Als die Wasser fielen - Otto Rung - E-Book

Als die Wasser fielen E-Book

Otto Rung

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Beschreibung

In seinem Roman erzählt der dänische Autor die Geschichte von Holger, der in einem spärlichen Zimmer wohnt und in ärmlichen Verhältnissen lebt. Als sich für Holger die Möglichkeit eröffnet als Schiffsmann auf einem Boot zu arbeiten, ist er sofort bereit sein Zuhause zu verlassen. Schon bald ist Holger mit dem Leben auf der See und dem Schiffswesen vertraut. Als sich jedoch kuriose Situationen auf dem Schiff zu häufen beginnen, versucht Holger herauszufinden, was sich hinter den tatsächlich Zuständen verbirgt... -

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Otto Rung

Als die Wasser fielen

Roman

ÜbersetztvonErwin Magnus

Saga

Ebook-Kolophon

Otto Rung: Als die Wasser fielen -. Aus dem Dänischen von Erwin Magnus © 1923 Otto Rung. Originaltitel: Da vandene sank. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.

ISBN: 9788711474822

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

Holger Gude besichtigte wieder die alte Bark, die seit langem hier auf ihrem Ankerplatz am Bollwerk in Nyhavn lag.

Es war in der Tat ein ungemein trübseliges Schiff. Gudes Schritt tönte dumpf auf den Planken, das Holzwerk war porös wie Bimsstein. Ein Fetzen Segel hing noch in einem sackförmigen Bündel um die Grossmastrahe. Die in den Schiffsraum führenden Treppen waren abgebrochen, wahrscheinlich von den losen Vögeln des Hafens als Brennholz entführt. An Hütte und Kajütenkappe sass noch die Kruste des weissen Anstrichs, auf der alle Nägel und Bolzen rostrote Ränder ausgeschwitzt hatten.

Zum Bewohnen, wie er es sich gedacht hatte, schien ihm dieser alte Kasten nicht sehr vielversprechend zu sein — selbst nicht für kürzere Zeit.

Aus einem Verschlage achtern, wohl der Kammer des Steuermanns, hatte er sich einen Wachstuchüberzug zum Sitzen geholt, aber sofort wimmelten Asseln über seine Hand.

Er blieb an der Backbordreling stehen. In der Takelung waren die meisten Leinen der Wante längst entzweigetreten, und er sah den Nyhavnkanal wie durch die zersprungenen Scheiben eines Treibhauses.

Bollwerk und Gebäude lagen unverändert da, ungefähr so, wie er sich des Quartiers aus seiner Kindheit erinnerte. Das Fahrzeug lag in Lee, allen Vorüberkommenden durch ein grosses, blassrotes Packhaus verborgen, das den äussersten Flügel des Nyhavnkanals gegen den Hafen bildete. Hier, auf dem engen Platze vor dem jahrhundertealten Gebäude, hatte er sich in seiner Kindheit herumgetrieben. Von hier aus lag am Hafenkai entlang eine Reihe grauer und gelber langrückiger Pack- und Lagerhäuser, die weitläufigen Zeilen der Kvästhusgade, und näher am Toldbodkanal der mächtige Flügel des Kieler Packhauses. Aber heute, wie diesen ganzen Winter hindurch, war der Hafen wie ausgestorben. Alle Luken in den gelben Giebeln waren dicht verschlossen, kein Kran regte sich, kein Lärm ertönte von ladenden oder löschenden Schiffen. Und doch sah man die Dampfer Seite an Seite, eine dreifache Reihe vom Packhause hier bis hinaus zur dunklen roten Mauer des Freilagers: eine Riesenallee von Masten, Regimenter von schwarzrot und blaurotweiss uniformierten Schornsteinen hielten hier und lagen jetzt bald das zweite Jahr auf.

Er erinnerte sich, dass hier in seiner Kindheit die grossen, haushohen Schiffe der Thingvallalinie mit gelben Sternen auf den Schornsteinen ihren Platz gehabt hatten.

Seine Schwester und er hatten dort zwischen Bauholzstapeln und Warenballen, die so hoch wie die Wälle der Festung waren, gespielt. Von dem alten Hause in der Nähe des Amalienborgplatzes, das ihr Heim gewesen war, kannten sie alle Winkel und Gassen, die durch die Schlossgärten, über Mauern und durch stockfinstere Läger hierher führten; sie schlichen sich an den Planken entlang hoch über aufgehäuften Mais, sie hatten geheime Gänge durch Berge von zusammengebundenem Kork gebohrt, hatten Hürden rollender Fässer mit Petroleum oder Rum genommen, sich durch ein Schlaraffenland von Apfelsinen oder Zuckerrohr gegessen, bis sie hierher gekommen waren, wo der Hafen im Schnee von Salpeter oder in einem Herbstwetter von fegendem Weizen lag, die von „Thingvalla“ und „Geyser“, jenen beiden Schwesterschiffen, gelöscht wurden, die später — jetzt war es schon lange her — Schiffbruch erleiden sollten.

Dort über dem Rücken der roten Packhausdächer erblickte er undeutlich Giebel und Mansarden des alten Quartiers, in dem er seine Knabenzeit verlebt hatte. Seit vielen Jahren stand es unverändert da, hier die sandsteingekrönten Mauern Amalienborgs, dort, wie ein irischgrüner Helm, die Kuppel der Marmorkirche. Dies alte östliche Viertel von Sankt Annä —.

Das Fahrzeug, auf dem er sich einzurichten gedachte, war verkommen, finster und schorfig in allen Winkeln, wahrscheinlich ein Rattennest. Alles Wrackgut, das man von Deck aus erreichen konnte, war gekappt und von den Dieben des Quartiers entführt worden. Alles Tauwerk hing ausgedörrt, zusammengeschrumpft, wie der Strick eines Gehenkten, herab. Es hatte kürzlich geregnet, schleimige Pfützen zeigten, wo das Deck am tiefsten ausgebeult war. Unten im schwarzen Kanal lagen halb unter Wasser die letzten Treibeisblöcke und hobelten träge gegen den Bug der Bark. Irgendwo aus der Hütte oder dem Raum klang ein ununterbrochenes Tropfen, als taute auch hier an Bord der Winter und ränne hinaus.

Einladend war es hier nicht, doch seit seiner, jetzt viele Jahre zurückliegenden Marinezeit war er mit Schiffen vertraut. Wenn hier Ordnung geschaffen wurde, war wohl ein Aufenthalt an Bord möglich, der mit seiner Vorliebe für Isolation und für Wohnungen aus Planken und Brettern übereinstimmte, an die er sich in den vielen Jahren im Norden, zuerst in Finnland, später in den arktischen Gegenden Nordrusslands, gewöhnt hatte.

Weit Schlimmerem als dieser mitgenommenen Bark war er in den letzten drei Jahren ausgesetzt gewesen. Er hatte gelernt, sich in jeder Art von Räumlichkeiten zurechtzufinden. Der russische Zusammenbruch, die Wartezeit, die Hungerzeit und endlich der Einmarsch der roten Garde in Archangelsk, wo er bis zum letzten Augenblick auf seinem Posten als fungierender Konsul ausgeharrt hatte, hatten ihn allen überflüssigen Komforts entwöhnt. Sein letztes Heim waren die von Ungeziefer wimmelnden Baracken der Werftmannschaft oder ausrangierte Eisenbahnwagen gewesen, die eben erst von Flecktyphuspatienten und steifgefrorenen Choleraleichen geleert waren.

Dann, nach seiner Heimkehr, war es ein Hotelzimmer gewesen, das monoton, unleidlich durch sein System von Rubriken, gerade Raum genug für einen Gast mit Durchschnittsgewohnheiten bot. Selbst auf seiner Flucht heimwärts, als er sich, lange nach Abmarsch der letzten Engländer, in einem Bauernschlitten versteckt, durch die Vedetten der Roten Garde schlich, hatte er sich nie so heimatlos gefühlt wie hier, wo er von der Etikette des Hotels und hundert aufmerksam dienenden Augen bewacht war. Die grossen, umfassenden Arbeiten, die ihm jetzt übertragen waren, liessen sich nicht wohl in einem Hotelzimmer ausführen, wo er dem Besuch eines jeden, dem er entgehen wollte, ausgesetzt war.

Sein Eigentum und die schweren Kisten mit Büchern und Papieren waren bereits an Bord gebracht. Er richtete sich einstweilen achtern in einem Raum ein, den er einigermassen frei von durchtropfendem Regen fand. Die Treppe war hier erhalten. Hier achtern war zugleich die geräumige Kajüte des Kapitäns. Die Hütte, die sich ungefähr in Mannshöhe über Deck erhob, besass noch den grössten Teil ihres kniehohen Geländers. Achteraus öffneten sich Schiebetüren nach diesem niedrigen, aber reichlich grossen Deckhause. Hier schien die Besteckskajüte gewesen zu sein, aber alles, was nicht niet- und nagelfest war, bis zur Hängelampe, fehlte.

Er fand die Räume vorn besser und beschloss, sich später dort einzurichten. Vorläufig war es hier unbewohnbar. Er stieg in die Mannschaftskajüte wie in eine qualmende Kloake hinab. An allen Wänden entlang liefen, mit einer Schmutzkruste bedeckt, die Kojen der Leute, drei Reihen Borde — Bett an Bett. Sie stanken nach muffigen Kleidern, an einem Nagel hing noch ein Fetzen Oelzeug. Mitten durch die Kajüte, von der Decke bis zum Boden, ging der Fockmast wie der feste Kratzpfosten in einem Grönländerhause, der immer sein Willkommen für den schorfigen Rücken der Gäste bereit hält; in Schulterhöhe war er hohl gescheuert und in Kniehöhe sass noch eine Vertiefung, die wohl Schiffsjunge und Schiffshund gemeinsam auf Hunderten von Reisen gehobelt hatten. Die Rahmen der festen Kojen sahen aus, als ob ein Krippenbeisser seinen Stall hier gehabt hätte, die Bänke waren von Namenszügen und Handzeichen zerschnitten. Das Kuhauge war eine einzige Masse von Spinneweb und Schmutz.

Vorläufig liess Gude sich also in der Kammer des Steuermanns nieder. Mit ein paar Decken in der Koje und einem angezündeten Petroleumofen fühlte er sich ganz behaglich, fast wie in alten Tagen an Bord des Kadettenschulschiffes. Hier spürte er den bekannten salzigen Duft von Holz, den er von den Blockhäusern Finnlands liebte. Es fehlte nur der Kamin mit dem schneeweissen lodernden Birkenholz.

Noch einige Male passierte er das Deck. Hier war es frisch, aber keineswegs kalt. Die ihm bevorstehende Arbeit bedrückte ihn. Sie würde kaum allen, vielleicht auch kaum ihm selber Freude bringen.

Doch als es dunkel wurde, gewann die Unheimlichkeit an Bord grössere Macht. Er beobachtete, wie die Finsternis von unten kam, zu seinen Füssen begann. Das Deck wurde grau, als saugte das poröse Holz Schlamm aus dem Meeresgrunde und würde dunkel. Das Wasser im Hafen leuchtete noch, denn es spiegelte den Schein der soeben untergegangenen Sonne am Himmel. Der Schlamm frass sich an den Seiten der alten Packhäuser empor, bis sie, von Schmutz gesättigt, schwarz bis zum Dachrücken dastanden.

Im Orient, wo er als Kadett gewesen war, kam die Nacht — wie eine Gabe oder ein Grauen — immer vom Himmel, wie ein Wurf von Allahs Mantel über die Erde. In den arktischen Gegenden am Weissen Meere währte die Nacht ein halbes Jahr, war absolut, ein Fimbulwinter ohnegleichen. Aber hier dunstete sie wie eine Pest aus der Erde empor. Es war, als versänke man langsam vom Knöchel bis zu Knie, Hüften und Brust in einem unersättlichen Sumpfe.

*

Auf dem Namensbrett der Bark stand, unbeholfen in Weiss auf den blauen Grund gemalt, ihr Name: Bess Ruthby. Das Fahrzeug, das als totes Schiff in Nyhavn lag, war Gude von einem Wohnungsvermittler aufgegeben worden, dem er seinen Plan, sich eine derartige Unterkunft in diesen Zeiten der Wohnungsnot zu suchen, mitgeteilt hatte.

Mit einiger Mühe bekam er die Adresse von Bess Ruthbys Reeder, oder vielmehr dem Direktor der „Schiffahrts-Aktien-Gesellschaft Bess Ruthby von Kopenhagen“ heraus.

Er hatte über „Bess Ruthby“ erfahren, dass ihr Kiel vor gut zwei Menschenaltern auf einer norwegischen Werft gelegt worden war. Ihre Lebensdauer als Seeschiff war längst verstrichen; doch hatte sie in den ersten drei Kriegsjahren noch Reisen, meist, wie es hiess, mit Kriegskonterbande nach baltischen Häfen gemacht. Aber der Tonnagebedarf des Weltkrieges liess in den Reedern Träume von abenteuerlichen Frachten erstehen. Die Bark „Bess Ruthby“ wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und in Gammelholmer Kaffees von Tisch zu Tisch zwischen kapitalstarken, auf der Heimreise von timecharter-Touren befindlichen Steuermännern und schwedischen Gummihändlern beim letzten Glase Punsch vor Abgang der Malmöfähre verjobbert.

Jetzt, nach dem Frieden, waren die Aktien der „Schiffahrts - Aktien - Gesellschaft Bess Ruthby“ nur ein Bündel Makulatur als Zugabe bei den Konkursmasseauktionen des Krieges, und das Schiff lag nach wie vor auf seinem ewigen Ankerplatz an der Spitze des Nyhavnkanals, dicht beim Hafen, festgewachsen im Schlamm, an seinen Vertäuungen nagend und den verrosteten Ankerarm dicht an seinen kupferbeschlagenen Bug gepresst.

Zuletzt war die mit Stecknadeln zusammengeheftete Aktienmasse von einem norwegischen Maler in einem Bridge gewonnen worden, zu dem er express von einem schonenschen Baron und Rennreiter geholt war, der schwer krank in seinem Hotelzimmer lag und daher einen vierten Mann zu einem Spiel auf der Bettkante suchte, an dem ausserdem eine zugereiste Damenfriseurin aus Uddevalla und der Nachtportier des Hotels teilnahmen.

Gude hatte daraufhin den norwegischen Maler, Edvin Rustad, in dessen Hotel hinter dem Raadhusplads aufgesucht. Rustads Name als Maler war weitbekannt. Gude war seinen Bildern in den Galerien der ganzen Welt begegnet. Es waren Nordlandsmotive von den Lofoten und Lappland, in Farben wütend, mit dem Sinn eines Wilden gesehen, gefrässig und verdichtet zugleich. „Spaltend wie ein Eiskristall ist sein Auge“, sagte man. —

Gude musste lange in einem Zimmer mit herabgelassenen Gardinen warten, dessen Bettbezug den Abdruck eines ungeheuren Körpers zeigte. Auf dem Tisch lagen Bridgekarten zwischen Flaschen und Gläsern verstreut. Leinwand oder Malgerät war nicht zu sehen.

Schliesslich war Rustad gekommen, nachdem er die Tür leise geöffnet hatte, um sich den nach Aussage des Hotelportiers Wartenden anzusehen. Es zeigte sich, dass er ein blasser Koloss mit einem Gesicht wie ein betagter Leichenbitter war. Wie Gude gehört hatte, ging er stets in mächtigen Ueberziehern, und so zog er auch jetzt nach einer tiefen, ehrerbietigen Verbeugung einen gewaltigen gelben Paletot aus. Darunter schien er noch einen ungeheuer umfangreichen Ueberzieher, seine Redingote, zu tragen. Mit dem Zeigefinger entfernte er eine blassgelbe, mit Wasser gekämmte Locke von seinem rechten Auge.

Als Gude ihm seinen Plan betreffs Bess Ruthby vorgelegt hatte, seufzte er ernsthaft.

Dürfte er Herrn Gude vielleicht ein Glas Whisky und Soda anbieten? Möglicherweise spielte Herr Gude auch Bridge? Er könnte in aller Eile zwei Partner schaffen. Rustad griff nach dem Haustelephon. Gude lehnte höflich ab. Sie sassen eine Weile da und betrachteten einander. Kurz darauf war es, als tagte es auf Herrn Rustads riesigem Gesicht. Mit einer kleinen Verbeugung erhob er sich ein wenig von seinem Sitze.

„Ja, jetzt erinnere ich mich dieser Aktien“, sagte er. „Ich habe ganz sicher das Paket hier in der Schublade unter meinem Kleiderschrank. Wo, wie und was Bess Ruthby sonst ist, weiss ich nicht mehr. Aber wenn sie, wie Sie sagen, ein Schiff und nicht im Hafen versackt ist, dann können Sie sie gern haben. Wie sie geht und steht.“

Von Miete wollte er nichts hören. Nach Gudes Protest sagte er jedoch: „Schön, Herr Gude, Sie können bezahlen, was die Unterhaltung kostet. Sehen Sie im Schiffsregister nach, ich habe selbst keine Zeit dazu gehabt.“

Er fügte hinzu: „Nur eines müssen Sie mir zugestehen, Herr Gude: Zutritt an Bord, wenn ich einmal Lust bekommen sollte, ein Seestück zu malen. Aber das ist seit dem Kriege — leider — nicht vorgekommen.“

Seine Augen wurden feucht. „Ich will Ihnen nämlich sagen,“ fuhr er mit gebrochener Stimme fort, „ich habe entdeckt, dass die Hantierung mit dem Pinsel meinen Billardstoss verdirbt!“

Als Gude kurz darauf ging, hörte er noch in der Tür das Bett unter dem mächtigen Körper, der sich hineinwarf, krachen.

*

In den folgenden Tagen richtete Gude sich an Bord ein.

Er hatte zu allererst im Schiffsregister nachgesehen. Wie erwartet, war die Bark „Bess Ruthby“ bis hoch über die Spitze des Grossmastes mit Hypotheken belastet. Die Zinsen von zwei Terminen waren nicht bezahlt, auch Bollwerksgeld nicht, und ein Gammelholmer Gastwirt hatte das Schiff mit Beschlag belegen lassen für Lokalmiete und Verschiedenes, das bei Sitzungen der früheren Reeder der Bark in seinem Restaurant verzehrt worden war. Gemäss seiner Vereinbarung mit Herrn Rustad beglich Gude diese nicht unbedeutenden Beträge und fühlte sich hiernach soweit in sicherem Besitz seiner Wohnung.

Die Einrichtung an Bord verursachte ihm erhebliche Mühe. Es war ihm schliesslich gelungen, zwei arbeitslose Handwerker zu überreden, an Bord zu gehen und eine etwa mögliche Verbesserung der vorderen Räume, die er zu bewohnen gedachte, zu erwägen.

Er stellte den beiden äusserst höflichen Handwerkern anheim, die Luke vom vorderen Lastraum abzunehmen. Dann gedachte er eine Glasscheibe als Skylight darüber zu legen.

Der eine der beiden Tischler rieb sich das Kinn und lächelte.

„Das ist Glaserarbeit“, sagte er, „und nicht mein Fach.“

„Schön“, räumte Gude ein. „Aber ich habe den Plan, den Lastraum nachher neu mit Paneelen bekleiden und ausserdem das Schott zwischen Raum und Mannschaftskajüte durchschneiden und eine Tür vom Arbeitsraum zur Schlafkammer anbringen zu lassen.“

„Das ist Schiffszimmermannsarbeit“, bedauerte der andere Tischler, worauf beide den rechten Handschuh abzogen, um sich zu verabschieden. Er sah ihre Rücken langsam und feierlich, als folgten sie einer Leiche, in Nyhavn verschwinden. —

Es glückte ihm indessen am selben Tage, einen Seemann als Besatzung und Hilfe bei aller Zimmerarbeit an Bord zu heuern.

Er hatte ihn eines Abends auf dem Heimwege in der Nähe von Kongens Nytorv, ungefähr an der Ecke der Strandsträde getroffen. Dort hatte ein Haufen sich herumtreibender Seeleute nebst Anhang aus den Spelunken Nyhavns sein Standquartier. Junge Havaristen mit Wasserleichenfratzen, ausrasiertem Nacken und Beulen wie Rubinketten um den Hals. Sie sassen am Eingang der Notdurftsanstalt und auf den Stufen der Nyhavnsfähre, hingen auf zwei langen Steinbänken, drehten Zigaretten zwischen den Fingern und bewegten die Zehen in den Latschen, während sie einen Kameraden nach warmen Würstchen zu dem Manne mit dem Kesselwagen auf Kongens Nytorv schickten. Sie sprachen ein gedehntes Englisch oder Lolländisch, je nachdem, ob sie von einem Kohlendampfer oder einem Apfelkahn fortgelaufen waren, aber alle waren sie gleich geschwollen und hoch erhaben über das feine Gesindel, das auf den Fliesen an ihrer Börse für alle Art Schiffs- und Hafenneuigkeiten nach der Bredgade vorbeipromenierte. Nur ab und zu erbettelten sie sich drohenden Blickes Zigaretten von einem lebenslustigen Nachtschwärmer oder einem von Nyhavns fetten, finnigen Mädchen, die im Ulster, mit einem Matrosenkragen darüber, auf ausgeschnittenen Schuhen oder Schlappen aus einem der Nyhavner Keller, „Café Ausguck“ oder „Zum sicheren Hafen“ angelatscht kamen.

Gude wurde von einem jungen Burschen in mit Bindfaden umgürtetem Regenmantel ohne Kopfbedeckung angehalten. Seine blossen Füsse staken in Segeltuchschuhen. Gude hatte eben gesehen, wie er von seinem Platz am äussersten Ende der Bank heruntergestossen war durch den Tritt eines langen Beines im Seestiefel, das einem Kerl gehörte, der sich lang hinlegte, damit er ihn, ohne aufstehen zu müssen, erreichen konnte. Der Bursche bat in schlechtem Englisch um Unterstützung für eine Unterkunft. Es zeigte sich, dass er ein von einem amerikanischen Tramp weggelaufener Finne war, seine vier, fünf dänischen Ausdrücke waren, offenbar ohne sein Wissen, äusserst gemein.

Am nächsten Tage erschien er auf Gudes Aufforderung an Bord. Vermutlich hatte er mit Heuer auf einem wirklichen Seeschiffe, wie er es gewohnt war, gerechnet, doch nahm er die Aufträge, die Gude ihm erteilte, willig entgegen. Das für sein Fach äusserst Naturwidrige, dass ein Schiff nicht in See stach, sondern als Haus diente, schien seine unsagbar träge Seele nicht zu stören. Gude sprach ihn auf Finnisch an, doch der Mann war sehr wortkarg und gab nur zögernd Antwort. Sein Name war Matti.

Als Gude dem Finnen Säge und anderes Werkzeug, das er in der Zimmermannskiste an Bord fand, zeigte, machte sich der Mann jedoch willig an die Arbeit. Er war im Holzlande an der finnischen Bucht geboren und, ungefähr seit er gehen konnte, auf Holzschiffen gefahren. Seine regengrauen Augen bekamen zwar keinen Ausdruck, doch fasste seine Hand die Axt mit einem Griff, als ob seine Muskeln auf einmal erlöst würden.

Er tastete an einem Lederbeutel herum, den er auf der blossen Brust trug. Sein Schiffahrtsbuch war gestohlen oder möglicherweise vom letzten Schiffer beschlagnahmt, doch er zog einen Fetzen Papier hervor und gab ihn Gude zu lesen.

Es war eine mit verwaschener Tinte auf nach Parfüm und Schmutz duftendem rosa Papier geschriebene Empfehlung: „Gib Matti keine Arbeit, er ist ein Spitzbube und ganz verlogen.“

Matti wartete, den ziellosen Blick zur Takelung des Schiffes erhoben. Und Gude dachte, dass ein Mann keine bessere Empfehlung haben könnte als diesen Judasbrief, der, für ihn selbst unleserlich, von grinsenden Kameraden irgendeinem schreibkundigen Frauenzimmer in einem Nyhavner Keller diktiert war — und von Matti wie ein Schatz verwahrt wurde.

Als erstes gab er dem Finnen Schwapper und Pütze und liess ihn das Deck spülen. Matti wälzte sich langsam aus dem zerrissenen Regenmantel heraus. Darunter trug er nur Hosen, die steif von Teer und Schmutz waren. Das Hemd war vom Nacken bis zu dem Bindfaden um seinen Leib zerrissen und entblösste auf dem Rücken eine schwarze und rote Tätowierung, die fleckig wie alte Fresken auf geronnenem Kalk erschien. Die Zeichnung stellte ein Meerweib oder möglicherweise eine Aphrodite des Meeres dar, die gewandt ausgeführt, aber ausserordentlich obszön war, und die er wahrscheinlich selbst nie gesehen hatte — eine Belustigung nur für Kameraden, zum ewigen Gaudium der Gäste der Mannschaftskajüte in seinen Rücken geritzt. Seine Arme trugen noch blaue Flecken von ihren Knüffen.

Das Seewasser stürzte aus den Pützen über seine Füsse und spülte Schlamm und Kohlenstaub nach allen Speigatten über das Deck. Gude erinnerte sich mit Freude aus seiner Kadettenzeit dieses Planschens, wenn die Jungens mit Schwappern und Pützen das Schiff badeten, bis alle Planken weiss — wie Jungfernhaut, wie der Bootsmann sagte — waren!

— — Dieser rieselnde Laut von tausend Quellen, diese fortschreitende Sauberkeit, diese Geschäftigkeit von laufenden Segeltuchschuhen über Deck, der Druck der Stückschaufeln gegen die nassen Planken, dies Plätschern blosser Füsse im Wasser über Schanze, Back und Zwischendeck!

Er nahm selbst einen Schwapper und folgte seinem Matrosen. Endlich einmal aufräumen mit Kohlenstaub und Schmutz hier auf dem alten Deck nach drei schmählichen Jahren in der elenden Rinne von Nyhavn! Er dachte, dass so auch die Mission wäre, die er selbst hier hatte, die Aufgabe, die ihm jetzt, wo die gewaltige Konjunkturzeit des Krieges vorbei war, bei der grossen Abrechnung gestellt war. Ruinen und Wracks waren die Länder, in denen er bis jetzt gelebt hatte. Städte hatte er gesehen, die dem Erdboden gleichgemacht waren, Völkerschaften als Leichen nach Pest, Metzelei oder Hunger. Hier zu Hause war totes Wasser, waren durch Schleusen versperrte Kanäle, Ohnmacht, Zusammenbruch, hier waren Industrien getötet, hier war der Handel durch Konkurse gelähmt. Und wo er Leute traf, die er früher in seiner Jugend als aufrecht, zuverlässig und allen Tönen des Lebens lauschend gekannt hatte, sah er jetzt geduckte Nacken, verdächtige Mienen, kleine egoistische Bankrottierer, versimpelt, verkommen und feil, die nach dem Hasard der grossen Börsenzeit noch nach billiger Wollust schnauften.

Er genoss diesen aus allen Poren des Schiffes rieselnden Laut, den ersten frischen Laut vom Morgen aller Zeiten, der wie Quellenstrudel und sausende Wogen klang.

Das nasse Deck schien fast eine Fläche mit der See zu bilden, der Hafen lag blank wie der frischgescheuerte Fussboden da, dessen er sich von den Morgenstunden in seinem Heim entsann: Sausen in allen Gardinen und die fleissig scheuernden Mädchen. Und dort, an der niedrigen Täfelung des feuchten Bollwerks entlang, lagen die Bojen des Hafens wie Spielzeug, das die Kinder am Abend vergessen hatten.

Er ging munter umher und gab seinem Mann Aufträge. Hier sollte eine Kette freigemacht, da ein verfaulter Persenning abgerissen, dort eine Stag gestrafft oder eine Want mit Kabelgarn gespleisst werden. Für einige Tage erhielten sie Hilfe von einem Seemann, den Matti durch seinen Freund, den Tätowiermann im Keller oben in Nyhavn, verschaffte. Es wurde gezimmert und gesägt, die Kojen aus der Leutekajüte ententfernt und das Skylight über den Rahmen der Vorderluke gebaut. In der Lampenkammer hatte Gude Gefässe mit weisser und grüner Farbe gefunden. Trotz allem konnte noch eine Wohnung aus „Bess Ruthby“ werden.

Matti warf eine Leine über den Bug des Schiffes, und darin, wie in einer Schaukel hängend, begann er die abgescheuerte Nase der Gallionsfigur mit Zinkfarbe schneeweiss zu malen.

Es war eine Dame, wahrscheinlich Bess Ruthby selber, wer sie auch immer sein mochte, deren Goldhaar fahnenartig um den Steven des Schiffes flog. Hier hatte ihre Stirn hundert Jahre lang Sturzseen gespalten, ihr Mund Salz geschmeckt. Und sie hob ihre beiden Brüste, eine Steuerbord und eine Backbord, trotzig, bewusst, als wären sie es, die dem Schiffe Gleichgewicht und Ballast auf See gaben!

*

Der März war jetzt weit vorgeschritten. Das letzte Treibeis hatte seine Kämme in grünem Bruch gegeneinander erhoben und war untergetaucht, um in See zu stechen. Als Gude jetzt am frühen Morgen an Deck kam, teilte sich gerade der Frostnebel und wogte fort wie schneeweisse, von der grauenden Sonne beleuchtete Dämpfe. Wie die Dunkelheit aus der Erde emporgeströmt war, so sog die Tiefe nun die Nebel ein. Hier stand er auf seiner Arche und sah die Wasser fallen.

Schon erhob ein Wald von Schiffsmasten seine Spitzen, die von der Sonne über dem Nebel vergoldet waren. Christianshavn entschleierte seine Türme, zuerst die goldene Spirale der Erlöserkirche und nun auch die irischgrüne Laterne unter der Turmspitze der Deutschen Kirche. Langsam tauchte der Hafen aus Wolken auf, die steilen Giebel des grönländischen Packhauses, die beiden stolzen Paläste des asiatischen Platzes. Und jetzt wurden die alten Bollwerke des Trangrabens frei, auf denen die niedrigen gelben Zeilen, die ziegelgedeckten Buden, wie ihrer Schachtel entnommene Spielklötze, standen. Die Schnakenbeine der Krane spreizten sich über Haufen aufgespeicherter Kohle. Jetzt wurde auch die See, blaugrün und blank, hinter den Nebelstreifen sichtbar. Ein leichter Ostwind sauste in der Takelung der Bark, Möwen lösten sich wie Schneeflocken aus dem Nebel und hingen still über dem Schiffe, obwohl es wehte.

Doch der Hafen erwachte nicht. Seite an Seite lagen die Hunderte von aufgelegten Schiffen. In den Kanälen jenseits des Hafens standen die Masten der Segelschiffe mit schrägen Rahen in Reih und Glied. Kein Schornstein rauchte. Der Hafen lag tot da, nur ein Bagger gurgelte mitten im Strom seinen Schlamm plätschernd in einen Leichter.

Als er an Deck kam, sah er, wie ein gelber Hund von Bord lief. Er strich über die Laufplanke und verschwand hinter dem Backhause. Matti hatte ihn schon früher an Bord gesehen. Wahrscheinlich hatte er seinen Aufenthalt in einem Raum achtern und lebte von Ratten und Raub. Offenbar hatten Obdachlose jeder Art jahrelang das ausgediente Schiff aufgesucht. Dieser herrenlose kleine Hund war der letzte blinde Passagier an Bord. Gude liess ihn in Ruhe.

Er hatte sich in den vorderen Räumen eingerichtet. Das übrige Schiff benutzte er nur als Promenadendeck. Unter das Skylight hatte er seinen Arbeitstisch gestellt. Die Wände waren mit alten Seekarten bedeckt, die er in der Kojenbank des Schiffers gefunden hatte. Dekorativ genug waren sie. Er konnte sich über Marken und Baken, zwischen Untiefen und Riffen in Kattegatt und Ostsee, diesen heimischen Gewässern, die er in seiner Kadettenzeit mit dem Schulschiff befahren hatte, hindurchpeilen.

Zu seiner Arbeit fand er jetzt viel mehr Ruhe als früher. Um Besuchern zu entgehen, behielt er seine Hoteladresse bei und liess sich alle Post durch den Portier zuschicken.

Er war noch lange nicht fertig mit der Sortierung der russischen Konsulatsarchive. Nur wenig war aus dem grossen Zusammenbruch im Osten zu retten gewesen. Er hatte selbst einen Teil gesammelt, der ihm von Petrograd und Moskau nach Archangelsk gebracht und allmählich heimlich über die Grenze geschafft worden war, ehe er schliesslich selbst seinen Posten räumen musste.

Noch immer hatte er endlose Konferenzen mit den Bureaus des Aussenministeriums. Er war der einzige Sachverständige bei der Ordnung des losgerissenen und weit verstreuten Materials. Eine Zeitlang hatte ihn das Ministerium zudem auf eine Orientierungsreise nach den neugebildeten Randstaaten von der baltischen Küste bis zu den Karpathen geschickt. Endlich waren ihm als Expert in finanziellen Angelegenheiten und mit besonderer Einsicht in maritime Verhältnisse andere Aufträge erteilt worden.

Er war zu einer vertraulichen Besprechung ins Handelsministerium gerufen worden. Der Minister teilte ihm mit, dass die führenden Banken ihn gebeten hätten, einen Beirat zu ernennen mit der Vollmacht, eine Reihe industrieller und merkantiler Unternehmungen zu untersuchen, die jetzt nach Beendigung des Krieges und bei der allgemeinen Depression nur durch ihren, bis aufs äusserste angespannten Bankkredit aufrechterhalten wurden. Der Wunsch der Banken, dass einer oder mehrere solcher Sachverständigen ernannt würden, rührte wohl daher, dass sie sich, wenn das grosse Abschlachten begann, selbst den Rücken frei halten und den betreffenden Kunden gegenüber den Schein wahren wollten. Gleichzeitig wollte man jedoch gern einen Vorschlag zur Wiederaufrichtung dessen haben, was gerettet werden konnte.

Gude hatte gefragt, welche Befugnisse er hätte.

Der Minister lächelte: „Das liegt ganz in Ihrer eigenen Hand. Die Banken wünschen nur die kritische Sichtung durch einen unparteiischen Sachverständigen. Ich dagegen betrachte Ihre Stellung als diskretionär und überlasse alles Ihrer persönlichen Autorität. Ich sehe selbst die Dinge vorläufig mit dem allergrössten Pessimismus an!“

In der seither verflossenen Zeit hatte Gude ein paar havarierte Gesellschaften untersucht. Seine Meinung fiel hier mit der des Ministers zusammen: Die Leitung hatte ungefähr alle Dummheiten begangen, die man überhaupt begehen konnte. Sie hatten wie Betrunkene gehandelt, die berauscht waren von den riesenhaften Konjunkturen des Krieges, die sie geschaffen und ihnen eine Zeitlang Glück gespendet hatten. Jetzt mussten sie sterben! —

Kürzlich hatte Gude den Auftrag erhalten, das grosse Schiffsbau- und Schiffahrtsunternehmen „Dänische Werft“ einer kritischen Revision zu unterziehen und Vorschläge zu dessen Rekonstruktion auszuarbeiten.

Das mächtige Material an Kassenbelegen und Kopiebüchern war in seine Kajüte gebracht worden. Die ungeheuren Stapel türmten sich bis fast zur Decke auf.

Der Verwaltungsdirektor der Werft war Andreas Pauli, der bekannte Handelsmatador und Kunstmäzen der Kriegsperiode. Vorläufig fand Gude jedoch keine Veranlassung, mit ihm zu sprechen. Er suchte bis auf weiteres nur Fühlung mit der grossen Bank, die die „Dänische Werft“ finanzierte.

Dass der technische Leiter der Werft, Kapitän z. S. Stark, Gudes Schwager war, konnte ihn nicht hindern, an die Aufgabe heranzugehen. Für die ökonomische Leitung des Unternehmens trug der Schwager keine Verantwortung.

Im übrigen war das Verhältnis zwischen dem Schwager und ihm unherzlich und gezwungen, was auch immer der Grund sein mochte. Seit sie auf der Kadettenschule zusammen gewesen waren, hatten sie sich nicht getroffen. Gude hatte im Ausland die Mitteilung von der Verlobung des früheren Kameraden mit seiner Schwester erhalten. Kurz darauf hatten sie sich verheiratet. Jetzt, nach Verlauf von fast fünfzehn Jahren, sah er sie beide wieder. Die Schwester hatte ihn aufgefordert, ein paar Zimmer zu beziehen, die in dem alten, von ihr und ihrem Manne bewohnten, in der Nähe von Amalienborg belegenen Hause der Familie leer standen. Er hatte es jedoch aus vielerlei Gründen abgeschlagen. Die seltsame, scheue und zurückhaltende Art, in der der Schwager ihm entgegenkam, hatte den Ausschlag gegeben. Auch nicht das Wiedersehen der alten Wohnung, in der er seine Knabenzeit verlebt hatte, vermochte ihm grössere Freude zu bereiten.

Seine Schwester Edith hatte gleich nach seiner Heimkehr versucht, ihn in ihren Kreis zu ziehen, der aus den Ueberlebenden der führenden Klasse seiner Kindheit, Hofkreisen, Diplomaten und Militärs, bestand. Er fand sie leblos und in der Form erstarrt. Seine halboffizielle Stellung zwang ihn später zu gesellschaftlicher Berührung mit der neuen, in der grossen Handelszeit des Krieges entstandenen Bourgeoisie. Die war ihm nicht weniger zuwider. Die Männer waren ohne Intelligenz, die Frauen raffiniert gekleidet, aber roh. Er wurde selbst der Gegenstand grösserer Aufmerksamkeit, als ihm lieb war. Die jungen Mädchen durchforschten ihn mit sachverständig unverschleiertem Blick vom Scheitel bis zur Sohle, als schätzten sie seine Körperlichkeit ab. Vermutlich erkundigten sie sich darauf bei irgendeiner Auskunftei nach seinen ökonomischen Verhältnissen.

„Wir finden Sie interessant“, sagte eine von ihnen, ein strudelköpfiges, blondes kleines Ding, das zart und ungefähr bis zum Gürtel entblösst war. „Sie interessieren uns, wie gesagt, sowohl als Maskulinum wie als Type. Wir haben gestern im Klub lange über Sie debattiert. Warum lassen Sie sich dort nicht sehen? Warum treiben Sie keinen Sport?“ Ihre Stimme zögerte: „Ist Ihre Invalidität vielleicht Schuld daran?“

Beim Sprechen hatte sie fortwährend das rauchfarbige Glas betrachtet, das in seine rechte Augenhöhle geklemmt war. Sie war nicht die erste in diesen Kreisen, die auf seine rechtsseitige Blindheit hingedeutet hatte. Keine Taktlosigkeit ärgerte ihn so sehr wie diese. Da sass diese selbstsichere kleine Person und sprach schnell in ihrem spitzfindigen, zynischen Jargon mit dem harten kleinen Stimmlaut, der bei diesen Töchtern reicher Männer Mode war und den sie wohl von ihren Kavalieren gelernt hatten, die ihn ihrerseits wiederum von Kurtisanen hatten. Sie wartete noch auf seine Antwort, ihre nackten, runden Schultern bebten vor erwartungsvoller Lust. Sie hätte sich gedacht, sagte sie und liess die Zunge an den Lippen entlang gleiten, dass er das Auge unter den Schrecken der russischen Revolution verloren hätte, dass es von einem roten Gardisten mit einem im Lagerfeuer glühend gemachten Bajonett ausgebrannt wäre. Auch was die Weiber der Roten mit Männern, die in ihre Gewalt fielen, machten, hätte sie gehört.

Gude begnügte sich mit der trockenen Antwort, dass der Verlust des Auges zwanzig Jahre zurückläge, und sagte, was teilweise der Wahrheit entsprach, dass ein Unfall in seiner Knabenzeit ihn verursacht hätte. —

Sie glaubte ihm offenbar nicht, aber ihr Lächeln erhielt eine eigene Süsse, wahrscheinlich respektierte sie, dass er log und also ganz andere, aufreizende Dinge zu verbergen hatte. — In diesen Kreisen galt er eher für blasiert als für einen Sonderling. Liess er seinem Widerwillen freien Lauf, so begegnete er nur einem Paar lockender Augen und einem Lächeln bewusster Erotik um rotstiftbemalte Lippen. —

Die Kajüte um ihn her kam ihm wie eine Klosterzelle vor, aber ihre Einsamkeit machte ihn doch nicht ganz ruhig. Hier gab es zu viele finstere und verdächtige Winkel! Am frischesten war es noch morgens, wenn er an Deck kam und den feuchten Atem der Märzluft spürte oder dem Vorbeigleiten des grünen Wassers folgte, ehe er sich an sein Tageswerk machte.

*

Frisches Wasser an Bord bekam Gude von einem Schiffer, der ein Tankboot durch den Hafen führte und die Schiffe mit Trinkwasser für die Reise versorgte.

Er preite Gude mit einem Pfiff: „Halloh Kaptän! Lassen Sie mich an Bord, damit ich Ihnen persönlich meine Waren empfehlen kann. Feinstes Kopenhagener Gemeindewasser!“

Sein Boot war ein kleiner Dampfer aus zerbeultem Blech, wie eine Keksdose, zusammengebolzt und mit einem Ofenrohr, das mit einem Knick nach hinten gebogen war und tintenschwarzen Rauch in Ringen qualmte. Die Maschine räusperte sich und spuckte, aber was das Ziehen anbetraf war sie ein kleiner Teufel, wie Kapitän Samuelsen sagte, und fasste gern beim Bugsieren eines Fünfmasters mit an, wenn es darauf ankam!

Doch die Schäbigkeit des Bootes war berüchtigt, es war der schwimmende Skandal des Hafens, ein nach ranzigem Oel stinkender, frecher Räuber, der einem Schiff unter voller Fahrt mit einem grossartigen Schwung gerade vor den Bug lief, seine Fender aus zerfasertem Hanf wie sechs abgehauene Negerköpfe gegen die Seite schwappend.

Und Kapitän Samuelsen enterte an Bord: „Guten Tag, hier bin ich mit meinem Wasserwerk!“ Er steckte einen Schlauch auf das Ventil seines rostigen Wassertanks, der umsonst aus einem städtischen Pfosten auf dem Platze hinter dem alten Packhaus der Graupenmühle gefüllt war.

„Gestatten Sie, dass ich Ihr Bassin mit der Zentrale verbinde, Sie brauchen keine Angst vor Kurzschluss bei mir zu haben!“

Seine kleinen schwarzen Augen schlüpften listig aus Lee der hochrückigen Nase hervor, und er berichtete seine hundert Geschichten von Hafenneuigkeiten, von Schlägereien im Schwimmdock und von Zollbeamten, die in der Steuermannskajüte sassen und „Guanolikör“ tranken, während der Tallymann englische Eisenwaren und Fayence löschte, wie es dem Importeur gefiel.

Gude hatte ihm zerstreut zugehört. In der Kambüse war Feuer unter dem Kaffeekessel, als Kapitän Samuelsen kam. Er kannte den kleinen gelben Hund, von dem er wusste, dass er den ganzen Winter an Bord gewesen war, und lockte ihn. Nein, dem vorigen Schiffer hatte er nicht gehört. Es war ein wilder Hund, der sich nicht fangen liess. Das Tier frass einen Schiffszwieback, den man ihm an Deck schmiss, und lief dann an Land in irgendein Loch hinter dem Packhause.

„Gratuliere zur Villa, und jetzt zeichne ich Sie als Abonnenten aufs Wasserwerk!“ Kapitän Samuelsen sprang in sein Boot, seine drei schwarzäugigen Jungen, in Wollhemden und Matrosenmützen, grinsten mit weissen Zähnen, standen aber stramm als Fallreepswache, während der Vater an Bord sprang. —

Gude hatte dem Jungmann Matti eine neue Ausstattung gestiftet. In einem Keller an der Toldbodgade war ein Laden mit Oelzeug, Holzschuhen und Tonpfeifen, die als „letzte Neuheiten der Saison“ hinter den niedrigen Scheiben aufgehängt waren, während auf einem riesigen Schild über der Fassade des Hauses „See- und Herrenequipierung“ stand.

Dort wurde Matti als Herr equipiert. Er stand benommen da und drehte sich vor Gude, um sich in einem neuen kaffeebraunen, gewürfelten Anzug, einem Wollhemd mit roten Quasten am Queder und Knöpfstiefeln sehen zu lassen, die feiner waren als die Schuhe des Freundes eines Nyhavnmädchens. Der Priem blieb in seiner Backe sitzen, verlegen stand er mit gespreizten Händen da und liess sich bewundern. Er ging willig hin und her, um sich sehen zu lassen, und hielt sich rücksichtsvoll auf der Seite von Gudes sehendem Auge. Schliesslich beglückwünschte Gude ihn freundlich:

„Du bist nicht wiederzuerkennen!“ und schickte Matti hinunter, um sich umzuziehen.

Gude hatte sich an Bord eingelebt. Matti konnte Kaffee und Spiegeleier machen. An Service befand sich genug in der Kambüse, Steingut, worauf unter der rissigen Glasur allerhand Schiffe gedruckt waren. Der Proviant bestand zumeist aus Konserven, doch ass Gude gewöhnlich an Land.

Jeden Morgen kam Kapitän Samuelsen mit der Filiale des städtischen Wasserwerks.

Dann erscholl sein Prei nach Matti: „Hallo, du langer Bolschewist. Da bin ich mit dem Wasserfass!“

Er schlug ein Samtalbum auf, in dem Talmiuhren an feuervergoldeten Ketten hingen:

„Sieh her, Seemann! Echte Chronometer, achtzehnkarätig, zehn Jahre Garantie bei kleiner Fahrt und vierzehn Tage zur Probe! Zum Schmuck für deine neue Weste; dein Chef gibt dir gern Vorschuss auf die Heuer.“

Gude bezahlte, und Mattis rote, knotige Finger wählten bebend eine Riesenuhr mit einer Kette von Medaillen, so breit wie der Gürtel eines Preisringers. Kapitän Samuelsen bot Gude Postkarten in verschlossenem Umschlag für Herren oder transparente Spielkarten mit pikantem Inhalt an, angenehm, die Sonnenhöhe zu jeder Morgenstunde zu nehmen! „Nicht Ihr Genre, Käptn? All right!“

Mit allen möglichen Ratschlägen machte er sich nützlich. Als Gude eines Tages einen abgebrochenen Schlüssel und Spuren eines Dietrichs an seiner Kajütentür fand, brachte der Kapitän für eine Bagatelle ein echt amerikanisches, einbruchsicheres Yaleschloss an.

Ja, Nyhavn ist ebenso voll von Spitzbuben wie von Ratten! Hatte Herr Gude sonst heute noch irgendwelche Aufträge? Hatte Herr Gude nicht Bedarf für einen geübten Barbier? Samuelsen hatte die ganze Besatzung vom Kapitän bis zum Messejungen, ja den Schiffshund dazu rasiert! Mitten in der Sommerhitze. „Heute nicht? Ja, nichts für ungut. Dann stosst ab, Jungens, jetzt kommt Vater.“

Seine Backe war dick, aber Gude sah deutlich, dass es von der Zunge, nicht von einem Priem herrührte. Wenn er auf Deck spuckte, war es nicht von Tabaksaft gefärbt. Die Seestiefel schlotterten um die krummen dünnen Beine, aber er stampfte wie ein echter Seemann über das geborstene Deck.

Dann stand er mit gespreizten Beinen am Rad und witterte mit der langen Nase nach Geschäften und Neuigkeiten von allen Schiffen des Hafens.

Zum Abschied fasste er mit einem kecken Griff an die Mütze und fuhr los mit einem mächtigen Kielwasser hinter seinem verbeulten Blechboot. Die „Rumpelschute“ wurde er überall im Hafen, selbst von dem Kapitän des Schlammprahms, genannt, wenn er sich weiter bumbootete, um mit allem, von Hosenknöpfen bis zu Augensalbe und Salvarsan, zu schachern, und nach allem ausspähte, was ihm vor den Bug trieb, mochte es ein Spritanker oder ein Ertrunkener, ein Steinfischer aus Dragör oder wie letzthin ein insolventer Heringshändler sein, der auf seinem Ulster schwamm, bis Kapitän Samuelsen ihm eine Fangleine um den Hals warf und ihn vermittelst zehn Kronen in bar nach der Anlegestelle des Trangrabens bugsierte.

Noch einmal winkte der Kapitän „Hals- und Beinbruch“. An der Reling hingen seine schwarzäugigen Jungen. Heute war es einer mehr; er hatte die Masern gehabt.

*

Wenn Gude des Abends unter der leise schaukelnden Lampe bei seiner Arbeit sass, konnte die Einsamkeit schwer werden. Oft krachte es rings in den alten Planken, es konnte lauten, als gingen rasche Schritte oben über das Deck. Er arbeitete an diesen Abenden an einer Broschüre über die schiffbrüchigen Finanzen des Augenblicks. Der konkrete Stoff bekam hier an Bord einen Hintergrund von Verfall und Tod. Die dumpfen Schatten ausserhalb des Lichtkreises der Lampe nahmen phantastische Formen an, es konnte sich anhören, als ob Seeleute sich drinnen in ihren Kojen umdrehten. Hier hatten sie, in jeglichem Wetter schlingernd, geträumt und geflucht und getrunken. Bargen die alten Balken noch das Echo der Zeit, die tot war?

Jetzt sass er selber da und schrieb über eine schiffbrüchige Welt. Er war ihr auf ihrer blinden Fahrt gefolgt, hatte von Kind auf ihren wilden, übermütigen Kurs gekannt. Kurve auf Kurve konnte er ihre Geschichte aufzeichnen, das durch die Sorglosigkeit ihrer Führer in Verwirrung gebrachte Besteck vorzeigen. Die ersten Abschnitte seines eigenen Lebens waren wie ein Spiegel dessen, was die Führer jener Zeit, die übermächtigen Vorgesetzten seiner eigenen Klasse, vorgehabt hatten. In seiner kleinen Welt — ein Dutzend Jahre zurück, in dem nicht viele Häuser von hier entfernten Heim — fand er die Ursache des Schiffbruches wieder.

Er machte seine gewöhnliche Runde über das Deck. Es war kalt, aber still. Im Kanal sah er das kohlschwarze Spiegelbild der Dillen des Schiffes und seiner eigenen Silhouette gegen das Licht der Gammelholmer Laternen. Er dachte, wenn er jetzt lauschte, so würde er den elastischen Schritt seines Vaters hören, wie er in jener fernen Zeit scharf und regelmässig über die Schanze des Schulschiffes „Freja“ ging, deren Chef er war.

Der schwarze Spiegel des alten Kanals erschien ihm wie eine bodenlose Tiefe, das Deck war wie ein Gewicht an seinen Fusssohlen, das ihn in düstere Melancholie hinabzog. Er lebte sich zurück in seine heimatlose Kindheit in dem alten Quartier, das dort hinter den gelben Giebeln von Nyhavn verborgen lag.

Die Besitzung der Familie trug damals wie jetzt Spuren des alten hofadligen Gepräges aus der Zeit, da Amalienborg entstand, doch als eine der letzten in der Strasse und schon gezeichnet vom Hafen und der Nähe obskurer Wirtshäuser: zur Hälfte noch vornehmes Barock. Aber schliesslich hatte Kommandeur Gude erklärt, nun wolle er, weiss Gott, sein Haus modernisieren, und hatte seinen Maurermeister die Fassade mit einem spiegelglasfenstrigen Erker in ganzer Höhe des Hauses schmücken und noch ein Stockwerk mit Schieferdach an Stelle der glasierten Ziegel der Mansarde aufsetzen lassen. Ein Zigarrenhändler bekam seinen Laden im Erdgeschoss, die Pförtnerloge wurde zu einem Café mit Theaterbilletthändlern und brüllenden Nachtgästen, und das Tor stand ewig offen und floss über von Packkisten und Stroh aus den Lagerräumen des Hinterhauses, von wo die Kinder ihre Schlupfwege und Fuchsgänge ganz bis zur Kvästhusgade und dem nahen Hafen hatten.

Aber dort vor dem Tore sprang der Vater während des Besuchs der Zarenfamilie in Fredensborg aus der Equipage, auf deren Bock der Hofkutscher stramm sass, die Peitsche emporgestreckt wie die Riemen in der Schaluppe des Chefs, wenn der Kaiser von Bord ging. Der Kommandant trug Armschnüre als Adjutant des Prinzen. Rasch enterte er die Smyrnaläufer hinauf, die anfingen, wo die Kisten des Zigarrenhändlers aufhörten, fluchte jedesmal, wenn er von einer Fahrt heimkehrte, über den Zustand der Treppe, seine Schlüssel rasselten in der Tür, Mantel, Mütze und Handschuhe flogen dem Diener Hermansen in den Arm, er musterte seine Uniform und den pechschwarzen Vollbart eine Sekunde im Pfeilerspiegel, ehe er, durch die Nase witternd, noch mit dem wiegenden Gange, der bei Hofe gebräuchlich war, ins Speisezimmer ging, um irgendeine Unordnung zu entdecken und Rotwein zum „Temperieren“ an den Kamin zu stellen.

Es war jene Zeit zu Anfang der Neunziger, als die Damen gerade die Turnüre