Der Engel mit den Eselsohren - Otto Rung - E-Book

Der Engel mit den Eselsohren E-Book

Otto Rung

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Beschreibung

Düster und verlassen steht das Kinderasyl am Rande der Stadt. Nie hört man von dort Stimmen oder Kinderlachen, nur das Bellen der Hunde dringt ab und zu durch die hohen Hecken des Anwesens. Egil, ein kleiner Säugling, ist der einzige Überlebende aus dem verwahrlosten Heim. Schwester Sylvia, die Leiterin des Heims, wird wegen Verwahrlosung angeklagt. Angeblich konnte nichts gegen die Epidemie tun, die im Asyl ausgebrochen war und ein Kind nach dem anderen getötet hat. Kammerjunker Sanders nimmt das Kind bei sich auf und gibt es in die Obhut seiner Schwester.-

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Otto Rung

Der Engel mit den Eselsohren

Roman

BerechtigteÜbersetzung aus dem DänischenvonErwin Magnus

Saga

Ebook-Kolophon

Otto Rung: Der Engel mit den Eselsohren -. Aus dem Dänischen von Erwin Magnus © 1925 Otto Rung. Originaltitel: Engelen med æselørerne. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.

ISBN: 9788711468692

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

Ein Kindessinn wird — es quillt im Dunkel, zwei Hände, Keimblättern gleich, öffnen sich zornig, und das Kind befiehlt: Es werde Licht!

Das Kind, das Wachtmeister Gulager von der fünften Untersuchungskammer in die Schreibstube getragen hatte, sei der einzige Zeuge, erzählte er, in der Sache gegen Johanne Sylfrida Frost, genannt Schwester Sylvia, angeklagt wegen Verwahrlosung von Pflegekindern sowie möglicherweise Mord.

Gulager präsentierte das Kind, das er mit väterlicher Erfahrung auf den Armen wiegte.

„Bitte anzusehen, meine Herren! Berühren erlaubt!“

Unablässig wogte der Verkehr ein und aus durch die finsteren Bureaus des alten Gerichtsgebäudes, dessen einzige Beleuchtung an Wintertagen in jenen Zeiten, fünf Jahre vor dem Jahrhundertwechsel, blakende Gasflammen waren.

In dem alten Ofen prasselten Holzknorren, und der Heizer und erste Gerichtsbote, der betagte Holsteiner Lornsen, kam mit einem Arm voller Buchenscheite und oben auf dem Stapel den Haufen neuer Haftbefehle angeschlürft. Die Schreiber schnauften erkältet und riefen nach mehr Wärme. Aber Lornsen hatte vieles andere zu schaffen, viele, viele Öfen zu versorgen.

Wenn die jungen Polizisten elastisch und wohlgemut durch die Schreibstube eilten mit einem höflichen „Mahlzeit“ für Leutnant Dyrlund oder den „Schwarzen Ludvigsen“, die hinter Zeitungen ihr mitgebrachtes Butterbrot knabberten, blickten die Schreiber verdriesslich auf und liessen sich lässig herab, nach Neuigkeiten aus den Kammern zu fragen; sie waren welterfahren und blasiert; höchstens die Beförderung eines Referendars oder Richters interessierte sie, Gerichtssachen hatten sie mehr als genug — längst!

Wachtmeister Gulager war jedoch der Mann, sie aufhorchen zu machen: er war der Geheimpolizist, der die erste Vertrauensstellung im Korps einnahm und bei der nächsten Gelegenheit zum Unterchef ausersehen war; seine gute Laune und sein gewichtiger Körper verschafften ihm Respekt.

Jetzt stand er, vor Klugheit und Zuversicht mit den Äuglein blinzelnd, da und präsentierte dem Bureau das Kind. Er hob es behutsam auf das mächtige, von vier Schreibern besetzte Pult:

„Hier sehen die Herren also das einzige gerettete Pflegekind aus Schwester Sylvias Asyl!“

Die anderen Kinder, erzählte er, lägen in alten Pappschachteln unter dem Rasen.

„Heute abend müssen wir mit Spaten hin und den ganzen Garten umgraben!“

Das Kind trug eine gestrickte Matrosenmütze mit Quaste und einen von der Frau Wachtmeister geliehenen rosa Umhang mit Spitzenkante. Denn man hatte das Kleine nackt zwischen Lumpen in einer eisernen Bettstelle mit drei neugeborenen Hunden zusammen gefunden.

„Es waren im ganzen vierzehn Hunde“, sagte Gula ger feierlich. „Ausgewachsene und Junge eingerechnet. Sie sind in dem Pensionat auf Vesterbro in Verwahrung gegeben und eingestallt — wenn einer der Herren einen Pflegehund haben möchte!

Das Kind nimmt vorläufig meine Frau“, fuhr er fort. „Seine fernere Zukunft ist noch in Dunkel gehüllt. Aber ist es nicht ein niedliches Kind?“

Alle besahen das Kind von vorn und von hinten, die meisten der Schreiber waren Väter und verstanden sich auf Kinder. Ludvigsen strich sich seinen schwarzen Seidenbart, er kannte das Leben und die Frauen, er war gerade dabei, in seiner freien Zeit die Geschichte der Freimaurerei zu schreiben, zwölf Bände im ganzen, und auch Kinder waren ihm nicht fremd.

Lediglich Schreiber Lausgaard, der einarmig, aber Vater von sechs Kindern war, hielt sich fern. Für ihn waren Kinder nur Schicksal, dem sich entgegenzustemmen keinen Zweck hatte.

Schreiber Dyrlund, der feste Wortführer des Bureaus, breitete fürsorglich einen grossen Bogen Löschpapier auf dem Pulte aus und setzte das Kind auf den Bogen.

„Es ist besser“, sagte er, „für das Inventar des Bureaus!“ Er reckte seine schlanke Leutnantsfigur. „Sonst ist es ein prächtiges Kind. Mädchen, nicht wahr?“

Gulager schüttelte mild den Kopf. Nein, das Kind sei nur in Mädchenkleidern, weil das Kleinste von seiner Frau vor fünf Jahren ein Mädchen gewesen wäre. Der Bengel sei schon ein ganz richtiger Junge, wenn auch der Taufschein fehle und das Alter nicht angegeben seh.

„Schwester Sylvia hat alle Papiere verbrannt,“ sagte er, „ehe die Polizei kam, und das Kind wiegt zu wenig, weil es die ganze Zeit nur von vegetarischer Kost und Lungenmus gelebt hat!“

Jetzt zeigten sich auch ein paar von den juristischen Kandidaten drinnen im Assistentenbureau: Referendar Nöhrmann, der streitsüchtig und satirisch fragte, ob Kinderschau sei, und der Volontär, der junge Graf Lerche, der Herrn Lausgaard teilnehmend gratulierte.

Zweimal hatte der Abteilungschef, Kammerjunker Sanders, seine zaghafte, blutlose Nasenspitze in der Türspalte seines kleinen Bureaus gezeigt, ängstlich wie immer, wenn er das Murmeln der Schreiber hörte, deren Intrigen seine ewige Furcht waren.

Jetzt blieb er verlegen stehen, als er das kleine, fremde Kind mitten auf dem Schreiberpult sah. Es sass dort auf seinem Löschpapier mit einer Miene wie ein kleiner Bischof, schweigsam und majestätisch in seinem roten Ornat. Ihm schien, dass ihn die beiden blauen, ernsten Kinderaugen anhaltend kritisch und doch nicht ohne Sympathie betrachteten. Erschrocken zog er die Nase zurück und schloss lautlos die Tür.

Im Bureau erhob sich Leutnant Dyrlund und strich sich mit Selbstgefühl die Lenden hinab.

„Ich schlage vor,“ sagte er, „dass wir für die kleine Waise eine Sammlung ins Werk setzen!“ Er riss einen halben Bogen vom Papier des Bureaus ab. „Beiträge werden von Unterzeichnetem entgegengenommen.“

Er klopfte das Kind väterlich auf die Kapuze. „Das Adoptivkind des Bureaus!“ sagte er. „Zahlungsfähige Zeichner haben Frist bis zum Ersten.“

Er liess die Liste herumgehen. „Selbstverständlich muss der ‚Junker‘ zeichnen“, sagte er. „Er hat ja Geld, wenn er auch filzig ist.“

Er löschte die Liste auf einem Zipfel des Bogens ab, der unter dem Kinde hervorragte, rückte sich den Kneifer zurecht und klopfte an die Tür des Kammerjunkers. Gleichzeitig mit dem Klopfen riss er die Tür mit einem Ruck auf. Das taten die Schreiber stets in der Hoffnung, ihren Chef in irgendeiner heiklen Situation zu überraschen. Dyrlund stellte sich dicht an die Stuhllehne des Bureauchefs und hielt ihm die Liste vor die Augen.

„Was ist das, Dyrlund?“

Dyrlund erklärte: Die Liste weise eine Summe von insgesamt zwanzig Kronen zur Sicherung des vaterlosen Kindes auf. Jetzt sehe man einem Beitrag des Herrn Chefs entgegen.

Sanders tastete nervös nach einer Blechschachtel in der Schublade. Dort verwahrte er einen kleinen, zu Unterstützungen bestimmten Bureaufonds. Dyrlunds indignierte Augen liessen ihn innehalten. Dieser Fonds war — daran hielten die Schreiber fest — nur zum Gebrauch für das Personal bestimmt.

Dyrlunds Blick wanderte kalt und mahnend nach dem Kleiderhaken rechts von der Tür. Sanders duckte sich demütig: An dem Haken hatte er eines Morgens vor jetzt fünf Jahren den alten Buchhalter des Bureaus — den er mit Kummer wegen groben Betrugs verabschiedet hatte — erhängt gefunden, die blauschwarze Zunge zum Munde herausgestreckt und ein Plakat an den Gehrock geheftet mit der Aufschrift: „Henker!“

Seither pflegten die Schreiber, wenn der Chef nicht gefügig war, anhaltend nach dem Haken zu starren, der bis auf weiteres unbesetzt geblieben war. Und Sanders hängte nicht einmal mehr seinen Hut an den Haken, sondern musste sein Überzeug aufs Sofa legen, was äusserst unbequem war, wenn Rechtsanwälte zu Besuch kamen. —

Als Sanders um zwei Uhr gehen wollte, regnete es in Strömen. Er hatte seinen Schirm vergessen und fürchtete den eisigen Blick seiner Schwester, wenn er durchweicht zu Hause ankäme. Nun befand sich zwar im Assistentenbureau ein herrenloser Schirm, der allgemein vom Personal gebraucht wurde. Aber die Assistenten duldeten nicht, dass die Vorgesetzten ihn nahmen — die waren wohlhabend genug, um ihre eigenen besitzen zu können! —, und zurzeit war er dem jüngsten Assistenten, Mortensen, vorbehalten, der jung verheiratet war und seinen Überzieher deshalb schonen musste.

Zu allem Glück war das Assistentenbureau — ganz gegen die Instruktion — leer, und Sanders schlich sich an den grossen Wandschrank am Fenster, wo Korpus delikti von Strafsachen verwahrt wurden. Er wühlte nervös in dem staubigen Haufen zwischen Messerstecherdolchen, Beilen — noch mit Blutspuren —, Schlüsseln und bekam den Schirmgriff zu fassen. Er wurde vom Personal der „Mörderschirm“ genannt, weil ein Zigarrenhändler en gros ihn in einer finsteren Nacht in berauschtem Zustand seinem besten Freunde ins Auge gejagt hatte.

Sanders hielt den Schirm auf dem Rücken, als er die Schreibstube passierte. Sie hätten es leicht Herrn Mortensen wiedersagen können. Das Kind sass noch auf seinem Pultplatz, die Reinmachefrau des Bureaus war gerade dabei, den Kleinen aus einer Sahnekanne zu füttern, die auf einem rotlackierten Teebrett stand — dem, worauf Sanders immer selbst der Tee serviert wurde. Auch für Arrestanten, die ein Geständnis abgelegt hatten und daher Kaffee und Kuchen verdienten, wurde es gebraucht; nur die Referendare hatten ihre eigenen. In das Teebrett war mit einem Nagel geritzt: „Gruss vom Nachtkuckuck an den Granatenkönig. Warte zwei Jahre auf den Zwang!“ — Sanders seufzte; ihm schien, dass es ihn und das kleine Kind einander näherbrachte: Sie assen vom selben Teebrett!

Er ging in seinen Gummischuhen so lautlos wie möglich durch den Botenraum, um die Boten nicht zu stören, die wie steinerne Götzen vor einer Pagode unbeweglich auf ihren Rohrstühlen sassen. Er kannte ihr kritisches Starren, besonders an Tagen, wenn von höherer Stelle aus dem Bureau eine Nase wegen Saumseligkeit in einer Sache erteilt war.

Er eilte durch die langen Korridore des Gerichtsgebäudes. Über den fliesenbelegten Boden floss Strassenschmutz und ausgespiener Kautabaksaft. Die Filztüren der Strafkammer glitten wollig auf und zu, aus den Zellenschränken ertönte das schnelle Klopfen von den Knöcheln der Gefangenen an die Holzwand, ein Geräusch wie von pickenden Würmern. Arrestanten, je zwei im selben Handeisen, kamen in klappernden Holzschuhen durch den fliesenbelegten Gang, durch Zungenschnalzen vorwärts getrieben von dem kleinen o-beinigen Zellenwärter Carlsen.

Sanders kämpfte sich heim durch Regen und Windstösse.

Das Bild des kleinen fremden Kindes stand beständig vor seinen Gedanken. Das quälte ihn. Er vermied es am liebsten, Eindrücke aus dem finsteren Gerichtshause mit heimzunehmen. Bei jedem Schritt heimwärts war es, als schälte er sich eine Lage Schmutz vom Rücken ab. Das Kind aus der fünften Kammer wurde er jedoch nicht los. Es war aber auch ein hübsches und nicht ganz gewöhnliches kleines Kind. Seine Schwester, die Kinder ja so sehr liebte, hätte es sehen sollen! —

Die Tür zur fünften Kammer hatte gerade offen gestanden, als er vorbeikam. Er hielt den Atem an bei dem säuerlichen, faden Geruch der Diebesbeute, die wie in einem Trödlerladen mitten auf dem Fussboden des Vorzimmers aufgestapelt war: rostige Fahrräder, Kinderwagen, alte Betten und eine Lawine von Herrenstiefeln, die über ein altes Grammophon ausgeschüttet waren.

Und auf der Arrestantenbank an der Wand sass eine Frau, die, das war ihm klar, Schwester Sylvia sein musste. Sie war klein, fein und zart, aber die gürtellose Schirtingtracht verlieh ihrem Körper Umfang und Fülle. Das Haar lag glatt um die schmalen, weissen Wangen, die Hände ruhten schlaff auf ihren Knien, der Blick war bewusstlos, die Lippen leicht getrennt. Sie glich einer kreissenden Madonna.

Das Verhör Schwester Sylvias hatte nur geringe Ergebnisse. Als Kammerjunker Sanders und seine Schwester sich entschlossen, den Knaben zu sich zu nehmen, gingen sie die Akten durch, um alle Aufschlüsse, namentlich über seine Herkunft, zu sammeln. Aber das einzige, was der Untersuchungsrichter aus der Arrestantin herausbekommen hatte, war, dass er Ejgil hiess. Ihre Antworten waren ohne Zusammenhang, allmählich versank sie in Stumpfsinn und wurde schliesslich als verrückt in öffentliche Fürsorge gebracht.

Über diese Tatsachen hinaus lagen nur Vermutungen vor.

Das Asyl lag auf einer unbebauten Gemeindewiese am äussersten Ende von Nörrebro. Stapelplätze für Bauholz und Blechabfälle umgaben auf allen Seiten die baufällige Holzvilla, die der Rest eines alten Landgutes und im Jahre 1830 von dem Besitzer, Generalmajor von Gadebusch, als Heim für Waisen und verwahrloste kleine Kinder geschenkt war.

Die Bewohner der neuen Häuser, die in den letzten Jahren auf dem Grunde der Gemeindewiese entstanden waren, hatten längst die finstere Villa scheel angesehen, deren Schornsteine sich undeutlich über einem wild gewachsenen Garten abhoben. Sie wussten, dass es ein Asyl war, aber nie sah oder hörte man spielende Kinder. Totenstille herrschte stets über der Stätte, nur hin und wieder ertönte das jaulende Gekläff der grossen Hofhunde, die offenbar auf dem Holzplatze eingesperrt waren. Des Nachts hörte man ihr Heulen rings über das öde Terrain.

Aber die Vorsteherin hatte man beobachtet, wenn sie ganz früh am Morgen ausging, mit dichtem Schleier vor dem Gesicht und in langem schwarzen Mantel. In der Hand trug sie stets eine grosse Tasche aus Wachstuch. Es wurde später bekannt, dass sie die Schlachter in den fernsten Stadtteilen, ja selbst die Buden des Viehmarktes besucht und immer Abfallfleisch, Eingeweide oder grosse Knochen gekauft hatte.

Auch der patrouillierende Schutzmann hatte die auffallende Stille im Garten des Asyls bemerkt, der durch einen Lagerplatz vom Wege abgeschnitten war. Nur ein Steig führte zwischen zwei Zäunen zu einer geschlossenen Plankenpforte. Aber die Polizei hatte kein Aufsichtsrecht, da das Asyl unter der privaten Pflegschaft von dem Enkel des Gründers, Jagdjunker von Gadebusch, einem reizbaren Sonderling, stand, der in äusserster Zurückgezogenheit lebte. Erst nach seinem plötzlichen Tode fand die Polizei Anlass zu einer Besichtigung.

Zeugen erhellten im Verhör eine Reihe von Punkten aus Schwester Sylvias Vergangenheit, als sie zuerst Lehrling, später Pflegerin im grossen staatlichen Krankenhaus war. Man erinnerte sich ihrer: blond, sicher und lächelnd in der gebleichten Leinentracht, wie ein Hauch von Sonne und Salz, der durch den Karboldunst der Abteilung fuhr. Ihr Arm, der den Kopf der Patienten stützte, war frisch wie ein Büschel Klee. Sie war den jungen Assistenten ein kecker, munterer Kamerad, und wenn der gefürchtete Chefarzt, der berühmte Chirurg Professor Israel, operierte, war Schwester Sylvia die Aufgabe anvertraut, ihm die beiden Zipfel seines langen Bartes mit einer Pinzette im Nacken zusammenzuheften — mit Rücksicht auf sein Dejeuner, wie er sagte.

Sie erhielt die Stellung als Leiterin des Asyls, weil sie von allen wegen ihres reichen, aufopfernden Gemüts gelobt wurde.

Das Asyl war vernachlässigt. Die Pflegemutter war eine korpulente ältere Frau in grossgeblümtem Kattun gewesen; sie sass unter einem Apfelbaum und strickte Kinderjäckchen, liebenswürdig und schläfrig, zahnlos schmatzend nach dem Genuss des Gläschens Johannisbeerschnaps, das sie allstündlich genoss.

Aber für Schwester Sylvia war das Asyl der Garten des Paradieses selbst, als sie jetzt im Spätsommer zum erstenmal über die grünen Rasenplätze sah, wo die wilden Blumen munter hervorguckten und die Säuglinge des Asyls, aus ihren Korbwiegen genommen, auf wollenen Decken in der Sonne lagen. Ach, viele von ihnen waren mager und blass, mit Insektenstichen am ganzen Körper, aber sie zappelten froh und lachend, wenn sie sie in ihren Armen einlullte. Sonnenblumen nickten von den schwarzerdigen Beeten, die reifen, ungeernteten Äpfel beugten die Äste der Bäume herab. Und die grösseren Kinder krabbelten im Kies und betrachteten die neue Pflegemutter mit grossen, ruhigen Augen.

Verwundert, tief dankbar für Sonne und Sterne, fühlte sie den Garten zwischen ihren Händen spriessen. Das war nicht wie früher das Krankenhaus, wo träge Rekonvaleszenz der einzige Trost des Tages war; hier wuchs das Leben vom Keimblatt zur Blume aus der frischen Erde. Wie eine Welle ging das Jahr: Erst Schneeglöckchen und Krokus, dann das üppige Blühen des Sommers. Und im Winter, wenn der Garten unter Schnee schlief, träumten auch die Kinder in dem grossen, warmen Saal, während der Ofen prasselte und alle Schatten sich wie fächelnde Schwingen leise an der Decke wiegten.

Nur in den finsteren Novembernächten spürte sie Unruhe. Dann ertönte das Bellen der Hunde vom Holzplatz lärmend und jammernd draussen in der Nacht, wo der eisige Wind dahinfuhr, wo der Regen dröhnend auf Dachpappe und Bretter schlug. Sie kauerte sich in Grauen zusammen und wusste, dass vor ihrem Garten die Welt böse, roh und hart lag, und dass schlaflose Seelen nass und zaghaft in der rabenschwarzen Nacht umherschlichen.

Ihr schien, sie könnte sie zu sich hereinholen, alle diese friedlosen Geschöpfe, ihnen allen ihre Welt mit Wärme und Sonnenschein öffnen, ihre Arme waren leer, waren arm, wenn sie nicht alle mitkamen. Am Morgen ging sie hinaus und lockte und rief, bis die Hunde an der Öffnung erschienen, die sie durch den Zaun gebrochen hatte. Sie frassen ihr aus der Hand. Eines Tages kroch ein Hund durch den Zaun. Er war krank und verhungert, und sie liess ihn dableiben. Er lag auf dem Rasen bei den Kindern, und die Kleinen zausten ihm den Pelz. Es war ein lichtscheuer Hund, der nur die Nacht kannte, aber sie überwand seine Furcht vor der Sonne. Nie hatte sie sich selbst so gegeben wie jetzt. Sie kannte jede Blüte und jede Knospe, jeden Vogel, der im wilden Wein des Giebels baute, jedes Nest mit zwitschernden Jungen. Sie streute Krumen vom Zwieback der kleinen Kinder über den Kies, und die Vögel kamen so nahe, dass sie Bröckchen nahmen, die ihr auf die Schuhe fielen.

Ein sechzehnjähriges Mädchen war ihre einzige Hilfe; es half, wann es Lust hatte, bald mit albernem Eifer, bald sauertöpfisch. Es war neidisch auf Kinder und Tiere und hatte eine Liebschaft mit einem anrüchigen Kerl im Viertel, der abends hinter dem Zaun pfiff. Und Thekla schlich sich hinaus hinter die Stapel des Holzplatzes, wo sie blieb, bis es hell wurde. Schwester Sylvia war zu sanft, um zu schelten. Sie nahm den Kampf allein auf, machte die Wiegen der Kinder zurecht, gab ihnen Milch aus ihren Flaschen und den Tieren ihr Futter. Sie hatte andere Hunde zu sich genommen, die durch das Loch im Zaun schlüpften und in ihrem Garten blieben, halbwilde und halbverkommene Hunde des Holzplatzes.

Jeden Termin musste sie dem Schutzherrn des Asyls Rechenschaft ablegen. Forstjunker Gadebusch empfing sie in seinem japanischen Boudoir, in einen lila Kimono gekleidet, auf einer rohrgeflochtenen Massagebank ruhend, von einem frisierten Pikkolo bedient. Er machte nur eine Handbewegung: Die Abrechnung, linke Kommodenschublade oben. Aber mit jedem Termin wurde der Zuschuss, den er dem Asyl bewilligte, knapper. „Teure Zeiten,“ sagte er, „Zinsverlust. Setzen Sie die Ausgaben herab.“

Als zwei Kinder von den zehn, die die feste Zahl des Asyls ausmachten, in ein Stift für Grössere gebracht wurden, erklärte er, dass die Plätze vorläufig nicht besetzt würden: es müsse gespart werden.

Von den Frauen, die ihre Kinder im Asyl besuchten, wusste Schwester Sylvia nur sehr wenig. An zwei von ihnen konnte sie sich später erinnern. Die eine war ein grosses, dunkles, ganz junges Mädchen. Sicher Ausländerin. Sie kam und nahm eines der Kinder auf den Arm, wiegte es still und weinte ein bisschen, ehe sie ging. Nur dreimal kam sie, dann war sie vermutlich abgereist. Die andere war kaum mehr als ein Kind, mit blonden Locken, immer atemlos, wenn sie kam; sie brachte Spielzeug für alle Kinder des Asyls mit, kleine, billige Holzdinge, und einmal eine sehr teure Puppe in einem Pariser Kleid, mit der sie selbst spielte, während sie unter dem Apfelbaum sass und ihr Kind auf dem Kissen zu ihren Füssen schlief. Sie war sicher vom Theater. Aber wer sie war — oder die andere — und welches ihre Kinder, ob sie später unter denen waren, die starben, als der Scharlach kam, das hatte Schwester Sylvia vergessen. Stumm, versteinert stand sie vor dem Richter. Wusste es nicht. Es war vergessen — war vorbei. —

Der Garten begann zuzuwachsen. Sie kämpfte gegen das Unkraut, sie jätete und beschnitt, aber die Zweige wuchsen störrisch über die Gänge, Unkraut wurde hereingeweht und säte sich selbst zwischen den Rosen. Für fremde Hilfe waren keine Mittel da, selbst nicht, als sie auf eigene Verantwortung noch einen ledigen Platz im Asyl unbesetzt liess. Es hiess Milch und Kleidung für die Kinder, Futter für die Tiere zu beschaffen. Sie mühte sich ab vom frühen Morgen, wachte die Nächte hindurch, war geschäftig und pflegte, kämpfte mit dem wilden Wachstum des Gartens. Thekla war keine Hilfe, und eines Tages verschwand sie mit allem Kinderzeug und allem Geld, das sie in der Eile zusammenraffen konnte. Schwester Sylvia wusste, dass Thekla selbst ein Kind gebären sollte, und so schwieg sie. Kurz darauf war der Scharlach ausgebrochen. Thekla hatte ihn aus ihrem Heim irgendwo draussen in einer unflätigen Kaserne mitgebracht.

Wie eine Wildnis lag der Garten jetzt da. Würfe junger Hunde wuchsen auf, die wilden Hunde brachen durch den Zaun in den Garten ein. Huflattich und Winde schlängelten sich über Gänge und Beete, Dornbüsche krochen über die Rasenplätze des Gartens. — Und Schwester Sylvia verstand plötzlich, dass nicht der Erstickungstod kam, sondern neues Leben, das vorwärts drängte, wandernder Samen, lebende Keime, die Platz forderten, wachsen, blühen und befruchtet werden wollten; sie sah, dass Wildgras und Wegerich ebensoviel Anrecht auf Boden und Licht hatten wie Rosen, es war Leben, das leben wollte, Keime, die atmen, Seelen, die geliebt und der unendlichen Güte der Natur teilhaftig werden wollten. Man durfte sie nicht hindern, sie waren wie die friedlosen Tiere, die in den regennassen Nächten jammerten. Die Wildnis hatte recht, sie konnte nicht aufgehalten werden, sie hatte dasselbe Recht auf Liebe wie die zahmen Blumen mit den prangenden Farben und ihrem Duft. Sie liess sie kommen. Es war Platz für sie alle, hier war ja das Asyl für all die Verdrängten, all die Verfolgten, hier im Garten der Unschuldigen.

Als aber die Epidemie kam und die Kinder krank wurden, pflegte sie sie selbst. Sie war ja in der Pflege erfahren, wagte nicht, Fremde in dieses Haus zu rufen, wo die halbwilden Hunde neben den Wiegen der Kinder schlummerten, wo der Garten Wildnis und Morast war. Die Kinder starben in ihren Armen, eines nach dem anderen hielt sie, bis sie starr und kalt waren. Sie trauerte nicht. Sie wusste, dass Kinder Seelen waren, die aus einer unbekannten, wunderbaren Welt kamen und eine Weile in ihrem Garten blieben. Jetzt zogen sie zurück, wie Zugvögel, von der Sehnsucht getrieben, nach Süden und Sonne entfliegen. Einen flüchtigen Sommer waren sie hier ihre Gäste, fuhren dann fort, keiner wusste mehr etwas von ihnen, keiner fragte nach diesen abgeschiedenen Kindern; über ihre Gräber dort auf dem Rasen breitete sich das Dornengebüsch. Sie waren vergessen hier auf Erden, Gott hatte sie zu sich genommen. —

Sie sass hier noch mit einem Kind in ihren Armen, dem letzten, einem Knaben. Er schlief an ihrer Brust, während sie stundenlang still dasass und über ihren Garten blickte. Selbst wenn seine Augen geöffnet waren, glich er einem schlummernden Kinde. Jetzt träumte auch er von den Gefilden, wo die anderen hinfuhren. Sie fühlte ihre Seele verebben und verbluten, bald war alles hingegeben, und das Leben war ohne Grund wie zuvor, Leid und Schrecken draussen ungelöst wie zuvor.

So sass sie da und wartete. Heulend und wild jagten die Köter im Garten umher, der Boden war löcherig, Grube an Grube, wie eine Stätte, wo Schakale hausen. Spülwasser war durchgesickert und bildete, schleimig und grün, stinkende Pfützen. Die Bretter des Hauses waren morsch von Schwamm und Feuchtigkeit, Ratten krochen dreist unter Lumpen und Kot in den leeren Stuben hervor, obwohl die Hunde sie jagten; langsam wie Schnee rieselte Gips vom Stroh der Decken herab. Im Kamin lag schwarzes, verkohltes Papier aufgehäuft, alles, was von Namen und Herkunft derer zeugte, die nicht mehr hier auf Erden waren.

Hier wurde sie gefunden, als die Polizei einbrach, todmüde eingeschlafen, das lebende Kind ganz wach in ihrem Arm.

Veronika Sanders sass auf der Erhöhung an ihrem Fenster, das auf die Dossering hinausging. Das Kind spielte zu ihren Füssen. So sass sie stets in der Stunde, ehe ihr Bruder heimkam, untätig, wartend, bis ein neuer Abschnitt des Tages begann und man sich zu Tische setzte. Sie las nie Zeitungen, höchstens ein Feuilleton und die Todesfälle. Alle Neuigkeiten, die sie hörte, brachte der Bruder mit, und sie liess sie gern in Vergessenheit geraten.

Sie war erst in den Dreissigern; die weissblonden, schweren Flechten lagen turbanartig um die hohe Stirn. Sie war stattlich und gross, glich einer Skulptur aus Marmor mit eingelegten Augen aus dunkelblauer Emaille. Ihre Schönheit war von Männern stets monumental genannt worden; unter den Kavalieren ihres ersten Tanzjahres hiess sie die Venus von Milo — die einzige Antike, die diese flotten Offiziere aus ihrem elterlichen Kreise gekannt hatten.

Ejgil, der Knabe, besah Bilder auf dem Kissen zu ihren Füssen. Obwohl er jetzt fünf Jahre alt war, kleidete Veronika ihn immer noch in Blusen, die nicht verrieten, ob er ein Knabe oder ein Mädchen war; sein Haar hing in langen, blonden Locken über dem Spitzenkragen.

In den Jahren, die unmerkbar vergangen waren, seit ihr Bruder und sie den Knaben zu sich genommen, hatte sie ebensowenig darüber nachgedacht, dass er grösser wurde, wie sie in früheren Zeiten erwartet hatte, dass ihren Puppen einfallen sollte zu wachsen.

Der Knabe hob den Kopf. Sie lächelte zerstreut:

„Nun, amüsierst du dich, Ejgil?“

Sie sprach oft französisch mit dem Kinde, sie fühlte, dass der französische Tonfall ihm gut stand, ihn noch mehr zu dem kleinen Fremdling machte, der, aus der Ferne verirrt, in ihr Heim gekommen war.

Ejgil wandte ein Blatt in dem Buche um, es war ein Bilderbuch: japanische Krieger waren im Kampf mit Drachen und Gnomen dargestellt. Er lächelte, um zu zeigen, dass er sich amüsierte. Aber er war enttäuscht. Bilder genügten seiner Phantasie nicht mehr. Wenn der Onkel oder die Tante Bücher lasen, so änderte sich ihr Gesicht, es ging wie eine Geschichte über ihre Züge. Aber Bilder standen still. Schloss er nur seine Augen, so konnte er sie leben sehen: die Pferde im Galopp, die Gnomen flüchtend, sich windend und sterbend. Aber sah er dann wieder auf das Bild im Buche, so war es ganz wie zuvor.

„Ich amüsiere mich gut“, sagte er, aber schliesslich fand er doch Mut genug, um zu fragen:

„Sind Bilder immer tot?“ Er schloss das Bilderbuch langsam.

Veronika sah beunruhigt auf Ejgil. Wie war das Wort „tot“ in die Phantasie des Kindes gekommen? Sie selbst hatte ihm nie etwas vom Sterben erzählt. Möglicherweise das Hausmädchen Eva! Der Tod war zudem etwas, von dem man sehr ungern sprach, am wenigsten zu Kindern, es verstiess gegen allen guten Ton, vom Tode und anderem Hässlichen und Traurigen zu sprechen, ebenso von Gott oder Dingen, die in Gesellschaft zu erwähnen sich nicht schickte. So war sie es von ihrem Heim gewohnt.

Sie entschloss sich jedoch, eine Art Antwort zu geben. Ihr fiel ein, was ihr Bruder einmal flüchtig aus seiner Zeitung erzählt hatte.

„Nein“, sagte sie. „Es gibt Bilder, die lebendig sind und sich bewegen. Das ist etwas, was man ganz vor kurzem erfunden hat. Ein Erfinder in Amerika namens Edison. Man guckt in einen kleinen Kasten und sieht einen Mann laufen oder springen.“

Der Knabe nickte, als wäre er zufrieden. Aber die Tante hatte auf etwas ganz anderes geantwortet, als er gefragt hatte. Das war das Merkwürdige: er selber konnte überall in den Stuben umherlaufen oder spielen, wie er wollte. Aber hier auf den Bildern war man nur ganz kurze Zeit mit dabei, konnte einem Reiter über die Brücke nach seinem Schloss am Flusse folgen; aber dann war auf einmal nichts mehr zu sehen, und der Reiter stand wie zuvor mitten im Sprunge still. — Doch jetzt gab er es auf, weiter zu fragen. Die Erwachsenen wussten also sehr schlecht Bescheid!

Er blickte auf und betrachtete die langen Reihen von Buchrücken in Onkels Bibliothek. Sicher konnten die Bücher, die die Erwachsenen lasen, viel mehr sagen, denn selbst der Onkel sass Abend für Abend da und las viele, viele Stunden, also Dinge, die die Erwachsenen noch nicht wussten, aber kennenlernen wollten!

Veronika blickte nach dem Kinde. Ejgils stets halb abgewandtes Lächeln machte sie unsicher und unruhig. Sie fand es seltsam verborgen. Es war natürlich, dass Kinder lachten, aber dieser Knabe lachte sehr selten. Er begnügte sich mit seinem fast unmerkbaren Lächeln.

Ihr Bruder kam gerade heim. Sie hörte, wie er den Schirm auf dem Vorplatz abstellte ... sie kannte den Schirm: Die losen Stangen rasselten — es war ein alter, unanständiger und undichter Schirm, den er sich im Bureau lieh — das wusste sie —, wenn er seinen eigenen vergessen hatte.

Jetzt trat er ein. Das Kind ging ihm vorsichtig entgegen, aber Veronika fand Ejgils Lächeln jetzt wärmer, als wenn sie selbst heimkam. Warum? Der Bruder küsste das Kind hastig mitten auf die Stirnhaare. Veronika ging ins Esszimmer und schellte mit einer kleinen Silberglocke, worauf das Hausmädchen, zierlich gekleidet, mit weissgestreifter Haube und die Schürzenbänder auf dem Rücken gekreuzt, das Essen hereintrug. Der ganze Stil war genau, wenn auch in kleinerem Format, wie im Elternhause der beiden Geschwister in der grossen Garnisonstadt, wo der Vater kommandierender General gewesen war.

„Ja,“ sagte Sanders und nippte mit Wohlbehagen an seinem Wasserglase, als wäre es der Rotwein, den die Schwester trotz ihres täglichen Protestes trinken musste, weil sie nichts vom Elternhause missen durfte, „ich hatte heute meinen Schirm vergessen. Und es regnete in Strömen.“

Er lächelte und nickte. „Aber natürlich kamen alle Referendare angesprungen und wollten mir die ihren aufdrängen. Um gut mit dem Chef zu stehen!“ Aber natürlich nahm er nichts von seinen Untergebenen an. Um der Disziplin willen! Und dies war ja der allgemeine Bureauschirm. Auf den besass er als Chef das Vorrecht!

Ein wenig scheu begegnete er den Augen seiner Schwester. Er hatte ihr erzählt, dass der Schirm einmal vor vielen Jahren während eines berühmten Prozesses von einer Exzellenz stehengelassen war. Die finstere Geschichte des Mörderschirmes sollte den Seelenfrieden der Schwester und ihr stets so sorgsam behütetes Heim nicht verunreinigen. Es war genug, dass Männer sich mit allen rohen und hässlichen Problemen des Lebens herumschlagen mussten, von seiner Gemeinheit und seinen Lastern besudelt wurden. Frauen hatten ein Anrecht darauf, sich Sinn und Hände rein zu erhalten, während die Männer eben ihre tägliche Ration von der Ekelhaftigkeit und dem Schmutz des Lebens mit in den Kauf nehmen mussten.

Das Kind spielte wie zuvor auf dem Fussboden. Es hatte eine Menge Streifen blanken, bunten Papiers zum Flechten; aber Ejgil flocht keine Lesezeichen. Er legte die Farben zusammen: grün neben gelb, lila neben rot.

Veronika blickte auf und sagte scharf zu dem Kinde:

„Siehst du nicht, Ejgil, wie die Farben sich beissen?“

Sie schüttelte bekümmert den Kopf: Der Knabe hatte keinen Farbensinn, wie sollte es ihm in der Welt ergehen!

Ejgil liess seine Streifen liegen, gerade jetzt hatte er ein Problem gelöst, über das er lange gegrübelt hatte: wie all diese Farben zusammengehörten, als ob sie verwandt miteinander wären. Man kam von Rot zu Blau über Lila und über Gelb zu Rot zurück. Es war, als wenn man Karussell fuhr!

Veronika hatte das Buch zur Hand genommen, das sie zurzeit las. Es wurde in einer mit Goldfäden gestickten seidenen Hülle verwahrt. Es hiess: „Tagebuch einer Gefallenen“ — die Sensation des Jahres.

Sanders kannte das Buch nicht, aber der Titel schreckte ihn ziemlich ab. Die Schwester durfte keinen Einblick in diese Welt erhalten, die er selbst täglich sah.

Beruhigt nahm er jedoch wahr, dass über Veronikas Gesicht nur Sonnenstrahlen glitten. Jetzt legte sie das Buch hin, wohl um milde über diese armen gefallenen Frauen zu urteilen. — Veronika liess denn auch jetzt in Gedanken diese ganze Reihe von Männern an sich vorüberziehen, von dem ersten, dem jungen Husarenoffizier und Grafen, bis zum Kellner des Tanzlokals, dem schwarzäugigen Italiener, der bald roh und brutal, bald tief melancholisch war. — Das Buch hatte sie tief bewegt. Nur eines erfuhr sie nicht: was die unglückliche, verlorene Ethelka Bauer im Buche gefühlt hatte, wenn all diese Männer —! Sie erhob sich, schellte dem Hausmädchen: „Wollen Sie Ejgil zur Ruhe bringen!“

Sie ging ins Esszimmer, um Silber zu zählen. Es stand auf dem Büfett, all das alte Familiensilber: Rechauds, Kannen, Zuckerschalen in Rokoko und Bowlen aus englischem Plated, und sie zählte die schweren silbernen Löffel und Gabeln, die, mit Seidenband zusammengebunden, in der Schublade lagen. Nichts fehlte, auch heute nicht. Sie liess die Finger über das kalte Metall gleiten. Es hatte für ihre Aussteuer sein sollen; die Töchter des Geschlechts hatten stets das Silber geerbt.

Im Büfettspiegel sah sie sich selbst. In dem schmalen Oval des Antlitzes standen die Augen dunkel in der Einfassung der helleren Lider. Sie versuchte zu lächeln, aber das Bild im Spiegel erschien ihr wie eine Fremde. Sie fühlte die Stube zellenhaft und schwer, abgesperrt durch die schweren Gardinen aus rostrotem Damast. Hinter diesen Gardinen hatte sie manches Mal halb verborgen über den kleinen Marktplatz der Garnison geblickt, wenn die Wache aufzog und der Wachkommandant, Leutnant von Lindholm, mit seinem Säbel zum Fenster hinaufgrüsste. —

Nie hatte sie Ejgil bewegen können, richtig mit Bleisoldaten zu spielen. Sicher wurde er auch kein Offizier, sowenig wie ihr Bruder, der doch durch seine Augenschwäche entschuldigt war, aber immerhin dank dem Einfluss der Mutter bei einer Hofdame Kammerjunker geworden war. Wie unendlich weit lag die Zeit zurück — diese zehn langen Jahre, seit sie zwanzig war, bis jetzt. Und wie konnte sie wissen, was aus Ejgil wurde. Welche Anlagen konnten nicht in einem solchen elternlosen Kinde schlummern, wenn auch seine Züge noch so sehr auf Rasse deuteten! —

Sie ging zum Bruder hinein, der in ein neues genealogisches Werk vertieft dasass. Er faltete Stammtafeln auseinander, rollte eine neue Welt auf. Es waren Aufklärungen über das alte Adelsgeschlecht der Daggert. Es war ihm ein Genuss, diesen Linien zu folgen, auf denen sich immer neue Schösslinge verzweigten und die einem unbekannten und bisher vergessenen, jetzt von den Toten erstandenen Ahnherrn entsprangen. Wie fruchtbar und üppig war das nach der Arbeit des Tages, der nur eine Reihe vernichteter Leben, verkrüppelter, erniedrigter Schicksale, Laster, Verbrechen und Schrecken, Blutschande, Raub, Mord und Unzucht war! Hier fand er nun einen bisher unbekannten Mann namens Bildt: Freibeuter während der Fehde des Grafen, schändete er der Sage nach seine eigene Schwester, liess seine dritte Frau einmauern, um sein Kebsweib zu heiraten, brannte und plünderte zwei Klöster, wurde später Reichsrat und Herr von acht Haupthöfen — ein Typ grossen Stils! Sanders erschien er schon jetzt wie ein guter, alter Freund! Wie traurig war es doch für Klein-Ejgil, dass er ganz ohne Stammbaum, ohne Familie, ja sogar ohne Eltern war!

Die Petroleumlampe leuchtete gedämpft hinter dem gelben Seidenschirm — wie glücklich war er doch, hier zu sitzen und nach der Traurigkeit und dem Grauen des Tages von all diesen Dingen zu lesen, während die Schwester dort in dem niedrigen Sessel träumte, hell, anmutig und fein, wie er sich immer ihr Schicksal gewünscht hatte, unberührt und doch reich durch das Kind, das er in ihre Arme gelegt hatte, damit ihr nichts auf der Welt fehlte!

Ejgil war im Bett. Die Tante hatte seinem Abendgebet beigewohnt, jetzt lag er ruhig und wartete, bis alles im Hause erloschen und still war. Er war nicht müde, er hielt sich ganz wach, indem er an feste, bestimmte Dinge dachte. Endlich war alles um ihn ruhig. Lautlos wickelte er sich aus der Decke und stand auf.

Er kannte das Dunkel und liebte es. Nie hatte er verstehen können, warum die Erwachsenen die Nacht mieden. Wenn es dunkel wurde, zündeten sie Licht an, wenn es Nacht wurde, hüllten sie sich in ihre Decken. Waren sie bange, wenn sie nichts sehen konnten? Sie sprachen leise und sagten weniger, wenn es dunkelte, sie konnten lauschen, als ob sie etwas herumschleichen hörten; die Tante konnte aufstehen und hinausgehen, um zu sehen, ob die Entreetür verschlossen war, und einmal hatte er sie mit einem brennenden Licht herumgehen und unter alle Betten des Hauses gucken sehen. Es war, als erinnerten sie sich, dass im Finstern alles Böse losgelassen ward, und dann wurde die ganze Welt ihnen wie ein grosser Wald voll wilder Tiere. Ja, sie fürchteten sich! Ejgil verstand nicht, warum. Er kannte das Dunkel ein und aus, es gab nichts darin, das schwer zu bewältigen war. Erst im Dunkel war man völlig allein, und alles entstand auf eine ganz neue und ganz andere Art als zuvor.

Er konnte den Drücker seiner Tür ohne das geringste Geräusch bewegen. Blossfüssig ging er auf den langen Korridor hinaus. Ohne die Hände auszustrecken, konnte er jede Ecke spüren, jede harte oder scharfe Kante, ohne etwas anzurühren. Er konnte die Wärme an der Wand fühlen: dahinter lagen Küche und Herd; er konnte mit den Fussspitzen tasten, wo die Schuhe vor Tantes Tür standen, und vermeiden, sie anzurühren und Lärm zu machen. Endlich fühlte er den Teppich des Wohnzimmers weich und warm unter seinem nackten Fuss.

Hier drinnen konnte er, wenn er wollte, alles tun, was am Tage verboten war. Er konnte einen Stuhl zum Kaminumbau rücken und die kleinen Porzellanfiguren eine nach der anderen in die Hände nehmen, mit den Fingerspitzen jeden Zug in den Gesichtern der kleinen Puppen, die Spitzen an den steifen Kleidern der Damen, die Degen und Gehenke der stolzen Offiziere fühlen. Er konnte sie miteinander reden, tanzen oder über die Marmorplatte promenieren lassen, wenn er wollte. Da war alles Silber auf dem Büfett, aber daran konnten seine Finger Spuren hinterlassen, die man am nächsten Tage sah, das konnte er sich nur durch das Dunkel denken; aber da war Tantes Schrein aus Ebenholz und Perlmutter, in dem Fächer, Glasperlen, kleine silberne Scheren und ein Messer mit vielen merkwürdigen Klingen lagen. Aber alles das war doch nichts gegen den Raum selbst: die Wände verschwanden, und es öffnete sich weit zur Welt draussen; alle möglichen Gestalten konnte er sich denken, die von draussen hereinkamen. Menschen und Tiere, Männer, die auf wilden Pferden angeritten kamen, mit einer Koppel Hunde auf den Fersen, alles ohne Laut. So war die Nacht!

Aber am allerschönsten war der Balkon. Den durfte er nie am Tage betreten. Selbst Onkel und Tante fürchteten sich, zu lange draussen zu stehen, sie sagten, dann würde man nur schwindlig und könnte hinunterfallen. Und Ejgil musste hinter der Glastür bleiben und sich damit begnügen, von dort über die Welt hinauszublicken.

Er lauschte an den beiden Türen, hinter denen man Onkel und Tante atmen hören konnte, während sie schliefen. Jetzt existierten sie nicht mehr, und er war ganz allein — endlich wieder! Leise drückte er die Klinke zur Balkontür nieder, langsam, dass nicht das geringste zu hören war. Jetzt stand sie offen. Das Wetter war so warm, der milde Wind atmete weich und dicht um seine Wangen, schmiegte sich lau um seine nackten Beine, fächelte das lange Haar an seinem Munde vorbei. Er holte sich ein Taburett, und jetzt konnte er hinaufklettern und, gegen die Hausmauer gelehnt, vier Stockwerke über der Erde, auf dem Geländer des Balkons sitzen. Tief, tief unten lag der schmale Fusssteig der Dossering im Licht der Gaslaterne wie die Türschwelle zu einer anderen Welt. Dort begann der Schwarzdammsee, dunkel und unermesslich breit, mit Laternenschimmer längs den Häusern auf der anderen Seite. Der Himmel dahinter war leuchtend grün, über seinem Haupte war er dunkel und mit schwachen Sternen besät. Vor und über ihm gab es keine Wände, es war weit offen, erst dort erstanden alle Dinge richtig, weil er sie wählen konnte, wie er wollte.

Ein schwaches Rauschen ertönte dort oben und kam immer näher. Er wusste, dass es Zugvögel waren, die jetzt wiederkehrten, da es bald Sommer wurde. Ein kleines Mädchen hatte gesagt, dass auch sie dieses Rauschen mitten in der Nacht gehört hätte. Sie hiess Aase, kam mit ihrer Mutter zu Besuch, und er sollte sie Kusine nennen; sie war klein, dick und dumm; wie alle Kinder glaubte sie alles, was den Erwachsenen zu sagen einfiel, sie sagte, es wären Engel, die sie fliegen hörte. „Es sind Engel!“ meinte sie und leckte mit der Zunge nach der Nase, die tropfte. —

Ejgil streckte seine Beine vom Balkongeländer aus, das war, als nähme er ein Bad im Winde. Jetzt konnte er schwer und stark das breite Brausen von den Flügeln vieler Vögel hören. Er wusste, dass es Wildgänse, Enten, ja vielleicht wilde Schwäne waren; er hatte gelernt, die seltenen Vögel zu unterscheiden, die zur Winterszeit zwischen all den flügelschlagenden weissen Möwen auf dem See waren: Russente und Steissfuss, Strandläufer und eine Eiderente, die im letzten Winter eines Tages verwirrt die segelnden Schwäne umplätschert hatte. Nun zogen sie vorbei, hoch droben über Häusern und Land, hinaus nach den grossen Meeren; sie kamen wie in Windstössen mit Schreien oder Schnattern; erst die grossen, schweren Vögel und nach ihnen die kleineren mit Zwitschern und Zirpen, immer weiter — ein Weilchen vielleicht war es hier still —, aber dann wieder dieser rauschende Gesang, das Brausen, das dahinzog, das Schnattern und Pfeifen, vorüber, vorüber. —

Er wusste, durch vieles, vieles musste er erst hindurch — erst sich frei machen, ehe er mitkam und hinausfahren konnte, wohin in der Welt er wollte, hoch über Land und Meer wie die reisenden Vögel.