Der Paradiesvogel - Otto Rung - E-Book

Der Paradiesvogel E-Book

Otto Rung

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Beschreibung

Flora Jagerlin wächst in den dunklen Gassen zwischen Gericht und Gefängnis auf. Als Kind wollte sie Ballettänzerin werden und war sogar Ballettmädchen beim Königlichen Theater. Doch nach dem Tod der Mutter war es aus mit dem Ballett und nun muss Flora jeden Tag im Tiergeschäft ihres Vaters helfen. Ihre Tage reihen sich in langweiliger Routine aneinander und sie fühlt sich genauso eingesperrt wie all die Papageien in ihren Käfigen. Das bemerkt auch Erik Blunk, der junge Jurist, der beinahe täglich im Laden ein- und ausgeht. Er erkennt ihre Schönheit und verliebt sich in sie. Nimmt Floras Leben jetzt eine Wendung?

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Otto Rung

Der Paradiesvogel

Roman aus der Gegenwart

Saga

Ebook-Kolophon

Otto Rung: Der Paradiesvogel -. Aus dem Dänischen von Emilie Stein © 1922 Otto Rung. Originaltitel: Paradisfuglen. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.

ISBN: 9788711468722

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

In die enge Strasse hinter Gerichtsgebäude und Nytorv-Gefängnis sah mit halbblinden Fensterscheiben Vogelhändler Fagerlins Laden, zu dessen Eingang man, durch einen pechfinsteren Torweg schreitend, gelangte.

In den beiden niedrigen Schaufenstern waren seit Jahren dieselben rostigen Draht- und Holzkäfige aufgestapelt, teils kleinen Palästen mit Kuppeln, teils bescheidenen Häuschen gleichend, mit wechselnden Bewohnern, als Stieglitzen und Staren, grünen Wellenpapageien, Finken und nachdenklichen weissen Kakadus. Seit man denken konnte, hing das vergilbte Pappschild hier, auf dem mit Blauschrift stand: „Zu verkaufen: über hundert in der vorigen Woche von einem alten Schiffskapitän aus den heissen Ländern heimgebrachte Papageien!“

Diese alten Strassen liegen wie eine abgeschlossene Welt hinter den Riesenmagazinen des Korso; sie bilden ein dumpfiges Labyrinth von Hinterhöfen, Feuermauern und Gängen, einen starken Gegensatz zu der in nächster Nähe liegenden eleganten Stadtpromenade. An dem engen Zugang dieser uralten Gassen geht Licht und Lärm des Asphalts fremd vorüber. Im Schatten von Gerichtsgebäude und Gefängnis ruht, unverändert seit der guten alten Zeit der Tranlaternen, dieser ganze verstaubte Komplex des „Innersten Polizeikreises“, in welchem all das mit dem Gericht nur lose zusammenhängende Gewerbe sein Wesen treibt: billige Schreibstuben mit rascher Rechtshilfe und noch rascherem Inkasso für Minderbemittelte, Gelddarlehen aus einem Hinterhofkontor, namentlich für Beamte, daneben Büros für Anzeigen, Prämienobligationen, Heiraten und Patente; ein Lager für Gummikissen und Hygiene-Artikel en gros, drei Treppen hoch, Salons für Fusspflege und elektrische Gesichtsmassage, für Herren und Damen getrennte Besuchszeit, alle monatlich wechselnd mit stets neuen, diskreten Schildern und neuen Florgardinen vor den nächtlich erhellten Scheiben.

In den Kellerhälsen der Trödler hängt aller alte Kram der Stadt herum, von Plätteisen, rostigen Pistolen und Harmonikas angefangen bis zu hohen Cylindern mit Flor (für Begräbnisse zu verleihen) und Partien von tausenden gleichartiger Herren-Cheviotanzüge, deren Muster zeilenweise auf Kleiderrechen draussen längs der Markise hingen, mit wie versteinert wirkenden Bügelfalten. Von dem Stockwerk oberhalb Fagerlins Vogelladen winkte Anette Paustians Lotterie-Kollektion „Glückauf“! mit Fortunas Füllhorn auf dem Schilde, und in dem Parterreladen des Hauses hatte Herr Chaim Margolinsky über der Strohpersienne drei verblasste Lottozettel an einer Wollschnur aufgehängt. Seine Brille und seine blasse Nasenspitze tauchten zuweilen unter einem Schilde auf: „Borge auf ganze und halbe Lose!“

In dieser Strasse war Flora Fagerlin aufgewachsen durch Jahre fahlgelber Sommersonne und nassen Winterschnees. Hier war es wie in der Provinz: mit jedem Glockenschlag geschah durch Jahre genau dasselbe; der Wagenlärm dröhnte nur so gedämpft durch das abgesperrte Viertel, morgens das Brauereifuhrwerk mit rumpelnden Tonnen, um die Mittagszeit die Gefangenenwagen, die vom Polizeihof daherkamen, den Tagestransport mit sich führend. Von kleinauf kannte Flora diesen düsteren Omnibus, der von Nytorv einhergeschwenkt kam und unter der „Seufzerbrücke“ zwischen Gericht und Gefängnis in die enge Strasse einbog. Sie sass auf der Treppe des Lotteriekollekteurs mit Wollhöschen und rosa Schläfenbändern, stickte mit dicker Wolle auf Stramin und streckte dem alten Wachtmeister Olsen, der mit der Gefangenenliste auf dem Trittbrett der „Grünen Minna“ stand, die Zunge heraus. Der Halbwüchsigen hatte dieser rasselnde Wagen die Uhr ersetzt; kaum war die schepperige Glocke oben von den Korridoren des Gerichtshauses ertönt, so kam er auch schon durch die Strasse daher. Das Kind streckte dann den Hals über die Aquarien des Schaufensters, um die „Grüne Minna“ mit dem neuen Wachtmeister Holmegaard zu sehen, der dasass, bärtig und brummig, mit einem Hut wie ein Kartoffeleimer. Dann wusste sie, es sei ein Uhr, die Finken müssten Ameiseneier kriegen, die Lori frisches Wasser, aus dem Aquarium der Schleierschwänze müsste der Schlamm geschöpft und dann der Mehlwürmerhaufen versorgt werden.

Hier draussen in der Hestemöllegasse und in Kattesund hatte sie ihre Rutschbahn gehabt, gerade vor der Hintertreppe zum Gerichtsgebäude und just vor der Nase des patrouillierenden Wachmanns. Und auf den abgenutzten Fliessen hatte sie mit gespreizten Beinen zwischen Kreidestrichen mit Nummern und Feldern für Erde, Himmel und Hölle ihren Stein geschnellt, bis sie das „Paradies“ erreicht hatte, und mit steifen Schulkindbuchstaben darüber geschrieben: „Paradies, nur für Flora Fagerlin! Besetzt! Eintritt verboten“. Das war Floras Privatparadies! Und mit demselben Stück Kreide hatte sie vor dem Eingang zum Gericht mitten zwischen hundert Mitteilungen und Winken von Dieben und Vagabunden ihre Krähenfüsse an die Mauer gemalt: Flora Fagerlin! Darunter aber stand von Jungen, die sie kannten, geschrieben: Flora ist ein Gassenmädel! Ihr Paradies aber störte ihr, nach dem ungeschriebenen Gesetz dieser Gassenkinder, keiner.

Ihren richtigen Paradiestraum hatte Flora zwischen dem vierten und neunten Jahre erlebt. Da war sie Ballettkind beim Königlichen Theater und wurde jeden Morgen nach der Kolonnade hinter dem grossen grauen Theater geführt, wo sie auf den Zehen stehen, am Draht fliegen und mit Rosengirlanden in den Händen knien lernte, daneben auch etwas Unterricht in Geographie und Rechnen genoss. Sie wusste, sie war königliches Ballettkind, ging jeden Tag auf gespreizten dünnen Beinchen in Wasserstiefeln von der Ballettschule heim und fühlte sich in ihrem niedlichen schwarzen Plüschmantel ungeheuer vornehm, dazu mit zwei schleifengeschmückten Rattenschweifchen unter dem Matrosenhut, dessen Gummiband zwischen ihren Milchzähnchen eingeklemmt sass. An den theaterfreien Abenden erteilte sie den Fünfjährigen der Strasse im Freien Unterricht in plastischer Pose.

Das wahre Märchen waren die Theaterabende. Da war sie ein Elfenkind mit Seidenflorflügeln oder ein kleiner spanischer Gassenjunge, der in der Oper Carmen an der Rampe Maccaroni ass, und vor jeder Première hatte sie Lampenfieber für das ganze Theater.

Später nach der Mutter Tod wurde Flora zwischen die Vögel gesteckt, und mit dem Ballett war’s zu Ende. Nun blieb ihr nichts als das beständige Halbdunkel des Ladens mit den verschlafen schilpenden Finken und jeden Tag während zweier kärglicher Stunden der Streifen Sonne auf dem Ladentisch, auf den ein Kasten mit Schlangen und Schildkröten gestellt wurde, um sie von der Wärme profitieren zu lassen.

Dann kam ihre ganze Tanzstimmung zurück. Es kitzelte sie in der Haut unter den Strümpfen, die Beine waren plötzlich elastisch geworden nach dem tagelangen Stehen hinter dem Ladentisch, ihre Hüften fanden den gewohnten Rhythmus aus der Zeit, da sie Sylphyde oder Puppenkind in Coppelia gewesen. Sie verlor sich summend in Träumereien, bis das Auge des Vaters sich mahnend hinter der kleinen Scheibe seines Kontors zeigte. In der Dämmerung kamen allerhand Männer und Burschen dahin, nach deren Namen und Herkunft sie sich besser nicht erkundigte; sie sassen stundenlang da und sprachen leise von Geschäften; wenn sie gingen, hatten sie keine Pakete mehr.

Dem Hause und der Gasse aber war sie nicht entwachsen. Von jedem einzelnen der stets wechselnden Wohnungsmieter hörte und wusste sie; dagegen dünkte sie sich häufig meilenweit getrennt von dem Verkehr der fröhlichen Stadt da draussen, von dem Asphalt und den elektrischen Lampen des Rathausplatzes und dem wogenden Schwarm der Spaziergänger, der nicht hundert Ellen vor ihrer Tür vorüberglitt. Nur auf Sonntagsausgängen mit Freundinnen kam sie dorthin — da aber waren es ganz andere Menschen, steif und geputzt, und hier fremd wie sie selbst — kurz, nicht das richtige Publikum.

Durch acht Jahre hatte Erik Blunck Floras Heranwachsen verfolgt, als Mieter eines Zimmers im ersten Stockwerk, das Frau Westerberg mit ihrem Rechtshilfe-Büro innehatte, und war auch nach Ablauf seiner kargen Studienjahre in dieser Behausung geblieben. Alles Bewohnbare war ja bis zum Äussersten ausgenützt und um annehmbaren Preis keine Stube zu haben. Ausserdem aber hatte er sich längst in diese dunkeln alten Gassen eingelebt, deren Geschichte ihnen ein zwar nicht ganz reines, aber sehr bestimmtes Gepräge verlieh. Gerade hier und insbesondere in Fagerlins Laden, wo Flora zwischen gefangenen Vögeln und Fischen dahinlebte, meinte er einen eigentümlichen Anflug von Romantik zu finden.

Drüben lagen Gerichtsgebäude und Gefängnis, die Schützer der öffentlichen Sicherheit. Sechs Studienjahre lang hatte er, selbst als Gefangener, hinausgeblickt auf die lederbraune Mauer des Gefängnisses, auf die vergitterten kleinen Scheiben und die buckligen Dächer der Kompagniestrasse mit den Riegelwerken und roten Ziegeln aus einer alten spiessbürgerlichen Zeit.

Vor der Haustür hielt, wie gewöhnlich, Margolinskys hochräderiger Kinderwagen mit dem Jüngsten des Lotteriekollekteurs, dem kleinen Sigmund, genannt Mugge, in spitzenbesetzten Kissen, mit Strohmützchen, Sabberlätzchen und Lederhandschuhen, schwarzhaarig, mandeläugig, einem kleinen Rabbiner gleichend, den Mund von dem Gummilutscher versiegelt wie von einer schwarzen Oblate. Frau Margolinsky, das hochgesteckte rote Haar voll Papillotten, bewachte den Kleinen, den sie hier im Sonnenschein bräunen liess. Und wie immer winselte Frau Paustians Hündchen Fylla an der Kellertür des Bierverkäufers, — in Löwenfrisur, nicht grösser als eine Ratte, niedlich aufgeschirrt und mit einer Seidenrosette im Nacken. Man erzählte sich, seine Sehnsucht nach dem dunklen Lokale rühre davon her, dass er dort regelmässig Bierneigen erhalte. Blunck öffnete dem kleinen Tier nach einigem Zögern gutmütig die Türe.

Er hatte einen Einkauf zu machen: Daphnien für das Stubenaquarium, das er sich kürzlich angeschafft hatte, und trat deshalb in Fagerlins Laden.

Flora stand in einer weinroten Halbseidenbluse hinter dem Ladentisch, in einem schmalen Streifen Sonne. Jetzt trat sie in den Schatten zurück, plötzlich fast unsichtbar, als glitte sie hinter eine Gardine. Blunck setzte sich auf den Tischrand zwischen die Schildkröten und die Mäuse, seinen gewöhnlichen Platz, wenn er mit Flora plaudern wollte. Sie nickte Guten Tag; vorerst ein bisschen gemessen; sie wusste ja, er kam als Kunde; sie aber stand hier in ihrem eigenen Laden und war zu Hause. Aber in ihren Augen sah er das kleine Lächeln und wusste sich ihres Willkommens sicher, heute wie gestern und jederzeit.

Die Luft hier drinnen war würzig und stark; es duftete nach allerart Wasserpflanzen, nach Körnern, Kleie und Guano, vermischt mit einem ganz feinen Hauch Veilchenseife von Floras Hals. Da stand sie zwischen ihren Vogelbauern, das ovale Gesichtchen blass von dem Leben im Dunkeln, die Augen gross und glänzend. Die rote Bluse leuchtete warm im Dämmerlicht, die Hände hielt sie unter dem Ladentisch versteckt; sicherlich waren sie nicht ganz rein, trotz Veilchenseife und Parfüm, sie hatte in Sand und Würmern gegraben, nach Ameiseneiern und Hirse gewühlt, die Lerche angefasst und die kleinen albinoweissen Mäuse gesäubert, die in ihren Käfigen rumorten.

Um sie her gaukelten ihre Vögel, die Kakadus pfiffen leise im Schlaf, droben auf den Gesimsen gurrte es, als rollte die Waldtaube Erbsen in ihrer Kehle; das Hacken der Spechte klang hohl gegen das Holz. In der grossen Volière flogen Reisammern umher, wie Sträusschen von Schneeflocken und Rosen. Und dort sass in seinem Prachtmantel, wie ein Mandarin in Purpur und Gold gekleidet, der kostbarste Vogel: Lori von den blauen Bergen. In den Aquarienteichen, die dunkel waren wie Pfuhle in einem Tropenwald, standen unbewegliche Fische stumm um die langsam emporsteigenden Luftperlen.

Blunck trat zu Jako, dem grauen Papagei, der auf seiner Sprosse Purzelbäume schlug und all seine Nackenfedern sträubte. Als er die Fingerknöchel näherte, fuhr des Vogels Schnabel scharf darauf los, schoss aber daneben. Wütend, das Ziel verfehlt zu haben, kreischte der Papagei seine einzige Redensart: „Dumme Tiere! Dumme Tiere!“

Flora lachte und beruhigte den Vogel. „Ksch, ksch! Dummes Tier, du selbst!“ Sie füllte mit einem Stechheber eines der Aquarien auf. Sofort retirierte Jako auf seiner Sprosse. „Dumme Tiere!“ kam es nochmals, halblaut, schlucksend.

Blunck zuckte die Achseln: „Offenbar ist das seine Meinung über uns.“ Flora beklagte sich: wie lästig waren doch diese Vögel! Sie musste sie schwere Worte lehren, und kam dann ein Kunde, so hatten sie alles vergessen. „Dumme Tiere! Darum habe ich sie auch so genannt.“

Auch der grosse Kakadu konnte dasselbe Sprüchlein sagen; er hockte würdevoll auf seinem Hölzchen, drehte die gelben Augen und gaffte. Und alle Vögel sassen lauschend ringsumher, stumm in ihren Ringen schaukelnd. Selbst die Fische schienen mit starren Augen wie in erwachender Kritik an dem Aquarienglas stillzustehen.

„Jako hat sie mir alle verdorben“, seufzte Flora, mit der Spritze auf Jako zielend, der sich, ganz sprachlos vor Zorn, auf den Boden seines Käfigs fallen liess.

„Dich wird nie ein Mensch kaufen!“ rief Flora, während sie auf ihrem rückenlosen Rohrstuhl hinter dem Ladentisch Platz nahm. Blunck sah ihr Gesicht durch das grosse Aquarium, es erschien glasgrün zwischen den Muscheln; an eine Nixe erinnernd. Fische schwammen an ihrem Mund vorbei, Algen schienen wie bleiche Blumen in ihr Haar geflochten.

Er zerkrümelte ein wenig Weissbrot für die Albinomäuse. „Sie sollten selbst ein Bauer für sich haben, Flora! neckte er, oder am allerbesten ein Aquarium wie eine Medusa oder eine Seeanemone. Warum sollen Sie allein so frei umhergehen?“

„Glauben Sie etwa, ich sei hier frei — hinter dem Ladentisch?“

„Aber wenn Sie einmal herauskommen, entgegnete er ernsthaft, so richten Sie bloss Schaden an! Bei sich oder anderen.“

Ihre Augen blinzelten: „Bei mir selbst nicht!“

Seine Hand streifte ihren Ärmel, der vorige Woche an einem Käfig aufgerissen worden war. „Nicht? fragte er, wo schon jetzt die Haut herabhängt!“

Sie zog den Ärmel an sich, und die kleine Nase schnob. Sie richtete den Heber auf ihn. „Nehmen Sie sich in acht!“ Und er flüchtete scherzend gegen das Fenster zwischen die Käfige.

So standen sie ein Weilchen Aug in Auge. In dem Bauer hinter ihm sass eine kranke, hohl hustende Dohle mit schorfigem Schnabel. Eine plötzliche Traurigkeit überkam Blunck. Sie alle, die ihn hier umgaben, kamen ihm wie Patienten oder Gefangene vor. Und den selben Missmut las er in Floras Augen. Wie sonderbar! dachte er. Ein kranker kleiner Vogel verstimmt uns beide im gleichen Moment in dieser schweren Luft.

„Kommen Sie doch heraus!“ sagte Flora matt, die Hand mit dem Heber senkend. Sie schwiegen beide, einander anblickend. Aus den Bassins ringsum klang ein leises Gurgeln.

Mit einem Mal schnarrte die Ladenglocke, und die Vögel erwachten kreischend. Ein etwa vierjähriges Mädchen mit dünnem, verklebtem Nackenhaar und grosser rosa Stirnschleife trat auf Holzpantinen ein und presste ein feuchtes Näschen gegen die Tischkante: „Um zehn Oere Vogelfutter.“

Blunck kannte sie von der Strasse her. „Guten Tag, Irmelin!“ nickte er. Das Kind antwortete nicht, sah ihn nur kritisch und kalt an.

Flora öffnete eine Schublade, ihre Bewegungen waren nun mechanisch träge. Das Kind beobachtete sie scharf. „Es soll gewogen werden. Nicht mit den Fingern wie letztesmal.“

Flora warf zornig den Kopf zurück, aber Blunck sah, wie sie bis zu den Ohren hinauf rot wurde. Er lächelte. Er spürte etwas von dem unlauteren Gebaren, das hier in Fagerlins Vogelladen herrschte. In diesem Augenblick hob sich die kleine Gardine von der Scheibe des Privatkontors, und ein Brillenglas blinkte dahinter. Da hinein kamen — Blunck wusste das aus seiner Praxis — allerlei Aufkäufer von den Versatzamtsauktionen, Schacherer aus den Vorstadtkneipen mit Herrenuhren, Suppenlöffeln und Brillantbroschen, dann und wann auch junge Burschen, die im fremden Auftrag geschmolzenes Gold oder ungefasste Steine verkauften: Fagerlin hatte, wie er wiederholt erklärte, öfter derartige Patrone, die offenbar Diebeshehler oder Mitschuldige waren, durch telephonische Vermittlung der Polizei verhaften lassen.

Da kam er nun in den Laden hinab in seinem gewohnten Morgenanzug: grüngestickten Pantoffeln, Alpackajacke und hinten sowie im Schritt starkbauschigen karierten Hosen. Von einer Westentasche zur anderen ging eine breite Silberkette. Er verbeugte sich höflich vor Blunck und strich behaglich den seidenweich über die Sammetweste herabhängenden schwarzen Vollbart.

Mit einer Handbewegung hatte er die mit ihrer Düte dastehende und ihn übelwollend betrachtende Irmelin aus dem Laden gefegt. „So ein unverschämter Knirps! Fort mit dir! Marsch!“

Blunck und er plauderten ein wenig, zumeist von Polizeineuigkeiten. Fagerlin kannte die Polizeibediensteten aller Grade. Seit Bluncks Anstellung im Westlichen Gericht betrachtete Fagerlin ihn mit mehr Respekt, als das Verhältnis zwischen Vizewirt und Mieter erfordert hätte.

Dann machte der Vogelhändler eine Runde durch seinen Laden, beäugte Käfige und Aquarien: hier waren ein paar feine Zahnkarpfen, die gelaicht hatten, hier einige seltene Macropoden. Er hob die goldenen Fischlein in einem Netz empor und zeigte sie Blunck; es war ihm offenbar darum zu tun, zu betonen, dass Fische und Vögel, durchaus nichts anderes, sein Fach und Gewerbe seien. „Da sehen Sie mal diese Goldkarpfen und dies feine Paar Chromiden.“ Aus und ein unter seinen grossen ungeformten Händen schwammen kleine blauschwarze Sammetfische und solche wie Tiger goldgestreift; Schleierschwänze zogen ihre Schleppe in Regenbogenwellen um Tausendblatt und Algen; ihre Teleskopaugen hafteten stumm an dem grünlichen Glas. Fische aus Purpur und Silber, pfauenblau und anzusehen wie kleine Schmetterlinge, huschten mit florleichten Flossen vorbei.

„Und nun will ich Ihnen ein paar Vogelraritäten zeigen, sagte Fagerlin. Aber zu verkaufen sind die nicht. Ich habe sie nur in Pflege. Die Tierchen sind hier in meinem Privatkontor, bitte!“

Der niedere dreieckige Raum, wohin er Blunck voranging, war halb dunkel, mit einer kleinen Scheibe nach dem Hof. Auf dem Fensterbrett standen die Reste von Herrn Fagerlins Frühstück — eine Aalhaut und ein Schnapsglas. Die Wände hatten Regale mit kleinen Abteilen, in deren jedem ein Päckchen mit einer aufgeklebten Nummer lag. Pfänder! dachte Blunck.

Fagerling zog eine mit Netzwerk überzogene grosse Mahagonikassette hervor, sie hatte einen Sandboden, und an jeder der Querwände war aus Reisig und kleinen Zweigen eine Hütte geflochten.

„Augenblicklich hecken sie“, konstatierte Fagerlin, mit dem Knöchel an das Mahagoniholz klopfend. Aus jeder Hütte heraus spähte ein bernsteingelbes, spitzes Schnäbelchen.

„Sie wollen gelockt sein!“ nickte er. Er suchte auf dem Tische zwischen Nägeln und Werkzeugen und fand ein dreieckiges Glasstückchen. „Nun passen Sie mal auf!“

In dem Augenblick, da der Glassplitter den Sand berührte, schoss ein schlanker blauschwarzer Seidenvogel hervor. Der Schnabel sank hinab und nippte an dem Blanken und, in raschen Kreisen balancierend, trug der Vogel im Tanzschritt seinen Schatz über den Sand, bis er vor seinem Wigwam einen Platz für das Juwel gefunden hatte. Von der gegenüberliegenden Hütte spähte das Weibchen mit glänzenden Augen, aber mäuschenstill hervor.

„Es sind Paradiesvögel, bemerkte Blunck, australische Laubhüttenvögel. Sie sammeln glänzende Dinge.“

„Wie wir anderen! lachte Fagerlin. Dieser hat eine ganze Anlage vor seinem Hause. Sehen Sie nur!“ Er holte weitere Glasscherben und kleine Stanniolstückchen. Flora lief ins Nebenzimmer und kam mit roten und gelben Papageienfedern zurück, die Lore fallen gelassen hatte. Der kleine Seidenvogel wartete mit schräggeneigtem Köpfchen, und jede neue Farbe, jedes glänzende Stück Glas oder Metall fand den ihm gebührenden Platz in einem geschmeidigen, feinen Mosaik vor der kleinen Villa. Wie ein kundiger Artist komponierte der Paradiesvogel sein Muster aus allen Farben des Spektrums, besonders aber aus allem Glänzenden.

Flora riss einen Ring mit einem blauen und einem roten Stein von ihrem kleinen Finger.

„Nein! wehrte Fagerlin. Du darfst sie nicht an echte Gegenstände gewöhnen!“ Ein ängstlicher Blick fuhr nach den Gesimsen empor. „Es heisst, dass sie arge Diebe sind. Aber vielleicht könnte Herr Blunck es mit einer kleineren Silbermünze versuchen!“ Blunck folgte dieser Anregung.

Der Vogel betrachtete die Münze mit Wohlgefallen und krönte ein Beet aus roten Federn mit dem blanken Metall.

„Er möchte mehr davon haben, bemerkte Fagerlin philosophisch. Wenn Sie also etwas opfern wollen —“ Sein Blick folgte begehrlich dem Fallen der Geldstücke. —

Blunck fühlte Floras Schulter ganz dicht an der seinen. Ob sie diesem Vater glich, der da stand, gleichsam maskiert von seinem Bart und seiner blauen Brille? Sie hatte dieselbe milchweisse Haut. Ihr Haar glänzte wie die Federn der Seidenvögel. Er folgte dem schmalen Oval des Gürtels, der ihren Leib umschloss. Es war ein leichtes Wiegen in ihren Schultern wie ein Walzerrhythmus.

Aus dem Laden erscholl Jakos Gekreisch: „Dumme Tiere!“ Die ganze Menagerie ringsum stiess Töne wie ein Hohnlachen aus.

Flora hob den Kopf. Ihre Augen glänzten freudig.

„Morgen, flüsterte sie Blunck zu, morgen werde ich achtzehn Jahre. Da habe ich Gesellschaft!“ Ihre Hand streifte die seine. „Kommen Sie?, bestimmt, ja?“

Flora streckte die langen runden Beine von dem Schlafdivan herab, auf welchem sie lag, das Haar weit über den Kissenbezug gebreitet. Ein Streifen Morgensonne berührte ihre Knie, dass sie glänzten wie zwei kleine Monde; aber es war kalt in der Stube, sie kroch mit einem Schauder wieder unter die Decke und liess die Zähne aufeinanderschlagen. Es war Sonntag, sie erinnerte sich, dass sie bis zehn Uhr schlafen konnte, wenn sie Lust hatte, und dass sie heute achtzehn Jahre alt wurde.

Der Plaid bilde eine Bergkette, phantasierte sie, bis hinauf an ihr Kinn, ein Gebirgslandschaft mit Almen und grünen Wäldern, darüber lagen die Falten des Leintuchs als schneeweisser Gletscher. Dort auf dem Gipfel über ihrem gebogenen Knie graste eine Fliege als Gemse auf einer grünen Wiese. Komm nur erst herab in den Schnee, dachte sie, dann schlage ich nach dir! Aber wupp! da flog es wie ein Königsadler hoch über alle Zinnen davon. Ich bin in den Alpen, dachte sie weiter, auf Reisen! Sie hörte ihr Herz schlagen wie im Takt eines Zuges, der tief drinnen in einem Tunnel dröhnte; der starke Ton erregte ihr ein freudiges und zugleich banges Gefühl. Die Blumen in den blauen Tapeten waren heute alle Feststräusschen für sie, Rosen und Vergissmeinnicht; sie wurden nicht wie sonst zu Gesichtern mit widerwärtigen Grimassen. Heute wollte sie nur Blumen haben!

Ich will aufstehen, dachte sie, schleuderte den Plaid mit einem Ruck von sich und fror; aber es war Sonntag, und die ganze Person sollte ja in dem winzigkleinen Waschbecken aus Blech, das mit der Seifenschale darunter drüben auf einem Gestell stand, von Kopf bis Fuss gebadet werden. Drinnen in der Nachbarstube hörte sie Frau Paustian auf hochhackigen französischen Schuhen umhertrippeln.

Sie wohnte dieses Jahr in Paustians Lotteriebüro. In diesem Hause wurden die Bewohner unaufhörlich verteilt und versetzt, alles nach sinnreichen Rechenexempeln des Herrn Fagerlin. Das Hofzimmer des Vogelladens stand vorläufig mit Kanarienvögeln und Finken so vollgeräumt, dass Flora bei Frau Paustian untergebracht worden war, in dem Gassenkabinett mit den drei künstlichen Palmen, den Fächern an den Wänden und den Photographien in Plüschrahmen. Da war die Schulreiterin Miss Darling, Cleo de Merode in Trikots und die Soubrette Carina, alle mit eigenhändiger Widmung, nebst vielen anderen von Frau Paustians Bekannten.

Jetzt besah sich Flora in einem hufeisenförmigen Spiegel mit Stahlrahmen, den Frau Paustian von einem Trabrennsport-Direktor geschenkt bekommen und der in Diamantschrift eine Widmung vom 20. Mai trug — die Jahreszahl hatte sie ausgekratzt. Sie stand mit nassen Lippen auf blossen Füssen in winzigen Sammetschühchen mit Schwanendaun, kämmte sich das Haar vom Scheitel bis weit über die Hüften herunter und flocht es. Dabei blickte sie ihrem Spiegelbild gedankenvoll in die Augen. In jeder der Pupillen war noch ein kleines Bild von Flora zu sehen. Und jedes von ihnen musste — wenn man so fein sehen könnte! — wieder das doppelte zeigen. Sie lachte: wie viele sind wir doch da drinnen! Sie hielt die Haarnadeln zwischen den Zähnen und warf die Welle ihres Haars stolz über den nackten linken Arm; so stand sie ein wenig zitternd und wunderte sich über sich selbst.

Frau Paustian huschte in ihren Stuben umher, jetzt tupften ihre Knöchel an die Flügeltüre. „Kommen Sie herein, liebe Frau Paustian!“

„Herzlichen Glückwunsch!“ Frau Paustians Puderduft hauchte in einem Kusse über Floras Wangen, der chinesische Halbseiden-Kimono umflatterte sie beide; dann trippelte die Gratulantin mit klirrenden Ohrgehängen und hochaufgesteckter Frisur zurück, um noch alles mögliche für den Tag zu ordnen: Haarwülste und Kniewärmer aus der Wohnstube in der Fensternische hinter den Schlafzimmergardinen zu verstecken, die für die Nacht gedrehten Papilloten in eine Pappschachtel unter das Bett zu stecken, das, mit einer Plüschdecke überbreitet, als Sitzplatz für die Besuche zu dienen hatte, endlich die Geldkasse der Lotterie-Kollektion im Kachelofen zu verbergen. Worauf Frau Paustian sich in blauen Sammet warf und die kleinen Zeitungspapierpflästerchen vom Kinn zupfte, um ihre Gäste zu empfangen.

Die ersten waren klein Irmelin Rose, das Kind des Nähfräuleins vom Nebenhaus A, mit ihrem dreijährigen Schwesterchen Solvejg an der Hand, beide in weissen Rohseidenkleidchen — den Resten vom Brautkleid für eine Reichstagsstenographin — mit glänzendreingewaschenen kleinen Vollmondgesichtern. Ihre Augen verlangten stumm und gierig nach Schokolade, und jede hielt in der kleinen Faust eine zerdrückte Rose. Frau Paustian setzte sie seitlings auf die Plüschdecke, nachdem sie einen Zipfel mit der Kehrseite nach oben unter Solvejg geschoben hatte.

„Untersteht euch, euch vom Fleck zu rühren“, sagte sie, mit der Zunge ein Seidenbonbon gegen die Wange drückend, und hüpfte eiligst nach dem Vorplatz, um neue Gäste einzulassen. Diesmal war es ihr im vierten Stockwerk wohnender Onkel, Herr Winkelmann, Schreiber beim Westlichen Gericht, mager und feierlich, im Gehrock mit dem kleinen Silberkreuz des Danebrog-Ordens auf der Brust. Er gratulierte Frau Paustian mit Begräbnisstimme zu Floras Geburtstag.

„Arme kleine Flora! sagte Frau Paustian. Sie ist ja mutterlos, und ich will ihr so gern an diesem Tage eine Freude machen. Denk dir, der Vater ist auf einer Geschäftsreise, und sein einziges Geschenk für seine Tochter war ein altes Zweikronenstück, das nicht einmal blankpoliert war.“

Sie wirbelte rundum, neue Gäste begrüssend. Es erschien Rechtsanwalt Westerberg, der, den Fausthandschuh mit drei Klumpfingern seiner rechten Hand im Ärmel versteckend, zum Gruss die Linke bot; neben ihm seine Frau, Inhaberin und Leiterin des Zweigbüros nebst Privatdetektivkontor „Allwissend“. Dann kam Erik Blunck mit einem Rosenbukett; mit ihm Floras Freundinnen Dyveke und Svea, Angestellte einer Apotheke, deren Vorräte an Parfüm und Pfefferminzplätzchen — dem Duft nach zu schliessen — ihnen nicht unzugänglich waren.

Nun öffnete sich die Flügeltür, Flora kam hereingelaufen im neuen seegrünen fussfreien Kleide mit hoch unter dem Busen schliessendem Gürtel und schwarzen Seidenstrümpfen. Ihre weissen Zähnchen lachten: „Danke, danke!“ ehe noch jemand gratuliert hatte. Sie nahm flüchtig Bluncks Rosen in Empfang und hob sie an ihr Gesicht. „Sie sind reizend“, sagte sie und küsste dabei ihre Freundin Svea auf den Mund.

Blunck sass auf einem niederen Taburett neben der Fensternische, hinter sich im Nacken ein paar steife haarige Blattpflanzen in Porzellanblumentöpfen. Der trockene Duft von Pfefferminz und Wollkleidern betäubte ihn, und er rang schläfrig mit dem schweren Problem, diese Gesellschaft in irgend einem sozialen Zusammenhang zu sehen, seiner eingewurzelten Gewohnheit nach die Leute in Gruppen zu ordnen. Alle diese kleinen Schicksale hatten sich widerstandslos dem alten Viertel hier und seinen engen Wohnräumen angepasst; daher wohl waren sie alle so schief geraten, glitten mit blankgewetzter Aussenfläche aneinander hin, und ihre Auswüchse und Mängel entsprachen einander. Schien nicht Rechtsanwalt Westerbergs ganze rechte Körperhälfte, die mit der Klumphand, da, wo sie seiner Gattin zugewendet war, geradezu abgewetzt wie alter Kautschuk? Und wie riesenhaft ragten ihre Schulter und Hüften nach jener Seite zu, fast wie ein drohender Bergsturz! Wie viele der Anderen wirkten nicht eben durch ihre defekte Figur! Da ging einer still ehrwürdig umher und reichte eine fette warzige Hand zum Gruss: es war der Rechtsanwalt von der Schreibstube an der Ecke, genannt der Kürbisschädel, der es sich erlaubte, zum Gehrock seine graugrünen, schlotternden alten Alltagshosen zu tragen und dies alles kraft seiner Stirn, dieser berühmten Stirn, die sich, den spärlichen Haargürtel majestätisch überragend, hoch oben wiegte; weiss wie Kreide, beulig und glatt wie eine Boje auf See, die ein Kranz aus welkem Tang umgibt — sein Stolz und seine Zier! Und Frau Paustians Onkel, der magere und schlottrige Gerichtsschreiber, der in ein Beinhaus zu gehören schien — war es nicht, als hielte ihn bloss das kleine Silberkreuz im Rockumschlag aufrecht, als trüge es ihn ganz und gar, liesse ihn im Raume schweben? Es war erst acht Tage alt, und Blunck wusste, dass er jeden Tag bei der Nationalbank auf und ab promenierte, die Schildwache durch seine Brille scharf ansehend; hatte er sich doch von Kollegen im Amt erzählen lassen, dass die Wache vor jedem präsentieren müsse, der sichtbar das Danebrogskreuz Seiner Majestät trug!

Wie liess sich nur eine Gesellschaftsordnung aus so fragwürdigen Einzelexemplaren konstruieren? dachte Blunck weiter. Es sind ja lauter Brüche statt ganzer Zahlen! Sollte man sie nicht lieber der Biologie als Gegenstand überlassen, sowie sie da waren, aus dem alten säuerlichen Erdreich hervorgewachsen, schief oder ebenmässig, bucklig oder gerade, ganz wie der Zufall es will! Die sozialen Studien, die seine Abende füllten, erschienen ihm mehr als je zuvor in der Luft zu stehen. Westerbergs Nase allein war Problem genug; sie begann semitisch krumm und endete in aufwärtsstrebender Gotik mit etwas, das an einen Pfeiler erinnerte, — vielleicht als Ersatz für seinen fehlenden Daumen. Wahrhaftig, diese Nase gehörte in kein Gesellschaftssystem, höchstens in das wilde, bunte Raritätenkabinett der Natur!

Und Flora, Flora, wie sie röckewogend und leichtfüssig an ihm vorbeistrich, war weit unerklärlicher als ihre Fische oder Vögel: bald körperlos wie Nebelflor, bald mütterlich solid und handfest, wenn sie die Kanne aus weissem Porzellan schwang, um Irmelin und klein Solvejg einzuschenken, deren leuchtende Mondgesichtchen längst Schokoladenschatten trugen. Wie zwei kleine Schornsteinfeger anzusehen, schielten sie zornig erstaunt zu Flora empor. Sie wies eben scheltend auf die feinen Reste des Brautkleides, auf dessen Vorderteilen kleine Schokoladenfinger sassen, wie Stufen einer Leiter. Dann aber legte Flora die Arme hinter den Nacken und lachte, alles um sich her vergessend, mit halbgeschlossenen Augen und einem leichten Wiegen der Hüften, weltvergessen.

Die Stube hatte hellblaue geblümte Tapeten, die Decke war so niedrig, dass man hinaufreichen konnte, ohne sich zu strecken. Auf den Plüschstühlen boten Stecknadeln, die gestrickte Deckchen festhielten, beste Gelegenheit, sich zu stechen, während ein von der Lampenkuppel herabbaumelnder vollbesetzter Streifen Fliegenpapier Nacken und Nasen bedrohte. Die Stube war erfüllt von Lavendel- und Distelgeruch, von Frau Paustians Parfüm und dem Kleidergeruch der beiden Kleinen. Auf dem Sofa sassen fünf Personen und konnten vor Beklemmung die schwüle Luft kaum atmen. Flora kauerte auf einem Stuhlarm, Dyveke hatte ihre Schwester Svea auf den Schoss genommen. Der einzige, der ein paar Ellen leeren Raum vor sich hatte, war Floras Oheim, der kleine Herr Abelmann: er stand mit seinen langen Locken um die kahle Stirn und über der Sammetweste herabflatternden Künstlerschlips, hatte die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt und machte mit zwei langen haarigen Affenarmen Kartenkünste. „Eins, zwei, drei. Habt Ihr die Herzdame gesehen? Hokus pokus! Volti subito: Da hängt sie droben auf dem Fliegenpapier. Presto!

Herr Winkelmann und Rechtsanwalt Westerberg rauchten ihre langen Sonntagszigarren, die sie zwischen den Lippen hielten, ohne die Zähne daranzusetzen. Winkelmann leckte an dem Deckblatt. „Ich kenne eine echte Zigarre, wenn ich sie sehe, sagte er, und geniesse sie, bis sie einem an den Nägeln brennt.“

„Wo ist Emmachen?“ fragte Frau Paustian.

„Emma ist beschäftigt, bemerkte wichtig Frau Westerberg, die in einem Schneiderkleid prangte, sie arbeitet unten im Kontor an ihrer Maschine.“ Wirklich vernahm man das ferne Ticken der Remingtonmaschine aus dem Rechtshilfekontor im ersten Stock. Winkelmann fuhr zusammen; der Laut machte ihn nervös. Die verhassten modernen Schreibmaschinen verfolgten ihn sogar hier im eigenen Heim und an den Feiertagen!

Und vor Blunck tauchte nun auch das Bild Emmas auf, der Nichte der Frau Westerberg, die jetzt da unten sass und die ellenlangen Eingaben, Urkunden und freiwilligen Vergleiche auf ihrer Maschine tippte. Oft begegnete er ihr auf ihrem Wege zur Schuldenkommission, wo sie häufig in Gerichtssachen erschien, wenn der Rechtsanwalt ausblieb. Da sass sie dann auf ihrem hohen Taburett ausserhalb der Schranke und wartete auf das gewohnte Nicken des Richters: „Fräulein Westerberg ist erschienen — Verfahren vertagt aus obigen Gründen!“ Er sah sie atemlos, mit verschreckten, nie ausgeschlafenen Augen, Rauhreif im Haar und auf dem Kaninchenfellkragen, auf schiefen Absätzen die Steinkorridore des Gerichtshauses hinaufeilen. „Guten Morgen, Fräulein Emma!“ — „Guten Morgen, ich habe solche Eile, oh so schreckliche Eile!“

Das Hündchen Fylla erschien mit neuer roter Schleife herausgeputzt und trug Frau Paustians Geschenk für Flora, einen silbernen Eierbecher, an einem Danebrogband am Halsband befestigt. Es schnappte nach jedem, der den Eierbecher anrührte, und keiner wagte, ihn wegzunehmen; denn es hatte spitze kleine Zähne. „Nun will es schon wieder hinab zum Biermann!“ seufzte Flora und öffnete dem Hunde die Türe. Man musste ihn vorläufig samt dem Eierbecher laufen lassen. Draussen aber auf dem Treppengang standen die beiden Jüngsten des Lotterieagenten: Bianca wie ein schwarzhaariges kleines Mütterchen mit dem fett und ernsthaft in ihren Armen ruhenden Bruder Sigmund.

„Margolinskys sind nicht geladen!“ bemerkte Frau Paustian scharf und fügte in Flüsterton hinzu: „Sie haben gar keine Bewilligung und betreiben ungesetzlichen Handel mit Darlehen auf Klassenlose!“ Aber Flora hatte die Kinder schon eingelassen, und Bianca sass bereits auf der Kante eines Taburetts, träumend, dunkeläugig wie ein Beduinenkind auf dem Kamel. Frau Paustian räumte demonstrativ ein paar kleine Porzellanhündchen und Kätzchen auf das oberste Gesimse der Etagère hinüber und spritzte kölnisches Wasser nach der Richtung, wo die Kinder sassen.

In Floras Nähe hielt sich ihr Vetter auf, ein lispelnder blasser junger Herr mit Bügelfalten an den Beinkleidern und Nackenscheitel. Er besass, wie Blunck wusste, in einer Nebengasse auf Vesterbro ein chirurgisches Warenhaus mit Mullbinden und krummen Scheren im Schaufenster und trug den ihm von seinem Vater, einem Briefmarkenhändler, nach einer seltenen Marke von der Insel Guadeloupe verliehenen Übernamen „Guadeloup“, der ihm fürs Leben vermeintlich französische Manieren und einen besonders passenden Firmennamen eingegeben hatte.

Er erzählte, er und seine Verlobte hätten eine Aktiengesellschaft für das Bartmittel „Universal“ mit Alleinagentur für Skandinavien gegründet; da aber das Gesetz zumindest drei Aktienbesitzer vorschreibe, mache er sich hiermit das Vergnügen, seiner Kusine Flora eine Aktie, auf hundert Kronen lautend, als Geburtstagsgeschenk zu überreichen.

„Hundert Kronen!“ rief Flora freudestrahlend und legte das Dokument in einen leeren Blumentopf. Und das konnte viel mehr wert werden, wenn die Kurse stiegen! Des Vetters Augen hefteten sich zärtlich auf ihren nackten Hals, und seine Nasenlöcher vibrierten eidechsenartig.

Einstweilen sass Frau Paustian beim Kartenaufschlagen und weissagte: „Pass nu’ auf, Florachen, du bist ein Sonntagskind und wirst dein Glück machen. Da liegt ein blonder Herr für dich und viel Geld, und hier kommt ein brünetter Herr — gerade von einer Reise. Wer kann das nun sein?“

Blunck schüttelte den Kopf: Floras Schicksal! dachte er. Seit der ersten Kindheit verschlungen von einer alten Strasse und einem lichtscheuen lebenden Kramladen. Was würde ihre Zukunft werden? Neue Gassen, neue graue Alltage und ein bisschen billige Sonntagsfreude! Vielleicht noch von den unreinen Fingern des Marktes berührt und umgeformt, herausgelassen zum elektrischen Licht, auf den Asphalt und in die Mitternachtkaffees. Ein Kind des niederen Mittelstandes, wie so viele. —

Die Rathausuhr tat einen kurzen Schlag: Eins! Flora fuhr empor und ordnete ihr Haar. Die Vögel mussten ja auch heute Wasser und Futter haben! Sie nickte Blunck zu: „Kommen Sie! Helfen Sie mir!“

Wie ein Wirbelwind sauste sie die Treppe hinab.

Er folgte in seiner gesetzteren Art. Der Treppengang wand sich vom vierten Stockwerk hinab in einem engen Schlot, der nach Speiseduft, Spülwasser und Katzen roch. Vom ersten Stock an aber wurde er mit einemmal stattlich, breit und hatte Eichendielen. Von hier lief ein langer niederer Korridor mit Nischen hinter den Schornsteinen, mit allerlei Irrgängen und Stufen auf und ab längs der Fassade und um die Ecke in den uralten Seitenflügel, in dessen Kalk die Eichenstämme des Riegelwerks zu sehen waren. Auch die nie verschlossene Vorplatztüre mit Frau Westerbergs Schild führte nach diesem finsteren Korridor. Da und dort standen schräg in den Staub hinein Sonnenstreifen und zeichneten auf dem Fussboden die feinen Querleisten der Fenster. Hier war eine niedere gelbangestrichene Tür zu Eriks Zimmer, das nach der Gasse zu lag, in gleicher Reihe mit ebensolchen anderen.

Flora fegte durch das Seitenhaus. So oft ihre Wange durch einen Streifen Sonne kam, leuchtete es durch das Dunkel auf wie Rosenglut. Sie holte einen Schlüssel hervor und öffnete eine kleine Tür; von hier wand sich ein enges Treppenstück nach dem Laden hinab.

Er konnte sie da unten im Dunkel der Fensterläden und dichten Gardinen umhergehen hören. Nun lagen die Vögel in ihrem Sonntagsschlaf, von Samstag bis Montag morgen. Bei Floras Eintritt begannen sie von ihren Sprossen herab zu glucksen.

„Wollt ihr still sein!, schalt sie. Denkt doch, dass heute Sonntag ist!“ Blunck hörte sie an Aquarien und Bauern hantieren. „Mit der kranken Dohle steht’s nicht gut, rief sie betrübt herauf. Sie hat ihr Futter nicht angerührt.“

Ihr Nacken tauchte aus der Treppenöffnung auf. Sie holte tief Atem und streifte die Ärmelschürze ab. Als sie durch den Korridor zurückgingen, war die Sonne hinter Wolken getreten und der lange Gang mit einemmal in gleichmässiges Halblicht getaucht. Flora riss im Vorübergehen ein Stück von der abstehenden Tapete ab, ein kleiner pfeifender Laut kam von ihren Zähnen, ihr Blick suchte verstohlen den Eriks. Plötzlich mit einem Ruck drehte sie sich seitwärts, stand vor seiner Zimmertür still und tippte auf seine Karte an der Tür.

„Warum nur Ihren Namen — nicht, was Sie sind?“

„Man kann mich wohl auch ohne dies finden,“ lachte er.

„Was wohl einmal da stehen wird, sie atmete tief, — Polizeiinspektor — oder Abgeordneter; Minister vielleicht! Aber dann wohnen Sie wohl nicht mehr hier!“

Er lächelte. „Warum nicht! Habe ich hier nicht alles, was ich brauche?“

Flora glitt dicht an der Mauer weiter. An der Türe, vor der sie nun hielt, hing ein gelber Blechbriefkasten, dicht angestopft mit Briefen und Zeitungen. Sie versuchte, durch seine kleine Scheibe zu lesen. „Das ist keine dänische Schrift, sagte sie; ganz andere Buchstaben.“

Auf einem kleinen Porzellan-Türschild stand: Büro Transit.

„Das steht seit drei Monaten hier“, sagte Blunck.

„Was bedeutet Transit?“

„Dass hier etwas vergehen soll“, lächelte Blunck.

Flora betrachtete ihn misstrauisch. „Es ist an Ausländer vermietet, aber es wohnt niemand hier. Nur jeden Mittwoch und Samstag kommt ein Mann mit einem schwarzen Bart und leert den Briefkasten.“

Sie legte die Hand über das Schlüsselloch. „Können Sie es nicht fühlen, dass hier niemand wohnt? Es kommt ganz ungebrauchte Luft heraus!“

Einen Augenblick standen sie stumm. Sie schielte hinüber nach der Tür zwischen Bluncks Zimmer und dem Büro Transit. „Wissen Sie, wer dort wohnt?“

Er nickte.

„Er heisst Ishöj, flüsterte sie. Er ist Ihr Nachbar. Glauben Sie, dass er zu Hause ist?“

Blunck zuckte die Achseln. „Ich höre ihn selten.“

„Haben Sie ihn gesehen?“ Er bejahte. Nur ganz flüchtig hatte er Andreas Ishöj zu Gesicht bekommen, der hier, durch eine dünne Wand von ihm getrennt, als Privatmann lebte. Bloss gedämpfte Laute kamen von da drinnen heraus, obwohl der Bewohner sicherlich Tag und Nacht zu Hause war. Nur ein leises Treten wie von absatzlosen Schuhen, hier und da ein Schleppen schwerer Gegenstände über den Fussboden, ein einziges Mal, spät des Nachts ein Krach, wie ein Schuss, wohl bloss ein schweres Buch, das von einem Tische gefallen war.

„Ich klopfe an“, raunte Flora ihm zu. Sie atmete stark. „Ich bitte ihn mit herauf!“

„Tun Sie das nicht! warnte Blunck. Kommen Sie doch, Flora!“

Sie setzte den Fuss fest auf den Boden. Die Brauen senkten sich zornig. Er betrachtete sie erstaunt und ein wenig unruhig.

„Ich klopfe an, beharrte sie mit leiser Stimme. Ich will meinen Gästen jetzt vortanzen, und er soll mich auch sehen.“

Fern durch den Korridor hörte man Emma Westerbergs Schreibmaschine klopfen wie Hagel auf Fensterscheiben. Sie standen beide und schwiegen.

„Kommen Sie!“ sagte Blunck und ging weiter, in der Absicht, sie zum Mitfolgen zu bewegen. Aber Floras Knöchel fielen in einem kurzen Schlag gegen die Tür. Drinnen blieb es still wie zuvor.

„Er soll antworten! flüsterte sie. Er ist daheim, ich kann es spüren.“ Und sie klopfte an, rasch und fest.

„Sie hören ja, dass es umsonst ist,“ bemerkte Blunck.

Flora trat tief atmend einen Schritt zurück. Ganz langsam war der Türgriff gedreht worden und stand nun lotrecht. Blunck ergriff ihren Arm und zog sie einige Schritte mit sich.

Ein fadenfeiner Streif leuchtete im Rahmen der Tür. Lautlos wurde diese einen fingerbreiten Spalt geöffnet, und der Schatten eines Mannes verdunkelte die Lichtritze des oberen Randes. — Enorm gross musste er sein. Blunck verspürte mit Unbehagen, fast wie ein Kältegefühl an seiner Haut, das verborgene Spähen eines Auges, das er nicht sehen konnte.

Und mit einem Mal lief Flora davon. Blunck folgte rasch; über der Schulter unterschied er noch den feinen Lichtstreifen aus seines Nachbars Tür.

Als er — noch in einer unangenehmen Empfindung — Frau Paustians Stube erreichte, sah er Flora schon in einem Plüschstuhl sitzend mit einem Lächeln, in dem alles Geschehene vergessen schien. Um sie herrschte Jubel. Herr Abelmann, ihr Onkel, hatte sich aus einem Schreibheftband ein Paar ungeheure Vatermörder geschnitten und stolzierte mit eingeknickten Knien einher, so dass er nicht grösser war als Klein-Irmelin, die stolz wie eine Prinzessin an seinem Arm trippelte. Unter den schleppenden Schössen des Gehrocks kamen seine grossen Füsse zum Vorschein, er schwenkte schmachtend den Velourhut und spazierte mit seiner Dame im Kreise umher. „Darf ich Ihnen meine Braut vorstellen, Fräulein Fredriksen?“ Er knixte mit rückwärts langausgestrecktem Bein, und als lauter Applaus erscholl, zog er schamhaft eine Stirnlocke vors Gesicht.

Er war Leiter eines dramatischen Klubs auf Norrebro und hatte von seinem kürzlich verstorbenen Bruder ein Geldleihgeschäft übernommen, wo Künstler der kleinen Theater ihn um Rat und Tat angingen gegen Verrechnung auf ihre Gage. Immer hatte er die Tasche voll von Billets, umsonst für die Damen und billig für die Herren; dieser Gefälligkeit wegen war er überall willkommen.

Jetzt stand Flora auf. „Ich will euch nun vortanzen“, rief sie, die Hände zusammenschlagend, und lief in ihre Kammer.

Onkel Abelmann trieb das Publikum zurück. „Platz gemacht, meine Herrschaften!“

Man sass auf Fussboden, Stühlen und Fensterbrettern. Blunck hatte man den kleinen Sigmund Margolinsky auf den Schoss gedrückt. Auf dem Westminsterteppich vor Floras Kammertür mit einen grossen runden Petroleumfleck sollte sie tanzen! Frau Paustian öffnete das Piano, schlug ein paar Töne an und spielte dann mit stetem Pedal „Der sterbende Schwan“.

Onkel Abelmann verbeugte sich vor dem Proszenium. „Le Cygne! verkündete er; Musik von Saint-Saëns, dansée von Mademoiselle Fleure Fagerlin. Der sterbende Schwan“, übersetzte er, an die Kinder gewendet.

Er bewegte den Arm breit gegen die Flügeltür, aber der Schieber des einen Flügels steckte fest, es mussten zwei handfeste Männer heran, und unterdessen stand Flora hinter der Tür, auf ihren kleinen Ballettschuhen trippelnd. „Das arme Kind! Ihr Entree ist verdorben!“ jammerte Frau Paustian.

Jetzt trat Flora vor und verneigte sich. Ihr Haar war in einer Krone hoch aufgesteckt, so dass die Nakkenlinie über dem fast ganz nackten Rücken gehoben erschien. Sie stand auf den Zehenspitzen mit ausgestreckten Armen, im kurzen Röckchen mit der von einem Schwanendaunbesatz bloss halb bedeckten Brust; der steife Tüll verbarg nur bis zu den Knien die langen schlanken Beine, die in blassroten Strümpfen steckten, mit kleinen Stopfflecken über den Knöcheln. So stand sie, ganz leise bebend, und begann ihren Tanz.