Der Zug war pünktlich - Heinrich Böll - E-Book

Der Zug war pünktlich E-Book

Heinrich Böll

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Beschreibung

Heinrich Bölls erste Buchveröffentlichung. Die Erzählung »Der Zug war pünktlich« von 1949, erzählt die Geschichte des deutschen Soldaten Andreas und der polnischen Prostituierten und Widerstandskämpferin Olina. Die Geschichte über das sinnlose Sterben verdichtet sich zu einer bitteren Anklage gegen den Krieg. Mit Materialien und einem Nachwort von Viktor Böll und Karl Heiner Busse. Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1 - 27 Kölner Ausgabe

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Heinrich Böll

Der Zug war pünktlich

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Über Heinrich Böll

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

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Über Heinrich Böll

Heinrich Böll, 1917 in Köln geboren, nach dem Abitur 1937 Lehrling im Buchhandel und Student der Germanistik. Mit Kriegsausbruch wurde er zur Wehrmacht eingezogen und war sechs Jahre lang Soldat. Seit 1947 veröffentlichte er Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke und zahlreiche Essays. Zusammen mit seiner Frau Annemarie war er auch als Übersetzer englischsprachiger Literatur tätig. Heinrich Böll erhielt 1972 den Nobelpreis für Literatur. Er starb im Juli 1985 in Langen-broich/Eifel.

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Über dieses Buch

Heinrich Bölls erste Buchveröffentlichung.

Die Erzählung »Der Zug war pünktlich« von 1949, erzählt die Geschichte des deutschen Soldaten Andreas und der polnischen Prostituierten und Widerstandskämpferin Olina. Die Geschichte über das sinnlose Sterben verdichtet sich zu einer bitteren Anklage gegen den Krieg. Mit Materialien und einem Nachwort von Viktor Böll und Karl Heiner Busse.

 

Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1–27 Kölner Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Der Zug war pünktlich

Der Zug war pünktlich

(1949)

Als sie unten durch die dunkle Unterführung schritten, hörten sie den Zug oben auf den Bahnsteig rollen, und die sonore Stimme im Lautsprecher sagte ganz sanft: »Fronturlauberzug von Paris nach Przemysl über…«

Dann hatten sie die Treppe zum Bahnsteig erstiegen und blieben vor irgendeinem Abteil stehen, dem Urlauber mit freudigen Gesichtern entstiegen, vollbepackt mit riesigen Paketen. Der Bahnsteig leerte sich schnell, es war wie immer. Irgendwo an Fenstern standen Mädchen oder Frauen oder ein sehr schweigsamer, verbissener Vater… und die sonore Stimme sagte, daß man sich beeilen solle. Der Zug war pünktlich.

»Warum steigst du nicht ein?« fragte der Kaplan ängstlich den Soldaten.

»Wie?« fragte der Soldat erstaunt, »ich kann mich ja unter die Räder schmeißen wollen… ich kann ja fahnenflüchtig werden… wie? Was willst du?… Ich kann ja, kann ja verrückt werden… wie es mein gutes Recht ist: es ist mein gutes Recht, verrückt zu werden. Ich will nicht sterben, das ist das Furchtbare, daß ich nicht sterben will.« Er sprach ganz kalt, als flössen seine Worte wie Eis von den Lippen. »Sei still! Ich steig schon ein, irgendwo ist immer Platz… ja… ja, sei nicht böse, bete für mich!« Er nahm das Gepäck, stieg irgendwo in eine offene Tür, drehte von innen das Fenster herunter und beugte sich noch einmal hinaus, während über ihm die sonore Stimme wie eine Wolke von Schleim schwebte: »Der Zug fährt ab…«

»Ich will nicht sterben«, schrie er, »ich will nicht sterben, aber das Schreckliche ist, daß ich sterben werde… bald!« Immer mehr entfernte sich die schwarze Gestalt auf diesem kalten grauen Bahnsteig… immer mehr, bis der Bahnhof in der Nacht verschwunden war.

Manches Wort, das scheinbar gleichgültig ausgesprochen wird, gewinnt plötzlich etwas Kabbalistisches. Es wird schwer und seltsam schnell, eilt dem Sprechenden voraus, bestimmt, irgendwo im ungewissen Bezirk der Zukunft eine Kammer aufzureißen, kommt auf ihn zurück mit der erschreckenden Zielsicherheit eines Bumerangs. Aus dem leichtfertigen Geplätscher unbedachter Rede, meist jenen furchtbar schweren und matten Worten beim Abschied an Zügen, die in den Tod führen, fällt es wie eine bleierne Welle zurück auf den Sprechenden, der plötzlich die erschreckende und zugleich berauschende Gewalt alles Schicksalhaften kennenlernt. Den Liebenden und den Soldaten, den Todgeweihten und denen, die von der kosmischen Gewalt des Lebens erfüllt sind, wird manchmal unversehens diese Kraft gegeben, mit einer plötzlichen Erleuchtung werden sie beschenkt und belastet… und das Wort sinkt, sinkt in sie hinein.

Während Andreas sich langsam zurücktastete in das Innere des Waggons, fiel das Wort bald in ihn hinein wie ein Geschoß, schmerzlos und fast unmerklich durch Fleisch, Gewebe, Zellen, Nerven dringend, bis es endlich irgendwo widerhakte, aufplatzte, eine wilde Wunde riß und Blut verströmen machte… Leben… Schmerz…

Bald, dachte er, und er spürte, wie er bleich wurde. Dabei vollführte er das Gewohnte, fast ohne es zu wissen. Er zündete ein Streichholz an, beleuchtete die Haufen liegender, hockender und schlafender Soldaten, die über, unter und auf ihren Gepäckstücken herumlagen. Der Geruch von kaltem Tabaksqualm war mit dem Geruch von kaltem Schweiß und jenem seltsam staubigen Dreck vermischt, der allen Ansammlungen von Soldaten anhaftet. Die Flamme des erlöschenden Hölzchens zischte noch einmal hell auf, und er entdeckte in diesem letzten Schein, dort, wo der Gang schmäler wurde, einen kleinen freien Platz, dem er nun vorsichtig zustrebte. Er hatte sein Bündel unter den Arm geklemmt, die Mütze in der Hand.

Bald, dachte er, und der Schrecken saß tief, tief. Schrecken und völlige Gewißheit. Nie mehr, dachte er, nie mehr werde ich diesen Bahnhof sehen, nie mehr dieses Gesicht meines Freundes, den ich bis zum letzten Augenblick beschimpft habe… nie mehr… Bald! Er hatte den Platz erreicht, legte vorsichtig, um die ringsum Schlafenden nicht zu wecken, seine Tasche auf den Boden, setzte sich darauf, so daß er mit dem Rücken gegen eine Abteiltür lehnen konnte; dann versuchte er, seine Beine möglichst bequem unterzubringen; er streckte das linke am Gesicht eines Schlafenden vorbei vorsichtig aus und legte das rechte quer über ein Gepäckstück, das den Rücken eines anderen Schlafenden verdeckte. In dem Abteil in seinem Rücken flammte ein Streichholz auf, und jemand begann stumm im Dunkeln zu rauchen. Er konnte, wenn er sich ein wenig zur Seite wandte, den glühenden Punkt der Zigarette sehen, und manchmal, wenn der Fremde zog, breitete sich der Schein der Glut über ein unbekanntes Soldatengesicht, grau und müde, mit bitteren Falten schrecklicher Nüchternheit.

Bald, dachte er. Das Rattern des Zuges, alles wie sonst. Der Geruch. Der Wunsch zu rauchen, unbedingt zu rauchen. Nur nicht schlafen! Am Fenster zogen die finsteren Silhouetten der Stadt vorüber. Irgendwo in der Ferne waren Scheinwerfer suchend am Himmel, wie lange Leichenfinger, die den blauen Mantel der Nacht teilten… fern auch Schießen von Abwehrkanonen… und diese lichtlosen, stummen, finsteren Häuser. Wann wird dieses Bald sein? Das Blut floß aus seinem Herzen, floß zurück ins Herz, kreiste, kreiste, das Leben kreiste, und dieser Pulsschlag sagte nichts anderes mehr als: Bald!… Er konnte nicht mehr sagen, nicht einmal mehr denken: »Ich will nicht sterben.« Sooft er den Satz bilden wollte, fiel ihm ein: Ich werde sterben… bald…

Hinter ihm tauchte nun ein zweites graues Gesicht im Schein einer Zigarette auf, und er hörte ein sanftes, sehr müdes Murmeln. Die beiden Unbekannten unterhielten sich.

»Dresden«, sagte die eine Stimme.

»Dortmund«, die andere.

Das Murmeln ging weiter und wurde lebhafter. Dann fluchte eine Stimme, und das Murmeln wurde wieder leise; es erlosch, und es war wieder nur eine Zigarette hinter ihm. Es war die zweite Zigarette, und auch diese erlosch wieder, und es war wieder dieses graue Dunkel hinter ihm und neben ihm, und vor ihm die schwarze Nacht mit den unzähligen Häusern, die alle stumm waren, alle schwarz. Nur in der Ferne immer noch diese ganz leisen, unheimlich langen Leichenfinger der Scheinwerfer, die den Himmel abtasteten. Es dünkte ihn, als müßten die Gesichter, die zu diesen Fingern gehörten, grinsen, unheimlich grinsen, zynisch grinsen wie die Gesichter von Wucherern und Betrügern. »Wir kriegen dich«, sagten die schmalen, großen Münder, die zu diesen Fingern gehörten. »Wir kriegen dich, wir tasten die ganze Nacht durch.« Vielleicht suchten sie eine Wanze, eine winzige Wanze im Mantel der Nacht, diese Finger, und sie werden die Wanze finden…

Bald. Bald. Bald. Bald. Wann ist Bald? Welch ein furchtbares Wort: Bald. Bald kann in einer Sekunde sein, Bald kann in einem Jahr sein. Bald ist ein furchtbares Wort. Dieses Bald drückt die Zukunft zusammen, es macht sie klein, und es gibt nichts Gewisses, gar nichts Gewisses, es ist die absolute Unsicherheit. Bald ist nichts und Bald ist vieles. Bald ist alles. Bald ist der Tod…

Bald bin ich tot. Ich werde sterben, bald. Du hast es selbst gesagt, und jemand in dir und jemand außerhalb von dir hat es dir gesagt, daß dieses Bald erfüllt werden wird. Jedenfalls wird dieses Bald im Kriege sein. Das ist etwas Gewisses, wenigstens etwas Festes.

Wie lange wird noch Krieg sein?

Es kann noch ein Jahr dauern, ehe im Osten alles endgültig zusammenbricht, und wenn die Amerikaner im Westen nicht angreifen und die Engländer, dann dauert es noch zwei Jahre, ehe die Russen am Atlantik sind. Aber sie werden angreifen. Aber alles zusammen wird es allermindestens noch ein Jahr dauern, vor Ende 1944 wird der Krieg nicht aus sein. Zu gehorsam, zu feige, zu brav ist dieser ganze Apparat aufgebaut. Die Frist ist also zwischen einer Sekunde und einem Jahr. Wie viele Sekunden hat ein Jahr? Bald werde ich sterben, im Kriege noch. Ich werde keinen Frieden mehr kennenlernen. Keinen Frieden. Nichts wird es mehr geben, keine Musik… keine Blumen… keine Gedichte… keine menschliche Freude mehr; bald werde ich sterben…

Dieses Bald ist wie ein Donnerschlag. Dieses kleine Wort ist wie der Funke, der das Gewitter entzündet, und plötzlich ist für eine tausendstel Sekunde die ganze Welt hell unter diesem Wort.

Der Geruch der Leiber ist wie immer. Der Geruch von Dreck und Staub und Stiefelwichse. Seltsam, wo Soldaten sind, ist Dreck… Die Leichenfinger haben die Wanze…

Er zündete eine neue Zigarette an. Ich will mir die Zukunft vorstellen, denkt er. Vielleicht ist es eine Täuschung, dieses Bald, vielleicht bin ich übermüdet, überreizt und lasse mich erschrecken. Er versucht, sich vorzustellen, was er tun wird, wenn kein Krieg mehr ist… er wird… er wird… aber da ist eine Wand, über die er nicht weg kann, eine ganz schwarze Wand. Er kann sich nichts vorstellen. Gewiß, er kann sich zwingen, den Satz zu Ende zu denken: ich werde studieren… ich werde irgendwo ein Zimmer haben… mit Büchern… Zigaretten… werde studieren… Musik… Gedichte… Blumen. Aber auch, wenn er sich zwingt, den Satz zu Ende zu denken, er weiß, daß das nicht sein wird. Alles das wird nicht sein. Das sind keine Träume, das sind ganz blasse Gedanken, die kein Gewicht haben, kein Blut, keinerlei menschliche Substanz. Die Zukunft hat kein Gesicht mehr, sie ist irgendwo abgeschnitten, und je mehr er daran denkt, um so mehr fällt ihm ein, wie nahe er diesem Bald ist. Bald werde ich sterben, das ist eine Gewißheit, die zwischen einem Jahr und einer Sekunde liegt. Es gibt keine Träume mehr…

Bald. Vielleicht zwei Monate. Er versucht, es sich zeitlich vorzustellen, und will feststellen, ob die Wand vor den nächsten zwei Monaten steht, diese Wand, die er nicht mehr überschreiten wird. Zwei Monate, das ist Ende November. Aber es gelingt ihm nicht, es zeitlich zu fassen. Zwei Monate, das ist eine Vorstellung, die keine Kraft hat. Er könnte ebensogut sagen: drei Monate oder vier Monate oder sechs, diese Vorstellung erweckt kein Echo. Er denkt: Januar. Aber da ist nirgendwo die Wand. Eine seltsame, unruhige Hoffnung wird wach! Mai, denkt er mit einem plötzlichen Sprung. Nichts. Die Wand schweigt. Nirgendwo ist die Wand. Es ist nichts. Dieses Bald… dieses Bald ist nur ein schrecklicher Spuk… er denkt: November! Nichts! Eine wilde, schreckliche Freude wird lebendig. Januar! Schon der nächste Januar, anderthalb Jahre! Anderthalb Jahre Leben! Nichts! Keine Wand!

Er seufzt glücklich auf und denkt weiter, und nun rennen die Gedanken über die Zeit hinweg wie über leichte, ganz niedrige Hürden. Januar, Mai, Dezember! Nichts! Und plötzlich spürt er, daß er im Leeren tastet. Es ist kein zeitlicher Begriff, wo die Wand errichtet ist. Die Zeit ist belanglos. Es gibt keine Zeit mehr. Und doch ist die Hoffnung noch da. Er hat so schön die Monate übersprungen. Jahre…

Bald werde ich sterben, und es ist ihm wie einem Schwimmer, der sich nahe dem Ufer weiß und plötzlich von einer schweren Sturzwelle zurückgeschleudert wird in die Flut. Bald! Da ist die Wand, hinter der er nicht mehr sein wird, nicht mehr auf der Erde sein wird.

Krakau, denkt er plötzlich, und nun stockt sein Herz, als habe sich die Vene geknotet und lasse nichts mehr durch. Er ist auf der Spur! Krakau! Nichts! Er geht weiter vor. Przemysl! Nichts! Lemberg! Nichts! Dann versucht er zu rasen: Czernowitz, Jassy, Kischinew, Nikopol! Aber beim letzten Wort spürt er schon, daß das nichts als Schaum ist, Schaum, wie eben der Gedanke: ich werde studieren. Nie mehr, nie mehr wird er Nikopol sehen! Zurück. Jassy! Nein, auch Jassy wird er nicht mehr sehen. Czernowitz wird er nicht mehr sehen. Lemberg! Er wird Lemberg noch sehen, er wird noch lebend nach Lemberg kommen! Ich bin irrsinnig, denkt er, ich bin wahnsinnig, ich müßte ja zwischen Lemberg und Czernowitz sterben! Welch ein Wahnsinn… er dreht die Gedanken gewaltsam ab und beginnt wieder zu rauchen und ins Gesicht der Nacht zu starren. Ich bin hysterisch, ich bin verrückt, ich habe zuviel geraucht, nächtelang, tagelang geredet, geredet, nicht geschlafen, nicht gegessen, nur geraucht, da soll ein Mensch nicht überschnappen…

Ich muß etwas essen, denkt er, etwas trinken. Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen. Dieses verfluchte ewige Rauchen! Er beginnt an seiner Tasche zu nesteln, aber während er angestrengt in das Dunkel zu seinen Füßen starrt, um die Schnalle zu finden, und dann in der Tasche zu kramen beginnt, wo Butterbrote und Wäsche, Tabak, Zigaretten und eine Flasche Schnaps beieinanderliegen, fühlt er eine bleierne, unerbittliche Müdigkeit, die seine Adern einfach zustopft… er schläft ein… die offene Tasche zwischen seinen Händen, ein Bein links neben einem Gesicht, das er nie gesehen hat, ein Bein rechts über einem Gepäckstück, und die müden, nun auch schon schmutzigen Hände an seiner Tasche, schläft er ein, den Kopf auf der Brust…

Er wird wach davon, daß ihm jemand auf die Finger tritt. Ein plötzlicher Schmerz, er schlägt die Augen auf; jemand ist hastig an ihm vorbeigegangen, hat ihn in den Rücken gestoßen und auf seine Hände getreten. Er sieht, daß es hell ist, und hört, daß wieder eine sonore Stimme einen Bahnhofsnamen sehr warm ausspricht, und er begreift, daß das Dortmund ist. Der, der diese Nacht hinter ihm geraucht und gemurmelt hat, der steigt aus, tritt rücksichtslos und fluchend durch den Flur, dieses unbekannte graue Gesicht ist zu Hause. Dortmund. Der neben ihm, auf dessen Gepäck sein rechtes Bein geruht hat, ist wach geworden und hockt augenreibend im kalten Gang. Der links, an dessen Gesicht sein rechter Fuß ruht, schläft noch. Dortmund. Mädchen mit dampfenden Kannen rennen auf dem Bahnhof umher. Es ist wie immer. Frauen stehen da, die weinen; Mädchen, die sich küssen lassen, Väter… alles wie immer: das ist Wahnsinn.

Aber im Grunde weiß er nur, daß er, sobald er die Augen aufschlug, gespürt hat, daß das Bald noch da ist. Der Widerhaken löckt tief in ihm, er hat gepackt und läßt nicht mehr los. Dieses Bald hat ihn ergriffen wie eine Angel, an der er nun zappeln wird, zappeln bis zwischen Lemberg und Czernowitz…

Blitzschnell, in der millionstel Sekunde, in der er erwachte, hat er gehofft, daß das Bald verschwunden sein würde, wie die Nacht, ein Spuk nach endlosem Geschwätz und endlosem Rauchen. Aber es ist da, unerbittlich da…

Er richtet sich auf, entdeckt die Packtasche, die noch halb geöffnet ist, und stopft ein Hemd, das herausgerutscht ist, wieder hinein. Der rechts von ihm hat ein Fenster geöffnet und hält einen Becher hinaus, in den ein mageres, müdes Mädchen Kaffee eingießt. Der Geruch des Kaffees ist fürchterlich, dünne Hitze, die ihn flau im Magen macht; es ist der Geruch der Kaserne, der Kasernenküche, der über ganz Europa verbreitet ist… und der über die ganze Welt verbreitet werden soll. Und doch (so tief sitzen die Wurzeln der Gewohnheit), doch hält auch er seinen Becher hinaus und läßt sich einschenken; diesen grauen Kaffee, der so grau ist wie die Uniform. Er riecht die matten Ausdünstungen des Mädchens, dem man anmerkt, daß es in den Kleidern geschlafen hat, von Zug zu Zug gegangen ist in der Nacht, Kaffee geschleppt hat, Kaffee geschleppt hat…

Sie riecht penetrant nach diesem gräßlichen Kaffee. Vielleicht schläft sie ganz nah neben der Kaffeekanne, die auf einem Ofen steht, um immer warm zu bleiben, schläft, bis der nächste Zug eintrifft. Ihre Haut ist grau und spröde wie schmutzige Milch, und das spärliche, blaßschwarze Haar kriecht dünn unter einem Häubchen hervor, aber ihre Augen sind sanft und traurig, und als sie sich bückt, um den Kaffee in seinen Becher zu gießen, sieht er einen reizenden Nacken. Wie hübsch dieses Mädchen ist, denkt er: alle werden sie häßlich finden, und sie ist hübsch, sie ist schön… auch kleine zarte Finger hat sie… stundenlang möchte ich mir Kaffee eingießen lassen; wenn doch der Becher ein Loch hätte, sie müßte gießen, gießen, ich würde ihre sanften Augen und diesen reizenden Nacken sehen, und die sonore Stimme müßte schweigen. Alles Unglück kommt von diesen sonoren Stimmen; diese sonoren Stimmen haben den Krieg angefangen, und diese sonoren Stimmen regeln den schlimmsten Krieg, den Krieg auf den Bahnhöfen.

Zum Teufel mit allen sonoren Stimmen!

Der Mann mit der roten Mütze wartet gehorsam auf die sonore Stimme, die ihren Spruch sagen muß, dann fährt der Zug an, um einige Helden erleichtert, um einige Helden bereichert. Es ist hell, aber noch früh: sieben Uhr. Nie mehr, nie mehr im Leben werde ich durch Dortmund fahren. Das ist doch seltsam, eine Stadt wie Dortmund; ich bin schon oft durchgefahren und noch nie in der Stadt gewesen. Nie im Leben werde ich wissen, wie Dortmund aussieht, und nie im Leben mehr werde ich dieses Mädchen mit der Kaffeekanne sehen. Nie mehr; bald werde ich sterben, zwischen Lemberg und Czernowitz. Mein Leben ist nur noch eine bestimmte Kilometerzahl, eine Eisenbahnstrecke. Aber das ist doch seltsam, da ist doch keine Front zwischen Lemberg und Czernowitz, und auch nicht viele Partisanen, oder ob die Front über Nacht diesen köstlich tiefen Rutsch gemacht hat? Ob der Krieg ganz, ganz plötzlich zu Ende ist? Ob der Friede noch vor diesem Bald kommt? Irgendeine Katastrophe? Vielleicht ist das göttliche Tier tot, endlich ermordet, oder die Russen haben einen Generalangriff gemacht und alles zusammengehauen bis zwischen Lemberg und Czernowitz, und die Kapitulation…

Es gibt kein Entrinnen, die Schläfer sind erwacht, sie fangen an zu essen, zu trinken und zu schwätzen…

Er lehnt im offenen Fenster und läßt den kalten Morgenwind gegen sein Gesicht schlagen. Saufen werde ich, denkt er, ich werde eine ganze Pulle saufen, dann weiß ich von nichts mehr, dann bin ich mindestens bis Breslau sicher. Er bückt sich, öffnet hastig die Packtasche, aber eine unsichtbare Hand hält ihn davor zurück, die Flasche zu ergreifen. Er nimmt ein Butterbrot und beginnt ruhig und langsam zu kauen. Das ist furchtbar, daß man kurz vor seinem Tod noch essen muß. Bald werde ich sterben, und doch muß ich noch essen. Butterbrote mit Wurst, Fliegerangriffsbutterbrote, die ihm sein Freund, der Kaplan, eingepackt hat, einen ganzen Packen dickbeschmierter Butterbrote, und das Schreckliche ist, daß sie schmecken.

Er lehnt zum Fenster hinaus, ißt und kaut ruhig und langt manchmal nach unten, wo die offene Packtasche liegt, um ein neues Butterbrot herauszuholen. Dazu trinkt er in kleinen Schlucken den lauwarmen Kaffee.

Es ist furchtbar, in die ärmlichen Häuser zu blicken, wo sich die Sklaven nun fertigmachen, um in ihre Fabriken zu marschieren. Haus an Haus, Haus an Haus, und überall wohnen Menschen, die leiden, die lachen, Menschen, die essen und trinken und neue Menschen zeugen, Menschen, die morgen vielleicht tot sind; es wimmelt von Menschen. Alte Frauen und Kinder, Männer und auch Soldaten. Soldaten sind irgendwo am Fenster, da einer und dort einer, und alle wissen, wann sie wieder im Zug sitzen und in die Hölle zurückfahren werden…

»Kumpel«, sagt eine rauhe Stimme hinter ihm, »Kumpel, machst du ein Spielchen mit?« Er wendet sich erschreckt um und sagt, ohne es zu wissen: »Ja!« Und sieht im gleichen Augenblick ein Kartenspiel in der Hand eines unrasierten Soldaten, der ihn grinsend anblickt. Ich habe Ja gesagt, denkt er, und dann nickt er und folgt dem Unrasierten. Der Gang ist ganz leer, nur zwei Mann haben sich mit ihrem Gepäck in den Vorraum zurückgezogen, dort hockt der eine, ein langer Blonder mit einem weichen Gesicht, und grinst.

»Hast du einen gefunden?«

»Ja«, sagt der Unrasierte mit der rauhen Stimme.

Bald werde ich sterben, denkt Andreas und setzt sich auf seine Tasche, die er mitgeschleppt hat. Immer, wenn er die Tasche niedersetzt, klappert der Stahlhelm, und als er jetzt den Stahlhelm sieht, fällt ihm ein, daß er sein Gewehr vergessen hat. Mein Gewehr, denkt er, steht in Pauls Garderobe hinter dem Kleppermantel. Er lächelt. »So ist's recht, Kumpel«, sagt der Blonde, »vergiß deinen Kummer und mach ein Spielchen mit uns.«

Die beiden haben es sich gemütlich gemacht. Sie sitzen vor einer Tür, aber die Tür ist verrammelt, der Griff fest mit Draht umwickelt, und Gepäckstücke sind davor gestapelt. Der Unrasierte nimmt eine Zange aus der Tasche, er hat einen richtigen blauen Kittel an, er nimmt die Zange, zieht irgendwo unter einem Gepäckstück eine Drahtrolle hervor und beginnt neuen Draht noch fester um den Griff zu wickeln.

»So ist's recht, Kumpel«, sagt der Blonde, »sollen sie uns am Arsch lecken bis Przemysl. Du fährst doch bis Przemysl? Man sieht es«, sagt er, als Andreas nickt.

Andreas merkt bald, daß sie betrunken sind; der Unrasierte hat eine ganze Batterie Flaschen in seinem Karton, er läßt die Pullen rundgehen. Sie spielen erst Siebzehn-und-Vier. Der Zug rattert, und es wird immer heller, und sie halten an Bahnhöfen mit sonoren Stimmen und ohne sonore Stimmen. Es wird voll und wieder leer, wieder voll und wieder leer, und immer noch sitzen die drei in der Ecke und spielen.

Manchmal an einer Station rappelt einer wild draußen an der verschlossenen Tür, flucht jemand, aber sie lachen nur und spielen weiter und werfen die leeren Flaschen zum Fenster hinaus. Andreas denkt gar nicht ans Spiel, sie sind so wunderbar einfach, diese Glücksspiele, daß man gar nicht zu denken braucht, man kann an etwas anderes denken…

Paul ist jetzt aufgestanden, wenn er überhaupt geschlafen hat. Vielleicht hat es auch noch einmal Alarm gegeben, und er hat gar nicht geschlafen. Wenn er überhaupt geschlafen hat, dann nur ein paar Stunden. Um vier war er zu Hause. Jetzt ist es bald zehn. Na, bis acht hat er geschlafen, dann ist er aufgestanden, hat sich gewaschen und hat die Messe gelesen, hat für mich gebetet. Er hat darum gebetet, daß ich mich freuen soll, weil ich doch die menschliche Freude geleugnet habe.

»Passe!« sagt er. Das ist herrlich, man sagt einfach »Passe!« und hat Zeit nachzudenken…

Dann ist er nach Hause gegangen und hat die Kippen in der Pfeife geraucht, hat ein wenig gegessen, Fliegerangriffsbutterbrote, und ist losgegangen. Irgendwohin. Vielleicht zu einem Mädchen, das ein uneheliches Kind von einem Soldaten erwartet, vielleicht zu einer Mutter oder vielleicht zum Schwarzmarkt, sich ein paar Zigaretten kaufen. »Flush«, sagt er.

Er hat wieder gewonnen. Das Geld in seiner Tasche ist ein ganzer Packen geworden.

»Du hast verdammt Schwein, Kumpel«, sagt der Unrasierte. »Trinkt, Kollegen!« Er läßt wieder die Flasche rundgehen, er schwitzt, und sein Gesicht ist unter der Maske rauher Jovialität sehr traurig und nachdenklich. Er mischt… es ist gut, denkt Andreas, daß ich nicht zu mischen brauche. Eine Minute brauche ich an nichts, an gar nichts anderes zu denken als an Paul, der nun müde und blaß durch die Trümmer spaziert und immer betet. Ich habe ihn angeschnauzt, man soll keinen Menschen anschnauzen, nicht einmal einen Unteroffizier…

»Drilling«, sagt er und »Pärchen«. Er hat wieder gewonnen.