Der Pflug des Zorns - Ein historischer Roman - Maria Helleberg - E-Book

Der Pflug des Zorns - Ein historischer Roman E-Book

Maria Helleberg

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Beschreibung

Spannende Fortsetzung von Maria Hellebergs Mittelalterroman "Vogelfrei"Schweden im 14. Jahrhundert: Jofrid, die uneheliche Königstochter, und Ritter Steen leben gemeinsam mit ihren Kindern und Pflegekindern auf einem Hof in Schweden. Im Alter von zehn Jahren verlässt Pflegekind Gunnar den Hof, um sich auf ein Leben im Konvent vorzubereiten. Einen guten Freund findet Gunnar in dem selbstsicheren Erik, der viel mehr über Gunnars geheimnisumwitterte Herkunft weiß, als dieser selbst ahnt. Die Jahre vergehen. Doch als sich Gunnar und Erik in die gleiche Frau verlieben, wird die Freundschaft der beiden Männer auf eine harte Probe gestellt...-

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Maria Helleberg

Der Pflug des Zorns - Ein historischer Roman

Saga

Der Pflug des Zorns - Ein historischer RomanCopyright © , 2019 Maria Helleberg und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726350920

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Für VT

Es saß auf der Linde ein Vogel und sang,

er sang eine Weise mit fröhlichem Klang.

Ich mag nicht mehr leben, ich sehne mich so.

Den ganzen Tag sang er, sang der Tage wohl drei,

eh’ ihn die Jungfrau erblickte dabei.

Als die Jungfrau gehört, was der Vogel gesungen,

freut’ sie sich von Herzen und auch mit der Zungen.

»Es gebe Herr Christus, der Vogel wär’ mein,

ich täte ihn setzen auf güldenen Schrein.«

Die Jungfrau ist gegangen, so weiß wie die Wand,

zu locken den Vogel mit rechter Hand.

Die Jungfrau begrüßt’ er so mild und so fein:

»Schon morgen wirst du im Himmelreich sein.«

Ich mag nicht mehr leben, ich sehne mich so.

1 GUNNAR

1324–28

Er nahm allen Mut zusammen und ging auf die hohe, spitze Tür der Kirche zu, wohl wissend, daß das ein unnötiges Risiko war. Der Pflegevater hatte ihm verboten, ohne Begleitung in die Stadt zu gehen. Es war nicht mehr wie damals in Norwegen, als sie vogelfrei und ohne Freunde gewesen waren. Dem Pflegevater standen Leute zu Diensten. Gunnar brauchte nicht allein und schutzlos zu gehen. Aber heute war er allein.

Unmittelbar vor der Tür blieb er stehen, fiel beinahe über seine eigenen Füße und bereute zutiefst seine Waghalsigkeit. Aber irgendwann mußte es ja geschehen. Der Kirchenraum öffnete sich ihm, viel zu weit, zu grau und unbekannt. Aus einer nicht einsehbaren Ecke des Chorraums strömte Gesang, legte sich wie ein klingendes Zeichen von Abneigung und Verstimmung mit leichtem Druck auf seine Brust.

Er benetzte die Finger mit Weihwasser und bekreuzigte sich, ein paar Tropfen fielen auf den grauen Steinfußboden, und ein kleiner, struppiger Hund stürzte sich blitzschnell darauf, sah dann wieder auf zu ihm, enttäuscht. Parasiten krabbelten in seinem Fell. Er machte einen Bogen um ihn und ging weiter, zaudernd und schwerfällig. Ein Grabstein ragte in Knöchelhöhe empor, er fiel fast darüber und dachte nicht einmal daran, daß die Toten das vielleicht als Verhöhnung auffassen könnten, hielt die eingepackte Figur dicht an seine Brust gedrückt. Stellte sich vor, was mit Cecilia hätte geschehen können, wenn er wirklich gefallen wäre: Es lief ihm kalt den Rücken hinunter, dann den Nacken hinauf, so daß er geradezu spüren konnte, wie die kleinen Haare sich voller Furcht sträubten.

Seine Augen suchten die großen Gerüste, dort mußte der Holzschnitzer zu finden sein. Ging den Stimmen nach, dem fremdartigen Klang: Die Mehrzahl der Meister waren Deutsche, hatte er gehört, aber er ahnte nicht einmal, wie deren Sprache klang. Dieses hier war zumindest weder Schwedisch noch Norwegisch, Sprachen, die ihm vertraut waren.

Einer der Gesellen bekam von einem größeren, älteren Mann eine Ohrfeige, und Gunnar blieb stehen, als habe ihn diese selbst getroffen. Auch hier gab es das also. Das hätte er nie gedacht.

Als Kind hatte er lange die sündige Hoffnung gehegt, seine Eltern würden die gewohnte Haut abstreifen und ihr eigentliches Ich entschleiern – daß sie sich verwandeln würden wie Tiere, die die Farbe der Jahreszeiten annahmen, weiß im Winter, grau im Sommer. Oder daß er eines Tages entdecken würde, daß er ein vertauschtes Kind war, wie in den Volksweisen. Daß er irgendwo andere, richtige Eltern hätte, und daß diese richtigen Eltern ihn liebten, glücklich und gerührt wären, ihn wiederzubekommen.

Aber das schien nie einzutreten, seine Eltern blieben sich ewig und unveränderlich gleich. Man konnte sich nicht auf ihre Wünsche einstellen, denn die Forderungen änderten sich von Tag zu Tag, ja, von Stunde zu Stunde, wenn man Pech hatte. Er hatte keine Ahnung, warum es Ohrfeigen nur so setzte, sobald er sich zeigte.

Alle anderen in der Familie hatte man nach verstorbenen Familienmitgliedern benannt: Wenn es richtig zugegangen wäre, hätte man ihn Bengt oder Arvid, Finn oder Oluf getauft. Aber er hieß Gunnar. Es gab auch keinen Heiligen mit diesem Namen: Der Name war schrecklich, altmodisch und heidnisch. Und er hatte sich damit abgefunden, daß seine Eltern ihn schlugen, weil er häßlich, klein, dunkelhaarig und dünn war.

Seine Pflegeeltern schlugen ihn nicht. Niemand in seinem neuen Zuhause schlug ihn. Das hatte zu Anfang sein tiefstes Mißtrauen erregt. Denn seine Pflegeeltern waren nicht krank, wie es sein Vater gewesen war, sie waren hübsch und sonderbar, und in ihren Augen mußte seine Häßlichkeit weit mehr auffallen. Es gab so viel an ihm auszusetzen. Er hörte schlecht und zog das eine Bein nach. Jeden Winter verbrachte er im Bett mit Augenentzündung und Fieber, die Schmerzen kamen wie kleine Fledermäuse aus der Lunge emporgewandert.

Er hatte das Gefühl, daß sich die Pflegeeltern sehr erschrecken würden, wenn sie entdeckten, daß er weder im Garten des Bischofshofes saß und Blumenkränze flocht noch in den Ställen nach den Pferden sah. Er hatte zum ersten Mal lügen müssen, um für dieses unaufschiebbare Vorhaben entwischen zu können. Aber es war die Lüge wert.

Er ließ den Gesellen fragen, ob der Meister einen Augenblick Zeit hätte – in dem klaren, knorrigen Gesicht war immer noch eine Spur von Demütigung zu erkennen. Gunnar wunderte sich. Der Geselle war nicht viel älter als er selbst. Mit nachlässig und unmittelbar über den Ohren geschnittenen Haaren, hohen Wangenknochen und schrägen Augen, einer speckigen, rötlichen Mütze. Er ähnelte jedem x-beliebigen Bauernjungen, aber er war der erste Deutsche, mit dem Gunnar je gesprochen hatte. Der Bescheid wurde in einer anderen Sprache weitervermittelt, die klang, als werde hoch oben unter dem Gaumen gesprochen, und der dicke Mann auf dem rohen, noch duftenden Holzgerüst ließ die Arbeit ruhen. Es sah aus, als ärgere er sich über die Unterbrechung. Gunnar wand sich und errötete unter dem bösen Blick. Aber der Meister trocknete seine roten, verschrammten Hände in der Schürze ab und legte seine Messer in einer Reihe in die Schale, bevor er schnaufend von oben herunterstieg.

Gunnar zitterte so sehr mit den Händen, daß ihm Cecilia aus dem beschützenden Stoffetzen fiel. Der Deutsche fing sie in der Luft auf und hielt sie ein Stück von sich weg, hustete zugleich kräftig und tat der Heiligen die Ehre an, das Gesicht ein wenig abzuwenden, bevor er den Rotz ausspuckte.

Cecilia war die einzige Figur, die er zu Ende gemacht hatte und vorzuzeigen wagte. Sie war so lang wie sein Unterarm, mit einer Laute in der einen Hand und scharfen Falten im Kleid, die Schleppe unter einen Ellbogen geklemmt, wie seine Pflegemutter, wenn sie ihr schönstes Zeug anhatte. So, wie er sie kaum jemals hatte sehen können, als sie in der Verbannung in Norwegen lebten.

Als er noch an der Figur arbeitete, schnitzte und die kleinen Äste mit den Nägeln abkratzte, war Cecilia der Mittelpunkt in seinem Leben gewesen, und er hatte überall ihre Formen gesehen. Jetzt jedoch sah er sie so, wie alle anderen die Figur empfinden mußten – unansehnlich und unfertig, es fehlte an Verzierung und auch an Gold. Der Deutsche drehte sie unbarmherzig herum, wie eine Magd ein gerupftes Huhn dreht, bevor dieses in den Kochtopf wandert. Dann wandte er sich an den Gesellen und fragte etwas in seiner harten Sprache. Der Geselle zwinkerte ein paarmal mit den Augen, um anzudeuten, daß dies eigentlich weit unter seiner Würde war und übersetzte schließlich mit schleppender Stimme:

– Meister Francke möchte gern wissen, bei wem du in der Lehre warst, kleiner Schwede?

Der Deutsche wirbelte herum, auf einmal behende und leicht, trotz seines schweren Körpers – kniff ein Auge zu und balancierte Cecilia auf seiner flachen Hand. In seinem Gesicht konnte man keine Veränderung erkennen, aber Gunnar wurde es warm vor Seligkeit, und die Zunge brachte die schönen Worte, mit denen er zu antworten versuchte, nicht heraus.

Der Mann glaubte, er habe dieses Fach gelernt, er, der nur gelegentlich mal geschnitzt hatte. Und nun wollte der Meister wissen, woher er kam, ob er zu einer Gilde oder Werkstatt gehörte, ob er ehelich geboren war und Auskunft über seine Familie geben konnte. Das war alles schwierig – er war unmündig, mußte seinen Pflegeeltern folgen, wie er es getan hatte, als der Pflegevater für vogelfrei erklärt worden war. Und während er versuchte, seine Herkunft zu erläutern, wurde ihm klar, daß Holzschnitzer wohl das war, was er zuallerletzt werden konnte. Er war zwar der verarmte Sohn eines verarmten jüngsten Sohnes, aber er entstammte dem Ängel-Geschlecht, und kein Mann, der diesen weiblichen Engel in seinem Wappen trug, konnte so tief sinken, daß er sich von seiner Hände Arbeit ernähren mußte.

So einfach war das. Sein Platz war bereits vor der Empfängnis festgelegt. Sein Schicksal hieß Lindö. Ein Hof irgendwo in Uppland. Er konnte sich nicht daran erinnern – er hatte den Hof verlassen, als er zehn Jahre alt war, ohne zu wissen, wieviel Zeit vergehen würde, bis er zurückkehren könnte. Jetzt war es ihm einerlei.

Niemand hielt ihn auf, als er sich an den Schreibern vorbeischlängelte, hinein in die fensterlose Kammer. Der trockene Geruch von Pergament und Staub benahm ihm den Atem. Er hatte noch nie außerhalb einer Kirche Bücher gesehen. Aber hier standen sie in Regalen, als hätten sie einander gezeugt – große und kleine, abgenutzte und neue, ein paar zerschlissene, andere fest an die Regale gekettet.

Auf Kalmarhus gab es keine anderen Angebote zur Zerstreuung. Seit er hierhergekommen war, hatte er sich gelangweilt – und er hatte seine Enttäuschung nicht einmal mit jemandem teilen können. Schon das Wort Hof hatte ihm das Herz in der Brust hüpfen lassen. Aber der Hof erfüllte nicht seine Erwartungen, die von den Erzählungen des Pflegevaters bestimmt worden waren. Hier auf Kalmarhus wohnten zwölf junge Männer, dazu ausersehen, dem König Magnus Eriksson zur Hand zu gehen, sollte es ihm eines Tages gefallen, Varberg zu verlassen, um sich sein Reich anzuschauen. Die Burschen schliefen zu zweit, um sich in den Winternächten zu wärmen, und bei Tische teilten sie Eßbretter und Becher. Aber keiner wollte mit Gunnar teilen, dem Neuankömmling. Wenn sie etwas brauchten, sahen sie durch ihn hindurch, als sei er aus klarem Glas. Und sie waren alle gleich – waren stark und muskulös, paßten zu den hübschen Pferden und Jagdhabichten und englischen Jagdhunden, mit denen sie von zu Hause versorgt worden waren.

Gunnar stand bei so vielen Dingen allein da, er war der einzige ohne Eltern, der einzige mit Pflegeeltern, die im Ausland gelebt hatten, der einzige, der lesen und schreiben konnte. Hier drinnen beim Kanzler wurde seine Fähigkeit geschätzt, wie er wußte, deshalb ging er zu einem der Schreiber und bat um die Erlaubnis, irgendein Buch an einem der leeren Pulte lesen zu dürfen.

Der Mann bedachte ihn mit einem kurzen Blick. Auf seinem Weg zu den Regalen grinste er einem anderen Schreiber zu, entblößte dabei große, gelbe Pferdezähne.

– Ich lese Schwedisch, fühlte Gunnar sich genötigt hervorzuheben – aber niemand hob den Blick.

– Sonst wäre dein Vergnügen auch nur so groß, daß es auf dem Hintern einer Fliege Platz hätte, mein Freund, sagte der Schreiber mit den gelben Zähnen und knallte ihm ein schweres Manuskript auf das Pult, so daß der Staub in Wolken um seine Nase stand und das schwache Licht mit einem Flackern erlosch.

Im Lesesaal war es still und kühl wie in einer Kapelle – er wußte, daß alle auf der Lauer lagen, nur auf einen Vorwand warteten, ihn hinauszuwerfen. Daß er anfinge, Krach zu machen, mit dem Schwert oder den Sporen zu klirren, zu rülpsen oder etwas anderes Unerhörtes, Unhöfliches zu tun. Aber er würde ihnen zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt war! Die Stille war eines der Güter, die er verloren hatte, als er nach Kalmarhus mit seinen gackernden Hühnern, wiehernden Pferden und lärmenden Menschen gekommen war.

Nun hatte er die Stille wiedergefunden, und er wußte dieses Glück zu schätzen.

Als er sich am Nachmittag zur Tür hinausschlängeln wollte, wurde er von einem ungewöhnlich großen und dünnen, gebeugten Mann angehalten. Er trug die braungraue Kutte der Grauen Brüder, hatte zerschlissene Sandalen an den gichtgekrümmten Füßen und einen Strick um den Leib. Gunnar wich unwillkürlich zur Seite, drückte sich an die Wand und ließ seinen neugierig-verschreckten Blick über ein hageres, kantiges und graues Gesicht gleiten, in dem die Haut unter den Augen ein Netzwerk von roten und blauen Äderchen bildete. Ein dünner, weißer Haarkranz umschloß eine blanke, kantige Tonsur, als sei er von fremden Händen dort angebracht.

Das war der Kanzler, fiel ihm schaudernd ein. Gern hätte er sich jetzt in irgendein Mauseloch verstecken wollen. Aber der Mann hatte ihn gesehen und packte ihn: fünf Haken aus Stahl schlugen sich in Gunnars Schulter, und ein trockenes, reibendes Lachen traf sein Gesicht – und Spritzer von Spucke.

– Das ist das erste Mal, daß ich bei einem der jungen Männer erlebe, daß er die Elchjagd und das Schwerterspiel vernachlässigt, um bei uns zu lesen! sagte der Kanzler und entblößte die gelben Pferdezähne. Schlechte Zähne schienen eine der Aufnahmebedingungen im Orden der Grauen Brüder zu sein. Gunnar schämte sich seiner ungehörigen Gedanken.

Es stimmte ja, was der Mann sagte, er war anders. Er hielt sich nun einmal lieber drinnen auf und buchstabierte sich durch Traktate hindurch, als die Zeit mit all den Dingen zu vergeuden, womit sich Gleichaltrige sonst vergnügten.

Er hatte so viele Fragen, aber keine Antworten.

Am nächsten Tag kam er wieder, am übernächsten auch, und der Kanzler nahm sich die Zeit, mit ihm zu reden. Aber als Gunnar Ulfsson ängstlich von seinen Pflegeeltern erzählte, hatte er den Eindruck, dem Mönch gehe ein Licht auf. Der Onkel seines Pflegevaters war ein heiliger Mann, Bischof in Skara. Und ein anderer seiner Onkel hatte bretonische Romane ins Norwegische übersetzt. Das klang wie die Erfüllung seiner heißesten Träume: sicher, warm und allein sitzen zu können und über Liebe, Krieg, Tod und Leidenschaften zu lesen. Ohne sein Leben aufs Spiel setzen zu müssen oder sich in die Wirklichkeit hinauszuwagen. Die fleischliche Liebe in Flores und Blanseflor oder Tristan und Isolde sagte ihm nicht viel. Die hatte er aus nächster Nähe bei den Pflegeeltern miterlebt, und die Beschreibungen waren trotz allem nur schwache Nachbildungen der brennenden, furchteinflößenden Wahrheit.

Aber einer der Schreiber war dabei, die Schriften des heiligen Franziskus zu übersetzen, und diese ließen Gunnar Mund und Nase aufsperren. Die noch feuchte Schrift machte das Lesen noch unmittelbarer: als seien die Gedanken gerade geboren. Die Vögel waren seine Geschwister, Sonne und Mond seine Familie, die Welt um ihn herum fügte sich in Vollkommenheit zusammen, alle Wesen waren von Gott geschaffen und gleichberechtigt, jedes mit seiner Rolle und dem gleichen Recht zu leben. Armut war auch die Freude der Entsagung. In allen anderen Traktaten war die Kirche nur ein Aufbewahrungsort für den Glauben – bei Franziskus wurde die ganze Welt zur Kathedrale.

Von dem ganzen gelehrten heillosen Durcheinander, wie der Kanzler seine Lektüre nannte, fand nur Franziskus Widerhall. Es sah aus, als habe er seinen rechten Platz gefunden. Mit seinen dünnen Armen, schmächtigen Schultern, seinem unterentwickelten Körper, den unzureichenden Kräften und der verringerten Seh- und Hörkraft würde er schlecht für das Schicksal gerüstet sein, das ihm zugedacht war. Aber als Mönch konnte er den ganzen Tag mit dem verbringen, was er konnte: Holzfiguren schnitzen und Bücher abschreiben. Lindö konnte er als Erbe an seine jüngere Schwester gehen lassen; auf diese Weise gab er Märta eine bessere Mitgift, sicherte ihr vielleicht sogar eine gute Ehe.

Er wollte seine Pflegeeltern fragen, sobald er zu deren Hochzeit nach Hause kam. Wenn schon nicht andere, dann müßten doch sie ihn verstehen können: daß er, wenn er schrieb, mit der Welt im Einklang war und den großen Zusammenhang bestätigte, den Franziskus entdeckt und beschrieben hatte. Gunnar Ulfsson schrieb auf Kalbsleder mit einer Schwanenfeder, die er sich selbst zugeschnitten hatte, die Tinte war ein Extrakt aus Brombeeren. Alles hatte seine Ordnung: Das Stundenglas wurde mit behutsamen Händen umgedreht, das kleine Licht auf dem Lesepult regelmäßig ausgewechselt. Selbst die runden, dicken Glasstücke, die Bruder Nikulaus aus Frankreich mitgebracht hatte (und die man Glausaugen nannte), waren wie von Franziskus vorhergesehen und gesegnet.

Ruhe, Beherrschung und Nach-innen-gewandt-Sein. Eine Welt ohne harte Stimmen.

Er las die Anmerkungen zum ›Gebet an die Sonne‹ und beachtete kaum den jungen Mann, den er überhaupt noch nie beim Kanzler gesehen hatte, der nun aber schon mehrere Stunden lang in einer Ecke des Raumes saß und offensichtlich geduldig wartete. Als Gunnar mit dem Lesen fertig war und das Buch zur Seite legte, erhob sich der Gast und begrüßte ihn. Ein paar Tage zuvor, als Gunnars Messer auf den Boden gefallen war, hatte Erik Månsson es unter einem dreckigen Schaffell gefunden. Sie hatten einander begrüßt und sich mit Namen vorgestellt, entdeckt, daß sie weitläufig verwandt waren, Eriks Mutter mit dem Vater von Gunnars Pflegevater verheiratet war, oder wie auch immer das zusammenhing. Gunnar wußte so gut wie gar nichts von seiner Familie, hatte noch nie etwas von Erik, dessen verstorbenem Vater Måns oder seiner wiederverheirateten Mutter gehört. Wunderte sich ein wenig darüber, daß zwei so betagte Menschen auf die Idee kamen, eine neue Ehe einzugehen, erfuhr aber von Erik, daß das durchaus üblich sei.

Erik war mehr als schlank; er war spindeldürr und dennoch von vorteilhaftem Aussehen. Feingliedrig und schmal an Hüften und Schultern. Sein Gesicht glich dem eines Mädchens, mit glänzendem, goldenem, dünnem Haar, das ihm bis auf die kantigen Schultern hinunterhing. Lange, weiße Wimpern, blaugeäderte Schläfen, der gespannte Bogen des Nackens, dessen leichte Rundung.

Erik stand ihm geduldig gegenüber, die rechte Hand um das linke Handgelenk geschlossen, und das ganze Gewicht auf einem Bein ruhend, den rechten Fuß etwas vorgeschoben, ein Bild höfischen Benehmens.

– Du bist etwas blaß von dem ganzen Klosterstaub, den sie über dich verteilt haben, sagte Erik und lächelte, so daß die kleinen, spitzen Mausezähne zum Vorschein kamen. – Würde es dir nicht guttun, den Staub mal aus den Haaren gepustet zu kriegen? Ein bißchen frische Luft in die Nase – heute ist Elchjagd – du kannst morgen weiterlesen, die Bücher laufen nicht so schnell wie der Elchbulle!

Er hatte das herausfordernd gesagt, aber nicht verletzend. Es interessierte ihn nicht das geringste, ob Gunnar mit auf Jagd ging oder nicht. Und Gunnar war nicht klar, was er von dem Vorschlag halten sollte. Soviel wußte er jedoch: Verließ er sein Versteck, in dem er sich zwischen den Büchern wohl und geborgen fühlte, würde es schwer sein, dahin zurückzukehren. Es hieß entweder ja, und damit Anerkennung durch die Gleichaltrigen – oder nein, gleichbedeutend mit Verachtung. Und er wußte nicht, ob diese Sache die Wahl wert war.

Er bereute schon, kaum daß er zugesagt hatte – und sah den schwachen Zug von Erleichterung und Freude, der über Eriks Gesicht glitt.

Aus der Elchjagd wurde nichts. Dafür tranken sie miteinander. Tranken heftig, verbissen, geradezu selbstzerstörerisch. Gunnar versuchte, dem dahinplätschernden Gerede seines neuen Freundes zu lauschen; beschwichtigte aufkommende Zweifel, indem er sich einredete, er statte nur einen zufälligen Besuch in einer anderen Welt ab.

Später in der Nacht, als sie wirklich betrunken waren, fingen einige Streit an; sie prügelten einander und wälzten sich auf dem Fußboden in Seen von vergossenem Bier und kleistriger Asche. Das Bier schwappte aus den Krügen, ein langer, glitzernder Schwall lauwarmer Flüssigkeit. Gunnar saß wie gelähmt da, beobachtete die anderen und sehnte sich nach Ruhe.

Als sie in den Burghof gelangten, war um sie herum kalte, pechschwarze Nacht. Gunnar hatte nicht einmal mehr sein Überzeug mitnehmen können. Erik wirkte ein wenig nüchterner, an ihn hielt er sich also – sie schleppten sich in einer Reihe vorwärts, den Arm jeweils um den Hals der anderen gelegt. Eine lärmende, wackelnde Kette, die schwankte und zerbrach, sobald jemand in die Knie ging.

Gunnar stolperte und taumelte unsicher vorwärts, Schritt für Schritt, hatte das Gefühl, einen Fuß verloren zu haben, konnte nicht sehen, ob er den Boden berührte. Die Kälte biß im Gesicht, ging durch die Kleidung hindurch. Obwohl es sein größter Wunsch war, so konnte er doch nicht diesem dumpfen, glasigen Rausch entkommen.

Eine Rettung zeigte sich in der wirklichen Welt: ein Baum, gegen den er lief und um den er die Arme schlang. Gunnar blieb stehen, horchte auf seinen rasenden Puls und ließ die klammen Hände verwundert über die fühlbar krustige Rinde der Birke wandern.

Der Geruch von Schlamm und nassem Gras drang in seine Nase. Die Magenmuskeln zogen sich zusammen, er hatte den Geschmack bitterer Galle auf der Zunge. Aber er konnte wieder sehen, und das war doch immerhin ein Fortschritt.

Die anderen saßen auf Bänken um ein offenes Feuer herum. Soweit er erkennen konnte, waren auch Mädchen dabei. Zwei von ihnen sangen, eine andere spielte unbeholfen auf einer Laute. Die anderen Mädchen saßen bei den jungen Männern auf dem Schoß, zupften sie an den Haaren oder kabbelten sich kreischend. Eines der Mädchen ließ seine schweren Brüste nackt aus dem Kleid hängen. Nicht, daß sie besonders hübsch waren – er verstand nicht, warum sie sie unbedingt zeigen wollte.

Er setzte sich so hin, daß er nicht auf die Brüste sehen mußte, und bemühte sich, wach zu bleiben. Aber er mußte sich immerzu selbst daran erinnern, warum er das wollte – es war fast zuviel, ab und zu wurde ihm vor Erschöpfung schwindelig. Irgendwo im Nebelgebräu des Moores gab es einen Namen für diese Art von Mädchen, aber er konnte sich höchstens an den Ausdruck Elfen erinnern.

Und dann torkelte er an der Seite eines dieser Mädchen durch die Nacht. Endlich gelangten sie zwischen abgestorben wirkenden, gestutzten Hecken des Gartens hinein in die warme Dunkelheit eines Hauses. Es roch abgestanden und muffig, aber es war herrlich warm. Sie wollte, daß Gunnar die Leiter hinauf auf den Boden kam; aber einer seiner Füße machte ihm einen Strich durch die Rechnung, verfehlte die Sprosse, so daß er fiel, die Leiter ebenfalls. Er zog die Frau mit sich, weil er sich an ihrem Kleid festhielt.

Sie roch ebenfalls süßlich, trocken und muffig; sie lag schwer auf seinen Beinen, deshalb schob er sie freundlich zur Seite, setzte sich auf die Knie und fummelte an seinem Gürtel herum, ohne recht zu wissen, was er tat. Gürtel, Schwert und Beine waren ineinander verwickelt. Er kicherte und ließ sich wieder auf den Rücken fallen und starrte schwindelig hinauf in den schwarzen Himmel und zu ein paar Sternen. Sie half ihm, so schien es: nahm die Lederbörse vom Gürtel und leerte sie in ihre Hand. Drehte seinen Kopf mit harten Händen und rückte sein Gesicht gegen ihren Hals, wozu das auch immer gut sein mochte. Aber sie war dünn, magerer als er selbst, magerer auch als Erik. Die Haut mit fettiger Salbe eingeschmiert – der Geruch ging nur bis zum Rande des Kinns, am Hals war sie verschwitzt und schmutzig, und ihre Haut schmeckte säuerlich und salzig.

Er richtete sich auf einem Ellbogen auf, stützte das Kinn auf die Hand und ließ einen Finger mitleidig über ihren scharfen Kehlkopf gleiten und über die Sehnen, die zu den Schultern hin liefen.

Dann wand sie sich frei, fast ungeduldig, streifte mit einer müden Bewegung das Kleid vom Oberkörper, zog den Rock hoch und spreizte weit die angezogenen Beine.

Ihm wäre es lieber gewesen, sie hätte das sein lassen: er kannte sie ja gar nicht.

Sie lachte ihn aus, ein kurzes, trockenes, zutiefst höhnisches Lachen, als sie ihre Kleidung wieder zurechtzog, sich erhob und den Rock sauberklopfte, so daß der Schmutz auf ihn niederrieselte. Dann legte er sich zum Schlafen zurecht, in sich zusammengerollt, ohne die geringste Hoffnung, die Klarheit wiederzugewinnen, die ihm verlorengegangen war und die er jetzt vermißte.

Das Erwachen war schmerzhaft. Kaltes Wasser traf sein Gesicht. Er warf sich zur Seite, schützte das Gesicht mit den Armen, spürte, wie das Leben quälend zurückkehrte und die dunkle Behaglichkeit des Schlafes vertrieb. Seine Glieder gehorchten ihm immer noch nicht – die Arme schmerzten, denn er hatte verkehrt gelegen, und der Mund war trocken, ein säuerlicher Geschmack brannte im Rachen. Unter der Kleidung, die seltsam verzogen war, war ihm naßkalt von Schweiß. Sein Körper hatte den Geruch des Häßlichen, Unerklärlichen angenommen, dessen Zeuge er geworden war.

Vor ihm stand Erik mit einem Eimer in der Hand: der baumelte genau vor seinem Gesicht, das Holz war von schmalen Eisenbändern zusammengehalten, befestigt mit kleinen, unregelmäßig eingehämmerten Eisennieten. Es kam ihm vor, als sei die ganze Wirklichkeit in diesem nützlichen Gerät eingeschlossen. Er wagte, vom Eimer zu Erik hinaufzublicken, der auch nicht den Eindruck machte, als ginge es ihm gut – sie befanden sich in der Scheune, und Waffen, Kleidung, Blumenkränze und Pferdegeschirr waren im Stroh verstreut. Erik half ihm auf die Beine, und sie bahnten sich einen Weg durch Heuhaufen und schlafende Menschen.

Ihre erste Pflicht war es, die Messe zu hören; Gunnar hatte in der ganzen Zeit, die er auf Kalmarhus gewesen war, noch keine einzige versäumt. Aber heute mußte er noch vor Ende der Messe aus der Kapelle stürzen, um sich zu übergeben. Mit der Sonne und dem Tageslicht kehrte die Erinnerung zurück, ungeordnet und abscheulich. Er hatte – wider besseres Wissen, gewählt, und sein Körper war mit der Wahl nicht einverstanden.

Erik hatte seine ersten zehn Jahre bei den Brüdern im Alvastrakloster verbracht. Niemand hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß das nur eine vorübergehende Unterbringung war. Sein Vater war einem Mord zum Opfer gefallen, und seine Mutter hatte sich entschlossen, eine neue Ehe einzugehen: ob es das schlechte Gewissen war oder reine Neugier, die sie nach Alvastra getrieben hatte, wußte er nicht. Er hatte seine Mutter drei-, viermal gesehen, immer nur ganz kurz – die Brüder bereiteten ihn auf die vornehme Dame vor, auf die Hofmeisterin der Königin. Aber er hatte in ihr nur eine gealterte, überarbeitete und harte Frau sehen können. Er bemühte sich, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie hatte elf Kinder geboren, die alle gestorben waren, bevor sich Erik wie durch ein Wunder als lebenstüchtig erwies. Aber diese alte Dame – er wußte nicht, was er zu ihr sagen sollte –, sie küßte ihn auf die Wange, weil es sich so gehörte, und nahm seine Hand, hörte ihm zu, abwesend, nachsichtig.

Dann hatte er eine Zeitlang auf Åkerö gewohnt, dem großen Hof, den er von seinem Vater geerbt hatte, aber der Verwalter meinte, er sei im Wege, deshalb schickten die Mutter und der Stiefvater ihn an den königlichen Hof.

Erik sehnte sich nicht zurück nach Alvastra, das behauptete er jedenfalls: Wenn der Weg zurück versperrt war, mußte man sich mit den vorhandenen Möglichkeiten abfinden. Und er hatte gelernt, sich in dem von den Mönchen gleichermaßen mit Furcht, Respekt und Sehnsucht als Welt bezeichneten Dasein zu behaupten. Er übernahm es, Gunnar die Tischsitten beizubringen, die rechte Art, sich zu bewegen und zu benehmen, sich richtig zu kleiden und höfisch aufzutreten. Gunnar war sein Werk, eine neue, verbesserte Ausgabe seiner selbst.

Erik ähnelte einem Mädchen und benahm sich manchmal, als seien sie beide verschiedenen Geschlechts: Gewöhnlich gingen sie Hand in Hand, und wenn sie sich trafen oder trennten, küßte Erik ihn mit spitzen Lippen auf den Mund. Aber alle anderen taten das auch, Gunnar ging davon aus, daß es sich so gehörte – so wie man auch wußte, daß man die fettigen Finger im Tischtuch und nicht in den Ärmeln des Nebenmannes abzuwischen hatte.

Als sie schließlich das Bettlager teilten, entdeckte Gunnar, daß Eriks Körper Duft verströmte: Selbst sein Schweiß war süßlich und geradezu angenehm einzuatmen. Sie wärmten einander unter der dünnen Decke, erwachten mit verschlungenen Armen und Beinen. Morgens saß Gunnar immer lange da und betrachtete heimlich seinen schlafenden Freund. Erik war eigenartig und zart und hatte seidenweiche Haut, mit weißem Flaum auf den Schultern und kleinen, blonden Locken im Schritt, sonst hatte er keinerlei Haare am Körper.

Sie ähnelten einander, aber im Unterschied zu Gunnar fühlte Erik sich in seinem Körper wohl und zu Hause. Er war zartgliedrig, ärgerte sich jedoch niemals über die fehlenden Kräfte. Ihm hatte niemand gesagt, daß er es doch nicht lernen würde, mit der Armbrust zu schießen. Erik konnte alles, wußte alles und würde ihm alles beibringen, daran zweifelte Gunnar nicht. Erik war sein Zugang zur Welt, durch seine bernsteinfarbenen Augen sah er die Welt. Aber nachdem er sein Herz an Erik verloren hatte, konnte er sich nicht einmal mehr zwingen, in die Bibliothek zu gehen. Eines Tages würde er zurückkehren, wenn er Zeit hatte; aber gerade jetzt gab es so viel anderes, was er kennenlernen mußte, entschuldigte er sich selbst.

Es war nicht immer leicht, Eriks Vertrauter zu sein – gerade als er glaubte, seinen Freund in- und auswendig zu kennen, stieß Gunnar auf eine Felswand. Erik, der jeden seiner Wünsche zu spüren schien, all seine Bedürfnisse und Sehnsüchte, konnte sich mit einem Schlag in Gefühllosigkeit und Härte verschließen, und Gunnar blieb zurück, einsam und gelähmt.

Sie gelangten durch Zufall hinunter in die Stadt Kalmar, und auf dem Weg zurück zur Burg kamen sie an einem kleinen Aufzug vorbei, der dem Schinderkarren folgte. Eine junge Frau saß auf dem stinkenden Strohhaufen des Wagens. Der Anblick veranlaßte Gunnar, sein Pferd anzuhalten, aber Erik verzog keine Miene. Die Frau sollte wegen Hurerei gebrandmarkt und zur Stadt hinaus gepeitscht werden, damit die braven Bürger sich nicht mehr mit ihr herumschlagen mußten, erklärte Erik mit leerer, gleichgültiger Stimme.

– Muß die Strafe denn so hart sein? fragte Gunnar erschüttert.

– Das geschieht, damit die Priester vor allzu großen Verlockungen geschützt werden, antwortete Erik und zuckte mit den Schultern.

– Aber dann müßten sie ja eher die Priester aus der Stadt peitschen, wandte Gunnar ein.

Die Menschen drängelten sich um den Galgen: Frauen mit lachenden Kindern, Männer mit gebratenen Hähnchen am Spieß, so daß man essen konnte, während die Unterhaltung stattfand. Sogar eine kleine Gruppe von Nonnen auf Durchreise war da, blaßwangige, ältliche Frauen, und sie waren nicht gerade die leisesten.

Der Schinder zog das Mädchen vom Karren – sie schwankte, als hätte man ihr etwas Starkes zu trinken gegeben; duckte sich vor seinen großen, harten Händen, fiel aber nicht, obwohl ihre Füße nackt waren und ihre Hände auf dem Rücken zusammengebunden.

Als sie an den Pfahl gebunden werden sollte, schenkte sie dem Schinder ein breites, zahnloses Lächeln.

– Er ist bestimmt ein guter, alte Kunde, glaub mir das, flüsterte Erik.

Der Schinder schlitzte ihr Kleid am Rücken auf. Sie stand da, die Hände hoch über sich am Pfahl festgebunden, und wartete, während das Urteil verlesen wurde.

Der Henker, der in einiger Entfernung gestanden und gewartet hatte, trat einen Schritt zurück, legte die vielen eisenbeschlagenen Lederstränge in der hohlen Hand zusammen, nahm gut Maß und gab ihr den ersten Streich quer über den Rücken und die Schultern. Ein einzelner Strang fuhr über ihr Gesicht, in ihren Mund, und zog eine schmale, rote Spur über die Wange.

Es sah aus, als überraschte sie der Schlag, von dem sie schräg nach vorn gegen den Pfahl geschleudert wurde: die gebundenen Hände griffen nach oben auf der Suche nach einem festen Punkt, aber sie fanden nichts, und beim dritten Schlag sank sie mit einem kindlichen Jammern zusammen; versuchte, um den Pfahl zu fassen, blieb jedoch, den Kopf schräg nach hinten geworfen, hängen.

Gunnar konnte die Züchtigung einfach nicht mehr ansehen. Er ritt sein Pferd in die nächststehenden Zuschauer hinein, die mit offenen Mündern dastanden und gafften und wütend über die Unterbrechung waren – er schlug mit beiden Füßen, Sporen und Peitsche, um zu entkommen, rief den Leuten Schimpfwörter zu.

Erik holte ihn erst oben an der Zugbrücke ein, wo er vom Pferd gestiegen war und weinend im kniehohen Gras auf und ab ging, mit den Armen gestikulierte und gegen das Schauspiel wetterte, dessen Zeuge er gerade geworden war.

– Sie kann ja von nichts anderem leben als von dem, was sie verkauft! rief er, als Erik ihm sanft und beruhigend die Hand auf den Arm legte – Wer hat sie denn bezahlt? Sie lebte davon, aber wer bezahlte sie? Wo ist der Pfahl, an dem man die Männer festbindet und auspeitscht, die sie gezwungen haben, sich zu verkaufen?

– Dann müßten wir ja alle bestraft werden, wandte Erik bestürzt ein.

Gunnar spürte, daß er niemals ihre mageren, unsauberen Hände aus seiner Seele verbannen könnte: Er blieb zurück mit der Schuld, ohne sie benennen zu können.

Den ganzen folgenden Monat über glitt er wie ein Schatten an der Bibliothek vorbei, ohne auch nur einen Blick auf die Tür zu werfen, die immer noch zu öffnen gewesen wäre, wenn er sich nur getraut hätte. Er versuchte, sich mit ganzer Seele und all seinen Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren als auf die innere Zerrissenheit, die er nicht heilen, mit der er aber auch nicht leben konnte.

Das Pferd gähnte, scharrte mit den Hufen und drehte das Weiße in seinen Augen hervor, während sein Bauch bebte – das dünne, blanke Fell zitterte, weil ein paar Fliegen sich erdreisteten, sich auf dem Tier niederzulassen. Gunnar tat alles, um das Pferd ruhigzuhalten, aber es drückte das Hinterteil hart gegen die nächststehenden Tiere, schnaubte und schüttelte den großen Kopf, als versuche es, gleichzeitig Zaumzeug und Reiter loszuwerden.

Für Gunnar war es eine hoffnungslose Situation. All die anderen jungen Männer waren zu dem, was Erik Turnier nannte, erzogen und ausgebildet worden, zu diesem Spiel, das auf Wunsch des jungen Königs veranstaltet wurde, zum Entsetzen des Vormundschaftsrates. Er hatte sich nicht entziehen können, jetzt schon gar nicht, da er mit Erik zusammenwohnte. Aber anstatt zu versuchen, das Unmögliche wahrzumachen und sich noch die nötige Geschicklichkeit zu erwerben, hatte er sich auf Äußerlichkeiten konzentriert. Seine Ausrüstung war gut. Alle Beschläge glänzten; das Leder war gefettet, das Pferd in guter Verfassung. Auch wenn er bestimmt schon beim ersten Versuch abgeworfen wurde (vielleicht sogar schon, ehe er überhaupt die Kampfbahn erreichte), hatte er doch dieses bißchen Ehre sicher.

Am Tag zuvor hatte er zusammen mit Erik trainiert, war abgeworfen worden und hatte nach Luft gerungen. Nach dem Sturz war ihm, als seien alle seine Rippen schmerzlich verdreht und als würden sie nie mehr an ihren rechten Platz kommen. Eigentlich wäre er am liebsten liegengeblieben, bis er allein hätte aufstehen können; aber Erik eilte herbei, hob ihn in seine Arme, umarmte und küßte ihn und betastete seine Glieder, um zu sehen, ob er sich ernstlich verletzt hätte.

Welch ein Pech, dachte er, daß das Los ihm als Gegner Erik zugeführt hatte. Daran war nichts zu ändern. Er hoffte nur, daß er nach dem Kampf mit seinem Freund sein Leben wie gewohnt weiterleben konnte.

Es dauerte eine unendliche, nicht zu ertragende Ewigkeit, bis man ihn herbeiwinkte, und die Hände gehorchten ihm nicht einmal, als er den Topfhelm mit den zwei Haken am Halsstück des Lederkollers festmachen wollte. Er mußte es mehrmals versuchen, bis es schließlich gelang. Nils holte ihm den Speer: breit, mit stumpfer Spitze, so daß man seinen Gegner wirklich nur durch ein Unglück verletzen konnte. Erik nannte das Ding eine Lanze: das klang nach mehr als nach diesem Stück glatten Holzes mit Eisenbeschlägen und Handschutz.

Jetzt konnte er es nicht länger hinausschieben: Es gab keinen Ausweg.

Ohne genau zu wissen, wie, gelang es ihm, das halbwilde, schäumende Pferd zu bändigen, bevor es noch Hals über Kopf in die aufgestellten Bankreihen unter dem Zeltdach laufen konnte, wo es die frierenden Zuschauer über den Haufen geritten hätte. Der Helm war mit wattiertem Leder gefüttert, das nach Staub und Feuchtigkeit roch. Durch die beiden schmalen Sehschlitze konnte er einen kleinen, mageren Jungen erkennen, mit Flachshaaren, die ihm bis auf die Schultern reichten – in einem silbergewebten Rock und umhüllt von einem großen, pelzgefütterten Umhang. Gunnar versuchte nach besten, aber leider geringen Kräften, die Lanze zum Gruß an den König zu senken, so wie Ivan Loveridder, Tristan und Lancelot es in den Romanen taten, die er beim Kanzler gelesen hatte.

Der kleine König nickte, und sein Gesicht zeigte ein hilfloses, gehemmtes Lächeln.

Dann wagte er, das Pferd zu wenden und zur Markierung zu reiten. Vier Jungen sprangen herbei, um die aufgeregten Tiere zu halten, damit sie auf der jeweiligen Seite der Kampfbahn nicht verfrüht starteten.

Schon sprengten sie los – Gunnar kam nicht einmal dazu, zu zielen, wie Erik es ihm gezeigt hatte, denn die Lanze tanzte hoffnungslos im Takt mit den gewaltigen Bewegungen des Pferdes. Er stemmte die Waffe mit aller Kraft hoch, versuchte, den Schaft gegen den Sattelknopf zu stützen, hob seinen kleinen Schild und die Zügel in der linken Hand, brüllte dem Tier etwas zu, das allerdings weder einer Aufforderung noch Anfeuerung zu bedürfen schien und schnappte nach Luft – in Kürze würde er mit großer Wucht getroffen und zu Boden geschleudert werden.

Als genieße es das Spiel, streckte das Tier den Hals, die Kandare zwischen den gelben Zähnen. Die Lanze wippte grotesk vor Gunnar auf und ab; er schaffte es kaum, sich mit dem Schild Deckung zu geben, wenn er gleichzeitig das verrückte Tier lenken sollte. Erik näherte sich, ein grauer, glänzender, schuppiger Eisenmann.

Der Lärm pochte in ihm, fremdartig, unter Stahl und Leder. Gunnar hob die Lanze hoch, zog sie an sich und riß mit aller Kraft an den Zügeln: das Pferd sprang mit einem Satz seitwärts, Erde und Kies wurden von seinen Hufen hochgewirbelt.

Durch die Sehschlitze erkannte er, daß sie nach allen Regeln der Kunst zusammenstießen. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Er spürte einen heftigen Stoß, ohne daß er sagen konnte, wo Eriks Lanze ihn getroffen hatte – er verlor einen Steigbügel, preßte die Knie zusammen und blieb sitzen, auch wenn ihm schwindelig wurde.

Das Pferd befreite sich schüttelnd von seinem Griff, verlangsamte das Tempo und blieb am anderen Ende der Kampfbahn stehen. Irgend jemand ergriff es, nahm Gunnar Schild und Lanze ab und setzte seinen rechten Eisenfuß in den Steigbügel, als sei er ein Kind, dem man gerade das Reiten beibrachte.

Er lüftete den oberen Teil des Helms und sah sich um, drehte sich im Panzer – der Wind strich zart und kühl um seine Stirn, seinen Scheitel und sein Haar, das schweißnaß war.

Er sah Erik: der Freund stand vornübergebeugt mitten auf der Bahn und bürstete den Staub, Erde, Kies und Sand vom Rock, der zerrissen war, so daß der vordere Schlitz sich schräg bis hinauf zur Brust fortsetzte.

Unendlich langsam begriff er, was geschehen sein mußte.

Hier saß er selbst unverletzt auf seinem Pferd, und dort stand Erik. Ein paar der Regeln hatte er immerhin behalten – hakte den Helm ab und warf ihn hinunter zu Nils Turesson als Zeichen dafür, daß er den Kampf nicht fortsetzen wollte.

Aber Erik kam zu ihm, das Pferd hinter sich herziehend: ging steif auf ein Knie nieder und reichte ihm die Zügel. Mit einem leuchtenden, untertänigen Ausdruck auf dem schmalen, bleichen Gesicht, in dem die Wangen glühten.

Gunnar wußte sich nicht anders zu helfen, als das Geschenk anzunehmen, und er hörte durchaus, daß die Leute angesichts der schönen Geste klatschten, aber es gefiel ihm nicht. Jetzt, wo er entgegen allen Erwartungen gewonnen hatte, hatte Erik ihm auf eine seltsame, verquere Art doch die Niederlage zugefügt, die er befürchtet hatte.

Dann nahm er die Pferde und entfernte sich, ohne mit jemandem zu sprechen. Er nahm seinem und Eriks Pferd den Sattel ab, wusch Schaum und Erde von den Tieren und begann, sie mit selbstvergessener Gründlichkeit zu striegeln, versuchte, sich selbst zur Ruhe und Vernunft zu zwingen. Natürlich wollte er Eriks Pferd nicht behalten – was sollte er mit zwei Reittieren, und wenn er mehr brauchen sollte, würde der Stiefvater ihm wohl noch eins schenken, wie er auch das erste geschenkt bekommen hatte.

Danach ging er zu ihrem gemeinsamen Bett – der Saal war leer, alle anderen waren auf der Kampfbahn beschäftigt, die Schlafplätze entlang den Wänden lagen zerwühlt und unordentlich da, mit allen möglichen Kleidungsstücken und Waffen kreuz und quer.

Eriks Armbrust lag auf dem Fußboden, die Feder war kaputt, und Gunnar hatte schon lange versprochen, daß er nachsehen sollte, ob er sie reparieren könnte. Er hatte dünne, kräftige Finger, und es machte ihm Spaß, sich mit solchen schwierigen Sachen zu beschäftigen, wie er früher auch Figuren geschnitzt und sich das Schreiben beigebracht hatte. Jetzt war es eine Art Buße, sich an die anstrengende Arbeit zu machen.

Es gab kein Holz und keine guten Messer. Sonst hätte er sich irgendwo unbemerkt eingeschlossen und angefangen zu schnitzen. In der letzten Zeit hatte er mit dem Gedanken gespielt, einmal zu versuchen, eine kleine Figur zu schnitzen, die er Heiliger Erik nennen könnte. Er würde nicht viel Holz dazu brauchen, Erik war dünn und schmal.

Wenn er in eine Kirche gehen und Erik dort stehen sehen könnte, würde er seinen Freund zugleich besitzen und von ihm befreit sein – es war ihm vorher nie bewußt gewesen, daß er Erik zwar mochte, die Freundschaft mit ihm aber auch als Fessel empfand.

Während er auf dem Bett saß, tief über die technischen Probleme gebeugt, hörte er unten Stimmen – die eine war Eriks, und die Ruhe, die er sich aufgezwungen hatte, flog aus ihm heraus und davon, wie ein Schwarm verschreckter Vögel.

Erik kletterte schnell die Leiter hoch und hob dabei den langen Rock an – ging weiter zur Schlafpritsche, ohne auf Gunnars Anwesenheit zu achten, stellte die Öllampe so, daß er besser sehen konnte, und begann mit gereizten Bewegungen und viel Lärm, seine Besitztümer in einer Decke zusammenzusuchen. Die feine Brünne, Handschuhe und Winterumhang, Stiefel und Schmuck. Dabei stieß er auf einen Gürtel, der über dem Panzerhemd hing. Der Gürtel gehörte Gunnar, also wurde er runtergerissen, zusammengerollt und seinem Eigentümer in die Arme geworfen.

Das, was seiner Meinung nach ihm gehörte, bündelte Erik zusammen, verknotete die vier Ecken der Decke und schleppte die Last zur Bodenluke. Erst als Erik sein Schwert holte und es an dem Gürtel, den er unter dem Rock trug, festspannte, wagte Gunnar, ihn anzusprechen.

– Reist du jetzt heim? fragte er mit schwacher Stimme, denn so sah es unstreitig aus; aber das war leichter gesagt als getan. Erik hatte dem Königskind Treue geschworen und mußte erst um Urlaub ersuchen, das wußte er.

– Entweder suchst du dir einen anderen Platz zum Wohnen, erwiderte Erik außer Atem, ohne sich auch nur umzuwenden, – oder ich gehe freiwillig, es gibt genug Orte unten in der Stadt, wo man eine Herberge findet.

Gunnar begriff nicht, was um ihn herum geschah. Zu irgendeinem Zeitpunkt mußte ihm etwas Entscheidendes entgangen sein, das alle anderen bemerkt hatten.

– Du darfst es nicht so schwernehmen, sagte er schließlich, so behutsam, als spiele er Ball mit einem Hühnerei, – es ist doch nur ein Spiel. Das weißt du doch selbst am besten, es war reiner Zufall – das Pferd kannst du jederzeit wiederhaben!

Erik lachte leicht in sich hinein, mit dem Rücken zu ihm; aber es klang nicht so, als belustige es ihn – dann breitete er resigniert die Arme aus und ließ die Handflächen auf die Schenkel klatschen.

– Wenn du glaubst, es ist wegen des Pferdes – dann glaub es nur weiter! sagte Erik, aber die Stimme klang nicht so scharf und sicher wie zuvor. Gunnar fühlte sich seltsam zumute, gejagt, ohne den Jäger zu erkennen, er wagte nicht, weiter einzudringen, wollte ihn nicht kränken: wenn man es genau nahm, war Erik der einzige Freund, den er je gehabt hatte.

– Wir sind Freunde, sagte er, – du bist der einzige, den ich mag. Wir können uns doch nicht so trennen!

– Freunde! wiederholte Erik, zögerte einen Augenblick, drehte sich mit einem Ruck um und starrte ihn an, mit demselben nackten, untertänigen Tierblick, den er gehabt hatte, als er sein Pferd übergab.

– Freunde, sagst du – Gott helfe uns, du weißt nicht einmal, was du da sagst! Freunde!

Gunnar begriff immer noch nicht im geringsten, was Erik meinen konnte. Etwas Böses war zwischen sie getreten, ohne daß er es bemerkt hatte; etwas Unbegreifliches und Namenloses. Er wußte sich nicht anders zu helfen, als stehenzubleiben und Eriks Blick zu erwidern – irgendwann mußte er doch eine Erklärung bekommen.

– Es gibt vieles, was du nicht weißt, sagte Erik und wandte den Blick ab, biß sich auf die Lippen, – aber so dumm kannst du doch nicht sein. Du müßtest es doch am besten wissen.

Am besten was wissen, schrie es in ihm, in banger Neugier – das Wissen, das er um jeden Preis erwerben wollte, konnte häßlich sein. Es verkrampfte sich in ihm, ein bisher unbemerktes inneres Organ zog sich in zitternder Angst zusammen und sandte Kältestrahlen durch seinen Körper, klopfte bis in die Fingerspitzen, setzte sich wie ein erstickender Kloß in der Kehle fest.

– Du weißt ja nicht mal, was du tust! sagte Erik: er klang, als wolle er sich selbst eine Lektion einprägen, die er nicht mochte. Haben sie nie mit dir gesprochen, nachdem deine Eltern gestorben waren? Du mußt doch wissen, wie schwer es ist, voranzukommen, wenn man nicht so ist wie alle anderen – du, ein Hurenkind.

Gunnar blinzelte mit den Augen, als habe jemand eine Faust an seinem Gesicht vorbeisausen lassen: der erste Hinweis, den Erik gegeben hatte, machte alles doppelt kompliziert. Hurenkind – wenn es etwas in dieser Welt gab, das er nicht war, dann mußte es ein Hurenkind sein. Seine Eltern waren mehrere Jahre verheiratet gewesen, als sie ihn bekamen; er hatte eine ältere Schwester, Gudrid, im Vårfrubergakloster. Zwar hatten seine Eltern einander verabscheut und von Herzen geschadet, aber verheiratet waren sie unstreitig gewesen. Hurenkinder – das waren Kinder, die verheiratete Männer mit andern als ihren Ehefrauen bekamen. Wie der kleine Sohn, den das Melkmädchen Jorunn letzte Woche bekommen hatte und zu dem sich der Küchenmeister bekannte.

– Was meinst du? Gunnar stammelte, mußte husten, um die Worte herauszubekommen. Eriks große, bernsteinfarbene Augen suchten die seinigen, und ein schwaches Erröten breitete sich über das schmale, bleiche Gesicht. Er strich sich mit einer Hand über Augen und Nase, und die Hand zitterte.

– Das wissen doch alle! sagte Erik kurz.

– Ich nicht. Ich nicht, antwortete Gunnar.

– Haben sie nie mit dir gesprochen? fragte Erik. Seine Stimme verriet tiefes und ehrliches Erstaunen.

– Wir haben es sogar drüben bei den Brüdern in Alvastra gehört, erklärte er und hielt Gunnars Blick stand. Während er fortfuhr, mit ruhiger Stimme und ohne drum herum zu reden, – der Mann, den du Pflegevater nennst, ist dein Vater. Deine Pflegemutter ist nicht viel besser als deine Mutter. Dein Pflegevater tötete ihren Mann, deinen Onkel – um sie heiraten zu können – und er bezahlte einen anderen dafür, daß er die Schuld auf sich nahm. Herrgott, du warst doch zwei Jahre mit ihnen in Norwegen, in der Verbannung, du mußt doch wissen, warum sie gezwungen waren, das Land zu verlassen! Dein Pflegevater wurde geächtet, weil ihm nicht erlaubt wurde, für den Mord Bußgeld zu zahlen!

Aber so war das nicht, dachte Gunnar. Es war gut möglich, daß es für Außenstehende so aussehen konnte; aber niemals für ihn. Nicht aus der Nähe. Erik konnte das nicht sagen: daß seine Eltern einander liebten und daß ein wenig von der Wärme, die zwischen ihnen strömte, ihm zum ersten Mal Leben und Mut gegeben hatte. Jofrid, seine Pflegemutter, die sich seiner angenommen hatte, als er zehn war, und als seine Mutter im Kindbett gestorben war. Sten, sein Pflegevater, der ihn immer freundlich behandelt hatte, immer so, als sei er ein Mensch.

Es stimmte auch nicht, daß er nichts wußte über ihre Vorgeschichte. Er hatte davon gehört – Bruchstücke aus Gesprächen, Gerüchte und aus dem Zusammenhang gerissene Bemerkungen. Aber er hatte sich nie gefragt, inwieweit die Vergangenheit sein Leben lenkte.

Es stimmte Gunnar nicht versöhnlicher, daß er es nun wußte. Eine Kluft tat sich zwischen ihm und Erik auf, dieses Wissen, das alle außer ihm zu haben schienen. Der Schlüssel zum Verständnis dessen, wer und was er war.

– Aber warum können wir nicht mehr zusammensein? fragte er zu Erik gewandt, der sich auf die Schlafpritsche gesetzt hatte, mit dem Rücken zu ihm, krumm und gebeugt. Aber er erhielt keine Antwort; eigentlich hatte er heute abend auch genug zu hören bekommen. Also tappte er die Leiter hinunter und hinaus in die Kälte, ohne Mantel, und ohne richtig zur Besinnung zu kommen.

Ein Schauer überlief ihn, als er spürte, wie der Wind durch die Kleidung fuhr. Nun war er wieder allein, viel einsamer als vorher – und er begriff nicht, warum.

Habe es gewußt, gewußt, gewußt, hallte es wie ein Echo in ihm. Aber vor ihm sollte es also verborgen werden. Und es mußte auch dieses Wissen sein, was ihn von Erik getrennt hatte, einen anderen Grund konnte er beim besten Willen nicht finden.

Es gab keinen Ort, an den er flüchten konnte, keinen Ort, wo er allein sein konnte, niemanden, mit dem er reden konnte. Alle anderen tanzten. Auf der grasbewachsenen Anhöhe vor der Burg war ein Feuer entzündet worden. Noch am gestrigen Abend hatte er sich auf den Tanz gefreut, Fremde würden dabei sein, all die anderen jungen Männer hatten Bräute, sogar Erik.

Der Mißmut schloß sich um ihn, wie naßkalte, dunkle Erde um einen Geist, der zum Grab zurückkehrt, nachdem er seine Geliebte besucht hat. Das war das Lied, das sie im Kreis grölten, ohne auf die Worte zu achten. Nun mußte er wohl zu den anderen hinuntergehen, sonst würden sie nach ihm suchen und Erik finden, und wer wußte schon, welche Teufeleien sich ergeben konnten?

Nils gab ihm einen großen Becher in die Hand, und er trank gehorsam von dem starken Bier. Versuchte sich dazu zu überreden, zu Erik zurückzugehen – so unheilbar konnte ihre Freundschaft nicht zerstört sein. Die Männer und Frauen hier waren betrunken und roh, tanzten und amüsierten sich. Er hatte bei ihnen nichts verloren, er würde sie nur bei ihrem Vergnügen stören, sie machten einen Bogen um ihn, als wäre er ein Aussätziger.

Der einzige Mensch, der genauso einsam wirkte, wie er sich fühlte, war ein junges Mädchen. Sie saß auf einer Bank an der Schmalseite des kleinen Steinhauses. Im Schein des Feuers fand er, daß sie Erik ähnelte. Blaß, blond und schmächtig, die weißen Hände fromm im Schoß über Kreuz gelegt. Jedesmal, wenn sich ein Mann an sie wandte, schüttelte sie abweisend den Kopf.

Er nahm allen Mut zusammen, ging zu ihr hinüber und bat sie um einen Tanz – ohne darüber nachzudenken, was ihn trieb. Als die anderen Männer sie darum gebeten hatten, da hatte sie immer verschämt auf ihre Hände niedergeblickt, mit steifem Hals, als ob man sie quälte. Nun aber richtete sie sich auf und sah zu ihm hoch, und es war die Überraschung seines Lebens. Als er Erik getroffen hatte, war es ihm vorgekommen, als sei er das merkwürdigste Geschöpf unter der Sonne. Aber dieses Mädchen war noch eigenartiger. Die Augen hatten dieselbe Farbe wie dunkler Bernstein, Haar und Haut erinnerten an frische lauwarme Milch, ganz ohne Schrammen, Fältchen und irgendwelche Fehler. Das Haar war am Ansatz dunkler, und unter den hohen schrägen Wangenknochen zeigten sich Schatten. Wie Erik schien auch sie nur ein halbwegs irdisches Wesen zu sein – der Hals war viel zu lang und gebogen, dünn und mit Flaum bedeckt. Sie wirkte frisch und unerfahren, auf jede Weise unberührt, wie Laubbäume in der ersten Woche nach dem Ausschlagen.

Während des Tanzes konnte er nicht auf das Lied achten, wagte nicht, den Blick von ihr zu wenden, aber er war immer noch einsam. Sie sang nicht mit, auf dem kleinen Gesicht ruhte unverändert der verschlossene Ernst, als denke sie über etwas nach, das weitaus interessanter war als das Lied. Es konnte nicht gesund sein, so viel zu grübeln. Aber sie ähnelten einander.

Heute hatte er seinen einzigen Freund verloren, daher war Gunnar so niedergeschlagen, daß sogar dieses schweigsame Elfenmädchen mit den Bernsteinaugen und dem milchblonden Haar neben ihm fröhlich wirkte.

Ihr Haar war aus der Stirn gekämmt und wurde von einem schmalen Seidenband gehalten. Ein kleines Schmuckstück blinkte mitten auf der hohen, schmalen Stirn: die Jungfrau Maria mit dem Kind. Er strich mit den Fingerspitzen über das Band und blickte zu ihr hinunter: Während des Tanzes war ein bißchen Farbe auf ihre Wangen und Leben in ihr Gesicht gekommen. Etwas wie ein Lächeln huschte über ihre Augen, während sie ihn betrachtete.

Sie standen allein draußen in der kühlen Luft, und er schnupperte an ihrem Haar. Er war klein von Statur, und sie noch einen ganzen Kopf kleiner – eines der kleinsten, aber vollkommensten Wesen, denen er je begegnet war. Und sie hieß Gunhild.

– Mein Vater nennt mich Gunilla, fügte sie hinzu, – das paßt besser, weil ich so klein bin. Und wie heißt du?

– Fast genauso, antwortete er mit einem Schulterzucken, erschrocken über das Gefühl der Sicherheit, das von der Jungfrau Maria und ihren Augen herrührte und ihn durchströmte, – ich heiße Gunnar. Und du bist süß.

Diese Bemerkung brachte sie zum Lachen, ein kleines, lustiges Glucksen, tief unten in ihrer Kehle. Aber ihr Mund blieb geschlossen. Das gab ihm Mut, seinen Arm um ihren Rücken zu legen, und sie gingen miteinander, in seliger Ruhe. Wenn sie es verlangte, könnte er von Kalmar bis Stockholm gehen und wieder zurück, barfuß und mit verbundenen Augen.

An der Treppe zu dem Haus, in dem sie schlief, blieb sie stehen, wandte sich ihm entschlossen zu, die Hände verschränkt vor sich. Er könne gern mitkommen, erklärte sie; auf Treu und Glauben oder auf der Decke liegen, das taten alle anderen auch, dabei konnte nichts passieren.

– Was ist, wenn dein Bräutigam kommt – ich glaube nicht, daß er entzückt wäre, mich dort oben zu finden, sagte er. Mit ihrer Zutraulichkeit hatte sie ihn über den Schrecken des Zerwürfnisses mit Erik hinweggetröstet. Er wollte den Abend nicht durch einen neuen, unvorbereiteten Streit verderben. Aber Gunilla lachte und schüttelte den Kopf, so daß ihr das Haar um das spitze Kinn flog. Diesmal konnte er ihre kleinen, weißen Mausezähne sehen.

– Er hat am liebsten nichts mit mir zu tun, sagte sie, als berührte sie das nicht im geringsten, – was das auch immer für ein Unmensch sein mußte, der nicht bereit war, alles auf der Welt dafür zu geben, um mit ihr zusammenzusein!

– Dann muß er blind und taub und lahm sein, stieß er hervor, und er meinte es – griff nach ihren Händen, erfaßte die dünnen Ellbogen und strich über den milchfarbenen Stoff der Ärmel. Sie blieb stehen, still und in sich gekehrt, bis seine Hände ihren Nacken erreichten.

In dem Augenblick sah sie zu ihm auf, und er küßte sie – bevor er überhaupt beschlossen hatte, daß es genau das war, was er wollte.

Ihr Gesicht wandte sich zu ihm empor, wie eine Blume nach dem Licht, und sie öffnete den Mund, als wolle sie schreien; aber sie hatte keine Angst.

Es war das erste Mal, daß er sich in dieser schweren Kunst versuchte, aber es war leichter, als er befürchtet hatte, fast selbstverständlich. Ihr Zunge glitt zwischen seine Zähne, warm und ein bißchen erschrocken über ihren eigenen Mut, spielte gegen seinen Gaumen und zog sich zurück, wie eine Maus in ihr sicheres Loch.

Als er sie losließ und sie sich an ihn lehnte, konnte ihn nichts Böses mehr berühren. So etwas war noch nie zuvor geschehen. Darauf hätte er schwören können.

– Tu es noch einmal! bat sie.

Als er sie das nächste Mal losließ, breitete sie die Arme aus und lachte, und einen Moment lang dachte er, sie hätte Flügel unter dem Umhang und würde in Vogelgestalt hochflattern.

Sie stiegen zusammen auf den Dachboden und legten sich aufs Bett, und Gunhild schlief ein, während sie noch miteinander flüsterten. Er brachte es nicht über sich, sie zu wecken, auch wenn er ihre Stimme vermißte. Sie schlief geräuschlos, und er lag wach, verwirrt und glücklich, und hielt sie leicht fest, ihr Gesicht in seiner Achselhöhle. Einzelne Strähnen ihres Haars waren über sein Gesicht gebreitet; er wollte sie nicht wegstreichen, auch wenn es in der Nase kitzelte.

Es gab kein größeres Vergnügen auf der Welt als dieses, davon war er überzeugt. Schon der Laut ihrer schwachen Atemzüge war unbegreiflich. Sein Herz flatterte wie ein Schmetterling in einem dunklen Haus, wenn er nur an ihre Bernsteinaugen dachte.

Früh am Morgen erwachte sie, noch vor Tagesanbruch – drehte sich mit einer heftigen Bewegung auf den Bauch und streckte sich, gähnte und prustete und rieb sich die Augen. Es war unverkennbar, daß sie gewohnt war, allein zu schlafen. Als sie ihn erblickte, setzte sie sich erschreckt auf – er hätte nicht geglaubt, daß ihr Gesicht je Farbe annehmen würde, aber sogar im schwachen Licht der Öllampe konnte er sehen, daß sie errötete, und das stand ihr ausgezeichnet.

Sie küßten sich und begannen eine Art Gespräch: Er mußte wissen, wer sie war, woher sie kam. Und sie schloß ihre kleinen Hände um die Knie und erklärte alles, als habe sie sich die ganze Nacht, auch im Schlaf, darauf vorbereitet, seine Fragen zu beantworten.

Ihr Vater hieß Torsten Ödesson, hatte einen Adlerfang in seinem Wappen, wohnte meistens in Sörmland – ihre Mutter lebte nicht mehr, und Gunhild hatte keine Geschwister, der Vater hatte sich nie wieder verheiratet.

Das klang wirklich gut, fand er: Sie war nicht die jüngste von dreizehn Töchtern, auf der Suche nach einem reichen Freier, sie war kein Hurenkind, hatte sich nie für ihre Herkunft schämen müssen. Ihr Vater mußte sie über alles auf der Welt lieben. So ein Vater würde sich nicht ihrem Wunsch widersetzen. Und der Bräutigam, der nicht einmal mit ihr tanzen wollte.

Seine Pflegeeltern würden stolz sein, wenn sie hörten, wen er erobert hatte: eine reiche Braut, die so hübsch war, daß ihm fast das Herz in der Brust schmolz, wenn er sie nur ansah.

Aber da gab es noch jemanden, den Bräutigam Gunhilds. Das mußte der Sohn eines mächtigen Mannes sein, wenn er für Torsten Ödessons einzige Tochter gut genug war. Gunnar wußte sich nicht anders zu helfen, als sie zu fragen; aber er sah, daß sie erbleichte, sich in sich selbst zurückzog, wie sie es am Vorabend beim Tanzen getan hatte. Es arbeitete in ihrem Gesicht, als würden die Worte im Mund quellen und die Lippen versuchen, sie zurückzuhalten.

Er brauchte sie nicht anzusehen, als sie den Blick auf ihn richtete, hilflos und erleichtert: Er hatte den Zusammenhang erraten. Natürlich: Solche Zufälle durfte es doch nicht geben. Jetzt hatte er Erik gerade aus seinem Gewissen verbannt, und mun begann das Ganze von vorn, und schlimmer als zuvor. Nun würde er mit Erik auch noch um eine junge Frau streiten.

Jofrid war der glücklichen Überzeugung gewesen, daß sich alle Knoten lösen würden, wenn sie nach Jahren der Verbannung und Armut in Norwegen wieder nach Schweden zurückkehren könnten. Aber so einfach war das nicht. Die Schuld war alt geworden und an den Rändern ergraut, sie fand, sie hätten genug gesühnt. Schon als sie auf dem Pachthof wohnten, war es ihr schwergefallen, sich genau vorzustellen, wie ihre Heimkehr aussehen würde – eigentlich hatte sie wohl gedacht, daß Ehre, Erbe und Name ohne Belang wären, wenn sie nur nach Hause kommen könnten und ihnen das Recht gewährt würde, in Schweden zu wohnen. Sie waren ja trotz allem nicht die ersten, die so etwas getan hatten, verteidigte sie sich: viele andere hatten sich von Mord und Gesetzesbruch freikaufen können, wohnten glücklich und frei im Lande, führten ihre Höfe gut, und niemand wagte, auf ihre undurchsichtige Vergangenheit anzuspielen.

Jofrid konnte nicht einsehen, daß ihre Schuld so viel größer als die der anderen sein sollte. Ihr eigener Onkel Ingemar, der sich ihrem Freikauf widersetzt hatte, hatte seine Pächter wie Leibeigene behandelt, und trotz seiner großen Frömmigkeit hatte er bis zu seinem Todestag mit den Nonnen der Klöster Sko und Gudhem in Fehde gelegen. Jeden Tag wurden Menschen erschlagen, ohne daß die Morde bei den Treffen des Reichsrates verhandelt wurden. Ihr Mann war unbeabsichtigt getötet worden: Sie hatte sich an diesen Begriff geklammert, hatte Sten nie gefragt, wie der Mord an Ture vor sich gegangen war. Der Mord war Sten so teuer zu stehen gekommen, weil er auf Kirchengelände und dazu an einem Meßtag geschehen war. Überdies hatte Ingemar seine eigenen Gründe, Sten den Freikauf zu verweigern. Das mußte sie glauben. Über den Rest wollte sie nicht einmal nachdenken.

Aber schon in Norwegen hatte sie begriffen: Sie konnte nicht mehr beichten, bereuen und Buße tun, wie sie es gelernt hatte. Nie mehr würde sie die befreiende Wirkung der Absolution erfahren, ohne sich heimlich einen Rest von Zweifel zu bewahren. Wenn sie beichtete, daß Sten und sie zusammengelebt hatten, während sie noch verheiratet war, würde das eine Ehe unmöglich machen. So einfach war das. Keine Instanz, weder eine weltliche noch eine kirchliche, hatte sich in ihr Zusammenleben eingemischt. Niemand mengte sich in das mehr oder weniger offenkundige Kebsenleben der Leute ein. Wenn doch, dann müßte sich die Kirche sozusagen mit jeder Großgrundbesitzerfamilie anlegen. Jofrid hätte mit Sten bis zu ihrem Tode unverheiratet zusammenleben können, und ihre Kinder hätten niemals den Namen des Vaters getragen, ihn niemals beerben können. Früher oder später würde Sten von der Kirche mit dem Bann belegt werden, weil er mit einer Frau zusammenlebte, mit der er Hurerei begangen hatte. Es war unmöglich, mit allen