie er jedes Geräusch dämpft. Wie er einfach übergangslos endet statt allmählich zu verblassen, ein milchiges Weiß, das unvermittelt der Klarheit weicht. Vom Nebel ins Sonnenlicht zu treten ist wie ein Auftauchen. Die umgekehrte Richtung gibt einem das Gefühl, in einem geheimnisvollen, märchenhaften Abgrund zu versinken.

Direkt hinter dem Strand führte ein Leichenwagen auf dem Great Highway eine Wagenkolonne in Richtung Süden auf Pacifica zu an. Ich musste an die letzte Beerdigung denken, auf der ich gewesen war. Ein kerngesunder junger Mann Ende zwanzig, der sich bei einem Kletterunfall das Genick gebrochen hatte. Er war der Freund eines Freundes, ich kannte ihn nicht besonders gut, doch da ich mich erst zwei Wochen vor dem Unfall bei einem Essen mit ihm unterhalten hatte, schien es mir angebracht, auf seine Beerdigung zu gehen. Diese Erinnerung nahm weitere fünf Sekunden in Anspruch.

Ich schaute nach vorn, wo Emma sein sollte, aber ich konnte sie nicht sehen. Dann stapfte ich los. Alles war durchtränkt von einem kühlen Weiß, und es war unmöglich, Entfernungen einzuschätzen. Ich hielt die Plastikkamera fest umklammert, stellte mir die großartigen Bilder vor, die dabei herauskämen, das tiefe Schwarz von Emmas Haar vor dem kalten weißen Strand.

Immer wieder musste ich an die tote kleine Robbe denken und wie ich das Emma erklären würde. Ich glaubte, eine Mutter wüsste instinktiv, wie man so etwas macht. Das wäre ein Test, der erste von vielen; in jenem Augenblick dachte ich nicht ausschließlich an Emma. Ich lief schneller, fragte mich besorgt, ob sie das Tier wohl schon gesehen hatte. Ich wollte, dass das tote Robbenbaby sie ängstigte, damit ich elegant in die Rolle der Stiefmutter schlüpfen könnte.

Wann genau mir klar wurde, dass etwas nicht stimmte, kann ich nicht sagen. Ich lief immer weiter und sah sie nicht. Ich hielt die Arme vor mir ausgestreckt, obwohl mir im selben Moment bewusst war, wie absurd diese Geste war; als könnten zwei Hände den Nebel zerteilen.

»Emma!«, rief ich.

Die Panik setzte nicht sofort ein. Nein, das sollte mehrere Sekunden dauern, fast eine ganze Minute. Zunächst war es ein allmähliches Abgleiten, eine Art Schwindel, wie das Gefühl früher als Kind, wenn ich knietief im warmen Wasser des Golfs von Mexiko stand, die Augen vor der gleißenden Sonne Alabamas zukniff und die Wellen den Sockel unter meinen Füßen unterspülen ließ. Zuerst bröckelte der Sand unter dem Spann weg, dann unter den Zehen, und schließlich verlor ich das Gleichgewicht und stürzte vornüber in die Brandung, mein Mund füllte sich mit Salzwasser, die Augen klappten auf und betrachteten die helle, kreiselnde Welt.

»Emma!«

Mein Rufen wurde lauter, ich spürte den losen, unbeständigen Sand unter den Füßen. Ich rannte ein paar Schritte vor, dann in meiner eigenen Spur wieder zurück. Sie versteckt sich, dachte ich. Ganz sicher. Ein paar Meter hinter dem toten Robbenbaby erhob sich eine mit Graffiti besprühte Betonmauer. Ich rannte darauf zu. Im Geiste sah ich sie vor mir, wie sie dort kauerte und kicherte, das Eimerchen auf den Knien. Das Bild stand mir so klar und deutlich vor Augen, wirkte so überzeugend, dass ich beinahe glaubte, es tatsächlich gesehen zu haben. Doch als ich bei der Mauer ankam, war sie nicht dort. Ich stützte mich an der Wand ab, spürte meine Eingeweide rebellieren und übergab mich in den Sand.

Von meinem Standpunkt aus konnte ich weiter unten am Strand die Umrisse der Toilettenhäuschen ausmachen. Ich hastete los, Angst stieg in mir auf. Ich überquerte den zweispurigen Highway und sah zuerst in der Frauentoilette nach. Sie war dunkel und leer. Dann ging ich um das Gebäude herum auf die Männerseite. Die Fenster waren aus Milchglas, ein trübes Licht fiel auf den Fliesenboden. Ich steckte meine Hand tief in den Abfalleimer, suchte nach ihren Kleidern, ihren Schuhen. Dann kroch ich auf Händen und Knien hinter die Urinale, hielt dabei die Luft an wegen des Gestanks. Nichts.

Als ich über die Straße zurück zum Strand lief, zitterte ich. Meine Finger fühlten sich taub an, mein Hals ausgetrocknet. Ich kletterte auf eine Düne und drehte mich langsam im Kreis, sah aber nichts außer dem undurchdringlichen weißen Nebel, hörte nichts außer dem leisen Brummen der Autos auf dem Great Highway. Einen Moment lang stand ich reglos da. »Denk nach«, sagte ich laut. »Keine Panik.«

Vor mir noch mehr Nebel, etwa ein knapper Kilometer Strand, dann der Hügel, der zum Restaurant Cliff House, zur Camera obscura, zu den Ruinen des Sutro-Hallenbads, zu Louis’s Diner hinaufführte. Rechts lagen der lange Bürgersteig und der Highway, dahinter der Golden Gate Park. Hinter mir kilometerlanger Strand. Zu meiner Linken der graue, mit Schaumkronen getupfte Pazifik. Ich stand im Zentrum eines vom Nebel umschlossenen Irrgartens mit unsichtbaren Mauern und unbegrenzten Möglichkeiten. Ich dachte: Ein Kind verschwindet an einem Strand. Wohin geht dieses Kind?

3

WIEDER UND WIEDER werde ich auf diesen Moment zurückkommen. Ich werde ein Notizbuch führen, in dem ich die Einzelheiten festhalte. Es wird unbeholfen gezeichnete Skizzen enthalten, Diagramme zu Zeit- und Bewegungsabläufen. Seite für Seite werde ich versuchen, die Vergangenheit wieder lebendig zu machen. Ich werde so tun, als wäre das menschliche Gedächtnis zuverlässig, als verblasse es nicht so schnell und so leicht wie die vergänglichen Linien auf einer Zaubertafel. Ich werde mir selbst einreden, dass irgendwo in den komplizierten Windungen meines Verstandes sich ein Detail verbirgt, ein Hinweis, eine vergessene Winzigkeit, die mich zu Emma führen wird.

Später werden sie von mir den genauen Zeitpunkt wissen wollen, an dem ich bemerkte, dass sie nicht mehr da war. Sie werden erfahren wollen, ob ich eine auffällige Person am Strand gesehen, ob ich in den Augenblicken vor ihrem Verschwinden irgendetwas gehört habe. Sie – die Polizei, die Reporter, ihr Vater – werden mir dieselben Fragen immer und immer wieder stellen, mir verzweifelt in die Augen sehen, als könnten sie mich durch die ständige Wiederholung dazu bringen, mich zu erinnern, als könnten sie durch reine Willensanstrengung Hinweise hervorzaubern, wo es keine gibt.

Das ist, was ich ihnen sage, das ist, was ich weiß: Ich lief mit Emma am Strand entlang. Es war kalt und sehr neblig. Sie ließ meine Hand los. Ich blieb stehen, um ein Robbenbaby zu fotografieren, dann blickte ich hinüber zum Great Highway. Als ich wieder zurückschaute, war sie weg.

Der einzige Mensch, dem ich die ganze Geschichte erzählen werde, ist meine Schwester Annabel. Nur sie wird erfahren, dass ich zehn Sekunden auf eine Sandkrabbe verschwendet habe, fünf auf einen Leichenzug. Dass ich wollte, dass Emma die tote Robbe sieht, dass ich in der Sekunde, bevor sie verschwand, einen Plan ausheckte, um ihre Liebe zu gewinnen. Den anderen gegenüber werde ich meine Worte sorgfältig wählen, werde die wichtigen Einzelheiten von den irreführenden Bedeutungslosigkeiten trennen. Ihnen werde ich diese Version der Wahrheit präsentieren: Es gibt da ein Mädchen, sie heißt Emma. Sie läuft am Strand entlang. Ich sehe nicht hin, es vergehen Sekunden. Als ich wieder hinsehe, ist sie weg.

Dieser eine Moment faltet sich wie eine Blüte in einer Abfolge von Zeitrafferaufnahmen auf. Ich selbst stehe im Zentrum eines Irrgartens, unfähig zu erkennen, welcher Pfad in eine Sackgasse führt und welcher zu dem vermissten Kind. Ich weiß, ich muss mich von meinem Gedächtnis führen lassen. Ich weiß, ich habe eine einzige Chance, es richtig zu machen.

Die erste Geschichte, die ich erzähle, der erste Hinweis, den ich preisgebe, wird die Richtung der Suche bestimmen. Das falsche Detail, der falsche Hinweis wird unausweichlich in die Irre führen, wohingegen der richtige sie zu einem wunderschönen Kind bringt. Soll ich der Polizei von dem Postboten auf dem Parkplatz erzählen, von dem Motorrad, dem Mann in dem orangefarbenen Chevelle, von dem gelben Transporter? Oder ist die Robbe wichtig, der Leichenwagen, die Staumauer, die Welle? Wie unterscheidet man das Sachdienliche vom Belanglosen? Ein Schnitzer in der Schilderung, ein Fehler in der Auswahl der Einzelheiten, und alles stürzt in sich zusammen.

4

r2× π ERGIBT DIE FLÄCHE EINES KREISES. Die Zeit ist ein Kontinuum, sie erstreckt sich vorwärts und rückwärts ins Unendliche. Diese Dinge habe ich in der Schule gelernt.

In einem Klassenzimmer der Murphy High School zeichnete Dr. Thomas Swayze – ein aufregender und leicht verruchter Mann, von dem das Gerücht ging, er habe seinen Doktortitel im Lotto gewonnen – vor einer neunten Klasse einen riesigen Kreis an die Tafel. Um den äußeren Rand des Kreises und auf eine gerade Linie vom Mittelpunkt zum Kreisumfang kritzelte er Zahlen und Formeln. Sein Bizeps spannte sich an und zeichnete sich unter dem Ärmel seines weißen T-Shirts ab. »Radius, Durchmesser, Umfang«, sagte er, und seine Radiomoderatorenstimme löste in mir verschwitzte pubertäre Sehnsüchte aus. Er wandte sein Gesicht der Klasse zu und blickte mich direkt an.

Die Sonne schien durch eine lange Fensterfront hinein und verwandelte das kupferfarbene Haar des Mädchens vor mir in Flammen; sie roch nach Juicy-Fruit-Kaugummi. Meine Hand lag auf dem Pult in einer Lache brennenden Lichts; um meinen Daumennagel herum sah man Blutflecken, wo ich die Haut in Fetzen gekaut hatte. In meinem Kopf ein beständiges, unerträgliches Summen. Dr. Swayze drehte sich wieder zur Tafel. Ein verborgener Gegenstand zeichnete einen schwachen, perfekten Kreisumriss in die Gesäßtasche seiner Jeans.

»Und der größte Wert ist die Fläche«, hörte ich ihn. Meine Knie öffneten sich, und ich spürte, wie sich Schweißtropfen auf dem Plastiksitz unter meinen Oberschenkeln sammelten.

Jahre zuvor hatte Mrs. Monk, meine Lehrerin in der dritten Klasse, die Zeiger einer gigantischen Pappuhr bewegt und die Tugenden der Zeit gepriesen. Sekunden seien Sandkörner, erklärte sie. Minuten seien Kiesel. Stunden seien die Ziegelsteine, aus denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gebaut würden. Sie sprach von Tagen und Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten. Sie sprach vom Jahrtausendwechsel, wenn wir alle erwachsen wären. Sie breitete ihre dicken Arme weit aus und flüsterte das Wort Ewigkeit. In unserem Klassenzimmer stotterte die Klimaanlage sanft gegen die Aprilhitze in Mobile an, und Mrs. Monk – 1977 zur Lehrerin des Jahres gewählt – predigte und glühte und schwitzte.

Ich saß an meinem hölzernen Pult, blickte zu dem riesigen Kreis mit den in der Ewigkeit gefangenen Zeigern auf und weinte. Sie kam zu mir und legte mir ihre warmen, feuchten Finger auf den Nacken. »Was ist denn los, Abby?« Ich lehnte mich an ihre ausladende, mütterliche Taille, vergrub das Gesicht in den tiefen Polyesterfalten und bekannte: »Ich verstehe die Zeit nicht.« Es war nicht die Uhr selbst, die mich verwirrte, nicht das Halb und Viertelvor und Zehnnach, sondern das essenzielle Wesen der Zeit. Mir fehlten die Worte, Mrs. Monk das zu erklären.

Was mich am meisten verstörte, waren die verlorenen Zeitspannen zwischen Schlafenszeit und Aufwachen, diese dunklen Stunden, wenn mein Inneres fantastische und furchtbare Reisen unternahm. Ich wusste, dass die Zeit ein Ort war, an dem man sich verirren, ein Ort, wo Seligkeit und Schrecken endlos andauern konnten, obgleich beim Wachwerden meine Mutter noch genauso aussah wie am Abend zuvor, meine Schwester Annabel nicht gealtert war und mein Vater aufstand, seinen Anzug anzog und zur Arbeit ging, als hätte sich nichts verändert. Ich glaubte, in einer anderen Welt zu leben als sie; sie schliefen, während ich auf Reisen ging. Ich spürte eine Verantwortung in mir, als wäre ich auserwählt, eine Last für meine gesamte Familie zu tragen.

Mrs. Monks Stimme verließ mich nicht, und noch lange nachdem ich gelernt hatte, die Uhr zu lesen, beunruhigte mich deren stetiger, unaufhaltsamer Rhythmus. Während ich in Dr. Swayzes Klasse saß und mein Blick auf der Wanduhr über der Tafel weilte, wünschte ich, man könnte sie irgendwie anhalten, könnte die Tage verlängern.

»Wie errechnen wir die Fläche eines Kreises?«, fragte Dr. Swayze.

Ich stelle mir vor, dass ein Kreis als kosmischer Punkt beginnt, so klein wie ein Kinderkörper. Das Kind bückt sich an einem Strand, um einen Sanddollar aufzuheben. Eine große Gestalt taucht aus dem Nebel auf. Eine Hand legt sich auf den Mund des Kindes, ein starker Arm hebt es hoch. Mit jedem Schritt, den der Fremde macht, wird der Kreis größer. Mit jeder Sekunde wächst die Fläche der Möglichkeiten.

Wo ist das Kind? Die Antwort liegt in einer unerträglichen Gleichung: r2× π.

5

DER RAUM IST KLEIN, mit harten Plastikstühlen und einem Betonboden. In der Ecke befindet sich ein Mosaiktischchen neben einer hübschen Stehlampe, vielleicht von einer Sekretärin oder einer aufmerksamen Gattin dort platziert, um dem Raum eine persönliche Note zu verleihen. Unter dem Schirm flattert eine Motte immer wieder mit einem leisen Klappern gegen die Glühbirne. Eine große Metalluhr tickt die Sekunden herunter. Jake ist in einem anderen Zimmer, hinter einer verschlossenen Tür, an einen Apparat geschnallt. Der Mann, der den Lügendetektor bedient, stellt ihm Fragen, überwacht seinen Herzschlag, lauert auf Anzeichen eines geheimen Motivs, einer sorgfältig verborgenen Lüge.

»Als Erstes müssen wir die Familie ausschließen«, verkündete Detective Sherburne gestern Abend. »In neun von zehn Fällen war es die Mutter oder der Vater, oder es waren beide zusammen.« Er ließ meine Augen nicht aus dem Blick, als er das sagte, er wartete auf ein Zucken. Ich zuckte nicht.

»Ich bin nicht die Mutter«, erwiderte ich. »Nicht einmal die Stiefmutter. Noch nicht. Die Mutter hat sich vor drei Jahren aus dem Staub gemacht. Suchen Sie nach ihr?«

»Wir ziehen alle Möglichkeiten in Betracht.«

Die Uhr tickt, der Kreis dehnt sich aus, und ich warte, bis ich dran bin.

Polizisten stehen einzeln oder zu zweit auf der Wache herum. Sie schlürfen Kaffee aus Styroporbechern, treten von einem Fuß auf den anderen, reden leise, reißen Witze. Einer steht da mit der Hand an der Waffe, die Finger sanft um das Metall gelegt, als wäre die Pistole eine Verlängerung seines eigenen Körpers. Jake kam gestern so schnell er konnte aus Eureka zurückgerast, wo er übers Wochenende einen Freund besucht hatte. Wir verbrachten die Nacht auf der Wache, füllten Formulare aus, beantworteten Fragen, gingen noch einmal jede Einzelheit durch. Nun ist es acht Uhr morgens. Zweiundzwanzig Stunden sind vergangen. Wer sucht, während ich hier sitze und warte?

Es ist kein Geheimnis, dass es umso schwieriger wird, ein Kind zu finden, je länger es vermisst wird. Die Gefahr steigert sich sekündlich. Die Zeit ist der beste Freund des Kidnappers, der mächtigste Feind der Angehörigen. Mit jeder Minute, die verstreicht, entfernt sich der Entführer weiter in eine nicht erkennbare Richtung, und das zu durchsuchende Gebiet, der Durchmesser der Möglichkeiten wächst.

Gestern Nachmittag traf Sherburne innerhalb von zehn Minuten nach dem ersten Streifenwagen am Beach Chalet ein und übernahm sofort das Kommando. Jetzt arbeitet er an seinem Schreibtisch, in ein blassblaues Hemd und eine seltsame, schimmernde Krawatte gekleidet, sicherlich ein Geschenk, zu dessen Tragen er sich verpflichtet fühlt. Ich stelle ihn mir zu Hause vor, wie er sich inmitten des häuslichen Chaos fertig für die Arbeit macht. Ich stelle mir eine glückliche Ehefrau vor, ein paar sehr saubere Kinder. Seine Anwesenheit hat etwas Tröstliches. Er erinnert mich an Frank Sinatra, mit seiner breiten Stirn und dem tadellosen Haarschnitt, den schrägen blauen Augen. Er bewegt sich mit einer altmodischen Anmut.

Ich mache ihn auf mich aufmerksam. Er hält eine Hand mit gespreizten Fingern hoch und formt mit dem Mund die Worte »fünf Minuten«. Dann hebt er seinen Kaffeebecher hoch, führt ihn an den Mund, trinkt einen Schluck und setzt ihn wieder ab. Sechs weitere Sekunden sind vergangen. Nehmen wir an, Emma sitzt in einem Auto, das 100 Stundenkilometer fährt. In sechs Sekunden legt ein Auto bei dieser Geschwindigkeit gut 166 Meter zurück. Jetzt setzt man diese Zahl ins Quadrat und multipliziert sie mit Pi. In der Zeit, die dieser eine Schluck Kaffee gedauert hat, hat sich das Durchsuchungsgebiet um knapp 87 000 Quadratmeter vergrößert. Wenn jeder Schluck weitere 87 000 Quadratmeter bedeutet und wenn sich noch 100 weitere Schlucke in einem Becher befinden, wie groß ist dann der Kreis, wenn er ausgetrunken hat, und wie viele Becher müsste er trinken, damit dieser Kreis den ganzen Erdball umschließt?

Ich ziehe alle Möglichkeiten sich bewegender menschlicher Körper in Betracht. Hat der Kidnapper Emma bei der Hand genommen? Hat er sie hochgehoben? Wenn Letzteres: Wie groß ist seine Schrittlänge? Wie viele Meter kann er in einer Minute zurücklegen? Und wie weit ging er zu Fuß? Wie viele Meter waren es bis zu seinem Fahrzeug? Hat sie sich gewehrt, und wenn ja, hat ihn das Zeit gekostet? Versucht er, sie zu besänftigen, wenn sie Hunger hat?

Ich stelle mir einen Transporter vor, der vor einem Gasthof an einer staubigen Landstraße anhält. Im Inneren sitzen eine geheimnisvolle Gestalt und ein Mädchen. Sie frühstücken beide. Vielleicht möchte er, dass sie Vertrauen zu ihm fasst, deshalb bekommt das Mädchen Pancakes mit Schokostückchen und einer ungesunden Portion Ahornsirup darauf, vielleicht sogar noch Kakao dazu. Wäre Emma clever genug, langsam zu essen, um ihre Abreise hinauszuzögern? Lass dir Zeit, denke ich, schicke die Botschaft telepathisch durch die Leere. Kau jeden Bissen sorgfältig, mindestens dreißig Mal. Gut gekaut ist halb verdaut, fällt mir das Sprichwort ein. Während dieser Minuten im Gasthaus bewegen sie sich in keine Richtung; die Uhr steht still, der Kreis bleibt statisch.

Das ist nicht die einzige Möglichkeit. Die Polizei tendiert bereits zur Möglichkeit des Ertrinkens.

Gestern tauchte nicht lange nach dem Eintreffen der Polizei ein Boot der Küstenwache auf. Ich stand am Strand, beantwortete Fragen und beobachtete, wie das Boot durch das eiskalte Wasser pflügte. Über unseren Köpfen setzte ein orangefarbener Hubschrauber von Norden her zur Landung an. Seine Nase kippte in Richtung Meer, und das laute Klatschen der Rotorblätter erinnerte mich an Filme über Vietnam. Der Ozean schimmerte schwarzblau unter einem noch dunkleren Himmel, und der Wind hatte aufgefrischt und den Nebel nach Osten gedrückt. Als mir der Sand auf Gesicht und Hals prasselte, dachte ich besorgt an Emmas dünnen Pulli. Er war nicht warm genug für so einen Wind. Ich hoffte, sie hatte Socken angezogen, konnte mich aber nicht erinnern.

Irgendwann tauchte Jake wie aus dem Nichts auf. Blaulicht blitzte über den dunklen Strand. Der rauchige Geruch eines Lagerfeuers wehte herüber. Einige Surfer kamen aus dem Wasser, die Körper in den schwarzen Neoprenanzügen schlüpfrig wie die von Seehunden. Die Polizei befragte einen nach dem anderen.

Schließlich kam ein Mann von der Küstenwache auf uns zu. Seine Uniform war ordentlich gebügelt, obwohl er sicher schon den ganzen Tag im Einsatz war. »Im Dunkeln können wir nicht viel tun«, sagte er. »Wir machen morgen in aller Frühe weiter.«

»Wenn sie da draußen ist«, fragte Jake, »wie hoch stehen die Chancen, dass Sie sie finden?«

Der Mann von der Küstenwache sah zu Boden und bohrte seine Schuhspitze in den Sand. »Schwer zu sagen, hängt von den Gezeiten ab. Manchmal wird ein Körper nach dem Ertrinken an Land gespült, manchmal nicht.«

»Emma hat schreckliche Angst vor Wasser«, sagte ich und sah Jake nach Bestätigung heischend an. »Sie wäre niemals auch nur in die Nähe gegangen.«

Sherburne wandte sich mir zu. Die Seiten seines Notizblocks flatterten im Wind.

Ich erklärte, wie ich Emma erst kürzlich zum Kindergeburtstag eines herrischen Mädchens namens Melissa begleitet hatte. Kreischende Kinder spielten in einem gelb gefliesten Swimmingpool Fangen, während Emma im Schneidersitz auf einem Liegestuhl saß und einen Marienkäfer terrorisierte, der in ihre Limo gefallen war. »Sie weigerte sich strikt, zu den anderen ins Becken zu gehen.« Ich sah Emma in ihrem blauen Badeanzug vor mir, so deutlich wie auf einem Foto. Hin und wieder schielte sie zum glitzernden Pool hinüber und bewegte dabei den Fuß um wenige Zentimeter, als raffte sie all ihren Mut zusammen, aber sie wagte es nicht. Auf dem Heimweg im Auto fragte ich sie, ob sie Spaß gehabt hätte, doch sie stellte nur ihre schmalen Füßchen auf das Handschuhfach und erklärte: »Ich mag Melissa nicht.«

Sherburne sah mich mitleidig an, als wollte er sagen, dass dies keineswegs ein Beweis sei. Aber an der Art, wie er den Kopf senkte und eine Hand auf Jakes Schulter legte, merkte ich, dass er mir glauben wollte.

»Sie ist ein wirklich kluges Kind.« Ich versuchte verzweifelt, es ihm begreiflich zu machen. »Wenn ich auch nur eine Sekunde damit gerechnet hätte, dass sie in die Nähe des Wassers geht, hätte ich doch niemals ihre Hand losgelassen.«

Da wandte sich Jake von mir ab und dem Meer zu, und mir wurde klar, dass ein winziger Teil von ihm es tatsächlich in Betracht zog; dass sich irgendwo in seinem durch und durch rationalen Verstand diese Vorstellung als minimale, aber deutliche Möglichkeit festsetzte: Emma könnte ertrunken sein.

»Ich habe selbst zwei Kinder«, sagte Sherburne. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.«

Jetzt kommt Jake durch eine Tür, er hält den Kopf gesenkt. Ich berühre seine Schulter, als unsere Wege sich kreuzen. Er zuckt zurück, als hätte ihn etwas gestochen, dann sieht er mich an, die Augen rot und geschwollen. Mit sichtbarer Anstrengung hebt er die Hand, umklammert meine Finger und lässt wieder los.

»Wie konntest du nur?«, hatte er als Erstes gefragt. »Mein Gott, Abby, wie konntest du das tun?« Das war am Telefon, Ferngespräch nach Eureka; seine Stimme zitterte, er weinte. Nun kann ich in seiner Miene lesen, dass es ihn Mühe kostet, es nicht wieder zu sagen – es immer und immer zu wiederholen, wie einen wütenden Refrain. Und ich denke: Wie konnte ich nur? Die Schuld ist eine körperliche Empfindung, ein beständiger, abscheulicher Schmerz.

Der Mann vom Lügendetektor steht im Türrahmen, die Hände in den Hüften, zwanglos lächelnd wie ein freundlicher Staubsaugervertreter. »Norm Dubus«, stellt er sich vor und schüttelt meine Hand. »Sind Sie bereit?«

Der Raum ist kahl und weiß und sehr warm. Ein Heizgerät brummt unter dem Fenster, die Glühdrähte leuchten rot. Es riecht nach Schweiß und abgestandenem Kaffee. Norm schließt die Tür hinter mir und bedeutet mir, mich hinzusetzen. Er wickelt Kabel um meine Brust, weist mich an, aufrecht zu sitzen, und stellt die Höhe des Stuhls so ein, dass meine Füße flach auf dem Boden stehen.

»Entspannen Sie sich. Ich werde Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«

Auf dem Tisch vor ihm liegt ein Block, daneben eine goldene Maschine mit einer Nadel. Er legt einen Schalter um, die Maschine beginnt zu summen. Die Nadel bewegt sich, kritzelt vier gerade blauen Linien auf das Papier. Die Fragen sind zunächst banal:

Ist Ihr Name Abigail Mason?

Sind Sie in Alabama geboren?

Haben Sie die University of Tennessee besucht?

Sind Sie derzeit wohnhaft in 420 Arkansas, Apartment 3, San Francisco, Kalifornien?

Er hält die Antworten auf seinem Block fest, überprüft den Ausschlag der Nadel, macht sich Notizen. Nach einer Weile ändert sich der Ton der Fragen.

Haben Sie und Jake sich in letzter Zeit gestritten?

Haben Sie Kinder?

Wünschen Sie sich Kinder?

Haben Sie sich je mit Emma gestritten?

Norms Haar ist glänzend schwarz, abgesehen von einigen grauen Strähnen über den Ohren. Um den Haaransatz herum hat er einige lila Flecken, und er riecht nach grünen Äpfeln. Er muss sich erst vor Kurzem die Haare gefärbt haben, vielleicht sogar erst heute Morgen.

Eine halbe Stunde ist vergangen, seit der Lügendetektor eingeschaltet wurde.

Haben Sie Emma je bestraft?

Wissen Sie, wo Emma ist?

Haben Sie etwas mit ihrem Verschwinden zu tun?

Haben Sie die Beherrschung verloren?

Haben Sie sie ertränkt?

Haben Sie Emma getötet?

Kurz vor Ende der Sitzung breche ich in Tränen aus. Norm bietet mir ein Taschentuch an und beugt sich vor, um die Kabel von meinem Puls zu entfernen. Der süße Apfelduft seines Shampoos wird stärker. »Emma liebt Apfelmus«, höre ich mich sagen. Er hebt eine Augenbraue und lächelt abwesend. »Wir sind jetzt fertig«, sagt Norm. »Sie können gehen.« Und dann, etwas sanfter: »Reine Routine. Wir müssen das machen.«

»Ich weiß.«

Draußen vor der Polizeiwache wartet eine Reporterin von Channel 7 mit ihrem Kameramann. Jake blickt direkt in die Kamera und spricht in das ausgestreckte Mikrofon der Frau. »Wenn Sie Emma haben, bitte lassen Sie sie frei. Bringen Sie sie einfach an einen öffentlichen Ort und gehen Sie weg. Niemand wird herausfinden, wer Sie sind.«

Die Reporterin wedelt mit dem Mikrofon vor meinem Gesicht herum. Ihr Make-up wirkt maskenhaft, ihr Lipliner führt eine Idee über die natürlichen Konturen ihrer Lippen hinaus. »In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Kind?«

»Ich bin die Verlobte ihres Vaters.«

Die Frau schiebt sich zwischen Jake und mich. »Wird die Hochzeit trotzdem stattfinden?«

»Ich will einfach nur meine Tochter wiederhaben«, sagt Jake.

Sie bombardiert ihn mit noch mehr Fragen, wartet aber nie lange genug ab, um eine vollständige Antwort zu erhalten. »Wie geht es Ihnen? Wo ist Emmas Mutter? Haben Sie eine Vorstellung, wer das getan haben könnte?« Ich weiß, sie sucht nach dem perfekten Zitat – ein Ausbruch von Trauer, ein Satz, der die Mutter ins Spiel bringt, die Erwähnung eines unheimlichen Nachbarn oder verrückten Onkels – irgendetwas, das ihre Geschichte interessanter machen könnte.

Jake blockt ihre Fragen ruhig und professionell ab. Nicht ein einziges Mal zeigt er sich ungeduldig oder bricht gar in Tränen aus. Für solche Augenblicke der Krise ist er wie gemacht, dieser robuste Kalifornier, der sich immer unter Kontrolle hat. Sein Ur-Ur-Urgroßvater war ein 49er, ein Goldgräber, der 1849 zur Zeit des großen Goldrauschs nach Kalifornien kam. Sein Vater war auch ein 49er, ein Footballheld, der für die San Francisco 49ers spielte und dessen Name noch immer gelegentlich im Sportteil erwähnt wird; ein überlebensgroßes Talent, das mit Anfang vierzig vom Alkohol dahingerafft wurde. Jake spielte auf der Highschool Football, gab den Sport aber glücklicherweise auf, als sein Vater starb. Dennoch, etwas von der Großmäuligkeit des Footballspielers hat er immer noch an sich, ein gutmütiges Selbstvertrauen, durch das er die Menschen unweigerlich für sich einnimmt.

Er wird sicher gut rüberkommen im Fernsehen. Die Zuschauer werden seine sanfte, besonnene Ausstrahlung bewundern, das gewellte Haar, das immer ein wenig ungekämmt wirkt, die volle Unterlippe, auf die er sich beißt, wenn er über eine Frage nachdenkt, die unaufdringliche Brille, durch die er wie ein stiller Intellektueller aussieht. Sie werden die Grübchen seines jungenhaften Lächelns lieben, die Art, wie er auf seine Füße starrt, wenn ihm jemand ein Kompliment macht. Ich denke an das Fernsehpublikum, das uns beobachtet und beurteilt, so wie ich es in besseren Zeiten getan habe.

Wir fahren zu Jakes Haus an der 30sten, Ecke Lawton Street. Dort wartet ein weiterer Reporter. Jake bleibt stehen und gibt erneut ein Statement ab, in dem er um Emmas unversehrte Rückkehr bittet. Als wir im Haus sind, ziehen wir die Vorhänge zu und stehen im dunklen Wohnzimmer. Wir sprechen nicht, wir berühren uns nicht, wir stehen einfach nur einander gegenüber da und lassen die Arme hängen. Emmas Sachen liegen überall im Raum verstreut: auf dem Couchtisch ein Zauberstab aus Alufolie; in einem Korb neben der Treppe ein Topflappen, den sie für ihre Lehrerin häkelte; unter dem Sofa die roten Ballerinas, die sie gern im Haus trug.

Ich lehne mich an Jakes Brust und lege die Arme um ihn. So haben wir im Stehen immer am besten zusammengepasst, mein Kopf direkt auf seinem Brustbein, seine Arme so um mich geschlungen, dass ich mich beschützt fühlte. Aber dieses Mal umarmt er mich nicht. Stattdessen tätschelt er mir die Schulter – einmal, zweimal, dreimal – wie ein guter Bekannter auf einer Beerdigung.

»Es tut mir so leid«, sage ich.

Er lässt die Hand wieder sinken. »Ich weiß, es ist nicht deine …«

Aber er kann nicht sagen, dass es nicht meine Schuld ist, kann nicht sagen, dass er mir keinen Vorwurf macht, denn es ist meine Schuld und er macht mir Vorwürfe.

Er löst meine Hände hinter seinem Rücken, dann geht er nach oben in Emmas Kinderzimmer. Sein Schluchzen dringt durch die Holzdielen. Ich denke an Emmas Bett, die gelbe Bettdecke mit den weißen Blümchen, die kleinen Kissen, unter denen sie so gern Dinge versteckt: Kreide, Puppenkleider, nagelneue Dollarscheine. Minuten vergehen, bevor ich von oben etwas höre; eine Tür wird geöffnet, schwere Schritte schlurfen über den Boden, eine andere Tür wird geschlossen, dann rauscht das Wasser im Waschbecken im Badezimmer.

Leslie Gray berichtet die Geschichte auf Channel 7 folgendermaßen: »Eine Sechsjährige aus San Francisco, die Enkelin des legendären 49er-Spielers Jim Balfour, verschwand gestern am Ocean Beach. Zwar werden der Vater des Mädchens und seine Verlobte weiterhin verhört, aber es heißt, sie hätten bereits einen Lügendetektortest bestanden. Die Behörden versuchen nach wie vor, die getrennt lebende Mutter des Mädchens ausfindig zu machen. Von polizeilicher Seite aus wird befürchtet, das Mädchen könnte ertrunken sein.«

Ein Foto von Emma taucht auf dem Bildschirm auf, das Bild aus dem letztjährigen Jahrbuch der Schule. Ihr Pony ist schief geschnitten, und sie trägt eine blaue Haarspange. Vorne in der Mitte fehlt ihr ein Zahn. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem das Foto gemacht wurde. Ich half ihr, die Spange auszusuchen, und sie überredete mich, ihren Pony mit einem Lockenstab zu bearbeiten. Um sie nicht zu verbrennen, legte ich die Hand zwischen den Lockenstab und ihre Stirn, wie meine Mutter es früher immer tat, und als sie so von einem Mitschüler namens Sam plauderte, der den Klassenkanarienvogel vergiftet hatte, spürte ich, dass sie allmählich anfing, mich zu mögen.

Leslie Gray runzelt routiniert die Stirn, wodurch einige Falten in ihrem pfirsichfarbenen Make-up entstehen. »Wenn Sie das Mädchen gesehen haben, rufen Sie bitte folgende Hotline an.« Eine Nummer wird eingeblendet. Ich hebe den Hörer ab und wähle. Die junge Frau, die sich am anderen Ende meldet, ist vermutlich nicht älter als siebzehn.

»Notruf für vermisste Kinder«, zwitschert sie fröhlich. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Ich will ihr sagen, dass sie Emma bitte finden muss. Ich will ihr sagen, dass Emma Chips mit Salz und Essig liebt, dass sie Cello-Unterricht hatte. Ich will ihr sagen, dass Emma bei ihrem letzten Diktat null Fehler hatte und dass ich ihr gerade das Fotografieren beibrachte. Stattdessen ist mein Hals wie zugeschnürt, und ich sage kein Wort.

»Hallo?«, sagt sie. »Hallo?« Ihre Stimme wechselt von munter zu verärgert. »Hallo«, dann ist die Leitung tot.

6

FÜR DIE ARBEIT BENUTZE ICH IMMER MEINE LEICA R8. Sie ist leicht zu handhaben und gewährt mir ein Höchstmaß an Gestaltungsspielraum. Doch während der vergangenen Monate hatte ich mehr und mehr das Gefühl, meinen Fotografien fehle etwas – eine gewisse Tiefe, die ich nicht näher bestimmen konnte. Ich wollte eine Kamera ohne Schnickschnack, ohne spezielle Linsen und Präzisionsfokus. Darum hatte ich an dem Tag am Ocean Beach die Holga gewählt. Sie hat keinen Mechanismus zur Schärfenregulierung und nur zwei Blenden und ist damit die einfachste Art von Sucherkamera.

Es ist mitten in der Nacht am Tag nach Emmas Verschwinden. Jake ist unterwegs, um sie zu suchen. Heute waren mehrere Dutzend Freiwillige im Golden Gate Park ausgeschwärmt, fest entschlossen, die gesamten 412 Hektar abzugrasen – die dichten Wälder und riesigen Fußballfelder, den botanischen Garten, die Seen und Spielplätze und Reitplätze. Eine Frau namens Bud, die bei der Parkpolizei arbeitet, führte die Suche zu Pferde an. Ich erkannte sie von einem Ausflug, den Emma, Jake und ich im Frühling von den Presidio-Ställen aus gemacht hatten. An jenem Tag, der mir eine Ewigkeit her zu sein scheint, zeigte Officer Bud Emma, wie man die Pferde aus der Hand mit Karotten füttert. Es waren noch einige andere Kinder auf der Tour dabei, und es war mir peinlich, dass Emma vor lauter Aufregung verstohlen an den anderen vorbei an die Spitze der Schlange hüpfte. Ich konnte mich nicht erinnern, selbst als Kind so kühn gewesen zu sein, und fragte mich in einer Mischung aus Belustigung und Unbehagen, welche Formen Emmas Vorwitzigkeit wohl annehmen würde, wenn sie älter wurde.

Für mich führt die Suche heute Nacht zurück zu meiner Wohnung, in die Dunkelkammer mit der heruntergekühlten Luft und dem Geruch von Chemikalien. Ich nehme den gestrigen Film aus der Holga, hole ihn aus der Filmpatrone und wickle ihn sorgfältig auf die Spule. Das habe ich schon tausendmal gemacht, doch meine Finger zittern. Dann stecke ich die Spule in die Entwicklungstrommel, schraube den Deckel auf und schalte das Deckenlicht ein. Ich überprüfe die Temperatur des Entwicklers, gieße ihn in die Trommel und schwenke den Behälter sachte hin und her. Dann wiederhole ich den Vorgang mit dem Stoppbad und dem Fixierer, peinlich genau achte ich darauf, die Zeiten einzuhalten, mir ist bewusst, dass ich den wichtigsten Film meines Lebens in der Hand halte. Schließlich schraube ich den Deckel der Entwicklungstrommel wieder ab, halte die Spule unter fließendes Wasser und hänge die Filmstreifen zum Trocknen auf.

Es ist drei Uhr morgens, als ich die Negative in Abschnitte von jeweils drei Bildern zerteile und sie eines nach dem anderen in den Vergrößerer schiebe. Ich justiere den Beleuchtungskopf, bis das Bild scharf ist, dann lege ich das Fotopapier auf die Unterlage und belichte es, vier Sekunden pro Abzug. Dann die Bäder: Entwickler, Stoppbad, Fixierer. Am Schluss das Wasserbad.

Jedes Foto fängt den Augenblick mit einem gewissen Grad an Genauigkeit ein, und doch bin ich verblüfft über die Unzulänglichkeiten, die Geschichte, die meine Fotos nicht erzählen. Eines der Bilder ist eine Nahaufnahme, ihr Gesicht schwebt nur Zentimeter vor der Kamera, ein breites Grinsen, ein Klecks Mehl auf ihrer Wange von unserem Pancake-Backabenteuer am Morgen. Auf dem zweiten steht sie ein paar Meter weiter weg und beugt sich herunter, um einen Sanddollar zu begutachten, im Profil aufgenommen. Das Haar hängt herunter und verbirgt ihr Gesicht. Das dritte zeigt sie von hinten, eine kleine, verschwommene Gestalt am linken Bildrand. Wenn man dieses Foto in einer Galerie sähe oder bei jemandem im Wohnzimmer, fände man es vielleicht geheimnisvoll, ansprechend: schwarzes Kinderhaar, weißer Nebel, endloser Strand.

Und doch fehlt den Fotos etwas Wesentliches. Was ihnen fehlt, ist die Wahrheit. Was ihnen fehlt, ist die Antwort. Wieder und wieder suche ich sie mit einer Lupe ab, fahnde nach einer dunklen Gestalt, die im Schatten lauert. In der Körnung versuche ich einen Hinweis zu finden, eine versteckte Bedeutung oder etwas Simples, Offensichtliches, das mir entfallen ist. Ich suche, bis mir alles vor Augen verschwimmt, ich will einfach nicht glauben, dass da nichts ist. Es ist sieben Uhr, als ich die Dunkelkammer verlasse, krank vor Enttäuschung.

Für jedes Problem gibt es eine Lösung; das hat meine Mutter mir als Kind immer gesagt, und nach diesem Leitsatz habe ich bisher mein Leben gelebt. Doch nun verpufft diese alte Weisheit; sie ist nicht mehr als eine hoffnungsvolle Täuschung ohne praktischen Nutzen. Ich weiß nur eines: Es gibt da ein Mädchen, sie heißt Emma. Wir laufen am Strand entlang. Sie war da, und dann war sie plötzlich nicht mehr da. Der Moment kann nicht zurückgeholt, das Drehbuch nicht umgeschrieben werden; ich habe weggesehen. Es kann nicht ungeschehen gemacht werden.

7

ICH LASSE DAS TELEFON AM ANDEREN ENDE WIEDER UND WIEDER KLINGELN. Dabei sehe ich mich selbst wie von ferne: der Verlobungsring mit dem Smaragd an der Hand, die den Hörer fest umklammert. Alles fühlt sich unwirklich an, wie eine schreckliche Szene aus dem Leben eines anderen Menschen.

Schließlich hebt ein Mann mit einer hohen, gekünstelten Stimme ab. »Notruf«, sagt er. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich habe ein kleines Mädchen verloren«, sage ich mit zitternder Stimme.

»Wann haben Sie bemerkt, dass sie verschwunden ist?«

»Vor fünfunddreißig Minuten.« Ich starre ungläubig auf meine Armbanduhr. Fünfunddreißig Minuten. Was kann in fünfunddreißig Minuten mit einem Kind passieren?

»Wo haben Sie sie zuletzt gesehen?«, fragt der Mann.

»Am Ocean Beach. Ich habe schon am Parkplatz nach ihr gesucht, aber da war sie nicht.«

»Das Wichtigste ist jetzt, die Ruhe zu bewahren«, sagt er.

Aber ich weiß, dass er Unrecht hat; Ruhe bedeutet eine Art Erholung, sich zurücklehnen und warten.

»Wo sind Sie jetzt?«

»Im Restaurant Beach Chalet.«

»Sprechen Sie bitte lauter«, fordert er mich auf. »Ich kann Sie kaum hören.«

»Im Beach Chalet.« Die Lautstärke meiner Stimme erschreckt mich. Die Leute an den Tischen drehen die Köpfe und sehen mich an, ein Mann in einer Schürze wickelt Besteck in Servietten, ein über und über tätowiertes Pärchen teilt sich am Fenster ein Omelett, eine Gruppe deutscher Schüler studiert die Karte. Die Wirtin, eine vorzeitig mütterlich wirkende Frau mit schwerem russischem Akzent, steht vor mir und ringt die Hände.

»Ist das kleine Mädchen Ihre Tochter?«, fragt die Stimme.

»Nein, die meines Verlobten.«

»Wie alt ist sie?«

»Sechseinhalb.« Meine Stimme wird wieder lauter. »Bitte schicken Sie jemanden her. Wann können Sie jemanden herschicken?«

»Sie müssen ruhig bleiben. Ich schicke einen Streifenwagen.«

»Wie lange dauert das?«

»Fünf Minuten. Bleiben Sie, wo Sie sind. Die Beamten kommen zu Ihnen.«

Er klingt so überzeugt, kein bisschen nervös. Ich fühle mich schwach getröstet von der ordentlichen Einhaltung des Dienstwegs und stelle mir vor, wie der Einsatz über Funk verbreitet und von einem Trupp gut ausgebildeter Polizeibeamter angenommen wird. Innerhalb von Sekunden kommen sie zum Ocean Beach gerast, die Sirenen heulen, und schon nach wenigen Minuten werden sie Emma gefunden haben.

»Ich hole Ihnen einen Kaffee«, sagt die russische Frau. Sie verschwindet in der Küche.

Der Besteckmann kommt herüber und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Wie heißt sie denn?«

»Emma. Emma Balfour.«

Er macht seine Schürze ab und schleudert sie in die Ecke. »Ich sehe im Park nach.«

Ich kämpfe gegen die Vorstellung von Emma mit einem Fremden hinter den Bäumen auf einem felsigen Pfad an. Sehe auf die Uhr. Neununddreißig Minuten. Inzwischen könnte sie sonst wo sein.

Das tätowierte Paar schlingt die letzten Bissen des Omeletts herunter. »Was können wir tun?«, fragt das Mädchen, während sie ihre Jacke überstreift.

»Ich weiß es nicht«, sage ich. »Ich kann nicht denken.«

»Wir könnten noch mal zum Parkplatz gehen«, schlägt der Freund vor. »Wir könnten alle Nummernschilder aufschreiben.« Er wirkt eifrig, beinahe begeistert, als wäre er in einen Film geraten und bekäme die Rolle seines Lebens.

»Hier, nehmen Sie die mit.« Ich gebe ihm meine Holga. »Es sind nur noch fünf Bilder übrig.«

»Wir bringen Sie Ihnen zurück, wenn wir fertig sind«, sagt das Mädchen. Sie klatscht einen Zwanziger auf die Theke, und dann sind sie draußen. Die deutschen Halbwüchsigen blicken immer wieder von ihrer Speisekarte auf und flüstern, als wäre dies alles Teil eines Unterhaltungsprogramms, ein Stück, das extra für sie aufgeführt wird.

Die russische Frau kommt mit einem großen Kaffeebecher, einem Milchkännchen, zwei Päckchen Zucker und einem Löffel zurück. »Ihre Tochter«, sagt sie, »wir werden sie finden.«

Wieder nehme ich das Telefon und wähle Jakes Handynummer, beinahe hoffe ich, dass er nicht rangeht. Ich stelle mir vor, wie ich ihn etwas später anrufe, wenn ich sie gefunden habe. Ein Teil von mir glaubt, dass die Sache in ein paar Minuten vorbei ist und das Leben sich wieder normalisiert. Emma spielt einfach nur Verstecken, oder sie ist losgerannt, um ein Klo zu suchen, oder sie hat sich im Nebel verlaufen und braucht eine Weile, um den Parkplatz wiederzufinden. Wahrscheinlich steht sie jetzt genau neben dem Auto. Es muss so sein. Ich hätte dortbleiben und auf sie warten sollen.

Es klingelt zweimal, dreimal bei Jake. In dem Moment, in dem ich es ihm erzähle, wird der Albtraum zur Wirklichkeit, das weiß ich. Beim fünften Läuten hebt er ab.

»Abby?«

Ich höre Stimmen im Hintergrund, ein Sportkommentator, das Gemurmel der Menge. Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.

»Bist du noch dran?«, fragt er.

»Ich muss dir was sagen.«

Ein wildes Jubeln der Menge tönt durch den Hörer, und Jake stößt einen Freudenschrei aus. »Delgado hat gerade einen Homerun geschlagen!«

»Jake, du musst nach Hause kommen«, sage ich. Noch während ich das sage, rechne ich aus, wie viel Zeit er für die 430 Kilometer brauchen wird, wenn er sofort losfährt, wenn er sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung hält und nicht zum Tanken anhalten muss, wenn kein Stau ist.

»Was?«

»Du musst nach Hause kommen. Es geht um Emma.«

»Ich kann dich kaum verstehen.«

»Emma«, sage ich.

Sein Tonfall verändert sich. »Stimmt was nicht?«

»Sie ist weg«, sage ich.

»Was?«

»Emma. Sie ist weg.«

Seine Stimme bekommt einen hohen, fremden Klang. »Was heißt das, weg?«

»Wir waren am Strand. Wir sind spazieren gegangen.«

Wie beendet man ein solches Gespräch? Nichts an diesem Moment wirkt real. Ich weiß, es muss die passenden Worte für so einen Fall geben, aber ich habe keine Ahnung, wie sie lauten. Das ist ein Störfall in der Zeit, ein Fehler, ein Scherz. Jeden Augenblick kommt Emma durch die Tür.

»Was meinst du damit?«, fragt er wieder.

»Da war eine tote Robbe, ein Junges. Ich habe sekundenlang nicht hingesehen, ich schwöre, es waren nur ein paar Sekunden. Dann habe ich wieder aufgeschaut, und sie war nicht mehr da.«

»Aber … wo ist sie denn jetzt?«

Wo ist sie? Eine berechtigte Frage. Die nächstliegende Frage. Wie soll man sie beantworten?

»Verloren gegangen«, sage ich. Als streunte sie einfach nur herum, wie Kinder das eben tun. Als stünde sie geduldig an einem festen Punkt und wartete auf mich. »Die Polizei ist unterwegs.«

Am anderen Ende der Leitung einige Sekunden Schweigen. Die Stimme eines Fremden sagt: »Hey, Mann, alles okay?« Später werde ich erfahren, dass es die Stimme des Hotdog-Verkäufers ist. Jakes Beine haben nachgegeben. Gerade noch stand er da, auf das Spiel konzentriert, hielt zwei Finger hoch, um zwei Hotdogs zu bestellen. Im nächsten Moment sitzt er auf dem Boden – nein, er sitzt nicht, er kniet auf dem Beton.

»Das ist doch nicht möglich«, höre ich Jake sagen. »Abby, wie konntest du nur?«

Im Hintergrund hört man das Knallen eines Baseballschlägers und das Johlen der Menge.

Ich lernte Jake vor einem Jahr in der Schule kennen, an der er unterrichtet. Ich hielt vor einer Gruppe von Elft- und Zwölftklässlern einen Diavortrag über Landschaftsfotografie des Südwestens. Bevor ich das Licht ausmachte, bemerkte ich einen Mann, der allein in der hintersten Reihe saß und ein bisschen deplatziert wirkte. Er hatte welliges schwarzes Haar, trug eine Brille mit dünnem Silbergestell und ein blaues Hemd. Als das Licht wieder anging, zeigte er mit beiden Daumen nach oben.

Ich forderte zu Fragen und Kommentaren auf. Es gab keine. Die Kunstgeschichtslehrerin, eine magersüchtige Brünette mit sehr kurzem Pony, stellte ein paar vorhersehbare Fragen, um das mangelnde Interesse ihrer Schüler aufzuwiegen. Als die Stunde vorbei war, sprangen die Schüler auf, schubsten einander und brüllten. Die plötzliche Geschäftigkeit setzte einen unangenehmen Geruch von Pubertät frei – billiges Parfüm, Haarspray, Schweiß und angestaute Lust. Als der Lärm nachließ, stand der Mann aus der letzten Reihe vor dem Podest.

»Sie waren ziemlich gut da oben«, sagte er.

»Das sagen Sie nur aus Höflichkeit.«

»Nein, wirklich, das ist ein wüster Haufen. Sie haben sich gut geschlagen.« Er streckte die Hand aus. »Ich heiße Jake.«

»Sind Sie nicht ein bisschen zu alt für die Schulbank?«

»Ich hatte eine Freistunde. Hatte keine Lust, im Lehrerzimmer herumzusitzen.«

In diesem Moment ging das Licht aus und tauchte uns in Dunkelheit. »Sparmaßnahmen«, erklärte Jake. »Die Lampen sind alle mit Zeitschaltuhren ausgestattet.« Bis auf uns beide war die Aula leer. Genau gleichzeitig wollten wir den Diaprojektor ausschalten, und als unsere Hände sich berührten, gab es eine statische Entladung.

»Es hat gefunkt«, sagte er.

Ich lächelte.

Wir drängten uns durch den überfüllten Flur, ein Chaos aus Rucksäcken und Handys und iPods, ein Treibhaus kollidierender Pheromone. Für mich fühlte es sich unberechenbar an, unsicher, als könnte jeden Augenblick eine Waffe gezogen werden oder eine Messerstecherei losgehen. Ein dürrer Junge in einem ausgebeulten Pulli begrüßte Jake im Vorbeigehen mit Handschlag, und ein Mädchen im Minirock warf ihm eine Kusshand zu. Einige Schüler riefen seinen Namen. Ich fragte mich, wie es ihm wohl gelungen war, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich hatte Teenager nie gemocht, nicht einmal, als ich selbst noch einer war. Ich nahm an, das Gefühl beruhe auf Gegenseitigkeit; bestimmt konnten sie direkt durch mich hindurchsehen, konnten meine Abneigung erkennen, meine Angst riechen.

»Was für ein Fach unterrichten Sie?«, fragte ich und wich gerade noch einem Fernseher aus, der von einem dicken Jungen mit schütterem Haar auf einem Tischchen durch den Schulflur gerollt wurde.

»Philosophie.«

»Macht Ihnen das Spaß?«

»Um ehrlich zu sein, kriege ich nur eine Philosophieklasse pro Jahr. Der Rest ist Fußball und amerikanische Geschichte.«

»Ein Allroundgenie.«

»Mehr eine Art Mann für alle Fälle«, entgegnete er. »Und wer hat Ihnen das eingebrockt?«

»In einem schwachen Moment habe ich mich breitschlagen lassen, als Freiwillige bei diesem Projekt Artists in the Schools mitzuarbeiten. Allerdings hatte ich mir das etwas anders vorgestellt; ich hatte eher an niedliche Drittklässler mit Latzhosen und Zöpfen gedacht.«

»Was machen Sie für Fotos?«

»Alles, was Geld einbringt. Vor allem Firmenveranstaltungen und Hochzeiten, nebenher auch Fotorestaurierung.«

»Meine Mutter war Fotografin«, erzählte Jake. »Züge, Landschaften, verkommene Straßen. Es war nur ein Hobby, aber sie war ziemlich gut. Ich hab mir oft gewünscht, sie hätte mir ihr Talent vererbt.«

Wir traten aus dem schwülen, neonbeleuchteten Inneren hinaus ins Sonnenlicht. Vom Parkplatz aus konnte ich das Meer in der Ferne und den Nebel sehen, der die Stadt umgab wie ein strahlend weißer Ring um ein leuchtend blaues Zentrum. Jake stellte den Diaprojektor in den Kofferraum meines Wagens, schüttelte mir die Hand und sagte: »Hier trennen sich wohl unsere Wege.« Er schien auf Widerspruch meinerseits zu warten, doch die Zeit, als ich mich das letzte Mal um einen Mann bemüht hatte, lag schon so lange zurück, dass ich gar nicht mehr richtig wusste, wie das ging.

»Danke für die Hilfe«, sagte ich. Im Stillen flehte ich ihn an, nach meiner Telefonnummer zu fragen. Doch er winkte mir nur etwas unbeholfen zu und machte sich auf den Rückweg.

Gerade drehte ich den Schlüssel in der Zündung herum, als er am offenen Autofenster wieder auftauchte. Er stützte die Hände auf die Scheibe und beugte sich herein. »Haben Sie morgen Abend schon was vor?«

»Ich habe zwei Karten für das Spiel der Giants.«

Jake war überrascht. »Wirklich?«

»Treffen wir uns um halb sieben bei der Statue?«

»Ich bin da«, sagte er.

Ich winkte ihm zum Abschied so lässig ich konnte, als würde ich so etwas ständig machen. Auf dem Heimweg musste ich ununterbrochen an seine Hände auf der heruntergekurbelten Scheibe denken und daran, wie liebenswert sich sein rechter Fuß bei jedem Schritt leicht nach innen drehte.

Als ich am nächsten Tag bei der Willie-Mays-Statue ankam, war Jake schon da. Bei Hotdogs und Knoblauchpommes stellte er mir unzählige Fragen, irgendwie gelang es ihm, einen umfassenden Bericht über bisherige Anstellungen, die Dauer früherer Beziehungen, meine CD-Sammlung, selbst den Namen meines Cockerspaniels, den ich mit sieben Jahren bekam, aus mir herauszulocken. Keiner von uns achtete besonders auf das Spiel.

Gegen Ende des achten Innings wischte ich mir die Krümel vom Schoß und sagte: »Ich fühle mich wie bei einem Vorstellungsgespräch.«

Er zuckte die Achseln. »Ich stelle nur die wichtigen Fragen.«

»Bin ich eingestellt?«

»Das hängt davon ab. Willst du den Job denn?«

»Ich weiß noch zu wenig über die Firma.«

Inzwischen lagen die Giants mit acht Punkten vorne. »Bist du mit dem Auto da?«, fragte Jake.

»Nein, mit den Öffentlichen.«

»Gut. Dann fahre ich dich heim.«

Später standen wir eine Zeit lang vor meiner Wohnungstür und machten Small Talk, keiner von uns wusste, wie wir die Verabredung beenden sollten. Nach ein paar Minuten steckte er die Hände in die Taschen, blickte zu Boden und fragte: »Was hältst du von Kindern?«

Ich lachte. »Bist du nicht ein bisschen voreilig? Du hast mich noch nicht mal geküsst.«

Er legte die Hände um meine Taille, zog mich zu sich heran und brachte mich durch einen langen, intensiven Kuss aus dem Gleichgewicht, der in mir die Lust auf mehr weckte. »So«, sagte er. »Die Hürde hätten wir genommen.«

»Du klingst wie Alvy im Stadtneurotiker«, sagte ich. »Die Szene, wo sie nach ihrer ersten Verabredung nach Hause gehen und er sie küsst, nur damit sie es hinter sich haben und es später nicht peinlich wird.«

»Das ist mein Lieblingsfilm von Woody Allen«, sagte er. »Nein, mein zweitliebster, nach Verbrechen und andere Kleinigkeiten.«

Wir sahen einander einige Sekunden lang an, lächelten verlegen, und ich stellte überrascht und beglückt fest, dass da jemand war, mit dem ich auf einer Wellenlänge lag.

»Jetzt mal im Ernst«, fing er wieder an. »Was ist mit Kindern?«

»Ich kann dir ehrlich versichern, dass du der erste Mann bist, der mich das je beim ersten Date gefragt hat.«

»Ich lege gern die Karten auf den Tisch.«

»Klar möchte ich irgendwann eines. Aber ich höre meine innere Uhr noch nicht ticken, wenn du das meinst.«

Wieder küsste er mich, dieses Mal noch länger. Die eine Hand hielt er auf meinen Rücken gepresst, mit der anderen umfasste er meinen Ellbogen auf eine wohlige und vertraute Weise. Es war ein Jahr her, seit ich mich von meinem letzten Freund getrennt hatte. Das Ende der Beziehung war unschön gewesen und hatte sich monatelang hingezogen, mit dramatischen nächtlichen Telefonaten. Als Jake mich küsste, spürte ich eine Mauer in mir zerbröckeln.

Er nahm mein Haar in die Hände und warf es mir über die Schulter. »Sagen wir mal, du würdest einen intelligenten, witzigen, gut aussehenden Mann kennenlernen.«

»Kennst du so jemanden?«

»Und sagen wir, dieser Mann hätte eine Tochter. Könntest du dich trotzdem in ihn verlieben?«

Ich forschte in seiner Miene nach einem Anzeichen für einen Scherz, doch da war nichts. »Du meinst das ernst.«

»Sie ist fünf Jahre alt. Ihr Name ist Emma.«

Ich erinnere mich ganz deutlich an das Bild, das in diesem Augenblick vor meinem geistigen Auge auftauchte. Es war ein albernes Bild von Jake und mir und einem kleinen Mädchen. Wir waren in einem Park, und ich schubste das Kind auf einer Schaukel an. Ihre Haare flatterten hinter ihr, während sie immer höher und höher stieg. Diese Vorstellung von einer schon fertigen Familie hatte etwas Angenehmes und erstaunlich Einnehmendes an sich. Dann wurde mir bewusst, dass das Bild unvollständig war. »Und ihre Mutter?«, fragte ich.

»Lisbeth ist vor einigen Jahren gegangen. Sie hat einen Typen aus einer Band kennengelernt und ist in einer merkwürdigen Szene gelandet. Eines Tages kam ich von der Arbeit nach Hause, und sie war weg. Das war vermutlich der schlimmste Tag meines Lebens. Zu dem Zeitpunkt verstanden wir uns zwar schon überhaupt nicht mehr, aber ich liebte sie trotzdem noch. Oder vielleicht dachte ich auch einfach, ich könnte sie retten, ihr helfen, wieder der Mensch zu werden, der sie früher einmal gewesen war.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Das weiß ich nicht.« Jake stockte. »Sie hat sich nach ihrem Verschwinden monatelang nicht gemeldet. Dann kamen ein paar kurze Anrufe, in denen sie um Geld bat. Ungefähr vor sechs Monaten rief sie mitten in der Nacht an und weinte und entschuldigte sich. Sie behauptete, sie sei clean und habe den Typen abgeschossen, sie vermisse mich und wolle es noch mal probieren. Das Traurige war, dass sie nicht ein einziges Mal nach Emma fragte. Ich glaube, Lisbeth hat die Mutterschaft immer als Last empfunden, etwas, das sie daran hinderte, sich zu verwirklichen.«

»Und was hast du gemacht?«

»Ich habe ihr gesagt, sie soll wegbleiben, und dass wir sehr gut ohne sie zurechtkommen. Damals hatte ich Emma schon erklärt, dass ihre Mutter nie zurückkäme. Vielleicht war ich da noch nicht hundertprozentig über sie hinweg – ich bin nicht sicher, ob man jemals ganz über jemanden hinweggkommt, den man geliebt hat –, aber ich wusste, sie war nicht gut für Emma, und ich wollte sie nicht in unserem Leben haben.«

Dann lächelte er, ein schüchternes Lächeln, das im Gegensatz zu der Seite stand, die ich an diesem Abend an ihm kennengelernt hatte. »Weißt du, eigentlich habe ich seitdem nicht viel mit Frauen zu tun gehabt. Hab ich dich abgeschreckt?«