Der Panzer zielte auf Kafka - Heinrich Böll - E-Book

Der Panzer zielte auf Kafka E-Book

Heinrich Böll

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Die Dummheit des Arguments Panzer und Waffen war so niederschmetternd …« Heinrich Böll und der Prager Frühling. Am 20. August 1968 reiste Heinrich Böll auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands nach Prag. Zeit für die offiziell geplanten Gespräche blieb ihm nicht, denn kurz darauf rückten die Truppen des Warschauer Paktes ein, und die Besatzung begann. Vier Tage verbrachte Böll gemeinsam mit seiner Frau Annemarie und seinem Sohn René in der Stadt, in der die Träume von einem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« brutal zerschlagen wurden. Der Widerstand der Prager durch alle Bevölkerungsschichten hindurch beeindruckte ihn zutiefst. Böll tat das ihm Mögliche, seine Solidarität auszudrücken, sprach im Radio, schilderte für lokale Zeitungen seine Beobachtungen der Ereignisse. Als er wieder abreiste, versprach er den tschechischen Schriftstellerkollegen, so viel und oft wie möglich über das, was er gesehen hatte, zu berichten und darüber zu schreiben. Böll hielt Wort. Die Ergebnisse seines Engagements versammelt erstmals dieses Buch. Neben den seinerzeit abgedruckten oder gesendeten Interviews und essayistischen Stellungnahmen umfasst der Band umfangreiche bislang unveröffentlichte Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Notizen des Autors. Erweitert wird das Material durch Fotografien René Bölls sowie Erinnerungsstücke aus den bewegten Prager Tagen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 179

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heinrich Böll

Mit einem einführenden Essay von Martin Schulze Wessel

Der Panzer zielte auf Kafka

Heinrich Böll und der Prager Frühling Mit einem einführenden Essay von Martin Schulze Wessel

Herausgegeben von René Böll

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Heinrich Böll

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

VorabFrei nach B.B.»Wir sind besetzt«Heinrich Böll und der Prager FrühlingKapitel 1 Die AufzeichnungenFaksimiles und TranskriptionKapitel 2 Die TexteEin Brief aus PragDer Panzer zielte auf KafkaKapitel 3 Die InterviewsInterview mit Literární Listy»Die Gesichter der Soldaten werden mich noch lange beschäftigen«»Mörderisch und selbstmörderisch«Interview mit Dagobert LindlauÄndern Dichter die Welt?Kapitel 4 Heinrich Böll und die ČSSRDer Geist der UnteilbarkeitLiteraturBibliografie der Texte und Interviews Heinrich Bölls zu Personen und Themen der Tschechoslowakei 1961 bis 1984Danksagung
zurück

Vorab

Frei nach B.B.
Für Tomáš Kosta zum 60.(1985)

Es standen die Panzer am Ufer der Moldau

walzten ratlose Unfreie über keimende Hoffnung

Klein waren die Großen und groß die Kleinen

vergingen die Nächte und kam doch kein Tag

Wenn wechseln die Zeiten, so hilft nur Gewalt

und blieben doch groß die gewaltlosen Kleinen

hielten den Keim in geballter Faust

verlosch nicht die Kerze hinter schützender Hand

Es stehen die Panzer am Ufer der Moldau

wie zittern die Großen vor Kerze und Keim

Musik, ein Wort schon versetzt sie in Panik

eine Zeile und sie geben Panzer-Alarm

 

Tomáš Kosta, der Leiter des Bund-Verlages in Köln, gehörte zu den aus der ČSSR nach der Okkupation 1968 emigrierten Intellektuellen.

»Wir sind besetzt«

Ein Rückblick 50 Jahre danachvon René Böll

Im August 1968 reisten meine Eltern und ich auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes nach Prag. Wir kamen am Abend des 20. August an und wurden Augenzeugen der Invasion der Truppen einiger – nicht aller – Staaten des Warschauer Paktes. Ich erinnere mich noch gut, höre den Ausruf »Wir sind besetzt« an unserer Hoteltür am Morgen des 21. August wie heute, und weiß ebenfalls noch sehr gut, dass wir über den Sinn dieser Aussage zunächst rätselten. Wir dachten, die Personen, die uns empfangen wollten, hätten keine Zeit, bis wir nach dem Türöffnen erfuhren, dass die Besetzung der ČSSR stattgefunden hatte. Wir hatten zwar das Brummen der Flugzeuge in der Nacht gehört, aber uns nichts dabei gedacht.

Die Truppenbesatzung bedeutet das Ende des sogenannten »Prager Frühlings«, das heißt des Demokratisierungsversuchs der Regierung unter Alexander Dubček.

Wir blieben bis zum 25. August in Prag, besuchten Oppositionelle, mein Vater gab Interviews in »illegalen« Sendern. Ich erinnere mich an Begegnungen mit den entsetzten Kollegen, Treffen im Hotel und in privaten Wohnungen, auch an die Angst der Kollegen um uns, die Aufforderung sofort abzureisen. Ich erinnere mich, wie das Hotel immer leerer wurde, fast keine Ausländer mehr da waren. Ich fotografierte und sammelte Flugblätter, die den Widerstand der Bevölkerung dokumentierten. Als bildender Künstler interessierten mich die fantasievoll gestalteten Blätter besonders und ich ließ mir den Text von Passanten übersetzen.

Postkarte Eduard Čechs vom 23. Juni 1910, in der er den Schwiegereltern in Köln …

Ähnlich wie Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zu Kämpfen um den Rundfunk. Der Zusammenstoß von Rundfunkmitarbeitern mit sowjetischen Soldaten forderte fünfzehn Todesopfer und endete mit der Besetzung des Rundfunks, ich erlebte diese Kämpfe um den Rundfunk an der Seite der Tschechen mit, stand daneben, als ein Panzer explodierte und ausbrannte.

… die Geburt seiner Tochter Annemarie (Maria Anna Edeltrud; ›Mizzi‹) mitteilt.

 

 

Für unsere Familie war die Tschechoslowakei immer ein Stück Heimat, vertraut aus den Erzählungen meiner Mutter, die im Juni 1910 in Pilsen geboren wurde und ihre ersten Lebensjahre dort verbrachte. Als ihre Eltern kurz hintereinander die Mutter Weihnachten 1915, sie war erst 33 Jahre alt, der Vater im Mai 1916, starben, kam sie zusammen mit ihrem älteren Bruder Paul zu den deutschen Großeltern mütterlicherseits nach Köln. Sie erzählte immer, dass ihr Vater, den sie als sehr gütigen Menschen in Erinnerung hatte, an »gebrochenem Herzen« 49-jährig starb. In der Familie war der Spruch der Kölner Großeltern über ihre Deutschkenntnisse, »Sie kann es wohl, sie will es nicht«, ein geflügeltes Wort.

Fahrschein der Tschechoslowakischen Staatsbahnen Köln – Prag – Köln (Hinfahrt). Ausgabestempel 8. August 1968

Besonders der kleine Ort Malovice (K.K. Großmalowitz) bei Pilsen, wo die Familie damals immer den Sommer im Bahnhof wohnte, ihr Vater war Oberkommissär der K.K. Staatsbahnen, spielte in den Erzählungen meiner Mutter eine große Rolle. Ihre Beschreibung des ländlichen Lebens oder die Schilderung der böhmischen Landschaft und ihrer Wälder schien uns, die in den Trümmern Kölns aufgewachsen sind, wie ein für uns unerreichbares Idyll aus der Vergangenheit. Meine Mutter empfand diesen Ort als paradiesisch. Unvergessen die Abende am irischen Kamin, wenn sie von der tschechischen Großmutter Geschichten erzählte, wie sie aus dem Wald Blumen, Kräuter und Pilze mitbrachte oder einmal mit einem kleinen Raben, der aus dem Nest gefallen war, zurückkam, ihn großzog und später dann freiließ. Das enge Verhältnis meiner Mutter zur Natur – jahrzehntelang pflegte sie ihren kleinen Gemüsegarten in der Eifel – hatte in diesen Schilderungen seinen Widerhall.

Visum, Berlin 14. August 1968 mit Ein- und Ausreisestempel 20.8. bzw. 25.8.1968

 

 

Die Erinnerungen an 1968 in Prag verblassen, werden überlagert von dem später Gelesenen oder im Fernsehen Gesehenen. Sehr gut in Erinnerung geblieben ist mir jedoch die Ruhe der Menschen, die mit den Soldaten zu diskutieren versuchten. Wenn ich auch nicht verstand, was sie sagten – manchmal ließen wir uns auch etwas übersetzen –, so konnte ich doch wahrnehmen, dass es eine ernsthafte, sehr engagierte, nicht aggressive Diskussion war. Die Menschen versuchten, ihre neu gewonnene Freiheit zu verteidigen. Es gab fast ausschließlich gewaltfreien Widerstand, jedenfalls da, wo wir waren. Die meisten sowjetischen Soldaten, viele junge Männer etwa in meinem Alter, wussten gar nicht, wo sie waren, noch weniger, warum sie hier waren. Die Panzer mitten in der Stadt gaben ein sehr aggressives Bild ab, was noch dadurch verstärkt wurde, dass die Soldaten die Abgase der Panzer oft gezielt in die protestierende Menge bliesen.

Obwohl meine Eltern Angst um mich hatten, Angst, die berechtigt war, kam ich doch in die Schießereien während der Besetzung des Rundfunks, so verstanden sie auch, dass ich auf die Straße gehen und mir das ansehen musste. Wir wussten, hier wurde Geschichte geschrieben. Der Kommunismus zeigte seine hässliche Fratze, der Stalinismus schlug wieder einmal erbarmungslos zu.

Hotelkarte des Interhotel Alcron, Prag

Innenseite der Hotelkarte

 

 

Viele Jahre später, 1991, wieder im August, erlebte ich mit meiner Familie den gescheiterten Putsch in Moskau mit, die Erinnerungen an Prag kamen wieder, nun war ich es, der Angst um seine Familie hatte und ihnen sagte, sie sollten sich, wenn geschossen würde, auf den Boden legen.

Die Menschen im August 1968 in Prag wussten, jetzt würde für lange Zeit wieder eine Eiszeit ausbrechen, ihr Traum von einem eigenen Weg war zu Ende. Die Eiszeit sollte über 20 Jahre lang bis November/Dezember 1989 dauern, als die »Samtene Revolution« endlich das Ende des Kommunismus einläutete. Diesmal zum Glück, ohne dass ein Schuss fiel oder Panzer mobilisiert wurden, um ein überkommenes System zu schützen.

In den letzten Tagen, die wir in Prag waren, kehrte eine Art Friedhofsruhe ein, die Menschen resignierten zusehends, viele verließen das Land. Viele mussten emigrieren, kehrten nie wieder in ihre Heimat zurück, ähnlich wie in Ungarn nach 1956.

Fahrschein der Tschechoslowakischen Staatsbahnen Köln–Prag–Köln (Rückfahrt). Ausgabestempel 8. August 1968

Wir waren nur – wie so oft – bloß Gäste, waren privilegiert, konnten ausreisen; die Tschechen waren das nicht, sie mussten über 20 Jahre lang die Diktatur der Kommunisten ertragen. Zurück in Deutschland, setzten sich meine Eltern sehr für die Dissidenten und Emigranten ein, halfen Verfolgten in der ČSSR. Mein Vater gab Interviews, schrieb Artikel, arbeitete an Zeitschriften mit – mehr dazu im Anhang.

 

 

Die Geschichte Europas wäre anders verlaufen, hätte der »Prager Frühling« Erfolg gehabt und wäre er nicht mit brutaler Gewalt gestoppt worden, er hätte ein Modell für die Welt werden können, vielleicht wäre es der viel zitierte »dritte Weg« geworden.

 

René Böll,

im Juni 2018

Heinrich Böll und der Prager Frühling

von Martin Schulze Wessel

»Es war bravourös, wie die jungen Leute mit der tschechoslowakischen Flagge auf die Panzer sprangen, einfach mitfuhren und ›Dubček, Dubček, Svoboda!‹ riefen«, begeisterte sich Heinrich Böll über den gewaltlosen Widerstand der Prager in den Tagen nach der sowjetischen Invasion in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968. Die Demonstranten öffneten die Lukendeckel und begannen mit den Panzerbesatzungen zu diskutieren. In ihrem Protest erkannte Böll aber mehr als couragiertes, unerschrockenes Handeln. Nachdem die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs mit seinen Menschheitsverbrechen und der Gefahrenhorizont des Nuklearkriegs in Europa ein postheroisches Zeitalter eingeläutet hatten, schien im Widerstand der tschechoslowakischen Bevölkerung gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings die europäische Revolutionserzählung mit ihren Heldenmotiven und Emanzipationsverheißungen noch einmal auf: »Wenigstens eine Fahne in Europa bekam wieder einen Sinn«, so Böll, »hier wurde das entleerte Wort Freiheit wieder gefüllt. Sogar Denkmäler wurden wieder erträglich. Und das Evangelium der Demokratie wurde verkündet.« Wie in dem ikonisch gewordenen Gemälde von Eugène Delacroix »La Liberté guidant le peuple« (»Die Freiheit führt das Volk«) von der Pariser Julirevolution 1830 bestimmte in Prag 1968 das Pathos der Freiheit das Bild, in den drei Farben: Rot, Weiß und Blau – nicht in der Form der klassischen Trikolore geordnet, sondern als tschechoslowakische Flagge mit rotem und weißem Streifen und blauem Dreieck.

Eine jugendliche Protestbewegung hatte zehn Monate zuvor auch den Auftakt zum Prager Frühling gebildet: Zur selben Zeit, als auf dem Hradschin, der Prager Burg, die offiziellen Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution stattfanden, zogen am Abend des 31. Oktober 1967 etwa 1500 Studenten mit den Rufen »Wir wollen mehr Licht!« von ihren Wohnheimen in Strahov auf die Prager Kleinseite unterhalb der Burg. Die Forderung hatte einen ironischen Doppelsinn. Die Studenten spielten auf die europäische Aufklärung an, aber es gab auch einen ganz konkreten materiellen Grund zum Protest: In den Wohnheimen war immer wieder die Elektrizität und auch die Heizung abgeschaltet worden, so auch Ende Oktober 1967. Ein ordentliches Studium war unter diesen Bedingungen nicht möglich. Paradoxerweise bildete der Regierungsplan des Ausbaus der Hochschulbildung den Hintergrund der Misere: Die tschechoslowakische Politik hatte zu Beginn der sechziger Jahre festgestellt, dass es zu wenige Studienplätze gab. Wie etwa zur selben Zeit in der Bundesrepublik war die tschechoslowakische Politik mit dem Befund einer »Bildungskatastrophe« konfrontiert, nur wurde sie in der ČSSR nicht so benannt und öffentlich diskutiert. Die tschechoslowakische Politik schuf deswegen Studienplätze in großer Zahl, doch hielt der Ausbau der Infrastruktur nicht mit. Es fehlte an Wohnheimen, und da, wo sie wie in Strahov gebaut worden waren, regierte der Mangel. Auf dieses typische Phänomen staatlicher Fehlplanung reagierten die Studenten mit einer großen friedlichen Demonstration, die von der Polizei aber im Hinblick auf die gleichzeitig stattfindenden offiziellen Revolutionsfeierlichkeiten gewaltsam aufgelöst wurde. Es handelte sich keineswegs um das erste Aufeinandertreffen von studentischen Protestbewegungen und der Staatsmacht. Zwei Jahre zuvor, am 7. Mai 1965, hatten Studenten in Pilsen demonstriert und dabei, deutlich provokativer, gerufen: »Unsere Sympathien sind mit dem Westen!« und »Wir haben das Mittelalter überlebt, wir überleben auch die heutigen Verhältnisse!« Was den Prager Demonstrationen vom Oktober 1967 einen besonderen Charakter verlieh, war ihre Nachgeschichte: Als die Parteiführung die Studenten zu den Alleinschuldigen der Eskalation erklärte, gelang es ihr keineswegs, die »Rädelsführer« zu isolieren. Vielmehr kam es an der Karlsuniversität in den folgenden Tagen zu großen Solidaritätsveranstaltungen, auch der Rektor Oldřich Starý, selbst Mitglied im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch), stellte sich hinter die Demonstranten. Wenige Tage später erklärte sich auch die Zeitschrift des kommunistischen Jugendverbands solidarisch. Der Protest der Studentenschaft sprang auf die Partei über.

Die Bewegung im Volk, unter den Jugendlichen und insbesondere der Studentenschaft war zweifellos das, was Heinrich Böll am Prager Frühling faszinierte. Die tschechoslowakische Reform war aber zugleich ein Prozess, der von Eliten innerhalb der KPTsch angestoßen wurde. In ihrem Leitungsorgan, dem Zentralkomitee, herrschte seit einigen Jahren ein machtpolitisches Patt zwischen dem Partei- und Staatschef Antonín Novotný und verschiedenen Reformkräften. Die Partei selbst hatte Kommissionen eingesetzt, in denen eine neue Generation von Parteifunktionären in Zusammenarbeit mit der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften alternative Konzepte für die wichtigsten Politikbereiche erarbeitete. Hier entstanden intellektuelle Vorarbeiten für den Prager Frühling, zuweilen im offenen Gegensatz zum politischen Kurs Antonín Novotnýs, zuweilen auch in einer gewissen Konkurrenz unter den Kommissionen.

Fotografie von René Böll, Prag, August 1968

Versammlung vor dem Denkmal des heiligen Wenzel. »Soldaten geht nach Hause

Dubček – Svoboda«

Um den Ökonomen Ota Šik scharten sich die Befürworter einer Wirtschaftsreform, die theoriegeleitet und zugleich mit einem starken Interesse an der tatsächlichen Situation in den Betrieben die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente in die sozialistische Wirtschaftsordnung vorantrieben. Sie erkannten, dass sich die angestrebte Erhöhung der Produktivität in der sozialistischen Tschechoslowakei nicht gegen die Arbeiter richten durfte. Die eigentlichen Gegner der Reform saßen aus Šiks Sicht im Management der Betriebe, deshalb neigte der Ökonom immer stärker dazu, die Beteiligung der Arbeiter an der Betriebsleitung auszubauen. Daraus vor allem resultierte der Ansatz, in der Gesellschaftsordnung einen »dritten Weg« zwischen bürokratischem Sozialismus und Kapitalismus einzuschlagen. Die reformierte Wirtschaftsordnung sollte das sozialistische Eigentum an Produktionsmitteln nicht aufheben und den Arbeitern im Produktionsprozess eine mächtigere Position verschaffen als im kapitalistischen Westen.

In einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Wirtschaftsreformern entwarf eine Gruppe um den Philosophen und Soziologen Radovan Richta einen ideell erneuerten Sozialismus. Schon seit der ersten Hälfte der sechziger Jahre arbeitete Richta an einer neuen Konzeption für die sozialistische Gesellschaft. Diese sah er durch die »wissenschaftlich-technische Revolution« bedingt, deren humanistischen Potenziale er ausschöpfen wollte. Den Menschen von seiner dienenden Rolle im modernen industriellen Produktionsprozess zu befreien und als Schöpfer der Produktivkraft Wissenschaft und Technik wieder in den Mittelpunkt der Wertschöpfung zu stellen, lautete die große Verheißung. Die »Kultivierung der menschlichen Kräfte« sollte Priorität erhalten, die »Entfaltung des Menschen als Selbstzweck« betrachtet werden. Mit seinem Buch »Die Zivilisation am Scheideweg« (Civilizace na rozcestí), das auf Deutsch unter dem Titel »Richta-Report« erschien, wurde er zum intellektuellen Star und wichtigen Stichwortgeber des Prager Frühlings. Der Slogan vom »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, den Dubček oft im Mund führte, ging auf seine Anregung zurück. Die Suggestion des »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« lag darin, dass er sich implizit von einem nicht genannten »Sozialismus ohne menschliches Antlitz« abgrenzte. Dem Betrachter blieb es überlassen, diesen Gegensatz zu füllen. War der Sozialismus der Stalinzeit gemeint? Oder der Sozialismus in den osteuropäischen Bruderländern der Tschechoslowakei? Verkörperten Breschnew, Ulbricht und Gomułka einen Sozialismus mit unmenschlichem Gesicht? Dass sich mit dem Beginn des Jahres 1968 auch im westlichen Ausland der Eindruck von einem Neuanfang in der Tschechoslowakei verbreitete, war nicht zuletzt dieser Begriffsprägung zu verdanken.

Eine weitere Reformrichtung innerhalb der KPTsch kristallisierte sich um den Juristen Zdeněk Mlynář. Ihm ging es um eine Reform des Verhältnisses von Staat und Recht. Schon 1963 wurde auf einer rechtswissenschaftlichen Konferenz der »Klassencharakter« der Justiz kritisiert, womit die dienende Rolle des Rechts für die nach kommunistischem Verständnis herrschende Arbeiterklasse ins Visier genommen wurde. Aus der Sicht der Reformkräfte wurde in der sozialistischen Tschechoslowakei die repressive Funktion des Rechts zu sehr betont und das Prinzip der Unschuldsvermutung im Strafprozess allzu oft ignoriert. Das »optimale Modell« der sozialistischen Demokratie sah Mlynář in einer »voll entfalteten politischen Demokratie«, die den Bürgern den Rechtsstaat, speziell den Schutz der Bürgerrechte, garantierte. Der Rechtsstaat sollte dabei blind für die soziale Herkunft seiner Bürger sein. Damit begab er sich in den Konflikt mit der Doktrin vom Klassencharakter des Staates, den die KPTsch seit ihrer Machtübernahme 1948 als einen Staat der Arbeiter und Bauern verstanden hatte. Dagegen begriff Mlynář den Arbeiter vor allem als Staatsbürger, in seiner »zwar formalen, aber rechtlich garantierten und in der Praxis zu realisierenden Gleichheit mit jedem, auch wenn dieser ihm in der politischen Struktur übergeordnet ist – bis hin zum Regierungschef und zum Generalsekretär der Partei«. Damit stieß er auf Kritik unter den traditionell orientierten Kräften in der KPTsch, Demokratie betrachteten sie als eine Regierungsform, die stets die Interessen einer bestimmten Klasse bediente. Die sozialistische Demokratie sollte demzufolge im Besitz der Arbeiterklasse sein, was den Bruch der Rechtsstaatlichkeit gegenüber anderen Klassenangehörigen rechtfertigte. Mlynář dagegen betonte die Überzeitlichkeit des Rechtsstaatsprinzips und wollte es in der sozialistischen Demokratie stärker als je zuvor zur Geltung bringen. Wie auch das Lager der Wirtschaftsreformer wollte er die sozialistische Ordnung reformieren, aber nicht abschaffen. Es ging ihm vielmehr um die Durchsetzung von Demokratie auf allen Ebenen, im Staat und im Betrieb.

Neben den genannten Gruppierungen der Sozialismus-Erneuerer, der Wirtschaftsreformer und der Befürworter einer Neuordnung von Staat und Recht, die sich teils gegenseitig unterstützten und teils miteinander konkurrierten, gab es innerhalb der Partei ein weiteres Lager, das mit der Führung Antonín Novotnýs unzufrieden war: die slowakischen Föderalisten. Die Slowakei bildete neben Tschechien den zweiten Landesteil, auf den etwa ein Drittel der Bevölkerung entfiel. Die Slowaken nahmen für sich in Anspruch, dass sie über eine eigene nationale Tradition verfügten – das Land hatte jahrhundertelang innerhalb der Habsburgermonarchie zu Ungarn gehört, während die böhmischen Länder, das heutige Tschechien, ein mit Wien unmittelbar verbundenes Kronland dargestellt hatten. In der ČSSR besaßen die Slowaken eine verfassungsmäßig verbriefte Autonomie, doch schuf gerade diese eine Asymmetrie im Verhältnis von Tschechen und Slowaken. Aufgrund ihrer staatsrechtlichen Stellung verfügte die Slowakei über bestimmte legislative und exekutive Einrichtungen exklusiv, d.h. ohne ein tschechisches Gegenstück. So gab es einen Slowakischen Nationalrat, aber bis 1968 keine entsprechende tschechische Institution. Aus slowakischer Sicht beruhte darin keineswegs ein Vorteil, denn die reale Macht lag in den Händen der gesamtstaatlichen Institutionen, und in diesen hatten die Tschechen das Sagen. Die slowakischen Politiker der KPTsch favorisierten daher eine durchgehend symmetrische Regelung, also das Nebeneinander von zwei politischen Körperschaften, die nur durch eine föderale Regierung mit streng definierten Zuständigkeiten verbunden sein sollten. Die nationalen Bestrebungen der slowakischen Politik trugen erheblich zur Erosion der Machtgrundlagen des zentralistisch eingestellten Regimes Antonín Novotnýs bei. Das Missverhältnis zwischen seiner Politik und den Erwartungen der Slowaken wurde offenbar, als er in seinen Funktionen als Partei- und Staatschef 1967 zu einer seiner seltenen Slowakeireisen aufbrach und in Sankt Martin, dem kulturellen Zentrum des Landes, auf spektakuläre Weise seine Verschlossenheit gegenüber den Slowaken erkennen ließ. Beim offiziellen Besuch der nationalen Kulturstiftung Matica slovenská wies er am Ende die ihm vom Direktor dargebotenen Geschenke zurück. Keine andere symbolische Geste hätte das prekäre Verhältnis zwischen der Politik der Prager Zentrale und den Slowaken besser ausdrücken können.

Die slowakischen Föderalisten trennten aber auch Welten von den Prager Reformern. Von einer durchgreifenden Demokratisierung ohne Föderalisierung mussten sie befürchten, dass die Slowaken eine nationale Minderheit in einem tschechisch dominierten Staat würden. Doch gab es ein verbindendes Element zwischen den Prager Reformkräften und den slowakischen Föderalisten: Beide Gruppierungen drängten die Parteiführung, die stalinistische Vergangenheit der KPTsch endlich aufzuarbeiten. In den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren hatte die KPTsch unter der Führung Klement Gottwalds Schauprozesse durchgeführt, die an die sowjetischen Verfahren der dreißiger Jahre erinnerten und sich unter anderem auch gegen zahlreiche Spitzenfunktionäre der eigenen Partei richteten, denen in willkürlich konstruierten Anklageschriften die Bildung von »Verschwörerzentren« zur Last gelegt wurde. Dabei hatten die politischen Prozesse einen bemerkenswerten ethnischen Aspekt: In dem berüchtigten Schauprozess gegen Rudolf Slánský und andere kommunistische Spitzenfunktionäre wurde in der Anklage und der massenmedialen Verbreitung des Verfahrens eine antisemitische Stoßrichtung erkennbar. In der Slowakei richtete sich der Schlag gegen sogenannte »slowakische bürgerliche Nationalisten«, eines der prominentesten Opfer war der zu langjähriger Haftstrafe verurteilte Gustáv Husák, der später, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, als neuer Parteichef den Kurs der sogenannten »Normalisierung« verantwortete und die im Prager Frühling errungenen Freiheiten beseitigte.

Fotografie von René Böll, Prag, August 1968

Fenster mit Flugblättern, Prager Innenstadt

Seit den späten Fünfziger Jahren hatte es mehrere Anläufe gegeben, die überlebenden Opfer der politischen Prozesse der Vierziger und Fünfziger Jahre in kleinen Schritten zu rehabilitieren. Diese Form der späten Entstalinisierung richtete sich in den sechziger Jahren mehr oder weniger offen gegen den Partei- und Staatschef Antonín Novotný, der zusammen mit einigen anderen älteren Funktionären noch persönliche Mitverantwortung für die Justizverbrechen trug und lange Zeit ihre konsequente Aufarbeitung verhinderte. Der Vorsitzende der Slowakischen KP Alexander Dubček gewann erstmals ein eigenes politisches Profil, als er sich im innerparteilichen Konflikt mit Novotný für die Rehabilitierung der Opfer der Prozesse gegen den »bürgerlichen slowakischen Nationalismus« einsetzte. In einigen Fällen waren es die Justizopfer selbst, die nach ihrer Haftentlassung in die Partei zurückdrängten und für ihre umfassende Rehabilitierung kämpften. Dies gilt insbesondere für den langjährig inhaftierten Josef Smrkovský, der später als einer der führenden Politiker des Prager Frühlings zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt wurde, und für Eduard Goldstücker, der 1968 das politisch einflussreiche Amt des Vorsitzenden des Schriftstellverbands übernahm.

In der Zeit zwischen Oktober 1967 und Januar 1968 kam in das lange währende Patt zwischen Anhängern und Gegnern Novotnýs Bewegung. Die Studentenproteste, die Novotný nicht beilegen konnte, bildeten den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Tschechische Reformer und slowakische Föderalisten