Der Pferdemörder – Eine absonderliche Geschichte aus Mecklenburg - Siegfried Stang - E-Book
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Der Pferdemörder – Eine absonderliche Geschichte aus Mecklenburg E-Book

Siegfried Stang

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Beschreibung

Eine Serie grausamer Pferdemorde im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte sorgt bundesweit für Abscheu und Entsetzen. Die Polizei tappt jedoch zunächst im Dunkeln und gerät immer stärker unter Druck. Den spürt auch Kriminalhauptkommissar Tim Asfeld, der verantwortliche Ermittler. Und plötzlich geht es nicht mehr nur um die Pferde. Auch Menschen geraten in akute Lebensgefahr. Die junge Theologiestudentin Pia, die im Herbst allein in einer verlassenen Bungalowsiedlung wohnt, wird mehr und mehr in den Strudel der Ereignisse hineingezogen. Sie ist seltsamen, aggressiven Handlungen ausgesetzt, über deren Grund und Urheber sie rätselt. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Und mehrere Menschen sterben. Autor Siegfried Stang hat seine jahrzehntelangen Erfahrungen als Kriminalist in eine spannende und erst nach und nach verstehbare Geschichte einfließen lassen. So kann der Roman mit einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung überzeugen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären allerdings dennoch rein zufällig. Dem Verfasser des Buches gelingt es, die psychologischen Hintergründe der Verbrechen plausibel und nachvollziehbar zu schildern. Die Kriminalisten und der Leser erfahren erst Stück für Stück, warum alles so kommt, wie es gekommen ist – scheinbar zwangsläufig.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Impressum

Trügerische Idylle

Tatortaufnahme

Im ‚Zauberwald‘

Spiel mit Steinen

Die Einladung

Ein gesperrter Weg

Pastor Maitland

Die Einbestellung

Der Helfer

Die Predigt

Der Unfall

Vorfall im Krankenhaus

Die Ratte

Hoffnungen

Der Waschbär

Der Überfall

Im ‚Keller‘

Enthüllungen und Geständnisse

Bei der Polizei

Linus im ‚Keller‘

Die Spur

Die Hand

Die Suche

Schusswechsel

Die Flucht

Epilog

Siegfried Stang

Impressum

Siegfried Stang

Der Pferdemörder – Eine absonderliche Geschichte aus Mecklenburg

Kriminalroman

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung eines Bildes von Gcomics

ISBN 978–3–96521–235–0 (E–Book)

ISBN 978–3–96521–237–4 (Buch)

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E–Mail: verlag@edition–digital.de

http://www.edition–digital.de

Trügerische Idylle

Donnerstag, 2. August

Die eingezäunte Wiese grenzte an ein Waldgebiet und befand sich mehrere Kilometer vom nächsten Dorf entfernt. Nur ein Rappe graste dort. Den abgelegenen Ort hatte der Mann mit Bedacht ausgesucht. Er war durch den Wald gekommen. Seinen Wagen ließ er am Ende des Waldweges stehen, wo er von Bäumen und Gebüschen verdeckt war. Dann nahm er einen Gehstock, eine prall gefüllte Plastiktasche und einen Werkzeugkoffer aus dem Fahrzeug und ging los. Als er aus dem Wald ins Freie trat, hielt er einen Moment inne. Er erfreute sich an einem Anblick, wie ihn mancher Tourist jetzt im Hochsommer in der Seenplatte suchen mochte. Eine riesige Wiesenfläche war bunt betupft mit Blumen in verschiedenen Farben, an zwei Seiten eingerahmt von einem Wald. Hier und da wies das Gras wegen der Trockenheit schon Ockertöne auf. In der Luft lag das Summen von Insekten wie eine Hintergrundmusik.

Die Sonne stand hoch an einem wolkenlosen Himmel. Eine Wiese wie aus dem Bilderbuch, dachte er.Idylle pur. Ruhe und Abgeschiedenheit, genau das Richtige …. Hierher verirrt sich kaum jemand. Sein Gesicht zeigte den Anflug eines traurigen Lächelns, wurde dann wieder ausdruckslos. Man sah ihm den seelischen Druck, der sich schon seit einiger Zeit in ihm aufgestaut hatte, äußerlich nicht an. Auch nicht die Gefühle, die ihn quälten: Weder den Hass noch die unterschwellig in ihm brodelnde Wut; all das, was sein Denken und Fühlen vergiftet hatte. Nun trieb ihn ein tiefes Bedürfnis an – nach Erleichterung von dem, was ihn bedrückte. Er sah vorsichtshalber ein weiteres Mal in die Runde. Dann gab er sich einen Ruck und ging auf den eingezäunten Bereich zu. Dem Werkzeugkasten entnahm er eine Zange und kappte die drei übereinander angeordneten Stacheldrähte des Zaunsegments an einer Stelle, die nicht weit vom Wald entfernt war. Jetzt war der Weg auf die Wiese frei. Er betrat den eingezäunten Bereich und ging direkt auf das grasende Pferd zu, wobei er jede ruckartige oder hastige Bewegung vermied.

Der Hengst befand sich in einer Entfernung von etwa dreißig Metern und hob den Kopf, als er die menschliche Gestalt wahrnahm. Es war ein kräftiges, groß gewachsenes Tier mit glänzendem schwarzen Fell. Neugierig, jedoch vorsichtig und zögerlich bewegte es sich auf den Mann zu. Der griff in die Plastiktüte und nahm daraus etwas frisches Heu, das er mit langsamen Bewegungen in der Luft herumschwenkte, um das Tier anzulocken. Der Rappe kam nun zutraulich zu ihm heran, und er sprach beruhigend auf ihn ein. Dann kippte er den gesamten Inhalt der Plastiktüte auf den Boden und machte einen Schritt zurück. Der Hengst begann, das Heu geräuschvoll zu fressen. Aus dem Werkzeugkoffer lugte seitlich ein Stiel heraus. Er gehörte zu einem kurzstieligen Vorschlaghammer. Der Mann öffnete den Koffer und nahm den Hammer heraus, hielt ihn einen Moment mit beiden Händen und visierte den gesenkten Kopf des Rappen an, als wolle er ihn sich als Ziel einprägen. Er stand nun fast seitlich zum Pferdekopf, holte plötzlich mit einer blitzschnellen, kreisenden Bewegung aus und ließ das Gewicht des Hammers mit großer Wucht auf ihn niedersausen. Der Hammer traf das Pferd genau zwischen den Augen. Man hörte das Geräusch zerberstender Knochen. Das Gesicht des Mannes verzog sich, als ob er selbst den Schmerz spüren würde. Der Hengst stand einen Moment reglos, als wäre er zu Eis geworden. Dann verdrehte er die Augen, knickte mit den Vorderbeinen ein und kippte – wie in Zeitlupe verlangsamt – seitlich zu Boden. Zwischen den Augen hatte sich ein blutiger Fleck gebildet. Die Zunge hing dem Tier aus dem Maul, Speichelfäden befanden sich daran. Es lag reglos und betäubt auf der Seite.

Der Mann nahm den hölzernen Gehstock und zog an dem mit Schnitzereien verzierten Griff. Schaft und Griff lösten sich voneinander und nun war zu erkennen, dass der Stock die Scheide für eine Klinge von etwa sechzig Zentimetern Länge darstellte. Es handelte sich um einen kurzen Stockdegen. In diesem Moment schien unversehens wieder Leben in den Rappen zu kommen. Er rollte sich mit weit aufgerissenen, hervorquellenden Augen auf den Rücken und schlug mit den Hufen in die Luft. Der Mann wartete, bis das Tier wieder bewegungslos auf der Seite lag und stieß dann mit dem Stockdegen zu, in den Bereich des Pferdekörpers, wo er das Herz vermutete. Er hatte die Absicht, das Tier schnell zu töten. Denn er wollte nicht, dass es lange litt, obwohl er Pferde nicht mochte. Jetzt war es für ihn nur Mittel zum Zweck. Die nadelspitze Klinge drang tief ein, fast bis zum Anschlag. Schnell zog er sie wieder aus dem Fleisch. Das Tier zuckte, rollte wiederum auf den Rücken, und der Mann sprang mit einem Satz vorsichtshalber zurück, um nicht von einem der Hufe getroffen zu werden. Das schwer verletzte Pferd zappelte kurz, dann lag es im Todeskampf erneut auf der Seite. Nun trieb der Mann zum zweiten Mal die Klinge in den Tierkörper hinein, wieder in den Bereich, wo er den Sitz des Herzens annahm. Aber als Reaktion gab es diesmal nur ein Zucken auf der Haut des Hengstes, mehr nicht. Er kann sich schon nicht mehr wehren. Gleich ist er tot.

Der Mann riss den Degen aus dem Tierkörper heraus und stach nun wahllos immer wieder zu.

Die Wut, die er in sich trug, sowie die anderen lange Zeit unterdrückten Gefühle begannen, sich zu entladen. Bilder tauchten plötzlich vor seinem geistigen Auge auf. Von Herabsetzungen, Zurückweisungen, von unbedachten Frotzeleien, Spott und Hohn. Mit jedem Stich rächte er sich dafür. Sein gesamtes Empfinden bestand nun aus rasendem Zorn und dem Gefühl unbeschränkter Macht.

Langsam geriet er in Ekstase. Nun blitzten andere Gedanken wie glänzende Bruchstücke in seiner Vorstellung auf, widerwärtige Erinnerungen an längst Vergangenes. Ihn erfasste eine Welle des Ekels, gemischt mit blinder Lust und Scham, die zu einer rasenden Wut wurde. Die Stiche erfolgten in schneller Folge. Dabei steigerte er sich in einen regelrechten Blutrausch hinein.

Als dieser abklang, gewannen Scham und Schuldgefühle die Oberhand. Da, da! Nimm das, und das … deine Strafe! Er war erneut wie von Sinnen.

Die Klinge sauste immer wieder auf den Tierkadaver nieder. Sogar in die Augenhöhlen des Rappen stach er. Bald war seine Kleidung von Blutflecken übersät, beide Hände waren blutig. Doch plötzlich, auf dem Höhepunkt der Raserei, die bestrafen sollte, begann er zu schluchzen. Tiefes Mitleid erfasste ihn, wurde zum Selbstmitleid. Ich – ich selbst bin das Tier! Schließlich kniete er schwer atmend und schweißüberströmt vor dem Kadaver, warf den Degen beiseite. Langsam klang die Ekstase ab und machte klarerem Denken Platz. Er richtete sich auf und fühlte sich auf einmal befreit, als hätte man eine Last von seiner Schulter genommen und als wäre sein Inneres von Beschmutzungen gereinigt. Lange hielt er jedoch nicht inne. Der Verstand setzte sich rasch wieder durch und arbeitete wie auf Hochtouren. Schnell weg hier! Aber etwas muss ich noch tun … Er rappelte sich hoch und nahm aus dem Werkzeugkoffer eine Handkreissäge mit Akku. Damit trennte er einen Huf des Pferdes ab. Verflucht, das Ding macht zu viel Krach! Hoffentlich hört das niemand … Er musterte sichernd den Horizont, aber es war kein Mensch zu sehen. Den abgesägten Huf steckte er in die Plastiktüte. Dann sammelte er eilig alles auf, was um das tote Tier herumlag. Anschließend nahm er sich die Zeit, den Ort seiner Tat noch einmal sorgfältig abzusuchen, um dort nichts zurückzulassen, was auf ihn hindeuten konnte. Danach hastete er mit Tasche, Tüte und Stock zurück zu seinem Wagen. Dort wischte er das Blut von seinen Händen und den Gegenständen, legte alles ins Auto und verdeckte es mit einer Plane. Danach zog er saubere Kleidung an und fuhr ohne große Eile über den Waldweg vom Ort des Geschehens weg.

Tatortaufnahme

Freitag, 3. August

Das Telefon auf dem Schreibtisch von Hauptkommissar Timotheus Asfeld schrillte.

Er nahm den Hörer ab. Es war Gelshoff, der derzeitige Wachhabende des örtlichen Reviers. „Guten Morgen, Tim, da hat wieder so ein Spinner ein Pferd getötet. Hinten, auf einer Wiese in der Nähe des Dorfs Goldenwald. Du bearbeitest doch die Pferdemörder-Serie?“ „Ja, ich fahre gleich raus. Du musst mir nur noch sagen, wohin.“ Gelshoff teilte ihm Namen und Adresse des Anrufers mit, der gleichzeitig auch Eigentümer des Pferdes war. „Schick mir bitte den Veterinär nach“, bat er Gelshoff, bevor er sich auf den Weg machte. In Goldenwald fand er schnell den Geschädigten, der Schnarzig hieß und in dem weit auseinandergezogenen Dorf nebenher einen kleinen Bauernhof betrieb.

„Da sind Sie ja! Es ist schon fast eine Stunde her, dass ich bei der Polizei angerufen habe.“ „Und nun bin ich hier!“, sagte Asfeld freundlich und schüttelte ihm die Hand. „Wo ist das tote Pferd?“ „Ach, dort hinten! Sind einige Kilometer. Das finden Sie nicht so leicht. Am besten fahre ich mit meinem Wagen voraus.“ Die Fahrt ging im Schritttempo über unbefestigte Fahrwege. Schließlich langten sie bei einer großen Wiese an, unmittelbar am Waldrand. Asfeld sah schon von weitem den Kadaver, um den einige Leute standen. Er und Schnarzig stellten ihre Wagen am Fahrweg ab und betraten die Wiese durch das Loch im Drahtzaun, wie wohl auch alle anderen vor ihnen. Es ist immer dasselbe bei diesen Pferdemorden,ereiferte sich Asfeld in Gedanken, schon lange vor der Polizei sind Neugierige am Tatort, trampeln alles nieder und zerstören wahrscheinlich die gesamte Spurenlage. Jedes Mal ein richtiges `Spurenvernichtungs-Kommando'!

Der Kriminalist ging direkt zu dem toten Pferd, das wie ein riesiger dunkler Fleischberg auf der Wiese lag, umschwärmt von Schmeißfliegen. Als Schnarzig dieses erbarmungswürdige Bild sah, schlug er sich in hilfloser Wut mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Bingo hieß der Hengst, war ein schönes Tier. So ein Verrückter! Das sind doch keine Menschen, die so etwas tun. Die sollte man selbst abschlach…“ „Na, na, Herr Schnarzig!“, unterbrach ihn der andere. „Schon gut, schon gut! Ich mein' ja nur. Es tut einem in der Seele weh, so eine Tierquälerei zu sehen!“ Asfeld pflichtete ihm bei: „Ich verstehe schon, was Sie meinen … Bin ja auch ein Tierfreund.“ Dann machte er sich an die Arbeit, forderte alle anwesenden Personen auf, die Wiese zu verlassen und sich auf den Fahrweg zu begeben, wo ihre Autos abgestellt waren. „Wie?“, protestierte Schnarzig. „Ich auch? Das ist doch meine Wiese …“ Der erfahrene Kriminalbeamte blieb, wie fast immer, professionell freundlich. „Und das soll sie auch bleiben. Aber es geht um Spurensicherung! Wenn hier nicht ein totes Pferd, sondern ein toter Mensch läge, dann dürften Sie bis zum Ende der polizeilichen Maßnahmen auch nicht auf Ihre Wiese. Das würden Sie doch einsehen, oder?“ „Ja, ja, das schon … na gut …“ Murrend folgte Schnarzig den anderen zum Weg neben der Wiese.

Dort befragte Asfeld wenig später alle Anwesenden nach ihren Feststellungen und notierte ihre Personalien. Es waren sechs Personen, darunter die zwei Wanderer, die das tote Tier entdeckt und im Dorf Bescheid gesagt hatten. Keiner der Befragten konnte Angaben machen, die sachdienlich erscheinen. Einer nach dem anderen entfernten sie sich vom Ort des Ereignisses, sie hatten sich gleichsam satt gesehen.

Nach der Befragung wandte der Kriminalist sich dem Tatort zu, untersuchte den Zaun, nahm den toten Hengst genau in Augenschein, immer auf der Suche nach Spuren. Aber er wurde nicht fündig, auch nicht, als er weiträumig die Wiese um das Tier herum abschritt, den Blick auf den Boden geheftet. Denn das Gras war hoch und er fand nichts, was nicht auf eine Wiese gehörte. Anschließend schoss er Fotos von dem toten Pferd aus verschiedenen Blickrichtungen. Ebenso vom sogenannten Tatort im weiteren Sinn, der Umgegend des eigentlichen Ereignisortes: Vom Waldrand, vom Fahrweg und der Wiesenfläche. Mittlerweile traf der Tierarzt, Dr. Bäumer, ein und untersuchte den Tierkörper, der an manchen Stellen schon von summenden Fliegen übersät war. Dann gab er eine erste mündliche Einschätzung ab. „Nach den Verletzungen zu urteilen, dürfte hier wieder dieselbe Person aktiv geworden sein, die schon die vier anderen Pferde getötet hat.“ Bäumer hatte seit Beginn der Serie, im Herbst des Vorjahres, alle toten Tiere untersucht. „Es war wieder unser Freund, der Huf-Fetischist. Der mit der langen, dünnen Klinge. Offenbar läuft das jedes Mal so ab, dass er das Tier mit einem schweren, stumpfen Gegenstand niederschlägt und dann mit der Stichwaffe versucht, das Herz des Pferdes zu durchbohren. Anschließend sticht er dann wohl wahllos auf das Tier ein.“ „Was – schätzen Sie – könnte die Stichwaffe gewesen sein.“ „Schwer zu sagen. Die Tiefe der Stiche ist unterschiedlich, variiert zwischen vierzig und fünfzig Zentimetern. Dabei können wir davon ausgehen, dass die Waffe nicht bis zum Griff eingedrungen ist. Die Klinge ist dünn, spitz und lang. Für ein Messer ist sie wohl zu lang. Ich schicke Ihnen noch einen ausführlichen Bericht zu.“ „Danke, Herr Doktor.“ Als der Veterinär gegangen war, kam Schnarzig auf die Wiese zurück und meinte „Wissen Sie was, Herr Kommissar? Ich fahre jetzt erst einmal zurück nach Hause, kümmere mich um den Abtransport des toten Pferdes und komme später wieder. Vielleicht sind Sie dann schon lange fertig.“ „Ja, gut. Äh, noch eins, Herr Schnarzig: Wir können den Kadaver per Hand jetzt nicht von der Stelle bewegen. Aber Sie werden ja dabei sein, wenn er abtransportiert wird. Bitte schauen Sie sich danach ganz genau die Stelle an, wo er gelegen hat. Wenn Sie dort irgendetwas finden – und sei es noch so klein – nehmen Sie es bitte an sich und rufen mich an.“ „Mach ich“, sagte der andere ihm zu.

Wenig später war auch Schnarzig mit seinem Wagen verschwunden. Nun war Asfeld allein auf weiter Flur und ließ die ländliche Natur für einige Sekunden auf sich wirken. Die blumenreiche Wiese, den Wald, den blauen Himmel, den hellen Sonnenschein. Ihn störte in seiner Betrachtung allerdings das Summen der Schmeißfliegen. Als sein Blick wieder auf den blutigen Kadaver fiel, verblasste der Eindruck von Naturschönheit und Harmonie auf der Stelle. Er zog sich Handschuhe an und begann mit der Absuche des Tieres, denn als Kriminalist fühlte er sich verpflichtet, sich selbst ein Bild zu machen – unabhängig vom Tierarzt. Er fand jedoch nichts, was ihm weiterhelfen konnte. Suchend sah er sich um. Hm, die ganze Wiese kann ich nicht absuchen. Dazu bräuchte man mehrere Hundertschaften der Bereitschaftspolizei. Würde wohl auch wenig Sinn machen. Sein Blick fiel auf den Bereich, wo der Wiesenfahrweg in den Wald überging. Aber dort hinten könnte ich noch mal nachsehen. Der Pferdemörder könnte auch von dort gekommen sein – und nicht aus der Richtung des Dorfes. Er ging los und wenig später trat er aus der sengenden Sonne in den schattigen Wald, durch den sich die beiden Fahrrinnen des Weges schlängelten. Nur ein paar Meter vom Waldrand entfernt befand sich eine Art Abstellplatz für Fahrzeuge. Eine natürlich entstandene Parknische, in der zum Beispiel Jäger oder Touristen ihren Wagen abstellen konnten. Er schaute sich diesen Platz näher an. Der aufgeweichte Waldboden wies Eindrücke vom Profil verschiedener Reifen auf, hier wurde offenbar beim Hin- und Herfahren oftmals rangiert. Zum Teil überlagerten sich die konkaven Formen, waren daher wertlos für den Kriminalisten.

Das können irgendwelche Wagen gewesen sein. Daraus ergibt sich wohl kaum eine Spur zum Täter. Die Eindrücke mit Gips ausgießen? Nein, aber vorsichtshalber ein Foto. Asfeld holte aus dem Dienstwagen eine Fotokamera und richtete sie auf die Reifeneindrücke im feuchten dunklen Waldboden. Er zoomte gerade eine der Spuren heran, deren Profil ihm recht gut erkennbar erschien, als ihm etwas Weißes, halb Verdecktes, am Rande des Eindrucks auffiel. Was ist das? Er setzte die Kamera ab und schaute auf die Stelle, konnte mit bloßem Augen aber kaum etwas im Halbdunkel des dichten Waldes erkennen. Daraufhin nutzte er die auf eine hohe Zoom-Stufe eingestellte Kamera wie ein Vergrößerungsglas, und da sah er es wieder: Etwas Weißes von der Größe eines halben Fingernagels. Asfeld nahm einen Pinsel aus dem Tatortkoffer und wischte damit vorsichtig den morastigen Boden auf dem Objekt, sowie darum herum, weg, die Kamera vor Augen. So legte er einen länglichen weißen Papierschnipsel frei, den er mit einer Pinzette ergriff und in ein durchsichtiges Plastiktütchen verbrachte. Der Schnipsel maß etwa zwei Zentimeter in der Breite und vier in der Länge. Durch die Plastikhülle sah der Ermittler, dass man Zahlen darauf geschrieben hatte. Den Schnipsel sehe ich mir später im Büro mal genau an. Ist aber eher unwahrscheinlich, dass sich daraus ein Hinweis auf den Täter ergibt. Der Kriminalist packte seinen Fund sorgfältig in die Tatorttasche und schaute sich den Boden der gesamten Abstellfläche noch einmal mit Hilfe eines ‚richtigen‘ Vergrößerungsglases an. Aber leider war sonst nichts Besonderes mehr zu finden. Er meldete sich über Funk bei Gelshoff, als er wieder im Dienstwagen saß. „Du kannst von dort gleich nach Neubrandenburg fahren!“, erklärte ihm der Wachhabende. „Dein Kommissariatsleiter möchte dich sprechen. Die Medien haben schon Wind von der Sache bekommen und das schlägt natürlich Wellen in der Presse.“ „Ja, wie jedes Mal. Gut, ich fahre hin.“

Kriminalrat Dietmar Bregenz, seines Zeichens Jurist, empfing ihn in seinem Büro. Sie setzten sich an den Besprechungstisch. „Das ging ja schnell, Tim“, meinte er. „Und das ist auch gut so! Du kannst dir ja vorstellen, was in unserer Pressestelle nach so einer Tierquälerei los ist. Wir brauchen also etwas ‚Futter‘ für die Presse. Was hast du denn so herausgefunden?“ „Nicht viel. Es ist jedenfalls wohl dieselbe Person gewesen wie bei den anderen vier Pferdemorden. Wieder dieser ‚Berserker‘. Die Tatbegehung ist identisch: Erneut wurde dieses lange, dünne Stechwerkzeug verwendet. Damit hat er das Pferd traktiert, nachdem er mit einem schweren stumpfen Gegenstand auf dessen Kopf eingeschlagen hat. Das Opfer ist, wie in den anderen Fällen auch, ein Hengst. Und es wurde wieder einmal ein Huf abgetrennt. Alles typisch für den oder die Täter.“ „Ist es denn ein einzelner oder sind es mehrere?“ „Das kann man schlecht sagen, grundsätzlich ist es auch einer einzelnen Person möglich, solch eine Tat zu begehen. Aber da bewegen wir uns noch im Bereich der Vermutungen.“ Bregenz nickte. Er selbst hatte keine Ausbildung zum Kriminalisten – er war ein sogenannter ‚Seiteneinsteiger‘ bei der Polizei – und verließ sich bei diesen kriminalistischen Einschätzungen ganz auf Asfeld. Der war in seinen Augen nicht nur ein guter Leiter der Kriminalaußenstelle, sondern sein bester Mann. Er war sich sicher: Wenn einer die Serie aufklären konnte, dann er. Bei Mordfällen oder anderen Aufsehen erregenden Kapitaldelikten wurde der Ermittler regelmäßig sogar von der Kriminalpolizeiinspektion im Präsidium zur Unterstützung angefordert. „Was haben wir denn eigentlich insgesamt für Erkenntnisse zu den Pferdemorden?“, wollte Bregenz wissen. „So gut wie nichts. Es ist nie jemand bei der Tatausführung beobachtet worden. Zu keiner Zeit wurde ein Verdächtiger in Tatortnähe gesehen, weder vor oder nach einem der Delikte. Kein Wunder, denn die Orte waren allesamt sehr abgelegen. Ansonsten ergeben sich weder aus der Lage der Ereignisorte noch aus den Tatzeiten irgendwelche Zusammenhänge zwischen den fünf Delikten. Es gab zwar immer wieder etliche Hinweise aus der Bevölkerung, aber bisher keinen ‚Treffer‘. Wir kommen nicht recht voran.“ „Na ja, eins ist sicher: Der Täter kann nicht normal sein.“ „Das kann man mit Fug und Recht annehmen. Deshalb habe ich vor einiger Zeit mal Kontakt mit Professor Winter von der Psychiatrischen Klinik in Greifswald aufgenommen. Der war bereit, sich ohne Honorar unverbindlich mit mir über die Fälle zu unterhalten.“ „Und?“ „Tja, dabei kam nichts Eindeutiges heraus, nur eine nebulöse Einschätzung. Vieles ist denkbar: Der Täter kann ein Sadist sein oder ein Pferdehasser. Möglich ist auch eine sogenannte Projektion.“ „Eine Projektion?“ „Ja, darunter versteht man wohl einen psychischen Mechanismus, bei dem eigene unerwünschte Triebe und Gefühle einem anderen Menschen, Tier oder Gegenstand zugeschrieben werden. In unseren Fällen also einem Tier. Aber das sind alles Vermutungen und Spekulationen. Nichts, was uns beim Eingrenzen des Täterkreises helfen könnte. Für den Professor war nur eines klar: Der Täter muss psychisch krank sein.“

Bregenz kratzte sich unschlüssig am Kopf.

„Was meinst du, Tim: Sollen wir eine besondere Arbeitsgruppe für die Fälle zusammenstellen? Wäre ja egal, wie man die nennt: Ermittlungsgruppe oder Sonderkommission.“ „Hm, nein, Dietmar. In den vorliegenden Fällen macht das keinen Sinn. Wir haben doch so gut wie keine Hinweise und Spuren. Es gibt nichts, dem die Kollegen nachgehen könnten. Außerdem sind ‚Pferdemorde‘ nichts anderes als Straftaten nach dem Tierschutzgesetz. Da braucht man keine ‚Mordkommission‘, auch wenn die Quälerei der Tiere die Leute empört.“

„Das ist schon richtig. Aber in den Augen der Öffentlichkeit und der vielen Tierfreunde scheint so eine Tat manchmal fast genau so schlimm zu sein wie der Mord an einem Menschen.“ „Kann ich mir vorstellen. Aber wir haben eben keine Spuren, die eine Kommission bearbeiten könnte.“ „Wie war es denn heute, hast du am Tatort irgendwelche Spuren gefunden?“ Asfeld zögerte, den Papierschnipsel zu erwähnen. „Nein, da gab es nichts, das von Belang ist, jedenfalls keine heiße Spur“, antwortete er schließlich ausweichend.

Bregenz war nun etwas ratlos. „Hm … was machen wir denn nur? Viele Menschen im Land wollen sehen, dass sich irgendetwas in der Sache tut. Sie werden nicht verstehen, dass nur ein einzelner Sachbearbeiter mit der Angelegenheit befasst ist.“ Er dachte laut nach: „Vielleicht können wir die Presse erst einmal mit der Erklärung abspeisen, dass wir die Bildung einer Sonderkommission in Erwägung ziehen. Das dürfte vorerst ausreichen.“ „Ist zwar Augenwischerei, aber wenn es dir hilft …“, meinte der Kriminalist. Bregenz verzog das Gesicht. „Natürlich ist das bloß Augenwischerei. Wenn der Druck weiter wächst, müssen wir ohnehin tatsächlich eine kleine Soko bilden. Egal, ob das Sinn macht oder nicht.“ Asfeld stimmte zu: „Wenn du es für angeraten hältst, dann musst du eben eine bilden. Hoffentlich kannst du es dir bei der Arbeitsbelastung des Kommissariats leisten, Ermittler abzuzweigen … Du bist der Chef!“ Bregenz kehrte die Handflächen nach oben. „Also gut! Erst mal belassen wir es bei der Augenwischerei …“

Später, in seinem Büro, schaute sich Asfeld das kleine Stück Papier unter der Lupe noch einmal eingehend an. Es war weder liniert noch kariert. Hinsichtlich des Materials konnte er keine Besonderheiten feststellen. Vielleicht stammt das Papier von irgendeinem Notizblock oder etwas Ähnlichem. An der Schmal- und einer Längsseite sind geradlinige Ränder festzustellen, ansonsten sind die Konturen gezackt. Wie eine herausgerissene Ecke … Auf den Schnipsel hat jemand – wohl mit Kugelschreiber – eine Zahlenfolge geschrieben: 4682. Ziemlich krakelig. Sieht nach einer Männerhandschrift aus. Vielleicht ist das nur das Fragment einer Telefonnummer? Oder ein Rechenergebnis?Vermutlich war das Papierstück mit den Zahlen ursprünglich größer.

Möglicherweise hat jemand die Zahlenfolge auf das Blatt geschrieben, es dann in kleine Teile zerrissen und in einer Jacken- oder Hosentasche aufbewahrt, um es wegzuwerfen. Beim Aussteigen aus dem Wagen in der ‚Parknische‘ im Wald ist der Schnipsel dann aus der Tasche gefallen. Ob ihn der Täter dort verloren hat oder irgendeine andere Person, kann man im Moment nicht sagen. Und selbst, wenn es der Täter war, der das Papierstückchen dort verloren hat – was beweist das schon? Dass er mal dort war, irgendwann. Eigentlich hat der Schnipsel daher kaum Beweiskraft. Aber man weiß nie, wofür er noch nützlich sein könnte ….

Asfeld pinselte das Stückchen Papier mit Rußpulver ein, aber es wies keine Fingerabdrücke auf. Er dachte kurz nach: Mikro- oder sonstige Spuren? Das müsste man allenfalls bei Mord oder schweren Delikten in Betracht ziehen – hier wäre das so, als würde man mit Kanonen auf Spatzen schießen ….

Im ‚Zauberwald‘

Mittwoch, 8. August

Pia hatte sich in diesem Sommer angewöhnt, am frühen Vormittag zu joggen. Dann war es noch nicht so heiß. Zudem lief sie überwiegend im Wald, um den Schatten zu nutzen. Auch heute hatte sie wieder einige Kilometer zurückgelegt, als sie sich entschloss, vom Waldweg abzuweichen und einem Pfad zu folgen, den sie noch nicht kannte. Sie liebte es, im Grünen immer wieder Neues zu entdecken, und so entwickelten sich manchmal regelrechte Erkundungsläufe. Nach mehreren Kilometern gelangte sie zum Rand des Waldes und schaute auf eine ausgedehnte, hügelige Wiesenlandschaft, ein Karree, an allen Seiten von Bäumen gesäumt. Eingebettet in dieses Geviert war ein kleines, ovales Mischwäldchen aus Buchen und Kiefern, wie eine Insel. Aus der Ferne sah es aus wie ein riesiger grüner Igel. Das ganze Panorama gefiel ihr auf Anhieb: Dieser Eindruck von Weite sowie das Zusammenspiel von Wiese und Wald, wie das Kunstwerk eines Landschaftsmalers!

Der Trampelpfad setzte sich über die Wiese fort und sie beschloss, ihm weiter zu folgen. Nach einigen Minuten hatte sie das Wäldchen erreicht und tauchte in das Halbdunkel unter dem Blätterdach ein. Hier und da brachen Strahlen durch die Baumwipfel und besprenkelten den Boden mit grell leuchtenden Lichtflecken. Sie ging nun zwischen den Bäumen hin und her, um das Gelände ein wenig zu erforschen. An einer Stelle fand sie ein ausgebleichtes Tierskelett, vielleicht von einem verendeten Fuchs. Ansonsten sah sie viele große Findlinge und jede Menge kleinerer Steine. Sie empfand das Wäldchen als geradezu zauberhaft. Der Ort ist sehr abgelegen, allenfalls der Förster oder irgendwelche Jäger kommen hierher. Er ist wie verwunschen, wie ein mysteriöser Platz im Märchen. Ich glaube, ich werde ihn ‚Zauberwald‘ nennen. Angesichts der vielen Steine erinnerte sie sich an einen Urlaub auf einer der kanarischen Inseln. Dort hatten viele Menschen am Strand kleine Steintürme errichtet. Nein, einen Turm werde ich nicht gerade bauen. Aber ich könnte einige Steine zu einer Art Figur zusammenstellen.Einfach so, aus Spaß! Sie suchte sich einen stattlichen Findling aus, der etwa halb so groß wie ein Regenfass war. Darauf legte sie einen kleineren Stein und auf diesen wiederum einen noch kleineren. Dann betrachtete sie ihr ‚Werk‘. Haha, abstrakte Kunst. Wie ein Schneemann aus drei Teilen. Unter- und Oberkörper mit einem Kopf darauf. Diese Figur wird wohl jahrelang unverändert so stehen. Na, ich werde des Öfteren mal hierher zurückkommen, um mich an den heutigen Tag zu erinnern und vielleicht darüber nachzusinnen und zu staunen, was sich zwischenzeitlich alles in meinem Leben und der Welt verändert hat. So, nun muss ich aber weiter. Sie durchquerte das Wäldchen in Richtung des Trampelpfads, als sie plötzlich auf einen merkwürdig geformten Stein traf, der noch größer war als ‚ihr‘ Findling. Die Oberfläche war flach wie eine Tischplatte und fast kreisrund. Der Form des Steins erinnerte sie an eine hohe, geschlossene Schüssel. Noch seltsamer als den Findling selbst fand sie jedoch das, was – genau in der Mitte – darauf lag: ein Hufeisen. Komisch, da hat ja jemand solch ein Eisen, das schon leicht angerostet aussieht, auf den Stein gelegt. Wie auf einen Altar.Was derjenige sich wohl dabei gedacht hat? Der hat das Hufeisen doch nicht einfach so im Vorbeigehen daraufgelegt – wie ich vorhin die beiden kleineren Steine auf den Findling! Sowas muss man vorher planen und mitbringen. Hm, das ist wirklich ungewöhnlich …

Sie nahm das Eisen in die Hand. Es fühlte sich rau und kühl an. Einer plötzlichen Eingebung folgend, legte sie es nicht auf die Steinplatte zurück, sondern vor dem Findling auf den Waldboden. Mal sehen, was passiert ist, wenn ich das nächste Mal wiederkomme.– Puuh, ich schwitze ganz schön. Pia nahm aus der Seitentasche ihres Trainingsanzugs ein benutztes Papiertaschentuch und tupfte sich Stirn und Nacken ab, dann steckte sie es zurück. Als sie loslief, merkte sie nicht, dass es ihr aus der Tasche glitt und zu Boden fiel.

Am Abend saß sie in ihrem Bungalow vor dem Fernsehgerät und schaute sich einen zusammenfassenden Beitrag über die Pferdemorde in der Region an. Obwohl die Bilder von den toten Tieren nur jeweils ganz kurz gezeigt wurden und teilweise sogar unscharf gemacht worden waren, war sie angewidert von den Taten. Diese Grausamkeit! Jemand, der solche Blutbäder anrichtet, muss pervers sein. Hoffentlich fasst die Polizei den Täter bald! Aber noch scheint sie im Dunkeln zu tappen. Es befremdete sie, dass solche Delikte gleichsam ganz in der Nähe geschehen waren, mitten in diesem Landstrich, der ihr jetzt im Sommer nahezu paradiesisch erschien. Kaum zu glauben, dass hier so etwas passiert – und ein gewalttätiger Verrückter frei in der Gegend herumläuft.

In der TV-Dokumentation trat gerade ein Polizeisprecher auf, der versicherte: „Die Ermittlungen laufen auf vollen Touren.“

Spiel mit Steinen

Mittwoch, 8. August bis Mittwoch, 15. August

Er war auf dem Weg zu seinem Fetisch. Unterwegs stellte er fest, dass sich auf dem Trampelpfad fremde Spuren abzeichneten, die nur vom Schuhwerk eines Menschen stammen konnten. In dem weichen Waldboden fand er an verschiedenen Stellen Eindrücke von den selben Schuhsohlen. Es ärgerte ihn, dass jemand den Pfad entlanggegangen war, den er selbst angelegt hatte. Immer und überall Menschen. Wie Ameisen. Selbst tief im Wald, wo man sie kaum vermuten sollte. Dabei hatte ich angenommen, dass hierher kein Spaziergänger kommen würde. Ein Fehler! Missmutig ging er weiter in der Hoffnung, dass der Störenfried längst verschwunden sein würde. Er wollte niemandem begegnen. Als er schließlich den Waldrand erreichte, sah er auf dem Pfad, der über die Wiese zu dem inselartigen Waldstück führte, eine menschliche Gestalt, die sich in seine Richtung bewegte. Vor diesem Anblick prallte er geradezu zurück, schlug sich seitlich in die Büsche, aber so, dass er von dort aus die freie Fläche und die Gestalt weiter unbemerkt beobachten konnte. Er wusste genau, wie man sich hervorragend tarnen konnte. Über die sanften kleinen Hügel der Wiese lief eine junge Frau in einem schwarzen, eng anliegenden Sportdress. Sie joggte langsam, bewegte sich im Dauerlauf vorwärts. Als sie näher kam, konnte er sie endlich genauer betrachten. Er schätzte ihr Alter auf etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre. Sie war schlank, gebräunt und trug ihr rabenschwarzes Haar kurz. Schließlich hatte sie fast den Rand des Waldes erreicht, und er konnte ihr Gesicht sehen. Sein Herz machte einen Sprung. Was für eine Schönheit! Ihr Anblick berührte ihn im Innersten, ja bezauberte ihn geradezu. Gleichwohl war ihm nicht bewusst, dass dies einer der Momente war, die ein ganzes Leben verändern können. Es war der Beginn seiner Faszination für diese fremde junge Frau, die ihn nicht mehr loslassen sollte. Im wahrsten Sinne des Wortes hatte er sich in sie ‚verguckt‘.

Sie war offensichtlich völlig arglos, ahnte nicht, dass sie beobachtet wurde, während sie im Wald verschwand. Er wartete noch einige Zeit, dann kehrte er zum Trampelpfad zurück und folgte ihm bis zum Wäldchen. Dort begab er sich direkt zu der Steinplatte, auf der üblicherweise sein Hufeisen lag. Der Mann sah fast entsetzt, dass sich das Eisen vor dem Findling auf dem Waldboden befand. Ein schlimmes Omen! Mein Talisman liegt am Boden! Er war äußerst abergläubisch und nun lag das Symbol seines Glücks im Dreck.

Das muss die Frau gewesen sein, die ich gerade gesehen habe. Die Schöne von vorhin!

Vorsichtig, als wäre es zerbrechlich, hob der Mann das Hufeisen vom Boden auf und legte es wieder auf den Findling. Nun fühlte er sich schon besser. Was hat sie hier gemacht? Er suchte das Wäldchen ab, seinen Wald, und fand die aus drei Steinen bestehende Figur. Sieh da, sie hat etwas gebaut. Einige Sekunden starrte er das Gebilde an, dann stürzte er den kleinsten der drei Steine herunter. Wie du mir, so ich dir! Der Mann sah sich weiter um. Als er in die Nähe des Findlings mit dem Hufeisen zurückkehrte, sah er daneben das zusammengeknüllte Papiertaschentuch. Er nahm es in die Hand und zog es auseinander. Es waren Spuren von Lippenstift daran, ansonsten schien es sauber. Der Mann hielt es an seine Nase. Das Taschentuch verströmte einen leichten Hauch von Parfüm, der ihm angenehm war. Mehrfach sog er geräuschvoll den Duft ein, dann steckte er das Papiertuch in seine Hosentasche, um es mitzunehmen. Später roch er noch oft daran und das Bild der ‚Schönen‘ tauchte dann jedes Mal in seiner Fantasie auf. Sein Ärger war so schnell verflogen wie morgendlicher Hochnebel in der Mittagssonne.

Den Pfad hatte er nun hinter sich gelassen und ging noch etwa einen Kilometer bis zu seinem Wagen. Sie ist vormittags gekommen. Gestern war im Wäldchen noch alles unverändert. Vielleicht joggt sie immer am Vormittag. Ich kann es, was die Arbeit anbelangt, wahrscheinlich einrichten, dass ich dann da bin.

An den folgenden zwei Tagen tauchte die junge Frau nicht wieder auf. Der Mann hatte in demselben Versteck gewartet, aus dem heraus er sie erstmals beobachtet hatte. Er harrte geduldig aus und am dritten Tag war sie vormittags plötzlich da! Der Mann triumphierte. Sein Herz schlug höher, als er sah, wie sie sich schnell über den Weg zum Wäldchen hin bewegte. Der hautenge Trainingsanzug verriet ihm, dass sie sportlich durchtrainiert war. Ihr Laufstil schien ihm kraftvoll und elegant. Er genoss ihren Anblick und ihre Bewegungen.

Als sie vom kleinen Wald zurückkam, hatte er Zeit genug, verdeckt etliche Fotos von ihr zu schießen. Dichtes Laub verdeckte ihn und die Kamera, nur das Objektiv lugte durch die grünen Blätter, für die junge Frau nicht erkennbar. Wenig später war sie im Wald verschwunden.

Er wartete, bis er sicher war, dass sie nicht zurückkehren würde, dann lief er selbst zum Wäldchen. Dort stellte er fest, dass sich sein Hufeisen nach wie vor auf der flachen Platte ‚seines‘ Findlings befand, die für ihn Altar und Opfertisch war.

Außerdem bemerkte er, dass sie den dritten Stein wieder auf ihr steinernes Gebilde gelegt hatte. Einen Augenblick dachte er nach, dann nahm er schmunzelnd ein Steinchen von der Größe eines Hühnereis und legte es oben auf den dritten Stein. Er hätte nicht sagen können, warum er das tat.

Zu Hause betrachtete der Mann die Fotografien am PC und stellte sie vergrößert dar. Hier konnte er in Ruhe den wohlgeformten Körper der fremden jungen Frau bestaunen. Das Staunen wurde anfangs zu einem vagen, dann immer stärkeren Verlangen, diesen Körper zu berühren. Er zoomte das Gesicht heran und sah, dass sie lächelte. Vielleicht sieht sie das Ganze als ein amüsantes Spiel mit Steinen an. Den ganzen Abend konnte er nicht aufhören, die ‚Schöne‘, wie er sie bei sich nannte, immer wieder auf dem Bildschirm seines Computers anzuschauen.