Der Pensionierte - Friedrich Dürrenmatt - E-Book

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Friedrich Dürrenmatt

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Beschreibung

In Dürrenmatts eigenen Worten »handelt der Roman davon, wie nach den ersten Tagen seiner Pensionierung ein bernischer Polizeikommissär alle seine Verbrecher aufsucht, die er im Verlauf seiner langen Tätigkeit aus Humanität und Wissen um das Ungenügen menschlicher Gerechtigkeit hatte entkommen lassen.« (Sätze aus Amerika, Januar 1970)

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Friedrich Dürrenmatt

Der Pensionierte

Fragment eines Kriminalromans

Mit einem möglichen Schluß von Urs Widmer und einem Nachwort von Peter Rüedi

Diogenes

Friedrich Dürrenmatt

Der Pensionierte

Fragment eines Kriminalromans

1

Am 30. November, am letzten Tag seines Dienstes, erschien Kommissär Höchstettler der Bernischen Kantonspolizei nicht mehr in seinem Büro am Ringhof.

Eigentlich war er kein Kommissär, sondern Polizeihauptmann, ja sogar Kommandant, wäre es mit rechten Dingen zugegangen, aber weil es mit gerechten Dingen zuging, war er Hauptmann geblieben, weshalb er sich selber degradiert hatte und sich hartnäckig Kommissär nannte.

Doch ohne Groll, denn er war seinem Beruf gegenüber skeptisch und ohne jenen Ehrgeiz, der manche Staatsdiener auszeichnet. Auch war er auf das Scheitern seiner Karriere vorbereitet gewesen. Sie verunglückte immer an der gleichen Stelle: Die Weiche, die ihn in den Endbahnhof eines Kommandanten hätte dampfen lassen sollen, wurde nie gestellt, konnte auch nie gestellt werden.

Ende der fünfziger Jahre zum ersten Mal. Der Kommandant Dr. Lucius Lutz ließ ihn kommen. »Menschenskind«, sagte er, »morgen sause ich in den Ruhestand, der ganze Kanton frohlockt. Sie sind wie ich Jurist, die Industrie beginnt auf Hochtouren zu laufen, alle verlassen kopfüber den guten Papa Staat, und Sie könnten den jüngsten Polizeikommandanten des Kantons aller Zeiten abgeben. Aber Ihr Charakter! Es ist zum Rasendwerden! Meistens schweigen Sie, doch wenn Sie reden, ist es Unsinn. Bitte: Bundesrat Kobelt, unserem kreuzbraven Kobelt, erzählten Sie, Mann Gottes, Sie hätten die Polizeilaufbahn eingeschlagen, weil die Polizei etwas Notwendiges, das Militär etwas Überflüssiges sei, besonders für kleine Staaten, die ohnehin die Eigenschaft hätten, immer wieder aufzutauchen. Schweigen Sie! Als ob Hitler vor unserer Polizei Angst gehabt hätte. Vor der hatten höchstens die Emigranten Angst. Aber vor unserer Armee muß er gezittert haben, hat nun einmal jeder wackere Schweizer zu glauben, und vor allem der Chef des Militärdepartements hat es zu glauben, sonst geht der ganze Wehrwille flöten, auch wenn es Mumpitz ist, so was zu glauben. Und unserem Bundesrat von Steiger, was binden Sie dem unter die Nase? – Dabei ist er an sich schon nicht der Hellste. – Nicht den [die] Staatsverbrecher, sondern die staatlichen Verbrecher sollte man einsperren! Höchstettler! Sie sind von allen guten Geistern verlassen. Zum Donner, ich muß statt Sie Schlaginhaufen als meinen Nachfolger vorschlagen, diesen Volltrottel. Und noch eines«, schloß Lutz seine Abschiedsrede, »Ihre zwei Scheidungen! Höchstettler, ich bin ebenfalls geschieden. Die Natur ist die Natur. Ich weiß, die Weiber sind des Helden Schwäche, und wir sind alle Helden, aber ich mußte es büßen, weiß Gott. Ein Wunder, daß man mich nicht vorzeitig pensionierte. Und gelohnt hat es sich nicht. Weib ist Weib. Aber einmal ist nicht zweimal, und Sie haben schon zweimal, und konsumieren jetzt die dritte Gattin. Sie werden, was Ihre Karriere betrifft, Ihren Frauenkonsum noch bitter bereuen, falls Sie sich nicht mäßigen, Höchstettler. Sie werden es büßen.«

Schlaginhaufen hatte darauf Ende der sechziger Jahre auf dem Totenbett im Inselspital dem Polizeileutnant Luginbühl zugeflüstert: »Ich habe nie gegen Höchstettler intrigiert. Im Gegenteil, ich habe ihm immer gesagt, er solle einer Partei beitreten, den Bauern und Bürgern, wie es jeder rechte Berner tut, oder meinetwegen sogar den Sozis. Aber was hat er mir geantwortet? Er sei seine eigene Partei, hat er mir geantwortet. Und jetzt hat er auch noch zum fünften Mal geheiratet.«

Dann war Luginbühl, Mitglied der Bauern- und Bürgerpartei, Polizeikommandant geworden. Ihn hatte der Kommissär, der seinen Vorgesetzten – dessen Vorgesetzter er einmal gewesen war – in guter Erinnerung behalten wollte, vor einem halben Jahr im Tiefenau-Spital besucht.

Luginbühl war mit seinem Porsche auf der Autobahn Thun-Spiez frontal gegen einen Geisterfahrer geknallt.

Es sah bös aus. Die Ärzte hatten ihm beide Beine amputiert und dann erklärt, er wäre ohnehin nicht mehr zu retten gewesen.

Luginbühls Frau war in Kenia, seine Kinder auf einer Yacht im Mittelmeer, seine Eltern auf den Bermudas in den Ferien und seine Schwester in Brasilien verheiratet.

Luginbühl lächelte einsam.

»Lassen Sie sich um Gottes willen nicht noch einmal scheiden«, sagte er zum Kommissär und verschied.

Im Korridor stand der Geisterfahrer mit einem Edelweißsträußchen. Ein fünfundachtzigjähriger Bauer aus Grindelwald.

»Geht es ihm besser?«, fragte er.

»Wesentlich«, sagte der Kommissär.

Als er in sein Büro am Ringhof zurückkehrte, lag auf seinem Schreibtisch ein Brief.

Seine siebente Frau hatte die Scheidung eingereicht.

Regierungsrat Gümmliger, der Vorsteher der Bernischen Polizeidirektion, starrte zwei Tage später in der Kramgasse finster auf das Schreiben, das den Kommissär zum Kommandanten ernannt hätte und das der Regierungsrat unterzeichnen sollte.

»Unmöglich«, sagte er zu Nationalrat Ochsenbein, der im Ledersessel für Besucher eine Brissago rauchte, »›oben ohne‹ haben wir für unsere öffentlichen Schwimmbäder toleriert, aber ein Kommandant, der sich siebenmal hat scheiden lassen –, weißt du was, Ochsenbeinchen: Höchstettler wird nächstens sechzig, da lasse ich ihn pensionieren. Am 30. November. Ich halte eine feierliche Rede zum Abschied, und die Sache geht in Ordnung. Schanzen wir Wanzenried den Posten zu.«

2

Doch nicht nur am 30., schon am 29. November war der Kommissär nicht in seinem Büro im Ringhof erschienen.

Die Scheidung von seiner siebenten Frau wurde an diesem Tag vollzogen, und nach der Verhandlung bat ihn der Präsident des Zivilgerichts, Dr. Ellenberger, zu bleiben, während sich seine siebente Frau, ihr Anwalt, der Anwalt des Kommissärs, die vier Laienrichter und der Gerichtsschreiber verzogen.

Der Kommissär rief seiner siebenten Frau zwar noch nach »Leb wohl, Lisi. Alles Gute«, aber sie tat, als höre sie nichts, und nur ihr Anwalt nickte kurz zurück. Es war der alte Habegger, der schon der Rechtsanwalt seiner ersten Frau gewesen war und seitdem der sechs weiteren. Der Kommissär mochte ihn ganz gern; der nun alte Rechtsanwalt mit dem jetzt schütteren und ungepflegten Schnurrbart war ihm vertraut geworden.

Es war kurz nach zwölf. Ellenberger erhob sich. Er war ein Koloß, fast zwei Meter, über hundertfünfzig Kilo, kahl, gepflegter Spitzbart und braune Bernhardiner-Augen, deren Treuherzigkeit seinen Entscheiden etwas vom Schrecken nahm. Man nannte ihn allgemein: Berg des Schicksals.

Die Scheidung stelle doch eine kolossale Menschenverschwendung dar, meinte der Kommissär resignierend. »Was ich allein für Laienrichter verbraucht habe.«

»Achtundzwanzig und drei Gerichtsschreiber«, sagte Ellenberger und schloß seine Mappe. Dann fragte er: »Wo essen wir?«

»Weiß nicht«, sagte der Kommissär.

Er habe im ›Commerce‹ einen Tisch reserviert, meinte Ellenberger. Die beiden zogen die Mäntel an und verließen das Amtshaus.

»Es liegt Schnee in der Luft«, sagte Ellenberger.

Sie trotteten schweigend in die Gerechtigkeitsgasse. Sie setzten sich im ›Commerce‹ hinten neben den Ausschank. Ellenberger bestellte auf spanisch, für sich gleich zwei Portionen Paella; er hatte ein Haus in Andalusien und war stolz auf sein ›Andalusisch‹. Sie aßen schweigend. Ellenberger, der schnell aß und den Wein wie Wasser hinunterspülte, bestellte noch eine dritte Portion Paella, die er verschlungen hatte, bevor der Kommissär mit seinem Steak zu Rande gekommen war. Dieser hatte heute keinen Appetit, nichts schmeckte ihm. Das Restaurant war überfüllt. Als es gegen zwei etwas stiller wurde, und sie schon den zweiten Kaffee und das zweite Pflümli hinter sich hatten, fragte Ellenberger: »Nehmen wir noch einen Halben Fendant?« Dann fügte er bei: »Auf meine Rechnung, viel kannst du dir ja nicht leisten.«

»Warum nicht?«, fragte der Kommissär.

»Na ja, nach deinen sieben Scheidungen.«

Als Junggeselle würde er das Maul halten, brummte der Kommissär, und außerdem fresse Ellenberger sich in Summen hinein, welche die Kosten, die zwei siebenfach geschiedene Kommissäre für ihre Frauen aufzuwenden hätten, mehrfach überträfen.

Als vorsichtiger Mann habe er das Recht zu reden, erwiderte der Präsident des Zivilgerichts, sein Appetit sei seine Privatsache, verlangte die Zigarrenkiste und wählte eine Brasil ›Presidente‹. Die seien leichter als eine Havanna, erklärte er, kostete den Fendant, bevor er die Zigarre anzündete, sagte »Prost« und schüttelte langsam mit einer Mischung von Verblüffung und Verwunderung den Kopf. »Daß ich das vor meiner Pensionierung noch erleben durfte.«

»Was denn?«, fragte der Kommissär.

»Deine siebente Scheidung«, sagte Ellenberger. »Siebenmal. Unsagbar. Und immer der gleiche schlanke Typ. Nur daß mit der Zeit der Altersunterschied immer größer wurde. Dazu bringen sie jedesmal den gleichen Grund vor: Du würdest wochenlang nicht reden, hättest überhaupt in allen Belangen jedes Interesse verloren.«

Ein riesiger Kerl mit einem schwarzen Bart und einem schwarzen Manchesteranzug setzte sich zu ihnen.

»Tag, Ellenberger«, sagte er.

»Grüß dich, Mushaber«, sagte der Präsident des Zivilgerichts.

Mushaber glotzte den Kommissär an. »Pfui, Teufel!«, sagte er, stand auf und verließ das ›Commerce‹.

»Ich habe ihn schon dreimal geschieden«, stellte Ellenberger fest. »Nur dreimal!«. Dann lachte er. »Na ja, ich bin eben verwöhnt.«

»Meinetwegen wurde er eingebuchtet«, erklärte der Kommissär.

»Wieso?«, fragte Ellenberger.

»Er verkaufte einen Hodler.«

»Und?«

»Der Hodler war von Mushaber selber«, antwortete der Kommissär.

Der Präsident des Zivilgerichts schwieg, zog an seiner Zigarre, leerte sein Glas und sagte: »Er hat mir auch einen Hodler vermittelt.«

»So, so«, sagte der Kommissär.

»Auf alle Fälle ist Mushaber ein guter Maler«, meinte Ellenberger verunsichert.

»Aber ein schlechter Fälscher«, erklärte der Kommissär und leerte auch sein Glas, schenkte beiden ein und sagte: »Witzwil hat ihm gutgetan. Er machte Fortschritte.«

»Seine Landschaften sind phantastisch«, nickte Ellenberger.

»Sein letzter Hodler ist phantastisch«, meinte der Kommissär.

»Und du ließest ihn nicht wieder einbuchten?«, fragte der Präsident des Zivilgerichts nicht ohne Stirnrunzeln.

»Wozu?«, fragte der Kommissär und trank. Eine gute Fälschung sei besser als ein schlechtes Original, sagte er darauf. »Ich hoffe, du hast eine solche.« Dann dachte er nach.

»Weißt du, Ellenberger«, gab er zu, »daß es mir nachträglich vorkommt, wenn ich an meine Frauen denke, als seien sie alle die gleiche gewesen. Das hast du richtig beobachtet. Ich habe wahrscheinlich so viele Frauen verbraucht, weil sie in meinem Leben keine Rolle spielten. Das spürten sie und langweilten sich bei mir. Aber was willst du, nach dem Dienst brauche ich meine Ruhe.«

»Brauchte«, entgegnete Ellenberger. »Morgen ist dein letzter Tag im Dienst. Daran hättet ihr beide denken müssen.«

»Wer?«

»Du und deine siebente Frau.«

»Wieso?«

»Die Pensionierung hättet ihr beide abwarten sollen«, erklärte Ellenberger überzeugt. »Dann hätte es vielleicht einmal mit deiner Ehe geklappt.«

»Um Gottes willen«, starrte ihn der Kommissär an und schüttelte den Kopf. »Nein, Ellenberger, meine siebente hatte wie meine sechs anderen den richtigen Instinkt. Ich bin nur momentan etwas für die Frauen, so zwei Monate finden sie mich ganz nett, so weit reicht ihre Phantasie, dann hoffen sie noch zwei, drei Jahre, sie hätten sich nicht getäuscht, aber dann –«

»Nehmen wir noch einen Halben«, schlug Ellenberger vor. Dann legte er die Brasil auf den Aschenbecher, meinte, sie sei doch zu stark, er werde alt, holte seine alte Dunhill-Pfeife hervor, stopfte sie, während der Kellner mit dem Halben kam und einschenkte, steckte den schwarzen Sobranje-Tabak sorgfältig in Brand und fragte den Kommissär nachdenklich: »Warum, zum Teufel, erkläre mir mal, hast du überhaupt geheiratet?«

»Halt so«, antwortete der Kommissär.

Ellenberger beschäftigte sich mit seiner Dunhill. »Ich weiß, Höchstettler«, sagte er, »es ist eine komische Frage, so nach den sieben verunglückten Ehen. Aber ich meine, es wäre für dich einfacher gewesen, wenn du nie geheiratet hättest. Offengestanden hat mir keine deiner sieben Ehen eingeleuchtet.«

»Wem sagst du das«, antwortete der Kommissär und dann sagte er: »Der verdammte Scheißberuf.«

»Welcher?«, fragte Ellenberger.

»Meiner.«

»Ich dachte, du meinst meinen«, sagte Ellenberger. »Wir haben beide Scheißberufe.« Dann überlegte er. »Was haben deine Ehen mit deinem Beruf zu tun?«

»Berufsdeformation«, erklärte der Kommissär und nahm sich Fendant.

Ellenberger paffte und stank nach Sobranje.

Der Kommissär stellte sein Glas wieder hin. »Warum hast du nie geheiratet und ich siebenmal? Ich will es dir sagen: weil wir beide dieselben himmeltraurigen Figuren darstellen, wir sind beide Vertreter des Gesetzlichen. Klingt pathetisch. Darum ist es denn auch so komisch. Wir sind Komödianten, Ellenberger, Komödianten. Der Unterschied zwischen uns beiden ist nur, daß du nach den Gesetzen urteilst und ich nach den Gesetzen handeln sollte. Sollte. Du hast zu entscheiden, ob etwas gesetzlich noch möglich ist oder nicht, eine Ehe zum Beispiel, während ich – na ja, ich muß handeln, und erst dann, wenn ich gehandelt habe, entscheidet ihr Richter, und damit das Gesetz, ob ich richtig gehandelt hatte.«

Ellenberger massierte seine Nase. Das tat er immer, wenn er nachdachte.

»Auf dich hat es abgefärbt und auf mich«, fuhr der Kommissär düster fort, »der Umgang mit den verdammten Gesetzen, meine ich, hat abgefärbt. Du bist den Weibern gegenüber allzu vorsichtig geworden; du hast nie geheiratet, um ja nicht deinen Kollegen, den fürchterlichen, langweiligen