Bis das Glück uns findet - Lucy Dillon - E-Book

Bis das Glück uns findet E-Book

Lucy Dillon

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Beschreibung

Nancy ist vier Jahre alt, fast fünf. Sie plappert wie ein Wasserfall: beim Frühstück, im Kindergarten, mit ihren Stofftieren. Doch an einem kalten Wintermorgen wird alles anders. Nancys Eltern trennen sich – und sie verstummt. Nancys Tante Eva ist vierundvierzig, fast fünfundvierzig. Vor Jahren verliebte sie sich Hals über Kopf in den deutlich älteren Michael. Es ist das große Glück – bis er unerwartet stirbt und Eva allein zurückbleibt. Doch dann tritt ihre Nichte Nancy unerwartet in Evas Leben. Und bald entwickelt sich eine besondere Freundschaft zwischen dem stillen Mädchen und der Frau, die erkennt, dass das Glück einen manchmal von ganz allein findet ...

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Buch

Nancy ist vier Jahre alt, fast fünf. Sie redet wie ein Wasserfall: im Auto, auf dem Weg in den Kindergarten, mit ihrem älteren Bruder, mit ihren Stofftieren. Doch an einem kalten Wintermorgen wird alles anders. Nancys Eltern trennen sich, und ihr Vater Patrick zieht von Bristol ins entfernte Newcastle – und Nancy verstummt.

Eva ist vierundvierzig, fast fünfundvierzig. Vor Jahren verliebte sie sich Hals über Kopf in den deutlich älteren Michael Quinn. Es ist das große Glück – bis Michael unerwartet stirbt und Eva allein zurückbleibt, mit seinen Tagebüchern, den Hunden Bumble und Bee und der quälenden Frage, ob sie vielleicht zu viel geopfert hat für diese Beziehung. Doch dann tritt ihre Nichte Nancy in Evas Leben, und bald entwickelt sich eine tiefe Verbundenheit zwischen dem stillen Mädchen mit dem traurigen Geheimnis und der Frau, die erkennt, dass sich ihr Herz nach der Liebe eines Kindes sehnt …

Weitere Informationen zu Lucy Dillon sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Lucy Dillon

Bis das Glückuns findet

Roman

Aus dem Englischen

von Claudia Franz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »All I ever wanted« bei Hodder & Stoughton, a Hachette Livre UK company, London.
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Lucy Dillon Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: plainpicture / Fancy images/ Silke Woweries FinePic®, München Redaktion: Babette Leckebusch MR · Herstellung: eS Satz: omnisatz GmbH, Berlin ISBN: 978-3-641-21087-8V003www.goldmann-verlag.de
Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Scott, der ein Mann für das

Glück bis ans Lebensende ist,

was auch den Border Terrier mit

einschließt.

Prolog

Oxford Street, London

Eine Tüte mit gebrannten Nüssen in der Hand schaute Nancy auf die Lichterketten, die zwischen den Häusern zu beiden Seiten der Oxford Street schwankten. Wie goldene und silberne Sterne glitzerten sie in der Dunkelheit, während über die Bürgersteige darunter Hunderttausende von Menschen eilten. Nancy war froh, dass sie sich nicht mitten in dieser Menge befand, sondern weit oben im Bus. Alle hasteten vorwärts, stürzten in die Läden, schoben und drängelten. Joel hätten sie an der Bushaltestelle fast schon verloren. Daddy hatte etwas geschrien, und Mummy hatte zurückgeschrien.

Sie schaute zu ihrem großen Bruder hinüber, um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Ja, er war da. Joel winkte in die Menge, als wäre er die Queen, so wie er es auch daheim in Bristol tat, wenn sie Bus fuhren. Er müsse für die Zeit üben, wenn er berühmt sein würde, sagte er immer.

Nancy und Mummy saßen auf einem der vorderen Plätze in dem großen roten Bus, während sich Joel und Daddy auf der anderen Gangseite auf einen Platz quetschten. Joel hockte auf der Kante, winkte und tat jedes Mal so, als würde er vom Sitz fallen, wenn der Bus um die Kurve fuhr.

Nancy fand das lustig, Daddy nicht. Obwohl sie auf dem Weg zu Santa Claus waren, dem Höhepunkt einer ganzen Reihe fantastischer Erlebnisse, hatte Daddy schlechte Laune. Er hatte schon schlechte Laune, seit sie in London angekommen waren.

»Der Polizist winkt zurück!«, juchzte Joel. »Seht doch! Der Polizist winkt!«

Daddy packte Joel am Arm. »Hör auf damit, Joel! Dies ist nicht der rechte Moment für deine Sperenzchen.« Er warf Mummy über Joels Pudelmütze hinweg einen wütenden Blick zu. Seine Augen waren gerötet, fast böse. »Dieser verfluchte Oxford Circus. Ausgerechnet an Weihnachten. Das ist der totale Irrsinn.«

»Das macht doch Spaß!« Mummy zog Nancy an sich. »Du wirst dich dein Leben lang an deine Reise zu Santa Claus erinnern, nicht wahr, Fancy Nancy?«

Die nickte, konnte aber den Blick nicht von Daddys zornigem Gesicht abwenden. Wenn er so war, sah er ganz fremd aus. Nancy hatte dann immer ein merkwürdiges Gefühl, als wäre er eine Person, die sie nicht kannte. Jetzt presste er die Lippen aufeinander und holte sein Handy aus der Tasche.

Plötzlich bekam Nancy furchtbare Angst. Was, wenn Santa Claus dachte, Daddy wäre sauer, weil Joel und sie nicht artig waren? Vielleicht dachte er, sie hätten gar kein Geschenk verdient. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz komisch im Bauch.

Mummy beugte sich zu ihr und hob ihre Ohrenklappe hoch, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. »Du hast noch einen Wunsch frei, vergiss das nicht.«

Nancys Lieblingsbuch handelte von einer Katze, die Wünsche erfüllte. Ihr zweitliebstes Buch handelte von einem kleinen Mädchen und seiner Mutter, die sich in London die Sehenswürdigkeiten anschauten. Ihre eigene Mummy hatte eine ganz besondere Katze in ihrer Handtasche aus weichem Leder. Sie hatte erklärt, dass Joel und Nancy für alles, was sie aus dem Londonbuch wiedererkannten, einen Wunsch frei hatten. Bislang hatte Nancy Big Ben, das Riesenrad und zehn schwarze Taxen entdeckt.

»Aber nicht mehr als drei Wünsche pro Tag«, hatte Daddy eingewendet. Dabei musste man Nancy gar nicht sagen, dass man nicht gierig sein sollte. Aus ihrem Katzenbuch wusste sie, dass schlimme Dinge passierten, wenn man zu gierig oder zu selbstsüchtig war. Man musste sehr vorsichtig sein.

»O Gott, ich faaaalle!«, rief Joel theatralisch.

»Joel!« Daddy riss ihn an der Kapuze zurück. »Benimm dich, oder wir verzichten auf Hamleys und fahren auf direktestem Wege nach Hause zurück.«

Nancys Panik schwoll an. Santa Claus wusste, dass sie kamen, das hatte Mummy ihr versichert. Wenn sie nicht kamen, weil Joel frech war, was würde er dann denken?

Mummy beugte sich hinüber und zog Joel auf ihren Platz. Nancy schob sie auf ihr Knie. Sie nahm sie beide in den Arm, aber Nancy konnte das gar nicht wirklich genießen, weil Daddy von der anderen Seite des Busses so wütend zu Mummy herüberschaute. Würde er es Santa Claus erzählen? Hatte er deshalb sein Handy herausgeholt? Schickte er Santa Claus eine SMS? Plötzlich ging es ihr richtig dreckig.

»Nun komm schon, Joel. Du hast auch noch einen Wunsch frei«, sagte Mummy. »Was wünschst du dir?«

»Ich wünsche mir … ich wünsche mir …«, Joels Stimme war viel zu laut, und die Leute schauten schon. »ICHWÜNSCHEMIR …«

Nancy wollte sagen: »Sei still, Joel«, aber sie fühlte sich ganz wirr im Kopf.

»Joel!« Das war Daddys schlimmste Stimme, die leise, gezischte.

Mummy legte Joel die Hand auf den Mund, beugte sich aber gleichzeitig hinab und küsste ihn auf den Bommel seiner Pudelmütze. Entsetzt sah Nancy, dass die Augen ihrer Mutter feucht glänzten. Als sie blinzelte, hinterließen ihre Wimpern dunkle Flecken. Vielleicht machte sie sich ja auch Sorgen wegen Santa Claus.

Ich wünschte, Daddy würde woanders hingehen, damit Joel, Mummy und ich allein zu Santa Claus gehen können, dachte Nancy, wurde aber im nächsten Moment von einem finsteren Gefühl gepackt, als hätte sie etwas ganz Schlimmes getan.

Bevor sie ihren Gedanken zurücknehmen und sich etwas Netteres wünschen konnte, schüttelte sich der Bus und blieb stehen. Die Leute erhoben sich, blockierten mit ihren feuchten Mänteln und Einkaufstaschen den Gang und drängelten ungeduldig zur Treppe. Plötzlich wirkte der Bus fast feindselig. Der Spaß war Nancy vergangen.

Ihr Magen rebellierte.

»Regent Street!«, verkündete Daddy und stand auf. Er hielt den Kopf gebeugt, um sich nicht an der Decke zu stoßen. Nancy sah, dass die Leute hinter ihm auch aufstanden, und die Leute dahinter auch, und als sie sich wieder umdrehte, war Daddys dunkelblauer Mantel verschwunden. Er war fort! Vor ihr war nur noch eine Wand aus Fremden mit leeren Gesichtern, hinter ihr der dunkle, sternenübersäte Himmel.

»Schnell, schnell, ihr beiden«, sagte Mummy und schnappte sich ihre und Joels Tasche und Nancys Rucksack mit dem Union Jack. Aber Nancy war auf dem Platz festgefroren.

Ihr Wunsch hatte sich bereits erfüllt! Daddy war fort! Was, wenn der Bus weiterfuhr, bevor sie aussteigen konnten? Vielleicht würden sie ihn nie wiederfinden! Sie hatte sich gewünscht, dass er geht, und plötzlich war er fort.

»Komm schon, Nancy.« Mummy streckte die Hand aus, aber Nancy drängelte sich an ihr vorbei. Ihre Beine waren so schnell, dass sie schon Angst hatte, sie würden ohne sie wegrennen, würden aus dem Bus stürmen und den restlichen Körper zurücklassen.

»Nancy!«, rief ihre Mutter, aber Nancy schob sich zwischen den Fahrgästen hindurch und achtete gar nicht darauf, dass sie sich beschwerten und schimpften. Sie konnte nur an Daddy denken. Sie musste ihn finden, um sich an seine Hand zu klammern, damit er nicht verschwand. Sie hatte es nicht so gemeint! Sie hatte es wirklich nicht so gemeint! Er konnte Santa Claus erzählen, was er wollte, solange ihn diese furchteinflößende Menschenmenge nicht verschluckte.

Unten an der Treppe war er nicht. An der Tür war er auch nicht. Er war fort. Nancy schob sich an den Menschen vorbei, die sich an den gelben Stangen festhielten, und sprang aus dem Bus auf den überfüllten Gehweg. Es roch nach gebrannten Nüssen und Zimt und Weihnachten, aber sie hatte nur diesen ekeligen Geschmack im Mund, wie damals, als sie und Joel mit Grippe im Bett gelegen hatten.

Ihre Brust wurde von gewaltigen Schluchzern geschüttelt.

London hatte überhaupt nichts Magisches, es jagte ihr nur Angst ein. Alles war laut und fremd. Die Geschäfte waren überheizt oder eiskalt. Das Essen war komisch. Und Daddy sah hier gar nicht wie Daddy aus. Mummy schien auch anders zu sein. Die beiden unterhielten sich auch gar nicht, sondern regten sich nur über Dinge auf, über die sie sich zu Hause nie aufregen würden. Nancy wünschte sich inständig, wieder in Bristol zu sein, in ihrem Haus am Ende der Straße, mit dem grünen Kamin und der schwarzen Nachbarskatze. Daddy sollte ihre Hand halten, Mummy die andere; der Wunsch war so stark, dass sie am liebsten geweint hätte. Aber sie hatte ihre drei Wünsche geäußert. Es gab keinen mehr, mit dem sie etwas ändern könnte.

Dann sah sie ihn im Eingang eines Ladens stehen, den Blick auf sein Handy gerichtet.

Die Erleichterung war zugleich ein Schock. Hatte sie ihn sich zurückgewünscht? Hatte sie plötzlich magische Kräfte? Hörte London auf ihre Wünsche? Ihr wurde ganz mulmig, weil diese Vorstellung zu groß war für ihren Kopf.

»Daddy!«, rief sie und lief zu ihm. Ein Radfahrer auf dem Gehweg musste ausweichen und schimpfte, aber Nancy hörte es kaum.

Er schaute auf, als sie sich an sein Bein klammerte, und geriet fast ins Wanken.

»Pass doch auf, Nancy«, sagte er. Seine Stimme war so vertraut, dass Nancy alles andere ausblendete. Sie roch nur noch seinen Mantel und spürte seine Arme um sich.

»Geh nicht fort, Daddy«, rief sie. »Geh nicht fort!«

»Natürlich nicht, Nancy«, sagte er, aber seine Stimme klang sehr fern.

Kapitel 1

Als Patrick sein Notizbuch öffnete, um nachzuschauen, welche Themen er bei der Mediation ansprechen wollte, bohrte Caitlin die Fingernägel in die Handfläche. Sie fragte sich, wo sie gelesen hatte, dass einen gerade die kleinen Besonderheiten eines Menschen, in die man sich am Anfang verliebt hatte, am Ende dazu brachten, ihn mit der Gabel erstechen zu wollen.

Patrick sah immer noch gut aus, mit den prägnanten Wangenknochen und dem dichten braunen Haar, das schneller wuchs als ihres. Er war immer noch energiegeladen und verdammt munter für jemanden, der unübersehbar darunter litt, dass er von Frau und Kindern getrennt war – vermutlich wegen der Extraportion Schlaf, dachte Caitlin gehässig. Er roch immer noch nach Kaffee und Rasierwasser, hielt ihr bei den Mediationssitzungen immer noch die Tür auf und trug immer noch die Manschettenknöpfe in Bonbonform, die ihm Joel und Nancy zu Weihnachten geschenkt hatten. Aber das wurde alles zunichtegemacht von seiner unerbittlichen, nervtötenden, zur Weißglut treibenden Kontrollsucht, die Caitlin anfangs für altmodische Galanterie gehalten hatte.

Trennung und Scheidung, dachte sie, brachte das Schlimmste in einem Kontrollfreak zum Vorschein. Mehr noch als die Ehe.

»Nur, um noch einmal auf die Alimente zu sprechen zu kommen.« Patrick tippte mit dem Stift auf die Seite. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Zahlen, die meine Frau …« Sein Gesicht fror für den Bruchteil einer Sekunde ein und ließ eine unerwartete Verletzlichkeit durchscheinen. Dann hatte er sich wieder im Griff und konzentrierte sich auf die Fakten. »Die Zahlen, die Caitlin nennt, scheinen mir jeder Basis zu entbehren. Ich habe mir die Quittungen für die wöchentlichen Lebensmitteleinkäufe mal angeschaut, und da komme ich auf ganz andere Beträge.« Er hielt inne. »Auf ganz andere.«

Caitlin betrachtete den Kaktus auf dem Schreibtisch der Mediatorin. Patrick hatte es immer geliebt, sie als seine Frau zu bezeichnen; dabei hatte er immer töricht gelächelt, als könnte er sein Glück kaum fassen. Das war allerdings Patrick, der Ritter in der goldenen Rüstung, gewesen – der Einzige, der vor sechs Jahren auf dem windgepeitschten Seitenstreifen der M25 hinter ihrem leblosen Renault angehalten hatte, in dem sie allmählich in Panik geraten war. Joel hatte mit großen Augen in seinem Kindersitz auf der Rückbank gesessen, der Autobahnverkehr war an ihnen vorbeigerauscht und hatte den kleinen Wagen zum Zittern gebracht, und ihr Handy hatte keinen Mucks mehr von sich gegeben. Aber dann hatte Patrick ans Fenster geklopft. Sie hätte Angst haben sollen, aber die offenkundige Sorge, die sich in seinem Gesicht spiegelte, weil eine Frau mit einem kleinen Jungen liegen geblieben war, verlieh Caitlin sofort ein Gefühl der Sicherheit. Patrick marschierte zur Notrufsäule – im Gegensatz zu ihr hatte er die passende Kleidung für dieses Sauwetter – und wartete bei ihnen, bis Hilfe eintraf. Als in der dichten Dunkelheit die Blinklichter der Pannenhilfe aufschienen, reichte sie ihm verlegen die Hand und dankte ihm stumm, und er ließ sie nicht wieder los.

Als er sie nach ein paar Verabredungen zauberhaft altmodisch umwarb und eine Beziehung daraus erwuchs, rettete er Caitlin noch auf ganz andere Weise. Damals war ihr das Leben längst entglitten. Das Haus, die Finanzen, alles. Für Patrick war nichts zu schlimm, um nicht Abhilfe zu schaffen. Kein Schaden in ihrem Haus war so gravierend, dass er ihn nicht behoben hätte. Er hatte eine Abneigung gegen Unordnung und Ungerechtigkeit, schloss eine eigene Restschuldversicherung ab und befreite mit bloßen Händen Spinnen aus dem Badezimmer. Ein moderner Ritter. Und Caitlin – mit ihrem vaterlosen Kind, dem verkorksten Abschluss und dem vollkommenen Mangel an Selbstachtung – ließ sich nur zu gerne retten.

Dieselbe methodische Ruhe kam Folter gleich, seit Patrick ihre Ehe aufgegeben hatte. Während er redete, erschrak Caitlin vor seiner Fähigkeit, alle Ursachen und Fehler auf verschiedene Stapel zu sortieren, damit sich die Mediatorin ein präzises Bild machen konnte. Auf dieselbe Weise hatte er die Einzelteile des ersten Ikea-Schranks ausgebreitet, damit ja keine Schraube oder Unterlegscheibe verloren ging. Ein paar relevante Punkte hier, ein paar rationale Berechnungen dort, hübsch sauber und endgültig. Keine schwammigen Gefühle würden seine Schlussfolgerungen tangieren können.

Das war genau der Unterschied zwischen ihnen, dachte Caitlin, als Patrick seine laserscharfe Aufmerksamkeit auf Steuergutschriften richtete. Sie hatte sich auf ihre Trennung vorbereitet, wie sie vor ihrer Begegnung mit Patrick einen Ikea-Schrank zusammengebaut hatte: Ohne sich groß um Expertenmeinungen zu bekümmern, hatte sie sich direkt hineingestürzt. Schmerz, Frustration und Tränen waren die Folge gewesen. Tränen und Wein und ein stundenlanges Studium von Trennungsratgebern im Internet, die ebenso gut auf Schwedisch hätten geschrieben sein können. Das Schlimmste war das Schuldgefühl, dass sie es geschafft hatte, den kostbaren Sechskantschlüssel zu Patricks Herzen zu verlieren.

Patrick hatte sie einst für die perfekte Frau gehalten. Jetzt konnte er ihr kaum noch in die Augen schauen, und die glückliche, solidarische, sichere Beziehung, nach der sie sich ein Leben lang gesehnt hatte, war dahin.

Caitlin lehnte sich auf ihrem Plastikstuhl zurück. Vielleicht waren Patrick und sie einfach zu verschieden, um es auf lange Sicht miteinander auszuhalten. Und während Patrick und die Mediatorin redeten, freute sich ein Teil ihres Gehirns, dass sie endlich die Spülmaschine einräumen konnte, wie sie es wollte, und dass sie sich eine blonde Strähne ins Haar färben könnte, ohne dass jemand irritiert eine Augenbraue hob. Sie würde schon klarkommen. Sie war ja auch vorher klargekommen. Das eigentliche Problem war, wie man es schaffen konnte, nicht mehr so zerstörerisch in das Leben der beiden verwirrten Zuschauer dieses Dramas einzugreifen, denn das hatte keiner von ihnen verdient.

Joels und Nancys ängstliche Gesichter vertrieben Caitlins heimliche Fantasie, sich eine dezente Tätowierung stechen zu lassen, und sie zuckte zusammen. Andererseits war es für die beiden sicher besser so, als ständig zwischen zwei streitenden Erwachsenen zu stehen, oder?

»Die finanziellen Vereinbarungen müssen wir in dieser Sitzung noch nicht endgültig festlegen«, sagte Andrea, die Mediatorin. Ihre Stimme war angenehm, aber ihre Miene stellte klar, dass sie nichts von der eingeplanten Stunde für Rechthabereien verschwenden wollte. »Höchste Priorität hat es, ein Arrangement für die Kinder zu finden. Wir reden hier über …«, sie schaute auf ihren Zettel, »… Joel, der zehn ist, wie ich sehe, und die vierjährige Nancy.«

»Viereinhalb nächsten Monat«, sagte Caitlin. »Am fünften September wird sie fünf.« Sie schenkte Andrea ein Lächeln. Die sah selbst wie eine Mutter aus und wusste sicher, welcher Teil der Mediation wirklich wichtig war. Nicht das Geld. Nicht die Frage, wer das Auto bekam. »Ich begreife es immer noch nicht ganz, dass sie im September schon in die Schule kommt! Mein kleiner Wildfang.«

»Unser kleiner Wildfang«, sagte Patrick. Caitlin schlug die Beine übereinander, um sich zu bremsen. Klar, sie hätte unser sagen sollen. Patrick ließ sie ständig so auflaufen und witterte Verletzungen, wo gar keine beabsichtigt waren. Andererseits war es ja tatsächlich sie, die den Kindern Essen kochte, ihre originelle, immer wieder neue Sprache verstand, ihre Tränen vorausahnte, ihre Müdigkeit, ihr Lächeln, ihren Hunger. Ihr, Caitlins, Leben war verwoben mit ihrem Schlaf, ihren Läusen, ihren endlosen Fragen und den Stimmungen, die rasend schnell zwischen Liebe und Frust schwanken konnten. Nach ihr reckten sich die Hände der Kinder. Patrick hatte immer mit einem trockenen Lachen erklärt, dass er nur die Person sei, die für die Kinder zahle. Was ihnen beiden ein schlechtes Gefühl eingeflößt hatte.

»Ich möchte mich an der Erziehung beteiligen«, fügte Patrick hinzu. »Für mich ist es wichtig, so viel Kontakt wie möglich zu den Kindern zu haben.«

Caitlin konnte es sich nicht verkneifen, ihm einen schrägen Blick zuzuwerfen. Patrick arbeitete so hart, dass er die Kinder selbst vor der Trennung nur selten zu sehen bekommen hatte. Sie kämpfte gegen die Versuchung an, ihn nach den Namen von Nancys drei Lieblingsteddys zu fragen. Er wusste ja nicht einmal, dass jede Woche ein anderer von den dreien ihr absoluter Lieblingsbär war.

»Was ist?« Patrick schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Caitlin registrierte, dass sich ein paar neue Silbersträhnen in seine Koteletten geschlichen hatten. »Willst du sagen, du möchtest das nicht, dass die Kinder uns beide sehen?«

»Natürlich nicht.« Gott, ging ihr das auf den Wecker. »Warum um alles in der Welt sollte ich das nicht wollen?«

Patricks heimliche Unterstellung hing aber nun in der Luft. Das war ungewöhnlich hinterhältig von ihm. Er mag mich einfach nicht mehr, dachte Caitlin unglücklich. Das passiert, wenn man auf ein Podest gestellt wird – der Absturz ist programmiert.

»Das ist gut, dass Sie sich die Verantwortung teilen wollen.« Andrea nahm einen Stift, um sich Notizen zu machen. »Wie sieht Ihre Wohnsituation im Moment aus? Caitlin, Sie leben noch im Haus der Familie in Bristol?«

Sie nickte. »Ja, es ist mein Haus.«

»Wer ist hier spitzfindig?«, ging Patrick dazwischen. »Es ist unser Haus.«

Caitlin reagierte gar nicht darauf. »Es hat meiner Großmutter gehört, und sie hat es mir vererbt. Ich lebe seit Joels Geburt dort. Patrick ist nach unserer Hochzeit eingezogen. Im Januar ist er wieder ausgezogen. Als er seinen neuen Job angetreten hat.«

»Das ist kein neuer Job, sondern derselbe Job an einem anderen Ort«, erklärte Patrick.

Andrea schrieb etwas auf ihren Block. »Und wo wohnen Sie im Moment, Patrick?«

Ha! Nur zu, dachte Caitlin. Sag’s ihr.

Eine kurze Pause trat ein, als Patrick eine Antwort formulierte, die ihn ins beste Licht rücken sollte. »Ich suche noch nach einer Unterkunft. Meine Firma hat mich zu Beginn des Jahres nach Newcastle versetzt.«

Fünf Montagmorgen war das jetzt her. Caitlin wurde bewusst, dass bald Valentinstag war, und in ihrer Brust klaffte plötzlich ein Loch. Immer mindestens zwölf Rosen und ein paar zärtliche, aufmerksame Zeilen, die er ihr in die Jackentasche oder ins Portemonnaie geschmuggelt hatte. Dieses Jahr würde er es nicht tun. Und auch sonst nie wieder.

»Dreihundert Meilen weit weg«, sagte sie stattdessen, um das schmerzliche Schweigen zu brechen. »Hältst du das für vernünftig, Joel und Nancy jede Woche auf eine solche Reise zu schicken?«

»Hältst du es für vernünftig, deinen Ehemann allein gehen zu lassen, wenn er die Chance bekommt, die Situation für die gesamte Familie zu verbessern? Und das nur, weil du dein Wohnzimmer magst.« Das sagte er in dem Tonfall, der zum Ausdruck brachte, dass ihm allmählich die Geduld ausging. Caitlin ballte innerlich die Fäuste.

Sie drehte sich zu ihm hin, damit er die Wut in ihren Augen sehen konnte, und sagte ruhig: »Da wir schon einmal bei Vernunft sind: Ich halte es nicht für vernünftig, sich am anderen Ende der Welt für einen Job zu bewerben, ohne es der Familie auch nur mitzuteilen.«

»Ich habe mich nicht darum beworben! Ich wurde von der Zentrale dorthin versetzt. Das ist Teil meiner beruflichen Verpflichtungen!« Patrick rang die Hände. »Was sollte ich denn tun? Denen sagen, dass ich nicht gehen kann, weil meine Frau sich mehr für ihren Kamin als für ihren Ehemann interessiert? So läuft das nicht, Caitlin. Man hat nicht immer die Wahl.«

Caitlin biss sich auf die Lippe. Es ging nicht nur um den Kamin, das wusste er. Aber in der Tat ging es auch darum. Der Kamin war der Ort, an dem ihre Großmutter ihre Welt wieder zusammengeflickt hat, als sie nach der Uni in Scherben lag. Dort hat sie ihre beiden Kinder gewiegt und Patrick dabei beobachtet, wie er in Nancys schlafendes Gesicht geschaut hat, überwältigt von der Liebe, die er für dieses Baby empfand. Das brennende Kohlenfeuer vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit und Glück. So wie Patrick es einst getan hatte. In der Tat, sie hatte das Haus nicht verlassen wollen. Es war nicht der eigentliche Grund gewesen, aber es hatte den Ausschlag gegeben. Symbolisch.

Sie wandte sich wieder an Andrea, wild entschlossen, die Ruhe zu bewahren.

»Keine Hypotheken abbezahlen zu müssen ist finanziell von großer Bedeutung für unsere Familie. Die Kinder haben beide ein eigenes Zimmer. Joel besucht eine tolle Schule, wo Nancy im September auch anfangen wird. Gleich nebenan haben wir einen Spielplatz. Und mein Job ist ebenfalls in der Nähe, denn ich arbeite auch, obwohl ich natürlich nicht so viel verdiene wie Patrick. Außerdem …«, Caitlin rang sich dazu durch, die eigentlichen Wahrheiten auszusprechen, auch wenn Patrick sie partout nicht hören wollte, »… hatte ich das Gefühl, dass unsere Beziehung den Umzug nicht überleben würde. Wir haben kaum noch miteinander geredet. Ich wollte die Kinder nicht aus ihrer gewohnten Umgebung reißen, nur um dann wieder mit ihnen zurückzukommen.«

Patrick fixierte sie mit diesem offenen Blick, mit dem er ihr direkt in den Kopf zu schauen schien. Dieser Blick provozierte sie dazu, irgendetwas daherzureden, nur damit er … wegguckte. »Ist das der einzige Grund, warum du Bristol nicht verlassen willst? Sei ehrlich, Caitlin.«

Caitlin schaute ihn verwirrt an. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

Es war nicht das erste Mal, dass Patrick so etwas sagte, aber bei Nachfragen hüllte er sich immer in Schweigen. Sie hatte nachgebohrt, aber er hatte immer abgeblockt, als würde sie schon wissen. Klar, die Dinge waren schon eine Weile etwas schwierig. Welche Eltern mit zu wenig Schlaf, zu wenig Sex und zu viel Arbeit waren nicht unleidlich oder aufbrausend? Aber irgendwie hatten sich diese Schwierigkeiten zu einem eisernen Schweigen verfestigt. Nicht dass sich die Liebe vollständig in Luft aufgelöst hätte. Anfang Dezember hatten sie sich zu Caitlins Geburtstag einen Abend freischaufeln können, und es war, als wäre ihnen beiden wieder eingefallen, warum sie sich ineinander verliebt hatten. Caitlin hatte sich in ihren gepunkteten Tellerrock gequetscht, und Patrick war früh von der Arbeit gekommen und hatte auf dem Weg in die Stadt zum ersten Mal seit Monaten ihre Hand genommen. Als Caitlin sich in einem Schaufenster erblickte, mit den dunklen Korkenzieherlocken und den scharlachroten Lippen, eine Sexbombe in Begleitung eines attraktiven Manns, ging ihr das Herz auf. Und als sie im Pub nach ein paar Ciders eine komödienreife Zusammenfassung von Joels Schulstück ablieferte, lachte Patrick schallend, so wie früher. Zehn Jahre jünger sah er aus. Glücklich. Sie schlenderten nach Hause, ignorierten die Anrufe der Babysitterin, und unter einer Laterne zog sie Patrick an sich und küsste ihn. Gott sei Dank, dachte sie, als er unter ihrer Winterjacke nach ihrer Hüfte griff, alles wird gut.

Aber gleich die nächste Woche war furchtbar. Sie kehrte zu spät von ihrem Zumba-Kurs heim, worauf Patrick immer gereizt reagierte, was Caitlin sofort in die Defensive geraten ließ. Angeblich hatte er Angst, wenn sie im Dunkeln allein draußen war, und sie mochte es nicht, »kontrolliert« zu werden. Joel fing sich Läuse ein, der Wäschetrockner gab den Geist auf – und hatte natürlich keine Garantie, weil sie vergessen hatte, ihn registrieren zu lassen –, und dann rief Patricks Chef wegen des Jobs an. Eine Diskussion entspann sich, zunächst höflich und dann, als Joel und Nancy im Bett waren, ziemlich erhitzt. Schon nachdem sie mit den Kindern zu der Weihnachtsüberraschung nach London gefahren waren, hatten sie sich alle möglichen Dinge an den Kopf geworfen und doch nichts geklärt. Schweigen hatte sich herabgesenkt, schlimmer als jede Streiterei. Auf beiden Seiten hatten die Ressentiments die Oberhand gewonnen. Als Patrick nun wieder darauf zu sprechen kam, wurde Caitlin bewusst, dass er keinen ihrer Gründe verstanden hatte. Oder dass sie ihn einfach nicht interessierten.

Nach Neujahr verkündete Patrick dann, er müsse eine Entscheidung treffen. Caitlin, die gerade mit Joels Schultasche und einem von Nancys Wutanfällen beschäftigt war, forderte ihn auf, er möge doch in erster Linie an seinen Job denken, weil er das ja ohnehin tue. Er warf ihr wieder einen dieser Blicke zu, aber Caitlin wusste immer noch nicht, was sie verbrochen hatte. Außer dass sie nicht die perfekte Frau war, die Patrick in ihr sehen wollte.

Sie wurde von Scham befallen.

»Caitlin?«, hakte Andrea nach. »Sie sehen so aus, als wollten Sie etwas sagen. Über das geteilte Sorgerecht vielleicht?«

Sie versuchte sich darauf zu konzentrieren, was im Moment wichtig war. »Ich möchte nicht, dass Joel und Nancy das Gefühl bekommen, sie seien schuld an der Situation. Wir möchten nicht, dass die Sache sie härter trifft, als es ohnehin schon der Fall ist. Joel hat … Na ja, Joel hat keine Erinnerungen an seinen leiblichen Vater, weil der nie Teil seines Lebens war …« Ihre Stimme verlor sich. Nach zehn Jahren hatte sie immer noch keinen eleganten Weg gefunden, die Sache zu erklären.

Patrick sprang ein. »Joel nennt mich ›Daddy‹, seit er vier ist. Ich hoffe, er betrachtet mich als seinen Vater. Was mich betrifft, habe ich ihn und Nancy immer gleich geliebt. Absolut gleich.«

»Natürlich hast du das.« Innerlich sah Caitlin wieder den Moment auf der dröhnenden Autobahn, als Patrick den weinenden Joel aus seinem Kindersitz hob und in den Pannenhilfewagen setzte. Joels Tränen waren sofort versiegt. Damals hatte sie es sofort gewusst, und Joel auch: Dies war ein guter Mann, und sie waren nicht mehr allein. Dennoch hatte er seine Meinung geändert. Nicht über Joel oder Nancy, sondern über sie, Caitlin. Über ihre Beziehung.

»Mir scheint deutlich zu sein, dass Ihnen beiden viel am Glück Ihrer Kinder liegt.« Andreas Tonfall hatte etwas Versöhnliches. »Das ist schon einmal ein guter Anfang. Lassen Sie uns also einen Weg für die Wochenenden finden. Gibt es Großeltern, die sich vorstellen könnten, den Kontakt zu ermöglichen?«

»Leider nein. Mein Vater ist gestorben, als ich noch ganz klein war, und meine Mutter ist in einem Pflegeheim.« Der verletzliche Patrick war verschwunden, jetzt war er wieder ganz der Manager. Caitlin griff zu ihrem kalten Kaffee und wünschte, es wäre Wein.

Zu Hause werde ich mir ein Glas richtig guten eiskalten Wein einschenken, dachte sie. Bei dem Gedanken lief ihr die Spucke im Mund zusammen. Sobald Joel im Bett war. Jetzt würde beim Anblick der Flasche auch niemand mehr demonstrativ seufzen.

»Caitlin?«

»Meine Eltern wohnen in die andere Richtung, in London.«

»Okay.« Andrea wandte sich wieder an Patrick. »Gibt es andere Verwandte? Tanten, Onkel? Paten vielleicht? Freunde der Familie?«

Überrascht vernahm Caitlin, dass Patrick sich räusperte. »Ich wollte soeben meine Schwester ins Spiel bringen«, sagte er. »Sie lebt in Longhampton. Das ist für eine Wochenendreise nicht zu weit. Nur siebzig Meilen.«

»Eva?« Das hatte dramatischer geklungen, als beabsichtigt, aber sei’s drum. Eva?

»Ja, Eva.« Patrick wirkte überrascht. »Was soll die Reaktion?«

»Die arme Frau ist soeben Witwe geworden!« Patrick konnte erstaunlich blind sein, wenn es um die emotionalen Bedürfnisse von Menschen ging. »Meinst du wirklich, dass es für einen der Beteiligten hilfreich ist, wenn wir Joel und Nancy zu einer trauernden Frau schicken?«

»Es ist zwei Jahre her, dass Mick gestorben ist«, erklärte Patrick entschieden. »Und sie ist nicht der Typ, der den Rest des Lebens Schwarz trägt und nicht mehr das Haus verlässt.«

»Woher willst du das wissen? Wir sehen sie doch nie.« Zwei Jahre schon, Wahnsinn. Sie hatten Eva zum letzten Mal bei der Beerdigung gesehen. Caitlin hatte sich fest vorgenommen, ihre Schwägerin regelmäßiger anzurufen, aber dann waren die Monate mit Haushaltspflichten, Verabredungen zum Spielen und banalen Familienangelegenheiten verstrichen. Außerdem war Eva oft im Urlaub. Und es kam hinzu, dass sie nicht die Person war, mit der Caitlin leicht ins Gespräch kam. Eva war alles, was sie nicht war. Sie hatte ein eigenes Unternehmen, verkehrte mit Prominenten und hatte zwei Hunde, aber keine Kinder, und das schien ihr auch zu gefallen. Caitlin wusste nie, worüber sie mit Eva reden sollte, weshalb sich ihre Gespräche immer auf einen höflichen Austausch über das Wetter beschränkten.

Und dann das umwerfende Haus. Selbst jetzt fühlte sich Caitlin schlampig, wenn sie daran dachte. »Eva ist nicht wirklich auf Kinder eingestellt, oder? Ihr ganzes Haus ist weiß. Weiße Sofas, weiße Teppiche, weiße … Überall Weiß.«

Und Glas. Glas, so weit das Auge reichte, alles blank poliert. Wunderschön, aber nicht gerade ideal für zwei Temperamentsbolzen.

»Ich sehe nicht, was Teppiche mit der Sache zu tun haben sollen.« Patrick schüttelte den Kopf, als redete sie dummes Zeug. »Sie ist die Tante der Kinder. Sie gehört zur Familie. Ich bin mir sicher, dass sie uns gerne hilft.«

»Hast du sie denn überhaupt schon gefragt?«, hakte Caitlin nach.

Patricks Blick flackerte. »Ja.«

»Nein, hast du nicht.«

»Okay, gut«, ging Andrea dazwischen. »Wir sollten keine festen Vereinbarungen treffen, solange wir nicht wissen, ob sie funktionieren.«

»Meine Schwester ist uns eine große Hilfe in dieser Zeit, die für alle Beteiligten sehr schmerzhaft ist«, sagte Patrick. Caitlin wusste, dass er hohle Phrasen wie diese im Schlaf aus dem Ärmel schütteln konnte. Es würde sie nicht überraschen, wenn er seit dem weihnachtlichen Pflichtanruf nicht mehr mit Eva gesprochen hätte.

Dann kam ihr noch ein Gedanke. »Was ist mit Evas Hunden?«

»Was soll mit denen sein?« Patrick schaute sie an.

»Wenn sie nicht an Kinder gewöhnt sind, könnten sie ihr Territorium verteidigen wollen. Man liest schreckliche Dinge darüber, dass Hunde, die Kinder nicht gewohnt sind, plötzlich ganz tückisch werden. Selbst liebe Hunde.« Ein Jack Russell Terrier, der angeblich niemandem etwas tat, hatte ihr als Kind mal ein Stück Fleisch aus der Wade gerissen. Um liebe Hunde machte sie seither einen großen Bogen. Die Vorstellung, dass Joel die wenig begeisterten Hunde in ein improvisiertes Musical einband oder Nancy sie zu fest knuddelte, wie sie es von ihren Stofftieren gewohnt war, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

»Was für Hunde hat Ihre Schwester denn?«, fragte Andrea ruhig.

»Möpse, ziemlich fette sogar. Jedenfalls keine wilden Rottweiler. Vermutlich haben sie mehr Angst vor Joel als andersherum.«

»Warum musst du meine Bedenken immer kleinreden?«, fragte Caitlin.

»Das tu ich doch gar nicht. Ich verstehe nur nicht, wieso du dich auf die unwesentlichen Dinge versteifst und die wichtigen Themen lieber aussparst. Wo ist das Problem, wenn die Kinder bei Eva sind?« Wieder dieser Blick. Dieser anklagende, verletzte Blick.

Sie schüttelte den Kopf und verstummte resigniert. Es gab keinen Grund außer: Ich will nicht, dass du mir meine Kinder wegnimmst.

Patricks Mund war zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Außerdem hast du dann endlich mal ein freies Wochenende. Hast du dir das nicht immer gewünscht? Ständig jammerst du, dass du keine Zeit für dich hast. Keinen Raum. Dir ist selbst nicht klar, was du willst.«

Oh, jetzt weiß ich wieder, warum wir uns scheiden lassen, dachte Caitlin mit geballten Fäusten. Jetzt weiß ich es wieder.

Andrea schob eine Schachtel Taschentücher über den Tisch. Caitlin wurde klar, dass sie aussah, als wäre sie den Tränen nah. »Vielleicht könnten Sie ihr zusammen mit den Kindern einen Besuch abstatten, Caitlin, noch vor dem ersten Kontaktwochenende? Das würde die Situation für Joel und Nancy etwas normaler erscheinen lassen. Und Sie könnten sich ein klares Bild davon machen, was für Vereinbarungen zu treffen wären.«

»Ich sollte aber auch dabei sein«, erklärte Patrick.

»Natürlich.« Andrea wirkte plötzlich ausgelaugt. Wie anstrengend, dachte Caitlin, wenn man es ständig mit Erwachsenen zu tun hat, die sich wie Kleinkinder um das größte Stück Kuchen zanken, Stunde um Stunde um Stunde. »Es ist sehr wichtig, dass der Besuch für Nancy und Joel eine positive, ermutigende Erfahrung ist.«

»Könntest du damit leben?« Patrick schaute sie an, eine Augenbraue hochgezogen. So schienen alle Gespräche mit ihm zu enden: als würde man von einem Zug mitgerissen, in den man ursprünglich einsteigen wollte. Wann hat er sich so verändert?, fragte sie sich. Würde dieser neue Mensch ein weinendes Kleinkind aus einem defekten Wagen heben? Würde er zur ersten Verabredung außer Tulpen auch noch ein Starthilfekabel, ein Kännchen Öl und ein Warndreieck mitbringen?

Andrea beobachtete sie. Caitlin riss sich zusammen. Es war noch gar nicht ausgemacht, dass Eva zustimmte. Vermutlich würde sie es gar nicht wollen, dass Joel und Nancy ihr makelloses Haus mit den weißen Teppichen auf den Kopf stellten. Vielleicht wohnte sie ja nicht einmal mehr dort. Nicht ausgeschlossen, dass sie in Micks Ferienhaus lebte, wo auch immer das war – Provence oder Saint Tropez oder egal wo. Irgendwo jedenfalls, wo man Leinenklamotten trug, Gin Tonic trank und Cliff Richard kannte.

»Gut«, sagte sie. »Ruf Eva an und frag, ob wir sie an einem der nächsten Wochenenden besuchen können.«

»Das tu ich gleich heute Nachmittag«, sagte Patrick. »Dann kommen wir wenigstens weiter.«

»Wunderbar!« Andrea klang erleichtert. »Dann haben wir ja ein positives Ergebnis, das wir aus der heutigen Sitzung mitnehmen können. Gut gemacht, alle beide.«

»Haben wir noch Zeit, über eine der Fragen zu reden, die ich zum monatlichen Budget habe?«, fragte Patrick. »Wo ich schon einmal hier bin?«

Caitlin schaute auf die Uhr. Ihnen blieben noch fünf Minuten. Ihr kam es vor, als säßen sie schon Stunden hier.

»Nein«, sagte Andrea bestimmt. »Lassen Sie uns mit einem Lichtblick aufhören.«

Kapitel 2

Trotz seiner Herkunft aus einer Bergarbeiterfamilie und seinem Verzicht auf überkandidelte Pflegeprodukte hatte Michael Quinn – Hollywoodschauspieler, TV-Star und Berühmtheit aus Yorkshire – seine Kleidung geliebt. Eva stand vor dem Kleiderschrank, der sich über die gesamte Breite des extra für Mick eingerichteten Ankleidezimmers zog, hob die Hand und ließ sie wieder sinken. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie konnte es einfach nur nicht übers Herz bringen.

Seit Monaten schob sie es nun vor sich her, Micks persönliche Gegenstände zu entsorgen. Sobald sich die hölzernen Bügel bewegten und ein Hauch des vertrauten Rasierwassers aufstieg, dachte Eva, er stehe hinter ihr und sei die ganze Zeit nur in einem anderen Raum gewesen. Micks Kleidungsstücke waren er selbst, sein Leben ausgebreitet in bunten Kapiteln: die Cordhosen und Freizeithemden, die sie selbst noch gekauft hatte, dann die Designerjacketts aus den Glanzzeiten vor ihrer Hochzeit und schließlich, ganz hinten, die seidenen und samtenen Paisleymuster aus längst vergangenen Tagen, als Mick um drei Uhr nachts aus Kneipen in Soho getorkelt und sie selbst … nun ja, noch ein Baby gewesen war. Mit diesen Sachen hatte Eva begonnen, weil sie ihr nichts bedeuteten, aber in den Taschen steckten lauter Fragen, auf die sie nie eine Antwort bekommen würde: vereinzelte Münzen, Streichhölzer aus einem Jazzclub, Papierschnipsel mit Nummern mit Londoner Vorwahl, verblichene Taxiquittungen. Evas Herz schnürte sich zusammen, weil sie niemals würde fragen können, wo dieser Club lag und mit wem er dorthin gegangen war und von wem die Nummer stammte und von wem die Visitenkarte. Sieben Jahre hatten nicht gereicht, um auch nur an der Oberfläche anekdotenwürdiger Dekaden zu kratzen. Es war eine quälende Vorstellung, dass vollkommen fremde Menschen Erinnerungen an Mick hatten, von denen sie nie erfahren würde.

Sie legte die Stirn an den Kleiderschrank und sog Micks Geruch ein. Keine glorreiche zweite Chance auf ein gemeinsames Leben, wie sie beide gehofft hatten, nur ein kurzes, glückliches Zwischenspiel. Eva wachte nicht länger mit Tränen in den Augen auf, und es konnten ganze Tage vergehen, ohne dass sie sich vollkommen leer fühlte. Aber diese letzte Aufgabe ließ alles wieder hochkommen. Wer sollte es allerdings sonst tun? So viel Ruhm er auch genossen hatte, außer ihr hatte er keine Familie, nur zwei Exfrauen und einen Sohn, den er zehn Jahre nicht gesehen hatte. Dies war ihr Zuhause, ob mit oder ohne ihn. Das Letzte, was Mick zu ihr gesagt hatte – was er zu jedem gesagt hatte, bevor er die verschmitzten blassblauen Augen geschlossen hatte –, war der Satz: Vergiss nicht zu leben, nur weil ich nicht mehr bin, mein Schatz.

Er hatte leicht reden.

Eva hob energisch den Kopf und erschrak, als sie die Frau mittleren Alters in der Spiegeltür erblickte. Mick hatte sie »natürlich« gemocht, und bei ihrem kindlichen Aussehen hatte sie sich in den letzten zehn Jahren sowieso nicht großartig schminken müssen. Seit ihrem letzten Geburtstag machte sie allerdings einen großen Bogen um Spiegel. Sie sah so müde aus, wie sie sich fühlte. Eva betrachtete sich kritisch. Die Trauer hatte ihr schmales Gesicht kantig werden lassen, ihre Wangenknochen ausgehöhlt und ihre lange Nase betont. In ihrem braunen Haar waren weiße Fäden zu sehen, und zwischen ihren Augen hatte sich eine tiefe Sorgenfalte eingegraben, wie bei ihrem Vater. Nur ihre Augen waren wie immer. Augen wie das Meer, hatte Mick immer gesagt: sehr veränderlich – manchmal von einem mediterranen Blaugrün, manchmal aber auch, wenn sie sich ärgerte, von einem kalten Nordseegrau.

Eva schob den Pony zu einer Seite, dann zur anderen, um zu sehen, ob das etwas half. Die Sorgenfalte verschwand, dafür hatte sie plötzlich irritierende Ähnlichkeit mit ihrer Mutter.

Auf der Holztreppe war ein Tapsen zu hören. Am schnellen Rhythmus erkannte Eva, dass es Bumble war, der sich auf die Suche nach ihr gemacht hatte. Die beiden Möpse waren nach dem Morgenspaziergang in der Küche eingeschlafen. Bee, die dicke, prächtige, dominante Schwester würde bis zum Lunch schlafen, während Bumble immer mal nach seinem verbliebenen Menschen schauen musste. Es war schön, gebraucht zu werden, aber das einzige Objekt der Liebe eines Hundes zu sein hatte doch etwas Einengendes.

»Hallo, Bumble«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.

Der kleine Mops kam schlitternd zum Stehen, ließ sich mit einem Plumpsen und einem Schnaufen nieder und musterte sie aus seinen Grübelfalten, die er schon als Welpe gehabt hatte. Im Gegensatz zu ihm litt Bee unter keinerlei Urängsten; sie war überzeugt davon, dass man sie liebte. Daran konnte man die beiden nahezu identischen hellen Möpse unterscheiden, wie Eva den Leuten immer erklärte: »Sieht er sorgenvoll aus? Bumble. Versucht er dir auf den Schoß zu springen? Bee.«

Eva nahm zwei scheußliche Miami-Vice-Jacketts von der Stange – bei den diesjährigen Proms dürften zwei Teenager aus Longhampton Furore machen, Mick sei’s gedankt – und fasste in die Taschen, um nach verirrten Erinnerungsstücken zu suchen. Nichts. Gut.

»Was meinst du?«, fragte sie, als sie die Jacketts zusammenlegte. »Sollen wir Micks Hochzeitsanzug zu dem Secondhandladen bringen, wo wir uns kennengelernt haben?« Eva nannte Mick nie Daddy, wenn sie mit den Hunden sprach, obwohl Mick sie vor den Hunden immer jovial als »Mum« tituliert hatte. »Wäre das nicht eine schöne ironische Wendung? Vermutlich werde ich keinen Promi dort treffen, aber man weiß ja nie.«

Bumbles Falten glätteten sich zu einem Lächeln, als er ihre Stimme hörte, und er ließ seine rosa Zunge heraushängen. Wie Bee liebte er es, wenn man mit ihm sprach. Mick hatte die willigen Möpse immer als Bauchrednerpuppen benutzt, sodass es seit seinem Tod in ihrer Welt still geworden war. Noch Wochen nach der Beerdigung haben Bumble und, was noch rührender war, die unabhängige Bee überall nach ihm gesucht, mit zuckenden Ohren, weil sie auf die Stimme lauschten, die unentwegt mit ihnen geredet hatte. Eva konnte ihre Verwirrung kaum ertragen, wenn sie ihre weichen Köpfe zur Seite neigten, um wenigstens ihre Stimme zu vernehmen, als wären sie plötzlich taub geworden.

»Vielleicht sollten wir mit den Sachen beginnen, mit denen ich nichts verbinde«, sagte sie und war sich der Stille bewusst, in der Mick dem Mops eine schwermütige Meinung ins Maul gelegt hätte. Schnell stopfte sie zwei Seidenhemden in den Koffer, dann einen Kummerbund, zwei rote Fliegen und einen Seidenschal.

Mick hatte das mit einer solchen Natürlichkeit getan, dass Eva manchmal fast vergessen hatte, dass Hunde eigentlich nicht reden konnten. Bumble hatte einen gekünstelten nordenglischen Dialekt, der manchmal ein wenig an Alan Bennett erinnerte; Bee hingegen sprach wie eine Hausfrau aus Birmingham, die im Lotto gewonnen hatte. Micks Hundeimprovisation auf einer ihrer Weihnachtsfeiern hatte ihm das Voice-over für Barney the Baker eingebracht, den verschmitzten Bäcker aus dem Black Country. Es war sein letztes Engagement gewesen, das ihm allein durch die Beteiligung an den Wiederholungen mehr eingebracht hatte als seine gesamte Hollywood-Karriere. »Alles mir zu verdanken«, hatte Bee den Besuchern oft »erzählt«. »Ich sorge dafür, dass Daddys Pension gesichert ist.«

Eva stand reglos da, einen Smoking mit Paisleymuster in der Hand. Zum letzten Mal hatte er ihn getragen, als er einen Preis für die beste Kinderunterhaltungsserie entgegengenommen hatte. »Das verdanke ich alles zwei Möpsen und einer IT-Göttin in flachen Schuhen«, hatte er gesagt und Eva, die an einem Promitisch gesessen hatte, eine Kusshand zugeworfen. Am Jackett befand sich noch der Wachsfleck vom Clubbesuch hinterher, und plötzlich explodierten die Erinnerungen wie ein Blitzlicht in Evas Kopf, grell und fast ein wenig surreal.

Bumble knurrte und ließ sich auf den Läufer sinken, die Augen immer noch auf ihr Gesicht gerichtet.

»Entschuldigung, Bumble«, sagte sie, vor allem damit er ihre Stimme hörte, und kam sich selbst albern vor. »Ich mag es auch nicht, wenn es so still ist.«

Ohne Micks heiseres Lachen, seine musikalischen Einlagen, seine ständig wechselnden Stimmungen, seine ständigen Rufe nach ihr – Eva? Eeeeva? – fühlte sich das Haus leer an. Das Holz absorbierte jedes Geräusch und ließ die Atmosphäre verflachen. Sie versuchte, so viel mit den Hunden zu reden, wie Mick es getan hatte, auch wenn sie keine Stimmen nachahmte. Im Prinzip saßen sie alle drei im selben Boot: ohne ihr Herrchen und ein bisschen verloren im eigenen Haus.

Sie stopfte zwei scheußliche Westen in die Tüte für den Secondhandladen. Den Mick, der die Dinger ausgesucht hatte, kannte Eva nicht. Vielleicht hatten auch Cheryl oder Una sie gekauft. »Ich weiß, dass es langweilig ist, wenn nur ich da bin.«

Im Schlafzimmer nebenan klingelte das Telefon, und die Ohren des Mopses zuckten hoffnungsvoll. Nur drei Personen riefen auf Evas Festnetz an: Roger, Micks bester Freund, der viele Jahre auch sein Anwalt gewesen war; dann Kim, Micks Agentin, die immer noch versuchte, Eva für ein Interview über ihr Leben mit Michael Quinn zu gewinnen; und ihre Freundin Anna, die den Buchladen in der Stadt betrieb. Anna war der netteste Mensch, den Eva je kennengelernt hatte – und das in einer Stadt, in der selbst die Sprechstundenhilfen des Tierarztes den Möpsen eine Kondolenzkarte geschickt hatten. Weihnachten hatte sie eine vorsichtige Kampagne gestartet, Eva ins Leben zurückzuholen. An manchen Tagen war sie dafür empfänglicher als an anderen.

Das Klingeln hörte auf, nur um gleich wieder einzusetzen. Eva seufzte und ging zum Schlafzimmer, dicht gefolgt von Bumble. Das Telefon stand auf Micks Bettseite, die näher an der Tür lag, neben einer Silberschale mit Manschettenknöpfen. Noch etwas, das sie nicht wegräumen konnte.

Ihre Schultern strafften sich, als sie den Hörer abnahm.

»Hallo?« Kein Name, keine Nummer – die Regeln der Privatheit. Der Albtraum nach Micks Tod, als ständig Reporter und irgendwelche »Freunde« angerufen hatten, hatte Eva noch misstrauischer gestimmt, als sie es ohnehin schon war.

Mit der Stimme, die jetzt am anderen Ende der Leitung erklang, hätte sie nicht gerechnet.

»Eva, hier ist Patrick.«

»Paddy! Hallo!« Eva konnte ihre Überraschung kaum verbergen. Ihr Bruder hatte schon viele Wochen nicht mehr angerufen. Aber sie hatte es natürlich auch nicht getan. »Rufst du aus dem Auto an?«

»Klar.« Patrick rief immer aus dem Auto an. Er war der Vertriebsleiter einer Supermarktkette für Tierbedarf und verbrachte sein Leben damit, von einem Ende des Landes zum anderen zu jagen, um die verschiedensten Probleme rund ums Meerschweinchen zu beheben. Bei seinen seltenen Anrufen, in denen es meist um ihre Mutter ging, die in einem Pflegeheim in der Nähe ihres Geburtsorts in Berkshire vor sich hindämmerte, hatte Eva immer das Gefühl, dass er die Zeit auf der Autobahn noch effizienter nutzen wollte. »Ich bin gerade auf dem Heimweg.«

»Wäre es dann nicht besser, du würdest mich von zu Hause aus anrufen? Dann könntest du dich auf das Gespräch konzentrieren statt auf die M40.«

»Ich bin nicht auf der M40, ich bin auf der M1. Außerdem bin ich nicht …« Er zögerte. »Ich fahre nicht nach Bristol.«

»Was?« Eva war im Schlafzimmer herumgewandert, aber irgendetwas in seiner Stimme veranlasste sie dazu, sich auf den Hocker vor dem Ankleidetisch sinken zu lassen. Bumble legte sich ebenfalls hin, ängstlich gespannt. »Ist alles in Ordnung?«

»Nicht wirklich. Caitlin und ich haben uns getrennt. Ich ziehe nach Newcastle. Na ja, streng genommen bin ich bereits nach Newcastle gezogen.«

»Wie bitte? Wann?« Eva stand auf und setzte sich sofort wieder, so schockiert war sie.

»Kurz nach Neujahr. Vor ein paar Wochen.«

»O Gott, das tut mir ja leid. Was kam denn zuerst? Der Job oder die Trennung?«

Patrick seufzte. »Der Job. Na ja, eigentlich nicht. Der Job war der Anlass für die Trennung, aber es hatte sich schon eine Weile angebahnt. Um es kurz zu machen, der Vertriebsleiter für den Norden ist gegangen, und ich muss die Region noch zusätzlich übernehmen, bis man einen Ersatz gefunden hat. Von Bristol aus kann ich das nicht leisten, daher hat der Vorstand angeboten, mich zu versetzen. Und mir einen dicken Bonus versprochen, falls ich das Verkaufsziel erreiche. Ehrlich gesagt hatte ich das für eine große Chance gehalten. Neues Haus, mehr Geld, frischer Start – etwas, das wir uns gemeinsam aufbauen würden. Aber Cait hat sich rundheraus geweigert mitzuziehen. Wir haben uns gestritten, und dann … kam lauter unschönes Zeug zum Vorschein. Wir waren beide nicht mehr glücklich. Wie ich schon sagte, der Job war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«

Eva war sprachlos. Das ergab alles keinen Sinn. Sie hätte immer gedacht, dass Patrick der Typ war, der eine Ehe fürs Leben einging. Er vergötterte Caitlin. Seine Hochzeitsrede, in der er ihr ganz entzückend dafür gedankt hatte, dass sie sein schwarz-weißes Leben in Farbe getaucht habe, weshalb er gleich mit roten Socken beginne, hatte alle zu Tränen gerührt. »Ich dachte immer, ihr lebt im siebten Himmel.«

»Offenbar nicht. Caitlin war offenbar …« Er klang verletzt. »Ach, ich möchte nicht darüber reden. Was passiert ist, ist passiert. Das Wichtigste ist, dass wir die Sache so zivilisiert wie möglich hinter uns bringen.«

Also gab es doch etwas. Armer Patrick, dachte Eva entsetzt. Na ja, arme Caitlin natürlich auch. Alle waren arm dran.

Eva hatte nie ganz verstanden, wie ihr gewissenhafter, logisch denkender Bruder an einen solchen Wirbelwind wie Caitlin geraten konnte, mit ihren Doc Martens und den violetten Strumpfhosen und den Bändern, die wie die Tentakel einer Qualle hinter ihr herflatterten. Insgeheim dachte Eva, dass die vierjährige Nancy erwachsener angezogen war als ihre Mutter, aber das hatte sie natürlich nie laut gesagt. Was nicht heißen sollte, dass sie Caitlin nicht mochte. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen sie sich begegnet waren, war Caitlin herzlich und freundlich und auf eine leicht anstrengende Weise auch lustig gewesen. Und Patrick hatte sie geliebt. Patrick traf Entscheidungen mit Bedacht und lag selten falsch. Caitlins funkensprühende Spontaneität musste in seiner Seele etwas ausgelöst haben.

So ist die Liebe eben. Sie schlägt zu, wenn du am wenigsten damit rechnest. Sie selbst war das beste Beispiel dafür.

Eva fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Paddy. Es tut mir so leid. Warum hast du mir das nicht eher erzählt?«

»Du hast doch selbst genug Probleme, da wollte ich nicht auch noch ankommen.«

»Hier geht es nicht um ein Problem. Hier geht es um … dich.« Leider standen Patrick und sie sich nicht sehr nahe. Der Zusammenhalt in ihrer Familie war nie sehr eng gewesen, obwohl Eva in ihrer Kindheit viel auf Patrick aufgepasst hatte. Monate konnten verstreichen, ehe sie ihren Bruder zu Gesicht bekam, dabei wohnte er nicht sehr weit weg. Er schien keinen großen Wert darauf zu legen. Gelegentlich telefonierten sie, wenn Patrick auf der Autobahn mal Kapazitäten frei hatte. »Wie kommen die Kinder damit zurecht?«

»Wir haben ihnen gesagt, dass ich jetzt einen Job im Norden habe und für eine Weile dort arbeiten werde.«

»Und das stecken sie einfach so weg?«, fragte sie ungläubig.

»Ich würde bezweifeln, dass sie überhaupt merken, dass ich nicht mehr da bin.« Für einen kurzen Moment war ihm das gebrochene Herz anzuhören. »Und Caitlin freut sich vermutlich, dass sie die Kinder nun einfach ins Bett stecken kann, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil sie nicht auf mich wartet.«

»O Paddy«, sagte sie. »Das tut mir so leid. Bist du sicher, dass …«

»Red gar nicht erst weiter. Es ist vorbei.« Dann stieß er einen Seufzer aus, der die Plattitüden, die Eva gerade von sich geben wollte, im Keim erstickte. Diesen gestaltlosen Schmerz kannte sie nur zu gut. Die Verzweiflung war zu groß, um sie in Phrasen zu fassen.

In der plötzlichen Stille hörte Eva, wie die herrische Frauenstimme des Navigationsgeräts das Kommando übernahm. Einen Moment lang tat er ihr entsetzlich leid, weil er von einer körperlosen Stimme durchs Land gehetzt wurde, um Krisen zu bewältigen. Andererseits liebte Patrick Zeitpläne. Schon als kleiner Junge hatte er Listen angefertigt. Das hatte er von ihrer Mutter, die ihr Effizienzstreben wiederum ihrem Mann verdankte, der streng auf häusliche Ordnung geachtet hatte.

»Und was geschieht jetzt?« Patrick brauchte praktische Hilfe, kein Mitleid. »Habt ihr darüber gesprochen, wann du die Kinder siehst?«

»Das ist genau der Punkt. Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

»Was auch immer du willst. Brauchst du einen guten Anwalt? Roger hat nichts mit Scheidungen zu tun, aber er kennt sicher einen großartigen …«

»Nein! Wir wollen Anwälte aus der Sache raushalten.« Patrick klang fast beleidigt. »Im Moment lassen wir uns von einer Mediatorin begleiten. Ich möchte die Kinder so oft wie möglich sehen, aber meine neue Arbeitsstelle ist viel zu weit weg, um sich am Wochenende dort zu treffen. Daher habe ich mich gefragt, ob ich mit Nancy und Joel nicht zu dir kommen kann.«

Sie runzelte die Stirn. »Nach Longhampton?«

»Nach Longhampton, klar. Es sei denn, du hast noch ein geheimes Immobilienportfolio, von dem du mir nichts erzählt hast.«

Das sollte ein Witz sein, aber Eva war nicht darauf vorbereitet, was die Frage in ihr auslöste. Sie hatte erwartet, dass er sie bitten würde, einen Anwalt zu bezahlen oder ihm ein Darlehen für ein Haus zu gewähren. Patrick arbeitete hart, aber so viel verdiente er auch nicht. Aber so etwas … Andere Leute in Micks Haus.

Nicht nur andere Leute, sondern auch noch Kinder. Schreiende, unberechenbare Energiebündel, die den ruhigen Alltag stören würden, in dem sie sich mit ihren Möpsen eingerichtet hatte. Bei der Vorstellung, dass sich daran etwas ändern sollte, zog sich Evas Magen zusammen. Joel und Nancy gehörten zur Familie, hatten dasselbe Blut, dieselben Eigenschaften, dieselben Marotten (nein, korrigierte sie sich, das galt nur für Nancy, aber das machte auch keinen großen Unterschied), aber sie kannte sie kaum und die Kinder sie ebenfalls nicht. Das ganze Experiment wäre von vornherein belastet, weil die Kinder unglücklich waren und Patrick ebenfalls und sie selbst sowieso.

Nein, nein, nein, nein.

Bumble schaute vom Teppich hoch und wirkte plötzlich doppelt verängstigt, weil Eva eine solche Anspannung ausstrahlte.

»Es wäre auch nur jedes zweite Wochenende«, fuhr Patrick fort. »Und für dich wäre es eine gute Gelegenheit, die beiden besser kennenzulernen.« Letzteres hatte er mit einer derart munteren Stimme hervorgebracht, dass sie unwillkürlich auf den Hörer starrte. Hatte da eine Unterstellung mitgeschwungen, dass sie sich mehr um die Kinder hätte bemühen müssen? Es war ja nicht so, dass sie nicht regelmäßig zu Geburtstagen, Weihnachten und anderen Festen Geschenke schicken würde – Dinge, die sie sich aus dem Internet heraussuchte, weil sich weder Patrick noch Caitlin dazu bemüßigt fühlten, ihr Tipps zu geben.

»Und für die Kinder wäre es eine Gelegenheit, dich besser kennenzulernen«, fügte er einen Moment zu spät hinzu.

»Was sagt Caitlin dazu?«, fragte sie nachsichtig.

»Caitlin hält das für eine tolle Idee. Du bist schließlich die Tante. Und du hast ein so schönes Haus und einen so wunderbaren Garten. Viel Platz zum Rumtollen.«

»Du weißt doch gar nicht, wie mein Haus ist, Patrick. Du bist doch fast nie hier. Woher weißt du, dass nicht überall Ritualmesser herumliegen.« Eva bemühte sich um einen entspannten Tonfall. Eltern pflegten ihr immer bewusst zu machen, was für Gefahren in ihrem Haus lauerten: heißer Tee, achtlos abgelegte Plastiktüten, Schimpfwörter. Selbst als sie Micks Patenkind ihren Schlüsselbund zum Spielen gegeben hatte, hatte die Mutter nervös gekichert und ihn dem Kleinkind schnell wieder weggenommen, »bevor er sich noch etwas tut«.

Patrick hingegen schien unbesorgt. »Als ich das letzte Mal da war, habe ich keine Ritualmesser gesehen.«

»Nein? Sie lagen auf dem Glastisch, direkt neben Micks Luftgewehr.«

»Haha, sehr witzig.«

Eva schob ein Foto von Micks Eltern von einer Seite des Ankleidetischs auf die andere und kämpfte mit dem hartnäckigen Widerstand, der sich in ihr formte. Das Gefühl gefiel ihr selbst nicht, aber sie konnte auch nichts dagegen tun.

Dann fiel ihr Blick wieder in den Spiegel. Ihr Gesicht war starr, wie das von Dad. Bei dem vertrauten Anblick wurde ihr eiskalt.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Wenn es dir hilft, die Dinge zu regeln, könnt ihr gerne kommen. Habt ihr schon ein paar Daten im Sinn?«

Die Erleichterung in Patricks Stimme war nicht zu überhören. »Caitlin dachte, dass wir vielleicht alle zusammen an einem der nächsten Wochenenden kommen könnten, sozusagen zur Probe. Übernächstes Wochenende vielleicht? Wann auch immer es dir passt.« Er hielt inne. »Ich wäre dir wirklich sehr dankbar dafür, Eva. Ich … ich vermisse die Kinder sehr.«

Das Zögern ging Eva nahe. Wenn sie sich im selben Raum befinden würden, hätte er sich nie zu einer solchen Gefühlsbekundung hinreißen lassen.

»Wie war es eigentlich in Monaco?« Er klang ziemlich aufgekratzt, nachdem er sein Anliegen erfolgreich vorgetragen hatte.

»Monaco?« Eva musste erst nachdenken. Sie hatte sich vor einem Weihnachtsfest bei den Reardons gedrückt, indem sie vorgeschoben hatte, dass sie bei einem alten Freund von Mick in Monaco sei. Und Micks alten Freunden hatte sie erzählt, dass sie bei Patrick sei. Eva wollte weder der trauernde Geist vergangener Weihnachtsfeiern sein noch die sonderbare Tante, die in die fröhliche Familienfeier platzte. Daher hatte sie Weihnachten mit Bumble und Bee vor dem Fernseher verbracht, Dokumentarfilme über Archäologie gesehen und Baileys getrunken. So schlecht war das gar nicht gewesen.

»Sehr nett, danke.« Das stimmte sogar. Monaco war sehr nett – bei den drei Malen, die sie dort gewesen war, hatte es ihr sehr gut gefallen.

Jetzt werde ich vermutlich nie mehr nach Monaco fahren, dachte sie und fühlte sich ein wenig sonderbar, als wäre sie nie dort gewesen. Viele Erinnerungen an ihre Ehe fühlten sich nun so an: als hätte sie jemand anders erlebt.

»Du hättest gerne zu uns kommen können«, sagte Patrick. »Wir reichen keine Cocktails vor dem Essen, aber du bist immer willkommen.«

Bumble rollte sich auf den Rücken und reckte ihr seinen makellosen Bauch entgegen. Eva beugte sich über ihn, um ihn zu kraulen. »Klingt allerdings so, Patrick, als hättet ihr auch so schon genug Trubel gehabt.«

»Das stimmt. Aber wir haben an dich gedacht.«

»Danke.«

»Und die Kinder haben sich sehr über deine Geschenke gefreut.«

»Super!« Eva versuchte sich daran zu erinnern, was sie ihnen geschickt hatte. Andererseits war ihr klar, dass Patrick es auch nicht wusste.

Ein Piepton in der Leitung signalisierte einen Anruf, und Patrick kehrte sofort wieder in den Arbeitsmodus zurück.

»Eva, das ist der Sunderland Store«, sagte er. »Ich muss Schluss machen, tut mir leid. Ich arbeite wie wahnsinnig, um das Chaos zu bereinigen, das Jenny Scholes hinterlassen hat.«

»Wahnsinniger als sonst?«

»Wahnsinnig selbst für meine Begriffe.« Er klang müde. »Aber ich habe keine Wahl. Du weißt doch, wie das ist. Der Chef trifft seine Entscheidung auf Basis abstrakter Zahlen, und man selbst bekommt es dann mit Menschen zu tun.«

»Du wirst aber bald Zeit für ein richtiges Gespräch finden, oder?«, sagte sie. »Wir müssen noch ein paar Dinge klären vor eurem … Besuch.« Obwohl Eva nicht dazu neigte, ihren Bruder nach persönlichen Dingen zu fragen, ließ sich das dieses Mal nicht vermeiden. Sie musste wissen, warum er und Caitlin sich getrennt hatten, wessen Schuld es war und was tatsächlich dahintersteckte …

Muss ich das wirklich? Sie war ja fast schon so schlimm wie die Fans, die laut Kim alles über ihre Ehe wissen wollten. Man durfte doch wohl noch Geheimnisse haben.

»Klar. Ich schreibe dir eine SMS mit den Daten«, sagte Patrick. »Vermutlich wird es auf einen Samstag hinauslaufen.«

»Sag aber rechtzeitig Bescheid, damit ich die Ritualmesser wegräumen kann. Und du musst mir auch noch sagen, was ich für …«

Aber Patrick redete weiter, als wäre sie einfach eines seiner beruflichen Gespräche. »Tut mir leid, Eva, ich muss Schluss machen. Tausend Dank für deine Hilfe. Ich melde mich. Tschüss.«

»… Joel und Nancy besorgen soll«, beendete Eva ihren Satz ins Leere.

Bumble schaute von seinem Schaffell zu ihr auf, als erblickte er etwas Unheilvolles in ihrer Miene. Er rollte sich auf die Seite und setzte sich. Seine feuchten braunen Augen bettelten darum, seine einzige Aufgabe im Leben wahrnehmen zu dürfen: ihr Begleiter zu sein. Ihr folgen zu dürfen. Sie zu lieben.

Was habe ich da nur getan?, dachte Eva und knetete das Telefonkabel zwischen den Fingern. Irgendetwas hatte sich verändert. Die Wochen waren ineinander übergegangen, eine nahtlos in die andere, bis ganze Monate verschwunden waren, aber jetzt war die Luft plötzlich aufgeladen. Ein Termin durchbrach die friedliche Monotonie, die wie ein schützendes Tuch über ihrem Leben lag. Ein Termin, an dem sich alles ändern und sie in eine neue Phase ihres Lebens stürzen würde: Unterbrechungen, Herausforderungen, Kinderstimmen, die scharfen Kanten der zerbrochenen Ehe anderer.

Unsicher betrachtete sie das Telefon. Sollte sie Caitlin anrufen und ihr sagen, dass es ihr leidtat? Vielleicht würde sie sich freuen, wenn jemand ihr zuhörte.

Eva zögerte. Oder wäre sie dann genauso wie diese Frauen, die ihr über Kim geschrieben hatten, dass sie über ihren Verlust zutiefst betrübt seien? Wohlmeinende Worte von netten alten Leuten, aber Eva hätte trotzdem am liebsten geschrien, dass sie nichts über sie oder Mick oder ihre Ehe wussten und erst recht nicht, wie leer ihr Leben jetzt war. Wenn Caitlin mit ihr reden wollte, hätte sie sich doch von sich aus gemeldet, oder? Und was sollte sie auch sagen? Was, wenn Caitlin glücklich über die Trennung war? Was, wenn Patrick etwas Unverzeihliches getan hat? Oder Caitlin?

Evas Haut kribbelte, wenn sie an die Peinlichkeiten dachte, die ein solches Gespräch mit sich bringen könnte.

Ich warte lieber, bis Patrick sich wieder meldet, dachte sie und legte den Hörer auf.

Kapitel 3

»Wir kommen zu spät!«, rief Joel vom Fuß der Treppe. »Spät! Spät! Spät! Spät! Spät! Spät! Spät!«