Der Philosoph des Freikletterns - Reinhold Messner - E-Book

Der Philosoph des Freikletterns E-Book

Reinhold Messner

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Beschreibung

Paul Preuß hat die Geschichte des Alpinismus geprägt wie kaum ein anderer. Vor genau 100 Jahren entfachte sein Aufsatz »Künstliche Hilfsmittel auf Hochtouren« einen Streit innerhalb der Bergsteigerelite, der noch heute nachklingt. Mit seinem Eintreten für den reinen Kletterstil ohne Haken wurde er zum »Erfinder des Freikletterns« und untermauerte seine Thesen durch visionäre Alleingänge in den Alpen. Reinhold Messner stellt uns den »komplettesten Bergsteiger der Alpen« vor und schildert, warum seine Ideen bis heute nichts von ihrer Sprengkraft eingebüßt haben.

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Texthinweis:

Ich habe die Preuß-Schriften gekürzt, sonst aber unverändert übernommen. Nur zum besseren Verständnis wurden da und dort Schreibweisen dem heutigen Satzgebrauch angepasst.

Reinhold Messner

Mit 92 Schwarz-Weiß-Abbildungen

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen ungekürzten Taschenbuchausgabe

1. Auflage Mai 2011

ISBN 978-3-492-95694-9

© Piper Verlag GmbH, München 2012 Diese Ausgabe basiert in Teilen auf dem Buch: Reinhold Messner, Paul Preuß, J.Berg bei Bruckmann 1996 Umschlaggestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München Umschlagfotos: Walter Schmidkunz (Hauptmotiv), A.Asel (Porträt)

Mit künstlichen Steighilfen habt ihr die Berge in ein mechanisches Spielzeug umgewandelt. Schließlich werden sie kaputtgehen oder sich abnutzen, und euch bleibt dann nichts anderes übrig, als sie wegzuwerfen.

Paul Preuß

Paul Preuß – Herrscher über den Abgrund.

Tita Piaz

[1]

Paul Preuß – 100Jahre Mauerhakenstreit

Im Alpine Journal XXVIII (Nr.203, 1914) schrieb Dr.Günther Freiherr von Saar: »Lasst uns hoffen, dass wir nicht zu lange warten müssen, bis die Schriften von Paul Preuß gesammelt publiziert werden.« Erst 1986 dann, zum 100. Geburtstag von Paul Preuß, war diese Zusammenfassung erstmals in Buchform zu haben. 2011, zu 100Jahre »Mauerhakenstreit«, soll sie wieder aufgelegt werden.

Kein anderer Alpinist hat für unser Tun eine größere Bedeutung als der Österreicher Paul Preuß (1886–1913). Diese subjektive Einschätzung und meine frühe Bewunderung für diesen Realisten und Idealisten haben mich bereits vor 25Jahren bewogen, eine Biografie über Paul Preuß zu schreiben, seine Schriften zu sammeln, zu bündeln und in Buchform vorzulegen.

Als die Sammlung 1986, zum 100. Geburtstag von Paul Preuß, dessen Vermächtnis aufgrund seiner jüdischen Herkunft jahrzehntelang verdrängt worden war, erstmals erschien, fand sie wenig Beachtung. Später nahm der Deutsche Alpenverein (DAV) »Paul Preuß« in seine Reihe »Alpine Klassiker« auf, in die er gehört. Damit hat der DAV dem einstmals (postum!) ausgegrenzten Juden seine Plattform geboten und ihm die verdiente Anerkennung erwiesen. Endlich! Dankbar bleibe ich in diesem Zusammenhang dem inzwischen verstorbenen Professor Dr.Karl Mägdefrau, selbst extremer Kletterer in der Post-Preuß-Zeit, der mir nicht nur bei der Materialbeschaffung geholfen hat, Dr.Helmut Zebhauser sowie dem damals schon verstorbenen Severino Cesara, der für sein Preuß-Buch* [* »Preuß, l’alpinista leggendario«, Longanesi, 1970.] wertvolle Vorarbeit geleistet hatte.

Dieser lebenslustige Paul Preuß war nicht nur ein exzellenter Kletterer, Eisgeher und Tourenskifahrer, er begeisterte mit seinen Vorträgen voller Witz und Spontaneität Zigtausende Menschen; er schrieb Artikel über Themen, die heute noch hochaktuell sind, blieb immer fair und ganz er selbst. Er vertrat seine Visionen öffentlich und stritt, wenn notwendig, vortrefflich dafür. Preuß war jene Persönlichkeit vor dem Ersten Weltkrieg, die das Bergsteigen nachhaltiger beeinflusst hat als jeder andere im deutschen Sprachraum. Seine Thesen sind bis heute revolutionär und werden auch weiterhin zur Basis der modernen Freikletterbewegung zählen. Alexander Huber zum Beispiel könnte einer seiner Schüler sein. Die Preuß’schen Touren, kühn in der Linienführung, sind – frei geklettert – bis heute ein Schlüssel zum Nachvollzug des Kletterkönnens vor dem Ersten Weltkrieg. Seine Aufsätze, seinerzeit Anlass zu lebhaften Diskussionen, sind nicht nur voller zündender Ideen, Kritik und Weitsicht, sie sind auch gut geschrieben. Kein Wunder, dass Paul Preuß in einem damals noch liberalen ÖDAV viele Bewunderer hatte. Dass er Jude war, spielte keine Rolle. Die Streitkultur damals hatte ja höchstes Niveau. Auch unter Bergsteigern. Bald nach seinem Tod 1913 aber sollte alles anders werden. Viele der Preuß’schen Ideen waren bald verpönt, der Preuß-Turm in den Dolomiten wurde in »Kleinste Zinne« umgetauft, sein Erbe vergessen.

Mit Absicht habe ich in diesem Buch fast alle Schriften von Paul Preuß, wenn auch gekürzt, übernommen. Denn deutlicher als in seiner Biografie ist sein Geist in seinen Aussagen zu erkennen. In seinen Erstbegehungen wird der große Alpinist greifbar für jeden, der sie wiederholt: Tritt für Tritt, Griff für Griff.

[2]

Dieses Buch ist aber nicht nur als späte Hommage für Paul Preuß gedacht, es ist als Vermächtnis des klassischen Alpinismus eine Art Orientierungshilfe und damit unverzichtbar für weitere Generationen von Bergsteigern. Kein historisches Dokument zwar, aber trotzdem ein Versuch, diesem großartigen Visionär gerecht zu werden. Mehr noch, Paul Preuß zu rehabilitieren.

Paul Preuß – der Denker, der Wiener, der Jude, der Älpler, der Kletterer, der Philosoph – ist für das Verständnis der hundertjährigen Freikletterbewegung heute wichtiger denn je. Für all jene, die sich der Sportkletterbewegung mit Händen und Füßen angeschlossen haben, können seine Ideen Anregung sein, Preuß-Touren nachzusteigen. Sind diese doch beim derzeitigen Kletterkönnen von Zigtausenden frei zu bewältigen, im Stil und im Geist von Paul Preuß. Dabei darf es uns stören, dass Paul Preuß in bestimmten Kreisen immer noch ausgegrenzt wird: als Gescheiterter seiner »Ideologie des Wahnsinns«; als »Frauenfeind«; als Opfer »seiner Verstiegenheit«. Wir klassischen Bergsteiger aber – Walter Bonatti zum Beispiel, die Huber-Brüder, Ueli Steck – haben Verständnis für ihn, mehr noch: Wir halten seine Lebenshaltung hoch.

[3]

Wenn der DAV bis heute glauben machen will, dass die Ausgrenzung nichtarischer Bergsteiger durch »politische Einflussnahme« begonnen hat, »den Mitgliedern des Alpenvereins bereits 1924 eine separate jüdische Sektion aufgezwungen wurde«, ist das eine billige Ausrede, von wem auch immer erfunden. Die Ausstellungsobjekte im DAV-Haus in München jedenfalls illustrieren dies nicht. Auch der stilisierten Verwendung der Bergbildwelt in der Nazipropaganda hat der DAV damals nicht widersprochen, noch weniger dem Todschweigen jüdischer Bergsteiger während der Zeit des Nationalsozialismus.

»Dem Ausschluss folgte das Totschweigen der großen jüdischen Bergsteiger während der Nazizeit. Mit Paul Preuß sollte nicht nur der Jude, sondern auch der große Individualist und Einzelgänger für alle Zeiten vergessen werden. Der Geist der Massenorganisation – damals die Kollektivierung aller Sport- und Freizeitaktivitäten (vom Reichsverband der Deutschen Bergsteiger bis zur KdF), heute die Kommerzialisierung des Alpinismus durch den »ADAC der Berge« weit über den Bergsport hinaus – ein roter Faden in der Geschichte des DAV?«

Ulrich Cartellieri

Bis zum Ersten Weltkrieg war das Miteinander in den allermeisten Sektionen des ÖDAV durch Freundschaft und Respekt gekennzeichnet; seit der Gründung der ersten Sektionen des Alpenvereins gab es ja eine ganze Reihe prominenter jüdischer Alpinisten im AV. Paul Preuß nun hat als Vordenker nicht nur den Stil des Freikletterns entscheidend mitgeprägt, er hätte sich auch gegen jede Form von »Kraft durch Freude«-Ideologie und Ausgrenzung Andersfarbiger, Andersartiger, Andersdenkender gewehrt. Davon bin ich fest überzeugt, immer vorausgesetzt, er wäre am Leben geblieben. Zivilcourage war ja eine seiner Stärken! Dass viele jüdische Bergsteigerinnen und Bergsteiger später demonstrativ aus dem Verein ausgesperrt wurden, ist eine Tatsache, die uns heute nicht mehr vorzuwerfen ist, aber auch nie vergessen werden darf. An Toleranz und Liberalität aber herrschte im DAV immer schon Mangel, und nur vor diesem Hintergrund ist es beschämend, jedenfalls nicht ermutigend, dass der Deutsche Alpenverein sich den dunklen Kapiteln seiner Geschichte bis heute nur oberflächlich stellt, Intoleranz und Ausgrenzung weiter duldet.  Warum sonst fehlte 2010/2011 jener Kletterhammer von Paul Preuß in der großartigen Ausstellung zu den jüdischen Bergsteigern im DAV-Haus, der für mich ein Symbol ist für jüdischen Witz, ein bisschen Zynismus und sehr viel Bergbegeisterung?

Diesen Hammer erhielt ich auf ausdrücklichen Wunsch von Emmy Hartwich-Brioschi, einer Jugendfreundin von Paul Preuß, als eine Art Vermächtnis. Er wurde mir von Norbert Biely, dem guten Geist der Sektion Bergland Wien des ÖAV, überreicht mit der Auflage, ihn öffentlich zugänglich zu machen oder diesen später einem gleichgesinnten Kletterer weiter zu »vererben«.

Der Preuß-Hammer, den ich im MMM Curiosa in Sulden ausgestellt hatte, ist also als erste Anregung für das MMM (Messner Mountain Museum) zu sehen und insofern ein Kuriosum, weil Preuß mit seiner strikten Ablehnung des Mauerhakens ja gar keinen Hammer zum Hakeneinschlagen hätte dabeihaben »dürfen«. Dass er offen über dieses »Hämmerchen« spricht – »Selbst mein kleiner Kletterpickel musste mehrmals zeigen, was er zu leisten imstande wäre« – und auch Haken damit eingeschlagen hat, macht Preuß menschlich und seinen Hammer zu einer »Reliquie«:

»Noch einmal stieg ich zu der Traverse empor, wieder mit demselben Resultat. Ja wenn ich wüßte, ob der Griff, den ich dort drüben erreichen kann, wenn ich mich ganz schief hinüberlehne, auch hält? ›Schlag’ dir einen Mauerhaken ein‹, ruft Hüdl herauf, und so ungern ich zu solchen Mitteln greife, so muß ich mich doch damit abfinden. Gar so leicht war auch diese Tätigkeit nicht, und erst nach längeren Manipulationen, nachdem ich zwei Haken eingetrieben hatte, gelingt der schwere Schritt.«

Paul Preuß

Paul Preuß – sein Leben

1786, am 8.August, besteigen Michel Paccard, ein Arzt, und Jacques Balmat, ein Kleinhäusler aus Chamonix, den Montblanc, den höchsten Berg der Alpen.

Fast genau 100Jahre später, am 19.August 1886, wird in Altaussee im Salzkammergut Paul Preuß geboren. Seine Mutter, geborene Caroline Lauchheim, Elsässerin, hatte 1871 Straßburg verlassen, um bei Baron von Rosenberg als Hauslehrerin tätig zu werden.

Im Schloss Ebenzweier am Traunsee im Salzkammergut verbrachten die Rosenbergs den Sommer. Dort trafen sich Caroline Lauchheim und Eduard Preuß, der den beiden Kindern der Familie Rosenberg zweimal in der Woche Musikunterricht gab.

»Wir wissen, dass Eduard Preuß Blumen liebte, dass er Grund um das Haus ankaufte und einen Garten mit relativ seltenen Bäumen, mit einer Unzahl von Rosenstöcken anlegte. Er unternahm häufig Wanderungen.«

Edi Schaar

Die Familie Preuß stammte aus Fünfkirchen in Ungarn, und Eduard, 1847 als zweiter Sohn geboren, kam nach Wien, um Musik zu studieren. Die Sommermonate, Ende Mai bis Anfang Oktober, verbrachte Eduard Preuß wie viele andere Wiener in Aussee in der Steiermark. Er und Caroline Lauchheim trafen sich nun regelmäßig im Schloss Ebenzweier, besuchten sich gegenseitig.

Am 12.September 1882 heirateten sie. Caroline war knapp 25Jahre alt, Eduard 36. Im Winter lebte das junge Paar in Wien, zuerst Franz-Joseph-Kai 25, dann 39, den Sommer verbrachte es in Aussee, wo 1883 die erste Tochter, Sophie, zur Welt kam. 1884 wurde in Wien Mina geboren, das zweite Mädchen. Im Mai 1886 zog die Familie Preuß in ein eigenes kleines Sommerhaus nach Altaussee, wo am 19. August, um 1.30Uhr, Paul geboren wurde. Der Alpinismus, damals gerade 100Jahre alt, steckte in einer ersten Umbruchphase. Die meisten der großen Alpengipfel waren »erobert«, da und dort schon schwierigere Routen gefunden.

[4]

Noch aber ging es nicht um die elegante Linienführung einer Erstbegehung, nicht um die Kunst des Kletterns, nicht um den Stil. Die Zeit der führerlosen Alpinisten war gerade erst angebrochen und hatte, 1885, bereits ihren kühnsten Vertreter verloren: Dr.Emil Zsigmondy war 24-jährig an der Südwand der Meije in den französischen Alpen abgestürzt.

Im August 1886, gerade als Paul Preuß geboren wurde, bezwangen Winkler und Zott die Cima della Madonna in der Pala-Gruppe/Dolomiten, und ein Jahr später, 1887, wagte derselbe Georg Winkler den Soloaufstieg auf den kühnsten der Vajolettürme im Rosengarten, der heute Winklerturm heißt. 1886, im Geburtsjahr von Paul Preuß, ist John Ball, Gründer des britischen Alpine Club, 68Jahre alt. John Tyndall, Alpinist und Wissenschaftler ist 66; Eduard Whymper, der Erstbesteiger des Matterhorns, 46; Douglas Freshfield 41; Albert Frederik Mummery, der mit seinem Ruf nach »fair means« als Vorläufer von Paul Preuß gesehen werden kann, 30.

Jünger sind die großen deutschsprachigen Persönlichkeiten des Alpinismus. Der Dolomiten-Erschließer Paul Grohmann ist 48; der unermüdliche Ludwig Purtscheller 37 wie der Alpenmaler E.T. Compton; Julius Kugy 28; Karl Blodig, der später von Preuß schwärmen sollte (»Nie hätte ich gedacht, dass ein Mensch so geschickt sein könne«), 27 und Eugen Guido Lammer 24.

Paul Preuß verbrachte die Sommermonate mit seinen Eltern und den beiden Schwestern in Altaussee, spielte mit den anderen Kindern und begleitete seinen Vater, der ein begeisterter Hobbybotaniker war, oft auf Spaziergängen.

Der sechsjährige Paul war grazil, fast schwächlich; einen Winter und einen Frühling verbrachte er zwischen Bett und Rollstuhl, da er durch eine Infektion (polioähnlicher Virus) teilweise gelähmt war.

Wieder genesen, gaben Gymnastik und Spaziergänge dem Kind Kraft und Geschicklichkeit zurück. In dieser Zeit begeisterte sich Paul Preuß für die Bergblumen, er spielte Schach, mit der Mutter sprach er Französisch.

Paul Preuß war zehn Jahre alt, als 1896 sein Vater starb. Die Mutter heiratete nicht wieder. Paul setzte sein Wandern fort, zuerst mit den beiden Schwestern, später mit Spielkameraden, oft allein. Er hatte immer einen Spiegel und eine Trillerpfeife in der Tasche, und wenn er auf einem Gipfel stand, pfiff er oder spielte mit den Sonnenstrahlen.

Mit elf Jahren begann Paul, richtig bergzusteigen, und innerhalb von fünf Jahren mag er auf 300 Gipfeln gestanden haben. Sicher hat er in diesen Jahren den Grundstock für sein späteres Können gelegt. Er war völlig frei; ohne Aufsicht kletterte er in den Bergen herum, der Abgrund wurde ihm etwas Selbstverständliches.

[5]

Jugend

Wir wissen nichts Genaues über diese wilden Jahre, ein Bergtagebuch hat Paul Preuß erst 1910 zu schreiben begonnen. Nur was die Schwestern erzählten und was mir Emmy Eisenberg, spätere Hartwich-Brioschi, in Briefen schrieb, kann ich aus dieser Zeit wiedergeben.

Diese Emmy – sie ist vor wenigen Jahren verstorben – war die ideale Tourengefährtin für Paul Preuß. Leicht wie eine Feder, stieg sie ihm überallhin nach und beklagte sich nie. Emmy Eisenberg entstammte einer vornehmen Wiener Familie. Sie war bekannt für ihre eigenwillige und moderne Lebenshaltung. Sie darf als große Freundin des jungen Preuß verstanden werden. »Die Gipfel«, sagte sie, »sind die einzigen sichtbaren Ideale, die man schnell erreichen kann.«

Elegant wie Emmy Eisenberg war auch Paul Preuß. Er gehörte nicht zu den verwilderten Typen in den Bergen, die glaubten, durch Schlampigkeit ihre Überlegenheit ausdrücken zu müssen. Meistens kletterte er ohne Kopfbedeckung, dafür trug er eine Seidenkrawatte – je nach Jahreszeit weiß, blau oder violett. Im Fels bevorzugte er eine einfache Steirische Tracht und ließ sich die Kleidung nach seinen Vorstellungen umändern. Praktisch und elegant musste sie sein.

In seinem Zimmer im Häuschen in Altaussee, wo er bei Regenwetter schrieb, las und Karten studierte, herrschte eine bestimmte Ordnung, auch wenn Rucksäcke, Kletterpatschen, Seile neben Routenskizzen, Rezensionen und Büchern Platz haben mussten. Er wollte sich mit seinen »besten Sachen« umgeben. Da standen auch die Fotografien von Georg Winkler und Emil Zsigmondy, zwei Bergsteiger, die er besonders verehrte, und ein Schrank, an dem er trainierte. Dazu stellte er zwei Gläser umgekehrt auf den oberen Rand des Schrankes und machte an ihnen Klimmzüge. Ein Kunststück, das niemand nachmachen konnte, das dem Freikletterer aber seine Überlegenheit im brüchigen Fels gab. Trotzdem, seine Hände waren feingliedrig wie die eines Künstlers.

Er balancierte auf dem Stiegengeländer auf und ab, konnte mit beiden Händen einarmig Klimmzüge machen und sprang, kleine Felsvorsprünge ausnutzend, über reißende Bergbäche.

Mit einer Begehung der Planspitze-Nordwand im Gesäuse über die Pichl-Route – es war am 11.Juli 1908 – begann die sportliche Phase im Bergsteigerleben von Paul Preuß. Er hatte die Tour allein, mit einem Biwak auf dem Hochtor, ausgeführt und beurteilte sie selbst als seine erste Bergfahrt mit sportlichem Wert. Sie sollte seine Entwicklung wesentlich beeinflussen. Paul Preuß sah das Klettern als eine natürliche Fähigkeit des Menschen an, und er wollte diese Einstellung kompromisslos leben. Die Berge waren ihm nicht Feind, sie waren ihm Medium, ein Maß für die Kräfte und Fähigkeiten des Menschen, sowie Abgrund nach innen.

[6]

Dieses Selbstverständnis ist es, das in all seinen Schriften, in der Tourenwahl, in seiner Persönlichkeit klar wird. Preuß war der bedeutendste Alpinist seiner Zeit: wegen seiner Aussagen, seiner Einflüsse, seiner Ideen – und ob der Zahl und der Qualität seiner Besteigungen. Das Preuß-Tagebuch beginnt 1910 und endet mit dem 16. Juni 1913. Da fast ausschließlich technische Daten darin enthalten sind, beschränke ich mich darauf, im Anhang eine Tourenübersicht zu veröffentlichen. Seine Aufsätze, seine Streitschriften, seine Tourenschilderungen, die er für Zeitschriften verfasst hat, habe ich in den Mittelteil dieses Buches gestellt, weil sie der Person des Paul Preuß als Mensch, Bergsteiger und Visionär am ehesten gerecht werden, weil im Grunde nur sie das richtige Licht auf sein Wesen und sein Können werfen.

Wie viel Energie dieser Mann hatte, wie viel Begeisterung auch, wird nur verständlich, wenn man bedenkt, wie viele Touren er in kürzester Zeit bewältigen konnte. So stieg er vom 4. bis 8. Juni 1911, in fünf Tagen also, im Gebiet des Zuckerhütl in den Stubaier Alpen mit Skiern auf 22 verschiedene Gipfel. Vom 20. Juli bis 3. August desselben Jahres gelangen ihm in der Brenta-Gruppe in den Südwestlichen Dolomiten neun große Touren, darunter zwei bedeutende Erstbegehungen. Anschließend war er in der Langkofel- und Rosengarten-Gruppe, wo er in zwei Wochen gleich 30 Gipfel bestieg, einige Neutouren inklusive. 16 Gipfel, alle mehr als 3000 Meter hoch, bestieg er vom 27. Februar bis 6. März 1912 im Großglocknergebiet.

Mit 20Jahren hatte Paul Preuß extrem zu klettern begonnen, und seine Touren wurden von nun an von Jahr zu Jahr schwieriger und zahlreicher. Von den Felswänden rund um Altaussee – Trisselwand, Sandling – ging er ins Tote Gebirge und ins Gesäuse. Von Wien aus fuhr er Wochenende für Wochenende in die Rax, zum Schneeberg oder zum Semmering. Bald schon dehnte er seine Bergabenteuer in die Julischen Alpen, in die Dolomiten aus; 1908 war er zum ersten Mal in den Westalpen, in Zermatt.

Der Tatmensch

Der junge Preuß hatte einen Auftrag angenommen, den Sohn eines englischen Barons in Deutsch und Französisch zu unterrichten. Während dieser Wochen gelang ihm die Überschreitung des Zinalrothorns von Morentet nach Zermatt. Zwei Tage später, wieder im Alleingang, stieg er über den Hörnligrat auf das Matterhorn, kletterte über die Gegenseite, den Carrel-Weg, hinab, ging zum Theodulpass, um so die Besteigung des Breithoms an seine Matterhorn-Überschreitung zu hängen. Eine großartige Tagesleistung! Am Abend war er wieder in Zermatt.

[7]

Mit Begeisterung kam er zurück in die heimatlichen Ennstaler Alpen, ins Gesäuse war er buchstäblich verliebt.

Wie viele seiner Studienkollegen hat er fürs Klettern begeistert, wer ging nicht alles an seinem Seil? Martin Freud, der Sohn des berühmten Psychoanalytikers, dessen Schwester; Paul Relly, der später Preuß’ Schwester Mina heiratete, wurde sein beständigster Begleiter.

Paul Preuß entwickelte sich nicht nur zum exzellenten Kletterer und Hochtourengeher, er gehörte sicherlich zu den erfahrensten Skibergsteigern seiner Zeit. Viele Skitouren hat er entdeckt, Gran Paradiso, Dreiherrnspitze, Turnerkamp als Erster mit Ski bestiegen. Gerade über den Skitourismus hat er später wichtige Artikel geschrieben, Polemiken ausgelöst, die heute noch aktuell sind. Er hat an einem Buch über den Skialpinismus gearbeitet, als er 1913 abstürzte.

Der alpine Skilauf, aus dem Wunsch geboren, die Berge auch in den Wintermonaten auszukosten, erlebte damals die ersten Auseinandersetzungen. Rennen wurden ausgetragen, neue Techniken propagiert, Clubs gegründet.

Preuß war seiner Zeit um Jahrzehnte voraus. Neben seiner klaren Argumentation zur Amateurfrage und zum Problem der Schutzhütten im Winter führte er mit seinen Freunden Skidurchquerungen durch, wobei sie ganze Gebirgsgruppen durchstreiften.

Die Überschreitungen waren auch in den sommerlichen Bergen eine Spezialität von Paul Preuß. Er überschritt die Königspitze in der Ortler-Gruppe, die er für den schönsten Eisgipfel schlechthin hielt, die Marmolada von Süden nach Norden, die Vajolettürme. An der Fünffingerspitze führte er die erste Doppelüberschreitung durch.

Preuß lebte inzwischen in München, wo er auch studierte, in der Adalbertstraße in Schwabing. Schnell hatte er Eingang in die Münchner Kletterszene gefunden und viele Freunde gewonnen. Obwohl er sehr kritisch war, hatte er doch viel Verständnis für die menschlichen Schwächen seiner Zeitgenossen, und so war er allgemein beliebt. Er konnte leidenschaftlich »streiten«, vor allem mit seinen besten Freunden, denjenigen, die ihm weniger sympathisch waren, gab er meist recht.

»Die nächtliche Kletterei an den Propyläen wird andernorts Hans Dülfer zugeschrieben, mit der Variante allerdings, dass dieser einen Kamin als Aufstieg benutzt haben soll.«

Reinhold Messner

In dieser Zeit, 1911, hielt er die ersten Vorträge und kletterte in München an den Propyläen herum. Sein Freund Walter Bing blieb unten und stand Wache, um Preuß rechtzeitig vor den Stadtpolizisten zu warnen.

Paul Preuß wurde bald zum Kopf einer jungen Bergsteigergeneration.

Georg Winkler, meinte Preuß damals, könne jetzt ohne Weiteres die Totenkirchl-Westwand alleine klettern. »Es ist alles auch eine Frage der Zeit, in die ein Alpinist hineingeboren wird.« Heute könnten Winkler und Preuß die schwierigsten Routen der Welt wiederholen, wenn sie mit derselben Intensität trainierten, wie es die jungen Starkletterer unserer Tage tun.

[8]

Preuß studierte, ging an fast jedem Wochenende ins Gebirge und spielte im Café Stephanie Schach. Gerne besuchte er Maskenbälle, spielte Karten und war für jeden Spaß zu haben. Da er nicht viel Geld von zu Hause bekam, verdiente er selbst etwas dazu, um während der Studienjahre über die Runden zu kommen. Nach seinen in Wien abgeschlossenen Studien war Preuß Assistent im Botanischen Institut der Universität München, dazu kamen die Honorare von seinen Vorträgen und Publikationen.

Nur ganz selten sah man Preuß im Frack. Meist trug er sein Steirergewand oder seine knielangen Lederhosen. So besuchte er auch die Clubabende der »Bayerländer« oder die von »Hoch-Glück«, bei denen er Mitglied war. Zu »Bayerland« gehörten auch Dülfer, Schaarschmidt, Pfann, Ittlingen und die Brüder Bernuth. In einer solchen Runde war es auch, als Preuß – als Spiritus Rector – den »Mauerhakenstreit« begann, eine Diskussion, die jahrelang fortwährte.

Seit 1911 unterschrieb er mit Dr.Paul Preuß. Sein Studienabschluss in Pflanzenphysiologie (allerdings nicht nachgewiesen) reichte ihm nicht für seine Ansprüche als Akademiker, er studierte weiter.

»Im Jahre 1911 wird der Name Preuß bekannt … Das Staunen im Juli jenes Jahres in Münchner Bergsteigerkreisen! Diese, an außergewöhnliche Unternehmen gewohnt, staunten, als die Nachricht zirkulierte, Preuß habe es gewagt, die berühmte Totenkirchl-Westwand, die damals schwerste Wand in den Alpen, im Alleingang zu durchklettern.«

Aldo Bonacossa

Um diese Zeit war München in Bayern das weltweite Zentrum der Kletterbewegung. In diese Szene war der zierliche Paul Preuß, dieser übermütig wirkende Wiener, geplatzt und in kürzester Zeit zum Katalysator einer Umbruchstimmung geworden. Bald war Preuß der gefragteste Vortragsredner in Sachen Bergsteigen im deutschen Sprachraum. Als Kletterer war er vielseitig. Er ging gerne allein, was seinem Charakter ebenso entsprach wie das Unterwegssein in der Gruppe, die er unterhalten und anregen konnte. Skitouren unternahm er in Gebiete, wo die Massen nicht waren.

Preuß war einen Schritt weiter gegangen als der Wiener Emil Zsigmondy, der Ideator des führerlosen Alpinismus. Hatte man für die Eroberung der großen Alpengipfel noch alle damals greifbaren Hilfsmittel eingesetzt – und dies waren in erster Linie die bergkundigen einheimischen »Führer« gewesen –, so verzichtete Zsigmondy konsequent auf diese. Er hatte bewiesen, dass es möglich war, die schwierigsten Gipfel auch ohne Träger- und Führerhilfe zu besteigen. Preuß wollte beweisen, dass es möglich war, die schwierigsten Routen seiner Zeit ohne den Mauerhaken zu wiederholen.

Angelo Dibona, zweifellos der beste Allroundbergführer seiner Zeit, hatte bei seinen Neutouren am Croz dell’Altissimo in der Brenta-Gruppe und an der Nordkante des Großen Ödsteins Haken geschlagen. Preuß wiederholte beide Routen, ohne die Haken der Erstbegeher zu benutzen.

Damals wurde der Mauerhaken mehr oder weniger als Sicherungsmittel eingesetzt. Er sollte die Lebensgefahr verringern, die durch die schwieriger und schwieriger werdenden Anstiege im Fels gesteigert wurde. Die Forderungen von Paul Preuß waren nicht nur »sportlicher Art« im Sinne von klaren Wettkampfbedingungen (gleiche Hilfsmittel, am besten keine) für alle sondern auch psychologischer Natur: tiefere Erfahrung bei erhöhten Schwierigkeiten. Er forderte höchstes Können und Verantwortung gegenüber einer gegebenen Schwierigkeit und damit Gefahr. Der Mensch sollte einem Problem gegenüber wachsen, nicht der technische Aufwand bei dessen Lösung. Darin und nur dahingehend müssen wir die Bedeutung von Paul Preuß für das Bergsteigen sehen und untersuchen. Darin und nur darin scheiden sich die Geister beim extremen Bergsteigen bis heute. Hier die Sicherungsfanatiker, die alle Risiken einschränken müssen, um unser Tun »verantworten« zu können; dort die Besessenen der Eigenverantwortung, die wie Nietzsches Zarathustra an der Problemstellung, an der Ungewissheit, ja warum nicht, an der Todesgefahr wachsen wollen. Ein Kompromiss ist in der Praxis möglich (und Paul Preuß hat ihn gelebt), nicht in der Philosophie.

»Beim Bergsteigen in den Alpen wurde die vergleichbare Strömung mit Paul Preuß zu Grabe getragen.«

Dietrich Hasse

Ein Mauerhaken war damals nichts anderes als ein Eisenstift, der in Felsspalten geschlagen wurde, um sich daran zu halten oder das Seil zum Sich-selbst-Sichern oder zum Sich-Hinablassen daran zu fixieren. Zum Haken mit Ring – zuerst offen, dann geschlossen – weiterentwickelt soll ihn Wilhelm Paulcke haben. Hans Fiechtl hatte die Idee zum einteiligen geschlossenen Haken, zum Fiechtl-Haken, der in tausend Abwandlungen bis heute benutzt wird. Den Karabiner dazu, als Bindeglied zwischen Seil und Haken, »erfand« zwar nicht Otto Herzog – im Klettergarten erprobt, was in der Berufsarbeit täglich eingesetzt wurde – verbesserte er die Absicherungskette.

Hatte der Tiroler Bergführer Hans Fiechtl damit begonnen, den Haken im Fels systematisch zur Fortbewegung einzusetzen, und der Münchner Otto Herzog diese Methode verfeinert, um immer schwierigere Wandprobleme lösen zu können, so sah Preuß diese »Kletterprobleme« als Stimulanzien für alle menschlichen Fähigkeiten. Der Mensch sollte wachsen, nicht der Zwang zur Erfindung immer verfeinerter technischer Steig- und Sicherungshilfen.

Mit ihrer Methode durchstiegen Fiechtl und Herzog die Südwand der Schüsselkarspitze, wenige Tage nachdem Piaz und Preuß in freier Kletterei an ihr gescheitert waren. Von Fiechtl übernahm Dülfer diese Erfolg versprechende Technik, die er 1912 mit Schaarschmidt an der Fleischbank-Ostwand und 1913 mit Redewitz an der Totenkirchl-Westwand so meisterhaft zum Einsatz brachte. Beim »Mauerhakenstreit«, von Paul Preuß ausgelöst, ging es um die Exposition, das »Prinzip Abgrund.«

Der »Mauerhakenstreit«

Es waren vor allem Dülfers Erfolge, die dem technologischen Alpinismus Nachahmer zutrieben, nicht die teilweise recht oberflächlichen Erwiderungen von Otto Herzog, Tita Piaz, Rudolf Schietzold, Franz Nieberl auf die Grundsatzaussagen von Paul Preuß. Sein Können und seine Intelligenz waren unbestritten, und in seiner Argumentation gab man ihm Recht. Insgeheim aber fühlte man sich herabgesetzt, entblößt. Da schaute den Machern einer in die Karten, wagte es, ihre Haltung zu kritisieren, ohne ihre Namen zu nennen oder sein eigenes Können und seinen Mut ausdrücklich als Beweis seiner Ideen anzuführen.

Preuß’ Gegner argumentierten vor allem mit der Gefahr. Als hätten sie die Berge nicht begriffen. Paul Hübel und Dr.Georg Leuchs, die sich auf die Seite von Preuß stellten, unterstützten ihn in der Idee, eine grundsätzliche Regelung bei der Verwendung künstlicher Hilfsmittel zu finden.

Preuß ging es um mehr. Er akzeptierte zwar Seil und Haken als Sicherungsmittel für den Notfall, wollte aber den freiwilligen Verzicht des Kletterers auf die Technik, um das Verhältnis Mensch-Berg nicht zu stören. »In der Selbstbeschränkung liegt die Kunst des Meisters.« Also auch in der Beschränkung auf eine dem eigenen Können adäquate Aktivität. »Wer ein technisches Hilfsmittel braucht, um eine Tour machen zu können, die er ohne dieses nicht wagen würde, soll auf die Tour verzichten!«

Bei dieser ersten Diskussion zum Thema Sportklettern redete man vielfach aneinander vorbei. Die Wortführer »sprachen verschiedene Sprachen«. Auch weil nicht alle gelernt hatten, wissenschaftlich zu argumentieren, Definitionen als Voraussetzung für das schnellere Verständnis zu akzeptieren. Das Thema und die Entwicklung waren damit für Jahrzehnte festgefahren.

[9]

Erst in jüngster Zeit gewinnen die Ideen von Paul Preuß wieder mehr und mehr Anhänger. Leider nur in sportlicher Hinsicht. Sein geistiges Erbe bleibt unverstanden. Die Revolution des Bergsteigens in den Siebzigerjahren könnte auch eine Rückbesinnung auf die Thesen von Paul Preuß gewesen sein – wenn sie nicht der Notwendigkeit entsprungen wäre, dort neu anzufangen, wo Preuß 1913 aufgehört hatte. Der technologische Alpinismus hatte stetig, aber unaufhaltsam in eine Sackgasse geführt – in die Langeweile, die der Aufhebung des Unmöglichen, des Geheimnisvollen, des Mediums Natur folgen musste. Der Speed, der dem Haken folgte, hat verheerende Folgen! Ich will hier nicht auf die rein geschichtliche Entwicklung des Hakens eingehen. Vielmehr möchte ich das Warum seiner Entwicklung und Verwendung ergründen und auf deren Auswirkungen hinweisen.

Die meisten unserer technischen Erfindungen und Einrichtungen wie das Rad oder der Hebel sind auf eine Notwendigkeit zurückzuführen. Dementsprechend erkläre ich den Haken als eine bergsteigerische Notwendigkeit. Der Alpinismus nahm eine Entwicklung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt den Haken forderte. Und so wie wir uns heute die technische Welt ohne das Rad nicht mehr vorstellen können, so kann sich der extreme Bergsteiger die Berge ohne den Haken nicht mehr vorstellen.

Schon die Soldaten Alexanders des Großen haben angeblich bei der Erstürmung einer Stadt deren Mauern mithilfe von Eisenstif-ten überwunden. Damit will ich sagen, dass die Verwendung von Mauerhaken sehr alt und »kriegerisch« ist. Die Bergsteiger haben den Haken nicht selbst erfunden, sondern ihn lediglich vom Bereich des täglichen Lebens auf die Berge übertragen. Dies geschah aber nicht gleich in den Anfängen, sondern erst, als es notwendig wurde.

Die ersten Pioniere des Alpinismus – es waren Gämsenjäger, Forscher und andere Männer ohne Geisterfurcht – bestiegen die an sich leichtesten Berge über ihre leichtesten Seiten. Sie hatten zu ihren Bergfahrten keine technischen Hilfsmittel nötig und verwendeten auch keine. Nachdem die Mehrzahl der leicht besteigbaren Alpenberge erklommen war, suchten »Fexen« und Bergführer den leichtesten Zugang zu den noch jungfräulichen Gipfeln. In dieser Zeit entstand das Führerwesen; Seil, Pickel und Alpenstock waren die einzigen technischen Hilfsmittel dieser Bergsteiger.

Inzwischen war die Zahl der zu Berge Steigenden beträchtlich angewachsen, Hütten waren entstanden, und auch das Schuhwerk hatte sich verbessert. Diese Umstände und der Drang in den Bergsteigern, Pionierarbeit zu leisten, bildeten die Ursachen dafür, dass die junge Bergsteigergeneration über schwierige Wände, Grate und Kanten auf die bereits bestiegenen Berge kletterte. Zuerst waren es die leichteren, dann die mittelschweren Seiten des Berges, auf denen die Kletterer einen Weg zum Gipfel suchten.

War es vorher ausschließlich der Gipfel, für den man die Anstrengungen einer Bergfahrt auf sich nahm, so ist es jetzt der Weg, der lockt. Die alpine Entwicklung zeigt hier den Übergang vom Leichten zum Schweren. Die bergsteigerische Mentalität hat sich geändert. Der Gipfel, der vorher das erhabene Ziel war, ist jetzt nur mehr das Ende des Weges.

In dieser Änderung der Mentalität liegt der Grund für die Veränderung der alpinen Klettertechnik. Auf diesen nun immer schwieriger werdenden Wegen begegnete man Kletterstellen, die keine natürlichen Sicherungsmöglichkeiten (Felszacken) mehr boten. Der Kletterer sann auf eine künstliche Sicherung, ohne die ihn der Selbsterhaltungstrieb nicht über die schweren und zugleich ausgesetzten Stellen hinwegkommen ließ. Die Notwendigkeit des Hakens war gegeben.

»Die beiden Mauerhaken, die ich allen Theorien zum Trotz fürsorglich in die Joppentasche gesteckt hatte, klapperten so vorlaut, dass Preuß mit wahrer Unglücksmiene anregte, ich möchte doch die Haken einzeln verstauen, das Klirren der Eisen wäre ein Geräusch wie das Gebimmel des Armesünderglöckleins vor der Hinrichtung.«

Walter Schmidkunz

Aus den Eisenstiften, denen sie im täglichen Leben dauernd begegneten, entwickelten die Bergsteiger einen Haken, der ihnen im Gebirge die notwendige Sicherung gewährleisten sollte. Sie verwendeten zuerst Nägel, sammelten Erfahrungen mit diesen, gewannen daraus ihre Erkenntnisse, und in kurzer Zeit steckten brauchbare Haken in den schwersten Kletterstellen der damals schwersten Führen.

Die besten Bergsteiger dieser Zeit anerkannten die Notwendigkeit des Hakens und verwendeten ihn, wenn auch sehr, sehr sparsam, so doch immer mehr. Sogar Paul Preuß, der hervorragendste Freikletterer und größte Gegner des Mauerhakens, hielt es im Rizzikamin am Innerkoflerturm für notwendig, sein Seil mit den bereits vorhandenen Haken mittels Reepschnur zu verbinden. Hans Dülfer hat der Hakentechnik vollends zum Durchbruch verholfen und gilt heute noch als der Begründer der modernen Klettertechnik.

Die ersten Haken waren einfache Eisenstifte. Erst Herzog und Fiechtl haben ihnen ihre heutige Form gegeben. Die Haken hatten eine Öse, waren verhältnismäßig leicht und wiesen verschiedene Formen auf. Mit ihrer Hilfe schafften es die besten Kletterer der Vorkriegszeit, steilste und schwierigste Wände zu durchsteigen. Durch die Haken gesichert, gelangen ihnen wahre Kunststücke der Freikletterei.

Der Sommer 1911 war für die Bergsteigerlaufbahn von Paul Preuß der ergiebigste. Vor allem in den Dolomiten glückten ihm sensationelle Touren. Zwischen dem 23.Juni und dem 23.Oktober bestieg er 93 Gipfel, viele davon über erstklassige Routen. Seine Erstbegehungen in der Silvretta, wo er mit dem berühmten Alpenmaler E.T. Compton zusammentraf, sehen furchterregend aus. Anschließend an dieses »Aufwärmen« kletterte Preuß allein durch die Westwand des Totenkirchl, was die extreme Kletterszene damals verblüffte. Die Route war von Piaz, Klammer, Schietzold und Schroffenegger erstbegangen worden und galt als die schwierigste der gesamten Alpen. Preuß kletterte sie frei, in wenigen Stunden, wobei er eine Variante zur dritten Terrasse eröffnete.

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Seine kühnste Tour – er hatte den Plan dazu sogar seinen Freunden gegenüber geheim gehalten – gelang ihm an der Guglia di Brenta in den Dolomiten. Er hat später kaum etwas dazu veröffentlicht; vielleicht ist gerade diese Erstbegehung deshalb in der Erinnerung der Bergsteiger geblieben. Dieses Meisterwerk von einer Route – senkrechter Fels, logische Linienführung, große Ausgesetztheit – konnte Paul Preuß frei, ohne jede Sicherung im Auf- und Abstieg klettern, ohne je zu zögern. Nur in der Wandmitte hat er kurz angehalten, um ein Stück Papier mit Datum und Unterschrift zu hinterlegen. Mit keiner anderen Erstbegehung hat er seinen Geist, sein Können, sich selbst so klar ausgedrückt wie mit der Ostwand der Guglia di Brenta, die für immer an ihn erinnern wird. Erst 17Jahre später gelang Hans Steger und Ernst Holzner die erste Wiederholung. Auf die weiteren Erstbegehungen und frühen Wiederholungen will ich hier nicht eingehen; sie sind in einem gesonderten Kapitel behandelt.

1912 war Paul Preuß wieder in den Westalpen, wo er Ugo di Valle Piana und Aldo Bonacossa traf, zwei Studienkollegen von der Universität in München. Das Wetter ist schlecht, ein tragisches Erlebnis wirft Preuß für einige Zeit aus dem Gleichgewicht. Das junge englische Ehepaar Jones und der Bergführer Truffer stürzen vor seinen Augen an der Aiguille Rouge de Peuterey ab.

Zum Unglück in der Montblanc-Gruppe

von Paul Preuß

H. O. Jones, seine mit ihm erst 14Tage vermählte junge Frau und sein Führer J. Truffer befanden sich bereits einige Tage (mit B.W. Young und Führer J. Knubel) auf der Gambahütte am Fuße der Aiguille de l’Innominata, von wo aus sie am 11.August die Erstersteigung des Nordgipfels der Dames Anglaises ausführten. Am 12. kam ich allein zur Hütte, in der wir wegen schlechten Wetters mehrere Tage festgehalten wurden. Young und Knubel stiegen am 13. ins Tal ab. Am ersten schönen Tag (15.August) beschlossen wir, da bis 3000Meter herab Neuschnee gefallen war, den schneefreien Mont Rouge de Peuterey, einen unbedeutenden (2951 m hohen) Vorberg der Aiguille Noire de Peuterey, über den Nordgrat zu ersteigen.

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Jones, seine Frau und der Führer gingen vom Betreten des Fresnaygletschers an zu dritt an einem Seil. Von der Scharte zwischen Mont Rouge und Aiguille Noire an begann die Kletterei. Auf Jones’ Wunsch sollte ich von hier aus vorausgehen, um in dem verwickelten Terrain die beste Route ausfindig zu machen, wodurch Jones seiner Frau, die ziemlich ungeübt war, Umwege ersparen wollte. Jones ließ, da die Tour keine größeren Schwierigkeiten zu bieten versprach, den Führer, der recht gut kletterte, dem er selbst aber zweifellos weit überlegen war, vorausgehen und kletterte selbst als Letzter, um seiner Frau von unten behilflich zu sein; hier trug er das Seil von 15Meter Länge, das ihn mit ihr verband, in losen Schlingen auf dem Arm. Leider ließ er meinen Rat, seine Frau als schwächsten Teilnehmer der Tour am Ende des Seils gehen zu lassen, mit Hinweis auf etwa vorkommende Quergänge unberücksichtigt. – Die Schwierigkeit der Tour entsprach etwa dem Führerweg auf das Totenkirchl, dem Stadelwandgrat auf dem Wiener Schneeberg oder dem Daumenschartenweg auf die Fünffingerspitze. Die Gesellschaft kam nur sehr langsam vorwärts, so dass ich mehrmals weit vorausgehen und nach genauer Rekognoszierung wieder zurückkehren konnte. Ich befand mich eben etwa 6Meter oberhalb des Führers, als dieser aus einem kurzen Kamin nach links aussteigen wollte. Frau Jones stand 2Meter tiefer auf gutem Stand im Kamin (dazwischen 15 m lose liegendes Seil), Jones wenige Schritte unter seiner Frau. Dem Führer brach nun, obwohl er, soweit ich ihn beobachten konnte, recht sorgfältig kletterte, ein Griff in der Größe eines halben Ziegelsteins aus, und er stürzte kopfüber nach hinten; an Sicherung durch die Dame war nicht zu denken, und auch Jones wurde durch die Last der zwei fallenden Körper mitgerissen. Vollkommen lautlos, viel schneller, als der Lauf der Ereignisse sich nur denken lässt, stürzten alle drei über die unten überhängende Wand nach mehrfachem Aufschlagen 300Meter tief auf den Fresnaygletscher ab. Von Hängenbleiben, Baumeln am Seil und ähnlichem romanhaften Unsinn, der berichtet wurde, war keine Rede! – Am nächsten Tag bargen wir ohne größere Schwierigkeiten die drei stark verstümmelten Leichen.

»Über das Unglück in der Montblanc-Gruppe, dem H. O. Jones zum Opfer fiel, waren in den Tagesblättern und zum Teil auch in Fachschriften derartig abenteuerliche und unrichtige Nachrichten verbreitet, dass ich der Aufforderung der Schriftleitung, eine genaue Darstellung und Kritik der Ursachen des Unglücks zu geben, Folge leiste, so schwer es mir fällt, die traurige Erinnerung damit wieder aufzufrischen.«

Paul Preuß

Das Ausbrechen eines Griffs, vielleicht mitverschuldet durch die Technik vieler Granitkletterer, die auf Gewichtsverteilung wenig achten und die ganze Körperlast oft an einen Griff hängen, war die unmittelbare Veranlassung des Unglücks. Immerhin möchte ich aber den durch widrige Umstände hervorgerufenen Sturz des Vorauskletternden als einen unglücklichen Zufall betrachten, der jedem begegnen kann. Als Ursache aber, dass es zu einer Katastrophe mit drei Todesopfern kommen musste, möchte ich die unrichtige Art anzuseilen und die dadurch hervorgerufene schlechte Sicherungsmöglichkeit bezeichnen. Und gerade der vor diesem Unglück gemachte Fehler beruht nicht nur auf der gewöhnlich etwas lauen Seilbehandlung durch die Urgesteinskletterer, die in dieser Disziplin weniger geschult sind als die Kletterer aus den Kalkalpen, sondern es ist ein Fehler, der, wie zahlreiche ähnliche Unfälle in den Ostalpen beweisen, auch bei uns mehr als einmal gemacht wird. – Zu den allgemeinen Grundregeln der Seilbehandlung gehören eben, wie ich glaube, auch die folgenden: Der schwächste Teilnehmer an einer Klettertour gehört an den Schluss; der Abstand zwischen ihm und dem Zweiten muss geringer sein als zwischen diesem und dem Ersten, damit der Letzte bei Quergängen, ohne dass umgeseilt werden muss, in die Mitte genommen werden kann. Unterhalb des schwächsten Teilnehmers der Tour darf niemand mehr angeseilt klettern.

Ende der Leseprobe