Der Prinz in meinem Märchen - Lucy Dillon - E-Book
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Der Prinz in meinem Märchen E-Book

Lucy Dillon

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Beschreibung

Eine Liebeserklärung an das Lesen, das Leben und die Liebe selbst!

Als Anne den Buchladen von Longhampton übernimmt, erfüllt sich ihr großer Traum. Und nicht nur, weil sie damit zumindest zeitweise ihrer Rolle als ungeliebte Stiefmutter entkommen kann. Anne liebt Bücher – und die Geschichten von Märchenprinzen, bösen Hexen und verwunschenen Gärten erfüllen die Räume der kleinen Buchhandlung bald mit neuem Zauber. Ein Zauber dem selbst Annes beste Freundin, die taffe Karrierefrau Michelle, erliegt. Doch deren Vergangenheit wirft dunkle Schatten, und eine Krise bahnt sich an. Ist das Glück der Freundinnen in Gefahr?

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Buch

Als die Bibliothekarin und leidenschaftliche Leserin Anna durch einen Zufall den Buchladen im kleinen Ort Longhampton übernimmt, erfüllt sich ihr großer Traum. In ihrem eigenen Heim fühlt sie sich durch die Sticheleien ihrer Stiefkinder schon lange nicht mehr wohl und kann nun endlich durch den neuen Job der Rolle als ungeliebter Stiefmutter und den peinlichen Ausflügen mit dem hyperaktiven Dalmatiner entkommen. In ihrem eigenen Laden findet Anna eine neue Ruhe und Zufriedenheit. Dort kann sie sich ihrer Passion, der Kinderliteratur, widmen und blüht regelrecht auf. Die im Laden vorgelesenen Geschichten von Liebe, Abenteuer, bösen Hexen und verwunschenen Prinzen erfüllen die Räume der Buchhandlung und ihre Kunden bald mit einem kindlichen Zauber. Selbst Annas beste Freundin, die toughe Karrierefrau Michelle, kann sich dem nicht entziehen. Doch eine Krise bahnt sich an: Während Annas berufliches Leben von Erfolg gekrönt wird, leidet das Private. Und Michelles Vergangenheit wirft düstere Schatten. Ist das Glück der Freundinnen in Gefahr?

Weitere Informationen zu Lucy Dillon sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Lucy Dillon

Der Prinz

in meinem Märchen

Roman

Aus dem Englischen

von Sina Baumanns

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »The Secret of Happy Ever After« bei Hodder & Stoughton, London.
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Lucy Dillon Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagillustration: FinePic®, München; Getty Images /Hiroki – rush of happiness; plainpicture / Darren KemperRedaktion: Martina KlüverLT · Herstellung: Str.Satz: omnisatz GmbH, BerlinISBN: 978-3-641-08829-3V003
www.goldmann-verlag.de

Es war einmal …

Michelle stand in ihrem neuen Laden und versuchte, sich einen Namen auszudenken (Nightingale’s? Home Sweet Home? Küchenparadies?), während sie sich den Verkaufsraum schon mit handgenähten Lavendel-Duftsäckchen, schweren Bienenwachskerzen und – das war das Wichtigste – ohne den Gestank von geräucherten Makrelen vorstellte.

Das riesige Ausmaß dieses Unterfangens, das sie allein stemmen wollte, wurde ihr zum fünften Mal an diesem Tag bewusst. Doch Michelle runzelte nur die Stirn und ermahnte sich – ebenfalls zum fünften Mal an diesem Tag –, dass sie das Richtige tat. Ein Neubeginn, ein neues Geschäft. Eine neue Michelle.

In einer heilen Welt hätte sie niemals einen Laden mit schicken Wohnaccessoires in einem alten Fischgeschäft eröffnet. Und wenn, dann ganz sicher nicht in einem Provinzstädtchen im hinterletzten Winkel Englands. Doch Michelle besaß ein gewisses Verkaufstalent, und ihr war klar, dass bei diesem Laden alles andere stimmte. Das heruntergekommene Longhampton mit seinen Häuserreihen aus rotem Backstein und einer deprimierenden Fußgängerzone aus Beton lechzte geradezu nach hübschen Dingen. Außerdem war das Ladenlokal günstig (was wohl auf den Fischgestank zurückzuführen war), hell und geräumig, und es lag an der Hauptstraße in direkter Nachbarschaft zu einigen Bürogebäuden, deren Angestellte während der Mittagspause sicher gerne zum Stöbern vorbeischauen würden. Und schließlich – und das war die Hauptsache – war dieses Geschäft exakt zweihundertzwanzig Kilometer von Harvey Stewart entfernt.

Diese Tatsache war der einzige Teil in Michelles neuem Leben, den sie geplant hatte. Denn Harveys Hirn fing an, unter akutem Sauerstoffmangel zu leiden, sobald er sich mehr als fünfzehn Kilometer vom Autobahnring um London entfernte. Somit war Michelle hier, wo selbst die Hunde Steppwesten trugen, sicher vor ihm und seinen subtilen Methoden, sie niederzumachen.

Beim Gedanken an Harvey merkte Michelle, wie ihr unweigerlich der Schweiß ausbrach. Schnell lenkte sie sich ab, indem sie ihren großen Schlüsselbund immer wieder in die Luft warf und auffing, während sie sich auf die neuen Geschäftsräume konzentrierte. Sie würde die Plastikregale entsorgen, die Wände in einem warmen, sanften Beigeton streichen und alles mit hübschen, witzigen Artikeln füllen. Wenn es die beruhigenden Kräfte des Renovierens und Einrichtens nicht gegeben hätte, bezweifelte Michelle, dass ihre Ehe die letzten fünf Jahre überhaupt überstanden hätte. Ihr Haus erinnerte an die schottische Forth Road Bridge: Sobald ein Projekt abgeschlossen war, hatte Michelle wieder von vorne angefangen, um sich von allem abzulenken.

Harvey hatte immer behauptet, sie leide unter ZPS, einer »zwanghaften Perfektionsstörung«. Sie könne einfach nicht zufrieden sein, bis nicht alles perfekt sei. »Wenn du denn die leiseste Ahnung davon hättest, was perfekt überhaupt ist.«

Eine Sekunde lang geriet Michelle auf ihren High Heels ins Straucheln, als stünde sie am abbröckelnden Rand einer Felsklippe. Ihr Kopf fühlte sich leicht und schwindelig an, losgelöst vom Rest des Körpers. Als sie zur Haustür hinausmarschiert war, hatte sie sich verboten, allzu sehr über das nachzudenken, was sie da tat. Panik war schon seit Längerem immer wieder in ihr aufgeflackert, doch letzten Endes war sie gegangen, als ihre Wut am größten war – ohne einen Plan, ohne eine Liste mit Dingen, die sie anpacken wollte, ohne ihre gewohnten Stützen. Und so stand sie nun hier, ganz allein in einer fremden Stadt – aber sie war frei. Der Rest ihres weltlichen Besitzes würde am Freitag von einem Möbelwagen geliefert werden, im Augenblick jedoch fühlte sie sich so ungebunden wie ein Luftballon, der versehentlich losgelassen wurde.

Ihre Handfläche schmerzte, und sie merkte, dass sie die Schlüssel so fest umklammert hielt, dass die scharfe Metallkante des Aston-Martin-Schlüsselanhängers ihr in die Hand schnitt. Langsam öffnete sie die Faust und betrachtete die letzten Überbleibsel ihres alten Lebens, das bereits so weit von ihr entfernt war, dass es ihr wie das Leben einer anderen Person vorkam.

Michelles grüner Aston Martin DB9 Volante stand nun an einer Tankstelle in Birmingham. Sie hatte den Wagen verkauft, um mit dem Geld die Kaution für den Laden zu zahlen sowie sich ein heruntergekommenes Cottage-Reihenhäuschen leisten zu können, in das sie eingezogen war. Den Schlüsselanhänger hatte sie behalten, um sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, wozu sie fähig war, wenn sie sich mit aller Macht auf etwas konzentrierte. Michelle hatte ihren Aston Martin geliebt. Nicht nur, weil sich alle nach diesem Wagen umdrehten – zumal hinter dem Lenkrad nicht ein Kerl mittleren Alters saß, sondern eine zierliche Frau mit Sonnenbrille –, sondern auch, weil sie ihn von den Provisionen gekauft hatte, die sie als Topverkäuferin im Autohaus ihres Vaters verdient hatte. Es gab nicht viele achtundzwanzigjährige Frauen, die beharrlich genug waren, um solche Verkaufszahlen zu erzielen. Und dabei mochte sie Autos nicht einmal besonders. Als plötzlich der Schmerz des Bedauerns in ihrer Brust anschwoll, ermahnte sich Michelle schnell, dass manche Leute mit dreißig Jahren noch nicht einmal auf eigenen Beinen standen, ganz zu schweigen davon, dass sie ein neues Leben begannen. Ihr blieb noch genügend Zeit, sich ein neues Auto zuzulegen.

Sie musterte das wenig verheißungsvolle Inventar des Ladens und geriet wieder ins Wanken. Eigentlich wollte sie sich diesen trostlosen Anblick hier nicht länger antun, aber genauso wenig wollte sie wieder in das schäbige Haus am Kanal zurück mit den schreiend bunten Tapeten und hier und dort feuchten Wänden. Im Laden stank es nach Fisch, und die Hauptstraße war wie ausgestorben, doch das war immer noch besser als jedes Mal zusammenzuzucken, wenn das Telefon klingelte.

»Besorg dir einen Kaffee und erstell eine Liste«, befahl sie sich selbst, wobei ihre Stimme durch das leere Geschäft hallte. Sogleich fühlte sie sich ein wenig besser.

Direkt neben dem ehemaligen Fischhändler befand sich ein Café, das im Gegensatz zu den meisten Geschäften in der Nähe offen war und für einen Sonntagnachmittag gut zu tun hatte.

Michelle bestellte sich an der Theke einen doppelten Espresso sowie ein Stück Kuchen und ließ sich dann mit ihrer To-do-Liste an einem Tisch vor dem Fenster nieder, wo sie ihre Konkurrenz auf der Hauptstraße analysieren konnte. Dieses Café hatte etwas – lag es an der makellosen Reinheit? Den selbstgebackenen Kuchen? –, das sehr beruhigend auf Michelle wirkte. Doch neben all den plaudernden Pärchen und Familien, die an den Nachbartischen saßen, fühlte sie sich plötzlich unsicher, als würde sie ihre Einsamkeit wie einen unangenehmen Geruch ausströmen. Wie fand man als erwachsener Mensch Freunde, wenn man nicht in einem Büro arbeitete oder jeden Morgen Kinder zur Schule fahren musste? Sie meinte nicht Geschäftskontakte wie ihr neuer Anwalt oder der Immobilienmakler, sondern richtige, echte Freunde. Wie zum Beispiel …

Michelle runzelte die Stirn. Ja, wie wer eigentlich? Owen, ihr jüngster Bruder, war der einzige Mensch, dem sie wirklich vertraute. Ihre Freundinnen waren im Grunde genommen eigentlich nur die Ehefrauen von Harveys Pokerkumpeln. Mit zwanzig war sie ebenso in Harveys gesellschaftliches Leben gezwängt worden, wie sie mit achtzehn in das Familienunternehmen gedrängt worden war. Weder gab es Studienfreunde noch Exfreunde noch irgendwelche alten Schulfreunde …

Ohne jede Warnung wurde die Tür aufgestoßen, und ein riesengroßer Dalmatiner kam hereingestürmt. Seine schwarzen Augen glänzten, und die gefleckten Ohren zuckten vor Aufregung. Neben dem Schirmständer hielt er kurz inne und wedelte mit dem Schwanz, während er sich im Café umzusehen schien, wer hier die meiste Aufmerksamkeit nötig hatte. Sein Blick richtete sich auf Michelle, und schon kam er auf sie zu.

Zu Michelles großer Überraschung reagierte keiner der anderen Cafébesucher darauf, sodass sie sich für den Bruchteil einer Sekunde fragte, ob wohl nur sie allein diesen Dalmatiner sehen konnte. Als er jedoch vor ihr stand und mit dem Schwanz wedelte, begriff sie, worauf er es abgesehen hatte: Er liebäugelte mit dem Stück Karottenkuchen, das vor ihr stand. Das Tier hatte eine Pfote auf den freien Stuhl neben Michelle gelegt und seinen Kopf schon zur Seite geneigt, um sich den Kuchen besser angeln zu können, doch Michelle packte ihn an seinem roten Halsband und schob den Hund wieder hinunter.

»Sitz!«, befahl Michelle. Als der Dalmatiner aber nicht reagierte, sondern nur amüsiert seine Zunge heraushängen ließ, wiederholte sie ihren Befehl strenger. »Sitz!«

Der Hund ließ sich schließlich gehorsam auf dem Boden nieder, wo er mit seinem gefleckten Schwanz wedelte und immer wieder gegen die Tischbeine schlug, als würde Michelle mit ihm spielen. Immer noch schien sich niemand um die Ankunft des Hundes zu scheren. Michelle war sprachlos. Das einzige Mal, als sie ihren Springer Spaniel Flash in ein Café hatte mitnehmen wollen, hatten die Betreiber reagiert, als würde sie dort großzügig Milzbranderreger aus einem Hundekotbeutel verteilen.

Flash. Flash mit seinem herzergreifenden Blick und den großen, haarigen Pfoten. In ihrer Magengrube zog sich alles zusammen. Von all den Dingen, die sie bei Harvey zurückgelassen hatte – Geld, Kleidung, sogenannte Freundschaftsringe –, war das Einzige, worum sie wirklich trauerte, Flash. Ob er sich wohl fragte, wo sie hingegangen war? Ob er wohl an der Tür saß und sich nach ihr sehnte? Sie hatte ihn einzig und allein aus dem Grund zurückgelassen, weil sie Harvey sonst einen guten Grund geliefert hätte, jedes zweite Wochenende bei ihr auf der Matte zu stehen und »Zugang« zu verlangen. Um den vernünftigen, seiner Frau und seines Hundes beraubten Ehemann zu spielen.

»Oh mein Gott! Das tut mir leid! Pongo! Hör auf damit! Er hat sich von der Leine gerissen.«

Eine blonde Frau in Michelles Alter, die jedoch augenscheinlich doppelt so groß wie sie zu sein schien, stieß gegen Michelles Tisch und bemühte sich, mit einer Hand die ausziehbare Leine aufzuwickeln, während sie gleichzeitig versuchte, mit der anderen Hand den Hund von einem Nachbartisch wegzuziehen. Sie hatte eine Sturmfrisur und machte einen verzweifelten Eindruck. Ihre Autorität wurde noch weiter untergraben, als sie sich den Griff der Leine zwischen die Beine klemmte, um diese zu entwirren. Während sie vergebens an dem Knoten zerrte, ließ sie den Blick durch das Café schweifen, um nach weiteren Anzeichen von Schäden zu suchen.

»Hat Pongo irgendetwas kaputtgemacht? Hat er ihren Kaffee verschüttet? Ich bezahle Ihnen selbstverständlich einen neuen. Aber sagen Sie bitte Natalie nichts davon, er hat schon eine Verwarnung bekommen.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Als sich Pongo wieder erhob, fegte er mit seinem wedelnden Schwanz unweigerlich den Zuckerstreuer vom Tisch. Er plumpste in Michelles Tasche hinein, wo sich der Zucker großzügig verteilte. Entsetzt schlug sich die Frau die Hand vors Gesicht. Michelle sah, dass sich an ihrer Hand von der Leine eine rote Strieme gebildet hatte und die Frau abgekaute, unlackierte Fingernägel besaß. Auf den Handrücken hatte sie mit Kugelschreiber zur Erinnerung ein paar Worte notiert.

Mit dem Hund gehen.

Bügeln.

Süßigkeiten/Mädchen?

»Mist.« Die Stimme hinter der Hand klang, als würde die Frau gleich in Tränen ausbrechen. »Es tut mir leid. Pongo trifft keine Schuld, ich bin an allem schuld.«

Michelle hatte die Frau eigentlich anbrüllen wollen, weil diese ihren Hund offensichtlich nicht im Griff hatte, doch die hängenden Schultern der Frau erinnerten sie plötzlich an ihre eigene umfassende Trauer und Erschöpfung.

»Schon gut«, erwiderte sie stattdessen. »Nichts passiert. Aber ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

Die Frau ließ die Hand sinken und versuchte zu lächeln, doch das Ergebnis war durchmischt. Sie besaß ein offenes Gesicht und eine helle, zarte Haut. Fast wie eine Grundschullehrerin oder ein Milchmädchen aus einem Kinderbuch, fand Michelle. Schlicht und sehr sanft. Sie schien so gar nicht zu der strengen Disziplin zu passen, die ein Dalmatiner benötigte.

Allmählich drehten sich immer mehr der Cafébesucher um und starrten die beiden Frauen mit einer gewissen Neugier an, mit der sonst nur ungezogene Hunde und Kleinkinder bedacht wurden.

»Oh nein, ihre schöne Tasche …!«, jammerte die Frau.

Michelle schob schnell den Nachbarstuhl zurück und versuchte dabei, den Dalmatiner wegzudrängen, der mittlerweile seinen Kopf auf ihre Marc-Jacobs-Handtasche gebettet hatte.

»Kommen Sie, setzten Sie sich«, lud sie die Frau ein. »Ihr Hund hat es sich bereits gemütlich gemacht. Kommen Sie erst einmal wieder zu Atem.«

Dankbar nahm die schlanke Frau auf dem Stuhl Platz und zog eine Grimasse, die mehr beschämt als betrübt wirkte. »Jetzt starren mich alle an, oder?«

»Ja«, erwiderte Michelle. »Aber das ist schon okay. Vor fünf Minuten haben noch alle mich angestarrt.«

»Tatsächlich? Welche Peinlichkeit hat sich denn Ihr Hund geleistet?«

»Keine. Sie haben mich einfach so angestarrt«, erwiderte Michelle unsicher. »Ich bin neu hier. Gerade erst hergezogen. Wahrscheinlich habe ich einen lustigen Akzent.«

Die Frau lächelte, und mit einem Mal erstrahlte ihr Gesicht von innen heraus. »Nein! Das dürfen Sie nicht denken. Wahrscheinlich lag es eher daran, dass Sie keinen Hund dabeihatten. Das hier ist nämlich ein Hundecafé«, fuhr sie fort, als Michelle sie verblüfft ansah. »Für gewöhnlich kommen Hundebesitzer mit ihren Lieblingen her, weil die nirgendwo anders erlaubt sind. Natalie verteilt sogar Leckerlis an die Hunde, die sich gut benehmen.«

Michelle drehte sich um und fragte sich, warum ihr dies bisher noch nicht aufgefallen war. Unter dem gegenüberliegenden Tisch, an dem sich ein älteres Paar eine Kanne Tee und ein paar Scones teilten, lag ein schwarzer Scottish Terrier, der sich an einen West Highland White Terrier schmiegte. Beide trugen farblich passende, karierte Mäntelchen. Daneben saß eine Familie mit einem rundlichen schokoladenfarbenen Labrador, der sich auf den Füßen der Familienmitglieder ausgebreitet hatte und schlief. Neben der Eingangstür standen Wassernäpfe auf Gummimatten, und die Kekse, die Michelle in großen Gläsern neben der Espressomaschine gesehen hatte, waren auf den zweiten Blick in Wirklichkeit Hundeleckerlis.

»Na, das nenne ich mal eine echte Marktlücke«, stellte Michelle fest. »Raffiniert. Verdammt raffiniert.«

Als sie sich wieder umdrehte, hatte sich die Frau beruhigt und lächelte sie warmherzig an.

»Ich heiße übrigens Anna«, erklärte sie und hielt Michelle über die Speisekarte hinweg die Hand hin. »Und das ist Pongo. Wie in dem Buch Hundertundein Dalmatiner. Na ja, in seinem Fall aber wohl eher wie im Kinofilm. Ich bezweifle, dass seine Besitzer wissen, dass es den Roman zuerst gab.« Anna schien sich sofort über sich zu ärgern. »Entschuldigung, das war gemein. Vergessen Sie lieber, was ich gesagt habe.«

»Ich bin Michelle. Ich habe gerade den Laden nebenan gekauft.«

»Ach?« Anna schien ernsthaft interessiert zu sein. »Sie sind Fischhändlerin?«

»Gott bewahre, nein! Es soll ein Laden für Einrichtungsgegenstände werden. Vielleicht«, fuhr Michelle fort und ergriff die Chance, ein paar Insiderinfos über ihre künftige Kundschaft zu bekommen, »könnten Sie mir ein wenig bei meiner Marktanalyse helfen? Ähm … starrt die Dame dort drüben uns an?«

Die Brünette, die Michelle an der Theke bedient hatte, näherte sich ihnen mit hochgezogenen Augenbrauen. Sofort fing Pongo wieder an, mit dem Schwanz zu wedeln.

»Pongos Problem ist einfach, dass er alle liebt. Hallo Natalie!«, begrüßte Anna die Frau. »Tut mir leid mit Pongo. Dieses Mal wird er sich benehmen, das verspreche ich.«

Natalie seufzte und verschränkte die Arme vor ihrer Rüschenschürze. »Anna, du weißt, wie gern ich Pongo habe. Aber wir sind einfach dazu gezwungen, die Hunde nach drei Verwarnungen an die Luft zu setzen. Und manche Leute würden den Diebstahl von zwei Stück Kuchen während eines einzigen Cafébesuchs definitiv mit zwei Verwarnungen bestrafen.«

»Aber ich habe seine Leine fest um mein Bein gewickelt. Dieses Mal wird er wirklich lieb sein.«

»Du kannst gern mit ihm wiederkommen, wenn du ihm beigebracht hast, wie man sich an solch öffentlichen Plätzen benimmt«, fuhr Natalie fort. »Aber sobald er andere Kunden belästigt …« Sie starrte Michelle an.

»Alles in Ordnung«, erwiderte Michelle, die das Gefühl hatte, irgendwie in der Sache mit drinzuhängen. Sie sehnte sich keineswegs danach, jetzt schon in ihre Wohnung in der Swan’s Row zurückzukehren – und Anna schien Lust zu haben, sich mit ihr zu unterhalten. »Sehen Sie doch, er liegt ganz still und friedlich da.«

Die drei Frauen sahen zu Pongo hinunter, der unter dem Tisch lag, als könne er kein Wässerchen trüben. Michelle bemerkte eine Sekunde zu spät, dass ihm Karottenkuchenkrümel an der Schnauze klebten. Ihr Teller war leer.

»Er hilft mir bei meinen Untersuchungen«, fuhr Michelle eilig fort und griff auf ihre zuversichtliche Verkäuferinnenstimme zurück. »Könnte ich vielleicht noch eine Tasse Kaffee bekommen, bitte? Anna? Auch einen Kaffee?«

Anna zog sich ihre Häkelmütze vom Kopf und nickte, wobei ihr goldfarbene Locken ins gerötete Gesicht fielen. »Ähm, ja. Gerne. Meinen Sie wirklich …?«

Nachdem Natalie wieder hinter ihre Theke zurückgekehrt war, beugte sie sich über den Tisch. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber der Kaffee geht auf mich. Bitte. Nach allem, was Pongo angestellt hat …«

»Das ist wirklich nicht nötig. Ich könnte jedoch die Hilfe eines Insiders aus dem Ort brauchen – hätten Sie eine Minute für mich?« Michelle trank den letzten Schluck ihres Espressos. Schon hatte sie das Gefühl, viel konzentrierter zu sein. »Also. Longhampton. Nach allem, was ich bisher gesehen habe, scheint dies ein hübsches Fleckchen für Hundebesitzer und junge Mütter zu sein. Sehe ich das richtig?«

Anna zuckte zusammen. »Ich bin wahrscheinlich nicht die Richtige, um sowohl das eine als auch das andere beurteilen zu können.«

Michelle erstarrte und ließ die Espressotasse ein Stück über der Untertasse schweben. War sie etwa in ein Fettnäpfchen getreten? Anna besaß doch einen Hund, oder? Außerdem schien sie genau das richtige Alter zu haben, um Mutter zu sein – zumindest sah die Mütze, die sie trug, so aus, als habe sie diese von einem Teenager ausgeliehen.

Zu Michelles großem Entsetzen füllten sich Annas kobaltblaue Augen mit dicken Tränen.

»Tut mir leid«, schniefte Anna und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Wie peinlich. Sie müssen doch denken, Sie hätten es hier mit einer vollkommen Verrückten mit Hund zu tun! Tut mir wirklich leid!«

»Nein, nein, schon gut, das denke ich nicht.« Michelle griff in ihre Tasche und zog ein gepunktetes Stofftaschentuch hervor, von dem sie jedoch zuerst den Zucker abschütteln musste. Anna stöhnte auf. »Tut mir leid, habe ich vielleicht etwas Falsches gesagt …?«, erkundigte sich Michelle.

Anna putzte sich automatisch die Nase und starrte dann skeptisch auf das Taschentuch.

»Behalten Sie es«, erklärte Michelle. »Ich habe noch viele davon.«

»Die sollten Sie in Ihrem Laden verkaufen, die sind wirklich hübsch.« Anna blinzelte und setzte ein Lächeln auf. »Sie haben einen wunden Punkt getroffen, das ist alles. Ich bin nur am Wochenende eine Mum. Mein Ehemann, Phil, hat drei Kinder aus erster Ehe, die sind gerade bei uns. Wir haben sie an jedem zweiten Wochenende sowie eine Nacht pro Woche.«

»Okay.« Der Umgang mit Kindern gehörte nicht zu Michelles Erfahrungsschatz. Sie hatte nichts gegen Kinder, aber ebenso wenig hatte sie etwas gegen Zebras oder Marmite-Würzpaste. »Und Sie … sind jetzt wegen der Kinder hier?«

»Irgendwie schon. So haben sie ein wenig Zeit mit ihrem Dad allein. Wie von ihrer Mutter gefordert. Wir sind erst seit anderthalb Jahren verheiratet, sodass wir uns alle noch an diese Stiefmutter-Kiste gewöhnen müssen.« Anna presste die Lippen aufeinander. »Es … ist für alle eine Herausforderung, aber wir versuchen, so gut wie möglich damit klarzukommen.«

»Und der Hund?«

»Der gehört den Kindern. Ich denke, er war der letzte Strohhalm, an den sich alle geklammert haben.« Sie sah zu Pongo hinunter. »Es ist nicht seine Schuld, dass sich niemand die Mühe gemacht hat, ihn richtig zu erziehen. Der arme Kerl sieht den Hundesitter, der mit ihm Gassi geht, öfter als die Mädchen. Ich hatte eben vorgeschlagen, einen gemeinsamen Familienspaziergang zu machen, aber als ich dann an der Haustür war, habe ich gemerkt, dass offenbar nur ich Lust dazu hatte.«

»Ist Ihnen der Hund lieber als die Kinder?« Michelle fragte sich, ob das wohl der Grund für die Tränen gewesen war. Würde man sie vor die Wahl stellen, hätte sie dreimal lieber den Hund genommen als die aufbrausenden Kinder einer anderen Frau.

»Nein, nein, ich habe sie alle lieb. Ich liebe Kinder«, beharrte Anna, die die Frage offensichtlich überraschte. »Es ist zwar schon einfacher, wenn ich mit Pongo Gassi gehe und die Kinder sich nicht darüber streiten, wer seine Leine halten und wer ihm den Ball werfen darf, aber …« Ihre Stimme verebbte, als Natalie vor ihnen auftauchte und zwei Kaffees sowie ein neues Stück Karottenkuchen servierte.

Nachdem sie wieder fort war, seufzte Anna. »So hatte ich es mir nur einfach nicht vorgestellt. Aber meistens kommt es ja anders, als man denkt, nicht wahr?«

»Wie hatten Sie sich denn alles vorgestellt?« Michelle besaß ein Geschick dafür, Fragen zu stellen, um selbst keine Antworten liefern zu müssen. Sie hatte keine Lust darauf, dass sie plötzlich auf ihre eigene Ehe zu sprechen kamen – die definitiv den Erwartungen nicht gerecht geworden war, weder den ihren noch denen der anderen.

»Irgendetwas zwischen Mary Poppins und der Trapp-Familie aus Meine Lieder – meine Träume?« Anna musste über sich selbst lachen. »Ich bin Einzelkind gewesen und wollte, seit ich klein war, immer eine Großfamilie haben. Nach der Hochzeit mit Phil habe ich unzählige Erziehungsratgeber gelesen. Ich wollte nicht die böse Stiefmutter sein oder versuchen, den Kindern die Mutter zu ersetzen. Aber letzten Endes …« Sie zuckte mit den Schultern und sah Michelle traurig an. »Wenn man nur mit einem Zauberstab wedeln müsste, damit einen alle lieben, dann würden wir das doch alle tun, oder? Ein Wink mit dem Zauberstab, und schon wäre das Problem erledigt.«

Überrascht stellte Michelle fest, dass sich ein Kloß in ihrem Hals gebildet hatte.

Anna rührte Zucker in ihren Kaffee und löste den Milchschaum auf. »Zu viele Informationen auf einmal, oder? Tut mir leid. Langweiliger Kram. Aber erzählen Sie mir doch etwas über Ihren neuen Laden. Wie soll er denn überhaupt heißen?«

»Ich weiß es noch nicht.« Michelle war auf einmal wieder ganz aufgeregt, was ihr neues Vorhaben betraf. Der Fischgestank trat in den Hintergrund. »Ich brauche einen Namen, der etwas … Beruhigendes, Tröstliches, Wohliges ausdrückt, gleichzeitig aber auch etwas Magisches hat. Der Zufriedenheit ausstrahlt. Hätten Sie einen Vorschlag?«

»Home Sweet Home wäre doch dann ein passender Name. Wollen wir denn nicht alle aus unserem Haus ein ›Home Sweet Home‹ machen?« Anna grinste und schob den Kuchenteller zu Michelle hinüber. »Helfen Sie mir doch dabei, den Kuchen zu essen. Wenn wir uns das Stück teilen, sind es für jede von uns bloß halb so viele Kalorien.«

Am nächsten Morgen, als Michelle sich, bewaffnet mit einem Maßband und ihrer Projektmappe, zu ihrem neuen Laden aufmachte, stand dort ein Paket vor der Tür. Es war mit Bast zusammengebunden und hatte einen Aufkleber, auf dem »Michelle« stand.

Einen schrecklichen Moment lang fragte sich Michelle, ob Harvey sie irgendwie gefunden hatte, doch das hier war einfach nicht seine Art. Wieso sollte er etwas von Hand schreiben, wenn es Goldprägungen gab? Schnell löste Michelle das Bastband und entdeckte in dem Paket eine Keksschachtel sowie eine selbstgebastelte Karte mit der Aufschrift »Danke«. In der Karte befand sich in Annas runder Handschrift ihre Adresse mit Telefonnummer sowie eine Einladung von Pongo, doch am nächsten Wochenende für einen gemeinsamen Spaziergang vorbeizukommen: »Ich werde mich auch benehmen, versprochen!« stand da.

Anna selbst hatte ebenfalls noch eine Einladung hinzugefügt, sie doch in der Bibliothek besuchen zu kommen, in der sie arbeitete. Damit Anna sie zum Mittagessen einladen und ihr dabei gleichzeitig die Sehenswürdigkeiten Longhamptons zeigen könne. »Es wird auch kein langes Mittagessen!«, hatte Anna scherzhaft hinzugefügt.

Michelle stand vor ihrem neuen Geschäft. Just in diesem Moment brach die Sonne zwischen den Wolken hervor und erstrahlte über der Longhampton High Street. Sofort fühlte Michelle sich besser, dabei hatte sie mit den Renovierungsarbeiten nicht einmal begonnen.

Zweieinhalb Jahre später …

1

»Ich habe den zauberhaften Heiligabend in What KatyDid von Susan Coolidge immer geliebt – die Wünsche, die den Kamin hochgejagt wurden, die Familie, die dankbar und füreinander da war. So stelle ich mir Weihnachten vor!«

Anna McQueen

Anna McQueen hatte ihr Weihnachtsfest bis zum letzten selbstgebackenen Pfefferkuchenvögelchen, das am Christbaum hing, durchgeplant. Doch dabei war nicht vorgesehen gewesen, dass sie aus ihren eigenen vier Wänden floh und den Hund zum Vorwand nahm, um endlich wegzukommen.

So sah Weihnachten in den Büchern bestimmt nicht aus, dachte sie, während ein verzückter Pongo sie durch die schmiedeeiserne Pforte aus dem Park hinaus und den Weg hinunter zum Kanal zerrte. Ihre Beschämung und ihr Groll ließen sie extra große Schritte machen. Die böse Stiefmutter sollte eigentlich ihre gestressten Stieftöchter in den Schnee hinaustreiben, während sie sich selbst die Zehen am flackernden Kaminfeuer wärmte – und nicht etwa andersherum.

Na ja, korrigierte sie sich, gerechterweise musste sie hinzufügen, dass sich die Mädchen nicht gerade ihre Zehen wärmten. Vielmehr unterhielten sie sich per Skype-Videoübertragung mit ihrer Mutter, Sarah, die sich derzeit in ihrem neuen, gigantisch großen Haus in Westchester, New York, befand. Wahrscheinlich war eher Sarah diejenige, die sich die Zehen am Kaminfeuer wärmte. Oder deren Zehen gerade eine French-Pediküre von Santas Schönheitselfen verpasst bekamen.

Das war auch der Grund gewesen, warum Anna sich in den letzten Wochen so aufgerieben hatte – um den Mädchen nämlich das schönste Weihnachtsfest aller Zeiten zu bereiten und damit wiedergutzumachen, dass ihre Mutter im Juli einen Zweijahresvertrag in den USA angenommen hatte. Ironischerweise war Sarah seitdem im Haus irgendwie präsenter als Anna selbst.

Anna musste blinzeln, als sie plötzlich wieder den Anblick vor Augen hatte, wie Becca, Chloe und Lily sich just in dem Moment mit verzückten Freudenschreien um den Laptop gedrängt hatten, als Anna mit einer Pfanne voller Mince Pie eine neue Familientradition hatte begründen wollen. Diese Gebäckstücke waren mit Blattgold verziert, und sie hatte sich an ihnen nicht nur die Finger verbrannt; sie hatten ihr obendrein eine stressbedingte Magenverstimmung beschert. Die Mince Pies waren ihr letzter Strohhalm gewesen, an den sie sich geklammert hatte, doch sie waren von der Mehrheit der Familie verschmäht worden. Das Ganze war dann noch von einem Kommentar von Phils Mutter besiegelt worden. Gnadenlos hatte Evelyn noch eins draufgesetzt.

»Hast du die gemacht?«, hatte sie gefragt und dabei die mit Kajal aufgemalten Augenbrauen bis zum Anschlag hochgezogen. Dies waren die ersten Worte gewesen, die sie den ganzen Vormittag über an Anna gerichtet hatte. Nachdem Anna bescheiden genickt hatte, hatte Evelyn eine Sekunde verstreichen lassen, um dann zum Vernichtungsschlag auszuholen. »Oh. In dem Fall verzichte ich lieber.«

Alte Hexen gab es leider zuhauf.

Pongo hüpfte an seiner neuen Weihnachtsleine herum und war ganz aufgeregt, weil er sich sonst nur ordentlich austoben konnte, wenn Michelle mit ihm joggen ging. Er schien genauso erleichtert zu sein, aus dem Haus rauszukommen, wie sie selbst. Hätte Anna Michelle nicht aus der Toilette heraus – in der sie sich versteckt hatte, während draußen der Kampf um das iPad tobte – eine SMS geschickt, so hätte Pongo diese Aufgabe wahrscheinlich selbst übernommen.

Annas Handy brummte in ihrer Tasche, und sie musste grinsen, als sie die Antwort las. »Wein ist dekantiert, die Pralinenschachtel geöffnet, ich bin ganz Ohr. Beeilung, Beeilung! Küsschen, M.«

Am Ende der Hauptstraße bog Anna in Richtung der viktorianischen Reihenhäuser ab, die an einem sanften Hang hinunter zur Swan’s Row und zum Ufer des Longhampton Kanals führten. Jahrelang waren diese Häuser eher schäbig und heruntergekommen gewesen, doch allmählich entwickelten sie sich zu den begehrtesten Immobilien der Stadt. Pongo schleppte Anna praktisch zu der leuchtend roten Haustür am Ende der Häuserreihe. Michelles Messingtürklopfer, ein Löwenkopf, war mit einem üppigen Kranz aus Stechpalmenzweigen und Efeu geschmückt, und Anna verspürte sogleich einen Anflug von Neid angesichts dieser Dekopracht.

Michelle wusste, wie Weihnachten auszusehen hatte. Wie in einem Hochglanzmagazin. Wenn Anna ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie bei ihrer eigenen Weihnachtsdeko immer nach dem Prinzip »Wie würde Michelle dies oder jenes schmücken?« vorgegangen war. Außer dem prächtigen Kranz, den Michelle höchstwahrscheinlich selbst gebunden hatte, entdeckte sie einen absolut gleichmäßig gewachsenen Weihnachtsbaum im Fenster des Erdgeschosses, der mit einer Lichterkette mit winzigen Leuchten sowie rubinroten Christbaumkugeln aus Glas geschmückt war. Annas eigener Baum war ziemlich schief, da Phil vergessen hatte, rechtzeitig einen zu kaufen, und dann fünf Minuten vor Geschäftsschluss erst beim Händler gewesen war. Dann hatte Chloe auch noch den Kofferraumdeckel auf den Baum gehauen, und da Anna nur die kleine Lily, ihre jüngste Stieftochter, dazu hatte bewegen können, beim Schmücken mitzuhelfen, hing der Großteil der Kugeln im unteren Teil des Baumes. Doch der Baum wurde geliebt, redete sich Anna ein. Und das war die Hauptsache.

Sie klopfte und genoss die wohlige Schwere des Klopfers in ihrer Hand. Schon verflog ihr Ärger, wie immer, wenn sie bei Michelle vorbeischaute. Michelles Haus war wie jener Ort, den man sich vorstellen sollte, wenn einem der Hypnotherapeut auftrug, sich »an einen ruhigen, stillen, friedlichen Ort« zu begeben.

Die Tür schwang auf, und ein großes Weinglas wurde Anna in die Hand gedrückt.

»Schnell«, befahl Michelle und sah in ihrer hellen Schafsfellweste und kniehohen Stiefeln wie eine sehr geschäftige Elfe aus. »Trink das. Wie viel Zeit habe ich, um dich in einen normalen Funktionszustand zu bringen?«

»Eine Dreiviertelstunde? Ich könnte so tun, als sei Pongo weggelaufen.«

»Ich sehe, du hast dir schon eine Ausrede parat gelegt. Das gefällt mir.« Michelle grinste und öffnete die Tür noch einen Spalt weiter. »Komm rein, komm rein.«

Anna trat vor, hielt dann aber inne. »Auch Pongo?«

Trotz seiner innigen Liebe zu Michelle und ihrer widerwilligen Zuneigung zu ihm, durfte Pongo für gewöhnlich immer nur im Windfang bei den Mänteln und Stiefeln warten – die Bannmeile zwischen der schmuddeligen Außenwelt und Michelles makellosem Heim. Gleich hinter dem gefliesten Bereich begann die schuh- und pfotenfreie Zone.

»Seit acht Uhr heute Morgen hat Chloe versucht, ihm mit Tesastreifen Engelsflügelchen auf das Fell zu kleben«, fuhr Anna fort, »um ihn als Requisite zu benutzen, wenn sie per Skype mit ihrer Mutter spricht. Um für sie zu singen. Zu singen, Michelle! Sie konnte nicht einfach »Frohe Weihnachten« sagen wie alle anderen – sie musste eine Show daraus machen.« Anna hielt inne. »Sie hat uns gezwungen, im Hintergrund leise zu summen. Stell dir mal vor – Phil und summen.«

Michelle hob resignierend die Hände. »In dem Fall muss ich wohl eine weihnachtliche Ausnahme machen. Warte hier mit ihm, ich habe da etwas, was er für mich ausprobieren könnte …« Mit einem ausgestreckten Finger befahl sie Pongo, »Sitz« zu machen und verschwand dann im Inneren des Hauses.

Anna schlürfte genüsslich ihren Wein und hatte wie immer plötzlich das magische Gefühl, hier eine normale Tür durchschritten zu haben, hinter der sich eine unerwartete, unbekannte Welt befand. Von außen betrachtet wirkte die Swan’s Row Nr. 1 wirklich winzig. Nur die drei eleganten Buchsbaumkugeln auf den Eingangsstufen gaben einen kleinen Hinweis darauf, was einen drinnen erwartete: ein unfassbar luftiger, weitläufiger, cremeweiß gehaltener Raum mit hellen Sofas und großen Glasvasen, die mit weißen Blumen geschmückt waren. Riesige goldgerahmte Spiegel reflektierten das Licht sowie eine endlose Parade schöner Dinge.

Weil Weihnachten war, hatte Michelle ihre Farbpalette aufgepeppt und um Kieferngirlanden am Treppengeländer und dunkle beerenfarbige Stuhlhussen erweitert, doch der grundsätzliche Effekt war der Gleiche: Es sah sauber, behaglich und friedlich aus, und über allem hing der sanfte Duft von Hyazinthen und Duftkerzen. Anna liebte dieses Design; nichts war übertrieben luxuriös oder teuer. Sie wünschte sich nur, ihr Haus könnte so aussehen – wenn sie denn genügend Zeit hätte, alles so wie in einem Einrichtungsmagazin perfekt zu stylen. Und wenn sie denn ein Händchen für Farben hätte, einen unerschütterlichen Handwerker, einen besseren Geschmack, ein eigenes Geschäft für schicke Wohnaccessoires sowie das Talent, hübsche Stücke bei Auktionen zu erstehen.

Anna sah sich staunend um. Schwer zu glauben, dass dies das gleiche schimmelige Cottage war, in das Michelle sie zum ersten Mal vor beinahe drei Jahren zum Kaffee eingeladen hatte. Na ja, nein, widersprach sich Anna; so unvorstellbar war es nun auch wieder nicht, wenn man einmal Michelle kannte. Immerhin war sie der entschlossenste, am besten organisierte Mensch, den Anna je kennengelernt hatte. Michelle besaß eine To-do-Liste für jeden Tag, jeden Monat und sogar für das gesamte Jahr. Ohne großen Wirbel und mit großer Ruhe arbeitete sie jede dieser Listen ab. Wenn Michelle einmal etwas aufgeschrieben hatte, wurde es auch erledigt.

Anna bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Denn Anfang des Jahres hatte Michelle ihr vorgeschlagen, doch auch so eine Liste zu erstellen, »um einander anzuspornen« – womit Michelle wohl ganz klar gemeint hatte, »um Anna anzuspornen«. Doch Anna hatte nicht einmal die Zeit gefunden, eine solche Liste zu erstellen. Sie war einfach zu beschäftigt gewesen mit den wöchentlichen elterlichen Pflichten, den Zankereien der angeheirateten Töchter und Mince-Pie-Reinfällen.

Michelle tauchte mit einer großen grünen Tasche auf und ertappte Anna dabei, wie diese ihre neueste Errungenschaft für den Ablagetisch im Flur anstarrte – ein großer Riedkorb mit Weihnachtsnarzissen, die Pongo bei ihr zu Hause spätestens nach zehn Minuten auf den Boden gerissen hätte.

»Stimmt damit etwas nicht?«, fragte Michelle plötzlich. Auf ihrer glatten Stirn hatte sich eine tiefe Falte gebildet. »Ist der Korb zu groß? Ich habe darüber nachgedacht, ihn im Frühjahr ins Sortiment aufzunehmen.«

»Nein. Er ist perfekt. Perfekt! Das ganze Haus ist perfekt!« Anna trank einen großen Schluck Wein und streifte sich mit dem rechten Fuß den linken Stiefel ab, ohne sich die Mühe zu machen, dafür den Reißverschluss zu öffnen. »Selbst wenn ich meinen Ehemann, die drei Kinder, den Hund und jedes unserer Möbelstücke aus dem Haus werfen würde, sähe es dort niemals so perfekt aus wie hier.«

»Na ja, es ist auf jeden Fall schon mal vorteilhaft, keinen Mann, keine Kinder und keinen Hund zu haben.« Michelle bückte sich und stellte irgendetwas mit Pongo und der grünen Tasche an, doch Anna war dies mittlerweile egal. Der Wein und die Weihnachtsnarzissen lösten eine festliche, wohlige Woge aus, die durch ihr System spülte. Dies war der erste Schimmer weihnachtlicher Stimmung, den sie heute verspürte.

Heiligabend war eigentlich recht feierlich gewesen, dachte Anna wehmütig. Zumindest bis die Mädchen ihre Geschenke ausgepackt hatten. Bis zu dem Zeitpunkt war sie noch überzeugt gewesen, ihnen etwas Wunderbares und Raffiniertes gekauft zu haben, etwas, wodurch zwischen ihnen eine Bindung entstehen würde. Annas Haut prickelte vor Verlegenheit.

»Hier.«

Anna blickte zu Pongo hinunter, der in etwas steckte, das wie ein einteiliger Babystrampler aussah. Pongo wedelte mit dem Schwanz – zumindest bewegte sich irgendetwas in dem seltsamen Anzug.

»Was um alles in der Welt ist das?«, fragte sie verwundert.

»Ein Hundestrampler. Den teste ich gerade für den Laden. Wenn man Teppichboden hat und einen Hund besitzt, braucht man einen Hundestrampler«, fuhr Michelle zu Annas großer Belustigung fort. »Was ist daran so komisch?«

»Ich lasse bei mir zu Hause die Leute nicht einmal die Schuhe ausziehen, weil sonst hinterher deren Socken vor lauter Hundehaaren eine andere Farbe haben würden.«

»Du kannst einen extra Aufsatz für den Staubsauger kaufen, der …«, fing Michelle an, doch sie wurde von Annas gutmütigem »Ich-höre-gar-nicht-zu«-Gelächter unterbrochen. Sie schnalzte mit der Zunge, und Pongo schlurfte mit einer hingebungsvoll aufmerksamen Miene hinter ihr ins Haus, die er sonst nie auch nur einem einzigen seiner Besitzer zuteilwerden ließ.

»Warum schaffst du dir keinen eigenen Hund an?«, rief Anna hinter ihnen beiden her, als sie in die Küche verschwanden. »Einen Hund, der nicht haart? Irgendeinen beigefarbenen, damit er in die Deko passt?« Sie stellte ihre Stiefel neben Michelles Laufschuhen auf das schmiedeeiserne Schuhregal. Alle Aufbewahrungsaccessoires sahen deutlich besser aus, wenn nicht allzu viel darin oder darauf aufbewahrt wurde.

»Dann hättest du immer ein wenig Gesellschaft«, fuhr sie dann nicht ganz so laut fort.

Anna und Phil hatten in der Vergangenheit mehrfach versucht, Michelle mit so ziemlich jedem ihrer ledigen Freunde zu verkuppeln – mit dem Ergebnis, dass sämtliche Kandidaten von ihr eine höfliche Abfuhr erteilt bekommen hatten. Bis die Mädchen bei ihnen eingezogen waren, war Michelle regelmäßiger Gast bei den McQueen-Abendessen gewesen. Da sich aber nun die Terminpläne nur noch sehr schwierig miteinander vereinbaren ließen, waren die Verkuppelungsessen mittlerweile leider auf der Strecke geblieben. Anna hatte deswegen ein ziemlich schlechtes Gewissen.

Phil allerdings eher weniger. »Michelle ist nicht allein«, hatte er beharrt, nachdem Anna ihm vorgeschlagen hatte, sie für Heiligabend einzuladen. »Sie hat eine große Familie und ist an den Wochenenden oft unterwegs. Wo war sie letzte Woche? In Paris? Und davor war sie übers Wochenende in Stockholm.«

»Das waren Reisen, bei denen sie für ihr Geschäft eingekauft hat«, hatte Anna entgegnet. »Und du weißt genau, wie sie über ihre Familie denkt.«

»Geschäftsreisen?« Phil hatte diese Antwort offensichtlich überrascht. »Mir hat sie gesagt, es seien Kurzurlaube gewesen.«

Anna hatte sich schon des Öfteren darüber gewundert, dass ein in zweiter Ehe verheirateter Mann mit drei Töchtern und einer Mutter so wenig von Frauen – und Familien – verstand.

»Gesellschaft?« Michelle tauchte in der Küchentür auf. Ihre ablehnende Miene sprach Bände. »Sag nichts – Phil hat wieder einen frisch geschiedenen Kumpel an der Hand, der zum Bedienen seiner Waschmaschine eine Frau braucht? Ich habe die Sache mit Ewan immer noch nicht vergessen.«

»Ewan suchte keine … Das war ein Missverständnis!« Anna dachte darüber nach, einen Rückzieher zu machen. Michelle konnte mitunter ziemlich empfindlich reagieren, wenn man sie auf ihr Singledasein ansprach. Jetzt, wo sie so darüber nachdachte – dumme Idee, Anna! –, war der heutige Tag sicherlich nicht der beste, um ein solches Thema anzuschneiden. Aber es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass die witzige, großzügige Michelle hier in ihrem hübschen Haus allein war.

»Ich dachte nur an die guten Vorsätze fürs neue Jahr, du weißt schon. Du könntest einen Hund aus dem Tierheim adoptieren. Dann könntest du zusammen mit ihm, Pongo und mir spazieren gehen.« Sie lächelte zaghaft. »Wir sehen uns immer seltener, seitdem ich andauernd die Kinder zur Schule fahren und wieder abholen muss. Außerdem fehlen mir unsere Gespräche. Du bist meine einzige Verbindung zu einer Justin-Bieber-freien Welt!«

Michelles Miene wurde milder. »Ich kann doch immer noch mitkommen, wenn ihr beide Gassi geht. Wir sollten uns das einfach fest vornehmen. Und jetzt komm, ich habe ein paar Mince Pies zum Aufwärmen in den Ofen geschoben.«

Die große Wohnküche hatte zuerst aus mindestens zwei kleinen, engen Hinterzimmern bestanden, bevor Michelle sich des Hauses angenommen hatte. Mehrere Tapetenschichten mit Mustern der Achtzigerjahre waren abgekratzt worden und durch einen taubengrauen Farbanstrich und handgeschreinerte Küchenschränke ersetzt worden, die mit schwedischem Porzellan gefüllt waren. Als Zugeständnis an das Weihnachtsfest hatte Michelle große Goldsterne zwischen die Teller gesteckt. Soweit sich Anna erinnern konnte, war die Mehrzahl der Teller schon seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt worden; trotz ihres wunderhübschen Zuhauses legte Michelle keinen großen Wert darauf, Gäste zu empfangen und zu bewirten.

Anna setzte sich an den Küchentisch und merkte, wie ihre Anspannung nachließ, während sie Michelle dabei beobachtete, wie diese von Küchenschrank zu Küchenschrank ging, um Teller und Messer zu holen. Ihre Dreiviertelstunde ging viel zu schnell vorüber.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du heute allein bist? Ich hatte angenommen, du würdest über Weihnachten zu deinen Eltern fahren?«, fragte sie. Vor ihr stand wie versprochen eine geöffnete Pralinenschachtel, und sie bediente sich. »Trifft sich bei euch nicht die ganze Familie an Weihnachten?«

»Doch, schon. Und das ist genau der Grund, warum ich nicht hingefahren bin.« Michelle kam mit der Weinflasche zum Tisch zurück, um ihre Gläser aufzufüllen. »Beim Trivial Pursuit wird so verbissen um die richtigen Antworten gekämpft, dass spätestens zur Teezeit irgendeiner in Tränen ausgebrochen ist. Und wenn nicht, wird einfach ein Streit darüber vom Zaun gebrochen, wer das beste Auto fährt, sodass auch wirklich jeder die Chance bekommt, sich ordentlich aufzuregen. Irgendwann fahre ich meine Eltern besuchen … nur eben nicht heute. Aber Themenwechsel: Was um alles in der Welt ist im Hause McQueen passiert, dass du dich hier schon um halb drei verstecken musst? Sind Phil und seine Mutter schon wieder aneinandergeraten?«

»Noch nicht. Vielleicht passiert das aber auch gerade in diesem Augenblick.« Anna stützte die Ellbogen auf den Tisch und schlug die Hände vors Gesicht. »Es liegt an mir. Ich musste da einfach raus.«

»Nun, du hast auch die letzten drei Monate schon wie wild dafür geackert …«

»Nein, daran lag’s nicht.« Anna hatte Mühe, ihre Gedanken zu sortieren, damit ihre Antwort nicht egoistisch klang. »Ich kam mir nur in meinen eigenen vier Wänden überflüssig vor. Alles fing damit an, dass meine Geschenke ein totaler Reinfall waren. Ich habe gehört, wie sich die Mädchen vor Sarah über sie lustig gemacht haben.« Anna schaute zu Michelle auf. »Aber sag Phil bitte nichts. Er weiß nichts davon.«

»Wie bitte? Ich werde ihm nichts verraten, wenn du das nicht willst, aber ich finde, er sollte es erfahren. Das ist so unverschämt! Was hast du ihnen denn geschenkt? Chloe ein Bürstenset von Bobbi Brown, wie ich dir geraten hatte? Und die Fahrstunden für Becca?«

Anna presste die Handflächen in einem stummen Schrei an die Schläfen. »Nein. Ich habe den dreien Bücher gekauft. Bücher, die ich in ihrem Alter geliebt habe.«

Michelle fiel vor Entsetzen die Kinnlade herunter. »Oh nein – das ist dein voller Ernst, oder?«

»Natürlich ist das mein voller Ernst. Bücher, die für ein ganzes Jahr reichen! Ich hätte mich wahnsinnig darüber gefreut! Ich hatte es mir so schön vorgestellt, Lily abends im Bett daraus vorzulesen.« Anna merkte, wie ihr Gesicht ganz rot und heiß wurde. »Früher habe ich es geliebt, wenn mir meine Mum vor dem Einschlafen noch etwas vorgelesen hat. Es ist wirklich eine Schande, dass den dreien nie jemand etwas vorgelesen hat. So haben sie so viele wunderbare Geschichten verpasst!«

»Anna, versteh mich bitte nicht falsch, aber du bist einunddreißig. Und du bist Bibliothekarin. Lily ist acht Jahre alt. Und Becca macht gerade Abitur. Und Chloe … na ja, sie ist keine große Leseratte, oder?«

Anna trank einen weiteren Schluck Wein und versuchte, nicht an die Mienen der Mädchen zu denken, als diese ihre großen Bücherkisten ausgepackt hatten. Wie kam es bloß, dass Michelle die Reaktionen der drei hatte voraussagen können, während sie selbst, die sie sich den ganzen Tag Gedanken und Sorgen um die Mädchen machte, völlig danebengelegen hatte?

Becca hatte versucht, höflich zu sein, doch ihre Enttäuschung war deutlich sichtbar gewesen. Chloe hatte höhnisch gegrinst, Lily war verblüfft gewesen. Glücklicherweise – oder auch nicht – war Phil in jenem Moment mit einem riesigen Sack voller Geschenke hereingekommen, die er entsprechend der langen Internet-Wunschlisten besorgt hatte. Anna war nichts außer Evelyns herablassendem Lächeln und bergeweise Geschenkpapier geblieben. Und natürlich sechsunddreißig ihrer Lieblingskinderbücher, nach denen sie im Internet gestöbert hatte – alles Erstausgaben, alle signiert, alle etwas ganz Besonderes.

Sie schluckte, doch diese Demütigung saß ihr immer noch wie ein Kloß im Hals. »Streu nicht noch mehr Salz in die Wunde. Jetzt ist mir auch klar, dass die Bücher nicht das waren, was sie sich gewünscht haben. Ich weiß ja, dass es ihnen schwerfällt, sich an mich als ihre neue Stiefmutter zu gewöhnen, und nicht etwa als eine Frau, die sie jedes zweite Wochenende mal sehen, aber …« Anna resignierte. »Du bist der einzige Mensch, dem ich das sagen kann, Michelle, … aber hat man früher nicht wenigstens so getan, als würde man sich über ein Geschenk freuen? So, wie ich eben vorgegeben habe, mich über diese verdammte Anti-Faltencreme zu freuen?«

»Wie nett. Wahrscheinlich hast du dich vor Dankesworten beinahe überschlagen, nehme ich mal an«, erwiderte Michelle trocken.

»Natürlich.« Anna nahm einen weiteren Schluck Wein. Auf der Verpackung hatte tatsächlich »für die reife Haut« gestanden. Dabei war sie gerade einmal dreizehn Jahre älter als Becca.

»Ich nehme alles zurück – du musst mit Phil darüber sprechen«, erklärte Michelle und riss die Backofentür auf, um ein Backblech herauszuholen. »Er muss die Verantwortung dafür übernehmen, wie die drei mit dir umspringen. Schließlich bist du nicht irgendeine Haushälterin, die zufällig mit ihrem Dad verheiratet ist. Du bist ihre Stiefmutter, und die drei leben in eurem Haus. Hier. Nimm davon.«

Michelle schob einen Teller mit Mince Pies zu ihr hinüber. Anna nahm sich eines der gefüllten Gebäckstücke und stellte unglücklich fest, dass es nach Orange schmeckte und so leicht war, dass es im Mund zerging.

»Aus dem Feinkostladen«, erklärte Michelle, als ihr Annas kläglicher Gesichtsausdruck auffiel. »Es ist vollkommen okay, die Dinger fertig einzukaufen. Du solltest aufhören, immer Superwoman sein zu wollen.«

»Ist es denn so verrückt, Bücher zu verschenken?«, fragte Anna traurig. »Früher habe ich den ersten Weihnachtstag über nur gelesen. Wir alle. Mum, Dad und ich haben auf dem Sofa gesessen, unsere Weihnachtsbücher gelesen, Tee getrunken und dabei unsere Schokokugeln verdrückt.«

»Vielleicht hängt es auch davon ab, welche Bücher du ihnen andrehen wolltest.«

»Sie waren nicht zu anspruchsvoll, wenn du das meinst. Lily habe ich ein paar Bücher geschenkt, die sie von ihren Disney-DVDs kennt, wie Mary Poppins und Hundertundein Dalmatiner. Ich wollte sie gerne zum Lesen animieren. Immerhin besitzt sie einen Dalmatiner namens Pongo.«

»Solange du dem armen Kind nicht ewig Vorträge darüber hältst, dass ›Bücher so viel besser sind als Filme‹ …« Michelle nahm sich ein Mince Pie und schnitt es in der Mitte durch. »Was ist denn mit der Drama-McQueen? Welche Bücher hast du um alles in der Welt ihr geschenkt? Den Kinderbuchklassiker Ballettschuhe? Darin geht es um Kinder, die schauspielern und tanzen, oder?«

Anna hob das Kinn. »Ich habe Chloe alle Romane von Judy Blume geschenkt, die ich mit fünfzehn geliebt habe, wie zum Beispiel Forever: Die Geschichte einer ersten Liebe. Außerdem hat sie von mir ein paar Dolly-Bände von Enid Blyton bekommen.«

»Dolly?« Michelles Augenbrauen verschwanden unter ihrem dicken, dunklen Pony. »Welcher Teufel hat dich denn da geritten?«

»Ich liebe Dolly«, protestierte Anna. »Ich lese die Romane selbst jetzt gelegentlich noch einmal, wenn ich schlechte Laune habe. Das beruhigt ungemein.«

»Es beruhigt dich nur, weil du die Bücher mit sieben gelesen hast, als du dachtest, dass in allen Internaten mitternächtliche Partys stattfinden und dort Mädchen zur Schule gehen, die ihre Ponys mit in den Unterricht bringen! Und diese Bücher hast du ernsthaft einem Mädchen geschenkt, das sich nicht entscheiden kann, ob es zuerst zum Vorsingen bei X Factor oder bei American Idol antreten soll?«

»Ja«, erwiderte Anna kleinlaut.

»Du meine Güte.« Michelle nahm sich ihr Glas. »Solche Bücher stehen heute immer noch in der Kinder- und Jugendabteilung? Kein Wunder, dass die Kids heutzutage in keine Bücherei mehr gehen!«

Anna musste sich sehr zurückhalten. Die Stadtbücherei war ein ganz wunder Punkt. Ihr Job als Longhamptons stellvertretende Bibliotheksleiterin war massiven Stellenstreichungen zum Opfer gefallen, und das drei Wochen, bevor Sarah in die USA gezogen war. Die Abfindung war nicht übel gewesen, und Phil verdiente genug, um alle Rechnungen begleichen zu können, doch für Anna war diese Aufgabe mehr als nur ein Job gewesen. Sie hatte abendliche Buchclubs organisiert, Vorlesestunden in Seniorenheimen veranstaltet, Gruppen für Kleinkinder ins Leben gerufen – kurzum, sie hatte alles getan, um den Menschen Bücher näherzubringen.

»Für die Kinder- und Jugendabteilung war ich nicht zuständig«, erklärte sie steif. »Das war eine separate Stelle. Eine, die nicht gestrichen wurde.«

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Michelle. »Aber hatten wir uns nicht darauf geeinigt, ab jetzt positiv zu denken? Um das alles hinter uns zu lassen?« Motivierend ballte sie die Hand zur Faust. »Wollten wir nicht diese Liste erstellen? Eine Liste mit Dingen, auf die wir uns im kommenden Jahr konzentrieren wollen?«

»Muss das sein?«

»Lass es uns jetzt tun.« Michelle nahm ihr stets griffbereites Notizbuch zur Hand. »Komm schon.«

»Ich habe kein Papier.«

»Ich hole dir welches. Betrachte es als zusätzliches Weihnachtsgeschenk.« Michelle eilte durch das Wohnzimmer, und Anna hörte, wie sie eine Schreibtischschublade öffnete, in der sich ihr nie versiegender Vorrat an ledergebundenen Notizbüchern befand.

Anna betrachtete niedergeschlagen ihr Weinglas. Sie hatte ja beinahe schon erwartet, dass Chloe in ihrem pubertären Alter mit Spott auf das Weihnachtsgeschenk reagieren würde; insgeheim hatte sie jedoch sehr gehofft, wenigstens Lily damit eine große Freude zu machen. Denn Lily sah immer so traurig und einsam aus, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, und hatte bislang auch noch keine Schulfreundinnen gewonnen, mit denen sie hätte spielen können. Lily gab sich immer so viel Mühe, allen vorzugaukeln, dass es ihr gut gehe, auch wenn dies offensichtlich nicht der Fall war. Seitdem Anna lesen konnte, hatte sie sich nie mehr einsam gefühlt. Selbst wenn Lily sich weigerte, vor dem Einschlafen noch eine Geschichte vorgelesen zu bekommen, so hoffte Anna jedoch inständig, dass sie in dem Kinderbuchautor Michael Morpurgo oder in der Figur des Mr. Gum einen Freund finden würde.

»Kopf hoch, Anna!«, rief Michelle und legte ein Notizbuch vor ihr auf den Tisch. »Morgen fliegen alle nach Amerika, dann habt ihr zwei eine ganze Woche Zeit für euch. Wenn die Mädchen zurückkommen, werden sie jede Menge Geschichten darüber zu erzählen haben, dass ihre Mutter nicht kochen kann und amerikanische Schokolade nach Erbrochenem schmeckt. Und sie werden dich sofort fragen, ob du ihnen bei ihrer nächsten Projektaufgabe für die Schule hilfst.«

Anna stopfte sich ein weiteres Mince Pie in den Mund und ignorierte Pongos flehentlichen Blick. »Das werden sie nicht tun. Sarah hat sich in eine dieser Mütter verwandelt, die ihre Kinder als ihre ›besten Freundinnen‹ betrachtet. Wahrscheinlich werden sie ununterbrochen shoppen gehen. Sarah arbeitet jetzt in der Firmenzentrale in den USA, nicht in irgendeiner heruntergekommenen Zweigstelle in Longhampton – bei ihr wechseln sich also Power Meetings und Maniküretermine ab. Zudem hat sie wahrscheinlich viel Geld für kleine Überraschungen und Geschenke, das wir einfach nicht mehr zur Verfügung haben.«

»Dann lass sie doch.« Michelle sah Anna in die Augen. »Was tust du denn, während die Mädchen unterwegs sind? Für dich?«

Anna atmete tief durch die Nase aus. »Ausschlafen?«

Anna hatte sich noch nie so erschöpft gefühlt. Die ersten Monate nach Sarahs Abreise hatten sich als ein endloser Wirbelwind erwiesen: Sie hatten neue Schulen gesucht und ein neues Auto gekauft, in das drei weitere Personen hineinpassten. Sie hatten neue Klamotten besorgt, eine neue Routine für den Tagesablauf finden und neue Gerichte für drei pingelige Esser ausprobieren müssen. In ihrem gemeinsamen Schockzustand hatten sie sich irgendwie zusammengerauft, hauptsächlich aber, weil Anna sich doppelt krumm gemacht hatte, um den Schock für alle abzumildern. Erst jetzt, nachdem der Glanz des Neuen verblichen war, begannen sich allmählich die echten Probleme abzuzeichnen. Probleme, die man eigentlich gar nicht zugeben durfte, wie zum Beispiel das Gefühl, innerhalb der Familie erst an sechster Stelle zu stehen, weit nach dem Hund.

Michelle schob das Notizbuch näher an Anna heran. »Komm schon. Tu es jetzt. Es herrschen Klausurbedingungen: Du hast zwanzig Minuten Zeit, um all das aufzuschreiben, was du im neuen Jahr schaffen willst. Nur du. Komm schon, ich mache auch mit.«

»Du weißt doch schon längst, was du willst«, protestierte Anna. »Wahrscheinlich hast du die Liste längst im Kopf.«

Michelle reichte ihr einen Kuli. »Soll ich vielleicht die Liste für dich schreiben? Du könntest zum Beispiel so anfangen: ›Meinem Ehemann einen Tritt in den Allerwertesten verpassen‹.«

»Nein.« Anna starrte auf die gähnend leere Seite vor ihr. So viel Papier brauchte sie gar nicht; für das neue Jahr hatte sie nur ein Ziel, eines, auf das sie ihr ganzes Leben als Erwachsene gewartet hatte. Allein der Gedanke daran erfüllte sie schon mit einer flatternden Aufregung, doch es war ein äußerst heikles Ziel. Eigentlich wollte sie nicht, dass es seinen Zauber dadurch verlor, dass sie es nun niederschrieb, gleich neben Vorhaben wie »Tiefkühlschrank abtauen« oder »Chloe dazu bringen, einen Zeitplan für die Wiederholung des Lernstoffs zu erstellen«.

Sie sah zu Michelle hinüber, die fleißig schrieb und sich dabei Überschriften und Unterpunkte notierte und alles mit Pfeilen verband. Obwohl niemand hier war, der sie sah, hatte sie doch ihr volles Make-up aufgelegt, sogar ihren geschwungenen schwarzen Eyeliner. Vielleicht sollte ich mir das als Ziel setzen, den Eyeliner so wie sie auftragen zu können, dachte Anna und bewunderte die leicht nach oben geschwungenen Pinselstriche an den Rändern von Michelles braunen Kulleraugen. Die waren so exakt und perfekt wie die von Lilys Bratz-Puppe.

»Mach mal«, ermunterte Michelle sie, ohne dabei aufzuschauen. »Schreib es auf, dann passiert es auch – das ist mein Motto.«

Ganz langsam notierte Anna »Dieses Jahr« oben auf die Seite, unterstrich es zweimal und fügte dann darunter hinzu: »Ein Baby bekommen«.

Michelle sah auf, als sie bereits am Ende ihrer zweiten Seite angelangt war. »Bist du schon fertig? So schnell?«

Anna nickte.

»Lass mich mal sehen.«

Anna schob Michelle das Notizbuch hin und beobachtete sie. Sie war unsicher, wie ihre Freundin reagieren würde.

Anna wusste nur allzu gut, dass Babys auf Michelles To-do-Liste keinen Platz hatten. Longhampton hatte die höchste Geburtenrate in den Midlands zu verzeichnen, und vor dem Einzug von Phils Töchtern hatten Anna und Michelle stundenlang in der örtlichen Vinothek gesessen und sich über die Mütter das Maul zerrissen, die in Michelles Laden ein Vermögen ausgaben und einem mit Sprüchen kamen wie »Man versteht das Leben im Grunde erst, wenn man selbst ein Kind hat«. Und sie hatten einander selbst hunderterlei Gründe aufgezählt, warum die Geburt eines Kindes einen nicht unmittelbar wertvoller, verständnisvoller oder weiser machte. Das hatte sie zusammengeschweißt.

Michelle war von den Vermutungen der Leute, warum sie keine Kinder hatte, ziemlich genervt: Die Geschäftsmänner im Dorf unterstellten ihr, dass sie zu sehr auf ihre Karriere fixiert sei; die Geschäftsfrauen dachten, sie mache es sich sehr leicht. Annas Murren, was Kinder anging, war dagegen eher vorgeschoben. Mutter-und-doch-noch-nicht-Mutter zu sein war das Schlimmste, was es gab, zumal sie sich doch so sehr nach einem eigenen Baby sehnte, nun aber das Gefühl hatte, für Phils »Gratis-Kinder« besonders dankbar sein zu müssen.

»Wow«, entfuhr es Michelle. »Das ist dein Jahresziel? Ich meine, das ist toll, aber … sonst nichts? Nicht etwa ›einen neuen Job finden‹? Oder das Haus renovieren?«

Anna schüttelte den Kopf. »Ich habe schon viel zu lange darauf gewartet. Das ist das Einzige, was ich schon immer wollte. Seit ich klein bin, habe ich mir eine Familie wie die Waltons gewünscht oder wie die aus Betty und ihre Schwestern. Ich habe meiner Mutter permanent mit der Frage in den Ohren gelegen, wann ich denn noch Brüder und Schwestern bekommen würde.« Sie biss sich auf die Lippe. »Einmal habe ich sie gefragt, ob sie nur ein Kind haben wollten, und meine Mutter meinte darauf, nein, sie hätten am liebsten ein ganzes Haus voller Kinder. Es muss ihr das Herz gebrochen haben, als ich mit den Katzen gespielt und so getan habe, als seien sie Babys.«

»Glaub mir«, stellte Michelle fest, »du willst keine Brüder haben.«

»Das wäre mir egal gewesen«, erwiderte Anna. »Ich hatte unsichtbare Brüder, Schwestern, Pferde, Hunde … alles. Ich bezweifle, dass Becca, Chloe und Lily wissen, wie gut sie es haben.«

»Warum haben deine Eltern nicht mehr Kinder bekommen?«

»Sie haben offenbar zu spät angefangen. Bei uns in der Familie kommen die Frauen außerordentlich früh in die Wechseljahre – was Mum damals offenbar nicht gewusst hatte. Erst kürzlich noch hat sie mir geraten, mir nicht mehr allzu viel Zeit zu lassen. Aber das war ohnehin immer mein Plan.« Anna spielte mit ihrem Weinglas. »Das war eins der Dinge, auf die Phil und ich uns bei unserer Hochzeit geeinigt hatten. Wir wollten den Mädchen genügend Zeit geben, um sich an alles zu gewöhnen, aber ab unserem vierten Hochzeitstag wollten wir definitiv versuchen, ein eigenes Baby zu zeugen. Und das wäre nächsten Monat.«

»Du meine Güte«, erwiderte Michelle. »Ich sollte also ab September Babystrampler mit aufgedruckten literarischen Zitaten ins Sortiment aufnehmen?«

Anna grinste und hob den Daumen.

»Weiß Phil denn, was das für ihn bedeutet?« Wieder zog Michelle die Augenbrauen hoch, sodass Anna sofort wusste, was nun kommen würde. »Wenn er jetzt schon zu geschafft ist, um mit Pongo Gassi zu gehen, woher soll der arme Mann dann die Kraft hernehmen, ein Baby zu zeugen? Ganz zu schweigen vom ganzen Rest, der danach folgt? Da muss er sich ganz schön ins Zeug legen! Du schuftest immerhin jetzt schon mehr als zu der Zeit, als du noch eine Vollzeitstelle hattest.«

Michelles wie immer großzügiges Weihnachtsgeschenk für ihre beste Freundin war ein Gutschein für zehn Stunden Bügeln, fünfmal Gassigehen und einen ganzen Wellnesstag mit ihr zusammen. Doch Michelle hatte besonders darauf geachtet, dass Phil dabei war, als Anna das Geschenk öffnete. Phil hatte wenigstens so viel Anstand besessen, schuldbewusst dreinzuschauen, und nachdem Michelle heimgegangen war, hatte er angeboten, die Stunden zu verdoppeln. Doch darum ging es gar nicht. Er hatte Anna ein neues Bügeleisen geschenkt. Die Jahre davor war es in Papier eingeschlagene Seidenunterwäsche gewesen.

»Sarahs Vertrag läuft nur über zwei Jahre«, erklärte Anna. »Vielleicht ist sie sogar vor der Geburt des Babys schon wieder zurück, sodass die Mädchen dann vielleicht gar nicht mehr bei uns wohnen.«

»Das habe ich gar nicht gemeint.«

»Phil weiß genau, wie wichtig mir diese Sache ist. Ihm ist es genauso wichtig. Natürlich liebe ich seine Kinder, sehr sogar. Aber eben nicht so bedingungslos wie ein eigenes, wenn du weißt, was ich meine. Unser Baby wäre genauso sehr ein Teil von mir wie …«

Sie hielt inne und zuckte dann zusammen. »Behalt das bitte für dich, ja? Am besten, du vergisst, dass ich es überhaupt gesagt habe. Das gehört zu den Dingen, die man einfach nicht sagen darf.«

»Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst«, entgegnete Michelle. »Wem sollte ich schon davon erzählen?«, fuhr sie fort und nickte unprätentiös in Richtung ihres leeren Wohnzimmers.

»Phil hat mir versprochen, dass wir dieses Jahr versuchen wollen, ein Baby zu bekommen«, fuhr Anna fort. »Und eines muss man Phil lassen: Er hält sein Versprechen. So was ist für ihn Ehrensache.«

Während sie ihren eigenen Worten lauschte, verspürte Anna ein weihnachtliches Glühen tief in ihrer Magengrube, das sich wie eine warme Flamme in ihr ausbreitete und dazu führte, dass ihre Wut über Evelyn und die Bücher verrauchte. Die letzten Jahre waren eher wie ein Hindernisparcours gewesen, doch sie hatte daraus gelernt und sich oftmals auf die Zunge gebissen. Anna hatte ihren Teil der Abmachung eingehalten, sodass sie nun endlich an der Reihe war.

»Was ist denn mit dir?«, fragte sie und griff nach Michelles Notizbuch. »Was hast du denn aufgeschrieben? Wow. Ein neuer Laden? Zahl der Internetverkäufe verdoppeln.« Sie schaute auf. »Michelle, meinst du nicht, du solltest vielleicht auch irgendwo mal auf dieser Liste auftauchen?«

»Das tue ich doch. Hier.« Michelle deutete auf den Punkt, »In die Handelskammer gewählt werden« unter der Überschrift »Persönliche Ziele«. »Und hier.« Dort stand: »Am Longhamptoner Halbmarathon teilnehmen«.

»Das meine ich nicht. Wo bleibst du denn auf dieser Liste? Was ist mit deinem Leben außerhalb der Arbeit? Ich finde den Gedanken furchtbar, dass du Nacht für Nacht hier allein bist. Das Haus ist viel zu hübsch, um es mit niemandem zu teilen.«

Mit gespieltem Entsetzen riss Michelle die Augen auf. »Wie bitte? Nur, um dann hinter irgendwem herzuräumen? Nein danke!«

»Vergiss das Haus. Du bist einfach zu wunderbar, um allein zu bleiben.« Anna beugte sich vor und nahm Michelles Hand. Wenn sie bei Michelle war, musste sie stets ihren natürlichen Drang bremsen, ihr die Hand zu tätscheln oder sie in den Arm zu nehmen. Michelle mochte es nicht gern, wenn man ihr zu nah auf die Pelle rückte, doch manchmal konnte Anna nicht anders. »Ich weiß, dass Harvey ein Mistkerl war, und Phils Kumpel sind eben einfach nicht … dein Fall, was aber nicht bedeutet, dass du gleich alle Männer abschreiben solltest. Da draußen wartet jemand auf dich, wenn du nur hinsehen würdest.«