Im Herzen das Glück - Lucy Dillon - E-Book

Im Herzen das Glück E-Book

Lucy Dillon

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Beschreibung

Für Libby hat eine kleine gute Tat ungeahnt große Folgen ...

Libby und Jason sind aufs Land gezogen, um Jasons Mutter nach dem Tod ihres Mannes im kleinen Familienhotel zu unterstützen und die altmodische Herberge in ein exklusives Feriendomizil zu verwandeln. Der Umbau kostet Zeit, Geld und Nerven. Doch das wird nebensächlich, als es zu einem Unfall kommt: Vor dem Hotel wird eine junge Frau angefahren. Rührend kümmert sich Libby um die Fremde. Als klar wird, dass sie ihr Gedächtnis verloren hat und niemand sie zu vermissen scheint, bietet Libby ihr an, im Hotel zu bleiben – nicht ahnend, dass diese eine gute Tat ihr ganzes Leben verändern wird ...

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Buch

Willkommen im Swan Hotel – willkommen im Glück!

Nicht in ihren kühnsten Träumen hätte Libby Corcoran sich vorstellen können, dass es sie einmal von der pulsierenden Metropole London aufs Land verschlagen könnte. Doch als ihr Schwiegervater an der Rezeption des kleinen Familienhotels in Longhamton mit einem Infarkt zusammenbricht und ihre Schwiegermutter Margaret – mit ihrem Hund Lord Bob – alleine zurückbleibt, packen Libby und ihr Mann Jason die Koffer und kehren der Stadt den Rücken. Ihr Plan: Sie wollen aus der abgelebten Herberge ein exklusives Landhotel machen. Die Renovierung kostet Zeit, Geld und Nerven. Doch das wird nebensächlich, als es zu einem Unfall kommt: Vor dem Swan Hotel wird eine junge Frau angefahren. Rührend kümmert sich Libby um die Fremde. Als klar wird, dass sie ihr Gedächtnis verloren hat und niemand sie zu vermissen scheint, bietet Libby ihr an, im Hotel zu bleiben – nicht ahnend, dass diese eine gute Tat ihr ganzes Leben verändern wird …

Weitere Informationen zur Autorin

sowie zu lieferbaren Titeln

finden Sie am Ende des Buches.

LUCY DILLON

Im Herzen

das Glück

Roman

Aus dem Englischen

von Claudia Franz

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»One Small Act of Kindness« bei Hodder and Stougthon,

an Hachette Livre UK company, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Taschenbuchausgabe März 2016

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Lucy Dillon

Copyright © dieser Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

unter Verwendung der Originalgestaltung

Umschlagbild: FinePic®, München/Blend Images/Getty Images

Redaktion: Babette Leckebusch

LT · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-17577-1V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Jan und James Wood,

die nettesten und besten Nachbarn,

die man sich nur vorstellen kann.

Vor allem, wenn man eine schusselige Schriftstellerin ist,

die ständig ihre Schlüssel verliert.

Kapitel eins

Arthur schaute zu Libby hoch. In seinen Knopfaugen spiegelte sich die Frage, die sich seine älteren Besitzer aus Höflichkeit verkniffen: »Sie haben unsere Reservierung nicht im System, nicht wahr?«

Libby, die auf der anderen Seite des polierten Eichentresens stand und sich durch das Check-in-Programm des Swan Hotel klickte, erstarrte. Er weiß es, dachte sie, als sie Arthurs Blick erwiderte. Er weiß, dass wir keine Reservierung haben, dass wir im Moment auch nicht über ein präsentables Zimmer verfügen und dass ich insgeheim sowieso der Meinung bin, Hunde hätten in Hotels nichts zu suchen, geschweige denn in Betten.

Der Dackel ließ seinen elastischen Schwanz langsam hin und her wippen und neigte den Kopf, als könne er ihr da nur recht geben. Vor allem, was Hunde in Betten anging.

Libby zwinkerte energisch. Diese Wurst auf Beinen ist doch kein Hotelinspektor, mahnte sie sich.

Obwohl, wenn man die Drohungen der Hotelbewertungsforen ernst nahm, konnte man nie wissen.

»Zwei Nächte, auf den Namen Harold«, wiederholte Mrs Harold und schob ihre Handtasche auf den anderen Unterarm. »Gibt es ein Problem? Wir sind schon seit acht Uhr unterwegs.«

»Aus Carlisle«, erklärte Mr Harold. »Dreimal umsteigen und einmal Schienenersatzverkehr. Eigentlich bräuchte ich jetzt dringend eine Tasse Tee, meine Liebe.«

»Es tut mir furchtbar leid.« Libby riss den Blick von Arthur los und lächelte noch herzlicher, damit man ihr die Panik nicht ansah, als sie die Zimmer im Obergeschoss vor ihrem inneren Auge vorbeilaufen ließ. Der Grund dafür, dass sie vor zwei Stunden die »Operation porentief rein« gestartet hatte, war ja gerade, dass das Hotel vollkommen leer war. In keinem Zimmer stand das Bett am angestammten Platz, und ein Set ordentlich aufgeklopfter Kissen konnte man sowieso vergessen. Dawn, die Putzfrau, und sie selbst hatten alles umgeräumt, um die Teppiche in Angriff nehmen zu können. Unter den Betten hatten sich nämlich derart viele Hundehaare angesammelt, dass man – in Dawns Worten – eine internationale Hundeausstellung daraus stricken könnte. Libby verdrängte den Gedanken. »Mein Ehemann und ich haben das Hotel erst letzten Monat übernommen«, erläuterte sie. »Wir müssen uns mit dem Buchungssystem noch anfreunden.«

Als Mr Harold hüstelte und sich verlegen ins grau melierte Haar fasste, bestätigte das den Verdacht, den Libby hegte, seit sie an der Rezeption die Messingglocke gehört und sich im Eiltempo hinunterbegeben hatte. »Ich möchte Ihnen ja nicht … Aber haben Sie da vielleicht etwas in den Haaren?«

Libby fuhr sich betont beiläufig durch den blonden Bob. Richtig. Es war tatsächlich eine Spinnwebe. Keine kleine zudem.

»Wir stecken mitten in der Renovierung«, erklärte sie, während sie versuchte, die Spinnwebe unauffällig von ihren Fingern zu schnipsen. Wenn Dawn vielleicht ein Bett zurückschieben und sämtliche anderen Türen schließen würde, dann könnte man vielleicht einen Raum bereitstellen … »Okay, wo waren wir?« Sie beschwor den Bildschirm, keine Späße mit ihr zu treiben. »Und Sie sind sich ganz sicher, dass Sie für den vierundzwanzigsten April gebucht haben?«

»Natürlich! Ich hatte sogar länger mit Ihrer Rezeptionistin telefoniert. Einer älteren Dame.«

Einer älteren Dame? Plötzlich ging ihr ein Licht auf. »Oh. In dem Fall …« Libby angelte unter dem Tresen nach dem zerfledderten Reservierungsbuch und hielt es so, dass die Harolds nicht erkennen konnten, dass die Spalten für Freitag und Samstag von keinerlei Reservierung verunstaltet waren – sei es nun in Form eines Bleistifteintrags, eines Klebezettels oder sonst eines Merkzettels, der ihrer Schwiegermutter Margaret, die Reservierungen überhaupt erst seit Neuestem schriftlich vermerkte, zufällig in die Finger gefallen war.

»Donald und ich haben nie etwas aufgeschrieben«, hatte sie beharrlich erklärt. »Wenn du ein Hotel führst, weißt du einfach, wer kommt.«

Die Sache war nur, dachte Libby, als sie vergeblich in dem Buch herumblätterte, dass nicht mehr Margaret das Hotel leitete. Sie führten es jetzt zu dritt: Libby, Jason und Margaret. Und im Moment kamen so gut wie überhaupt keine Gäste.

Das Buchungssystem war nur eine der Neuerungen, die Jason eingeführt hatte, als er und Libby in das Hotel gezogen waren, um Margaret nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes Donald zur Hand zu gehen. Wie alle Versuche, ihr das Leben zu erleichtern, hatte sie aber auch diesen als persönliche Kritik aufgefasst. Jasons Vorschlag, eine Website einzurichten, war ebenfalls nicht gut angekommen (»Dein Vater stand dem Internet äußerst skeptisch gegenüber, Jason«), und auch nicht ihre Überlegungen, wenigstens ein paar Räume zur hundefreien Zone zu erklären oder Croissants zum Frühstück zu servieren.

Libby brach es regelmäßig das Herz, wenn sie die arme Margaret sah. Ohne den fröhlichen, einfühlsamen Donald, den sie fünfunddreißig Jahre lang gepiesackt und vergöttert hatte, wirkte sie plötzlich farblos und verloren. Trotzdem musste im Swan dringend etwas geschehen, finanziell und in Sachen Hygiene. Um die »Operation porentief rein« starten zu können, ohne Margaret zu beleidigen, die der Ansicht war, diese »Paranoia wegen ein, zwei Hundehaaren« würde von den meisten Gästen sowieso nicht geteilt, hatte Jason seine Mutter zu einem gemütlichen Einkaufsbummel in den großen Waitrose entführt. Libby war also alleine mit dem Hotel und ihrem verdeckten Einsatz gegen den Schmutz. Und mit Margarets hochnäsigem Basset Bob, der allerdings im Büro eingeschlossen war. Libby mochte gar nicht darüber nachdenken, was er dort alles anstellte.

»Ist das denn nicht egal? Sie sind doch sicher nicht ausgebucht, oder?«, fragte Mr Harold und schaute sich in der ausgestorbenen Rezeption um. Als sein Blick von den Glotzaugen des mottenzerfressenen Hirschs über der Salontür erwidert wurde, fuhr er entsetzt zurück.

Libby seufzte. Legte sich Margaret schon beim Reservierungsbuch quer, so war das noch nichts gegen ihre Weigerung, die Modernisierung der Einrichtung in Angriff zu nehmen. Jason war im Swan aufgewachsen und hatte keine Probleme mit dem allgegenwärtigen Disteldekor in den öffentlichen Räumen. Auch Libby hatte der altmodische Charme, wenn sie ein paarmal im Jahr aus London angereist waren, immer gefallen. Jetzt aber, da ihre gesamten Ersparnisse in dieser schäbigen, hirschverseuchten Umgebung steckten, konnte sie das nicht mehr so entspannt sehen. Sie wünschte, Margaret würde sie einfach machen lassen, wie sie es eigentlich längst beschlossen hatten, als sie in London alles verkauft hatten und für einen Neuanfang in den Norden gezogen waren.

Margarets Verweigerungshaltung und ihr eigenes schmales Budget nötigten sie dazu, bei der Renovierung selbst Hand anzulegen, Raum für Raum, immer nach Feierabend. Die Zimmer waren mehr Laura Ashley als schottischer Freiheitskampf, und so hatten sie den letzten Monat damit verbracht, die überladene rosafarbene Tapete in Zimmer vier abzureißen und die Wände in einem beruhigenden Taubengrau zu streichen. Weiches Leinen hielt Einzug. Mithilfe von Moodboards hatte Libby ihre Vorstellung von dem kleinen, romantischen Luxushotel entwickelt, das man aus diesem Haus machen musste, um eine zahlungskräftige Klientel anzulocken. Oder überhaupt Klientel, wenn man es recht besah. Jasons und ihre Ersparnisse hatten gerade einmal gereicht, um Margaret aus den Klauen der Bank zu befreien, aber es war nicht viel geblieben, um das Hotel selbst vor den Verheerungen der Zeit zu retten.

Weder Libby noch Jason waren gewiefte Heimwerker – Jason war Börsenmakler, und Libby hatte in der Recherche-redaktion eines Fernsehsenders gearbeitet –, aber Zimmer vier sah gar nicht mal schlecht aus. Außerdem hatte es Libby gefallen, Jason dabei zu beobachten, wie er mit hochgekrempelten Ärmeln die Schleifmaschine schwang, das helle Haar dunkel vor Schweiß. Das war mal etwas anderes als der ewige Anzug oder die Freizeitkluft am Wochenende. Und es war auch schön, sich bei diesen Verrichtungen zu unterhalten. Oder sich einfach mal nicht zu unterhalten und nur Seite an Seite zu schuften, wohl wissend, dass jede abgezogene Diele und jedes abgeschmirgelte Fensterbrett ein Schritt in die richtige Richtung war. Zimmer vier war der Beginn von etwas Neuem, musste Libby wieder einmal denken. Es war etwas Reales und der beste Beweis dafür, dass ein Neuanfang oft als Ende mit Schrecken daherkam.

Als könne sie Gedanken lesen, verkündete Mrs Harold nun: »Die Dame, mit der wir telefoniert haben, sprach davon, dass wir ein komplett renoviertes Zimmer bekommen würden. Zimmer vier? Arthur mag harte Matratzen, wegen seines Rückens, und wenn ich es recht verstanden habe, hat das Bett in Zimmer vier eine nagelneue Komfortschaummatratze mit Memoryeffekt.«

»O ja, das stimmt! Zimmer vier ist …«, begann Libby, um dann gerade noch rechtzeitig daran zu denken, dass Arthur ja der Gast war, der soeben am Wäschesack schnüffelte und … na prima … sein krummes Bein daran hob. »Zimmer vier, äh, müsste aber noch ein, zwei Tage lüften. Frisch gestrichen«, schloss sie mit so viel Überzeugungskraft wie nur möglich.

Arthur schaute sie an und wedelte mit dem Schwanz, aber das machte ihn Libby auch nicht sympathischer. Hundehaare waren in ihren Plänen nicht vorgesehen, obwohl Margaret beharrlich darauf hinwies, dass hundefreundliche Zimmer über viele Jahre hinweg ihr Markenzeichen gewesen seien.

»Zimmer vier liegt im Obergeschoss, was Arthurs Rücken sicher nicht zuträglich wäre«, improvisierte sie. »Ich könnte Ihnen ein zauberhaftes Zimmer im Erdgeschoss geben, mit Blick auf den Garten …«

»Was war das denn?« Mr Harold hielt einen Finger hoch und neigte den Kopf.

»Das könnte unsere Putzfrau im Obergeschoss gewesen sein.« Dawn holte alles aus dem geliehenen Teppichshampoonierer heraus; die pechschwarze Brühe, die in den Auffangbehälter sprudelte, hatten sie bereits fasziniert bestaunt. »Bis Mittag werden wir damit fertig sein, dann werden Sie nicht mehr damit belästigt.«

»Nein, es war eher draußen«, sagte er. »Es sei denn, ich werde allmählich schwerhörig …«

»Gelegentlich frage ich mich schon, ob du überhaupt noch mitbekommst, was ich dir so alles erzähle«, murmelte Mrs Harold vor sich hin.

Libby hielt inne und lauschte. Da war nichts als das Geräusch, mit dem Dawn die Teppiche shampoonierte. Und ein ominöses Schmatzen im Büro. Libby fiel ein, dass sie die leckeren Kekse dort vergessen hatte, die eigentlich für potenzielle Gäste im Salon bereitstehen sollten. Zu spät.

»Es klang wie ein bremsendes Auto«, sagte Mr Harold.

Das nächste Geräusch hörten sie dann alle: Es war der Schrei einer Frau, unverkennbar. Ein dünner, abfallender Klang, der die Luft zerriss.

Libby zuckte zusammen. Das Hotel lag an einer Kurve, und die Einfahrt zum Parkplatz war schwer zu erkennen. Autos, die das Tempo drosselten, um sie zu suchen, liefen Gefahr, dass ihnen jemand hineinfuhr. Margaret hatte allerdings versichert, dass die Leute aus der Gegend die Straße kannten und den Spiegel, den Libby so schnell wie möglich hatte aufstellen wollen, nicht bräuchten.

»Ich geh besser mal nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Möchten Sie vielleicht so lange im Salon Platz nehmen?« Sie trat hinter dem Tresen hervor, nahm ihr Handy und durchquerte die Rezeption, um die Tür zum Salon zu öffnen. Mehr Schottenkaros und mehr Plüschsofas, aber immerhin hatte Dawn hier am Morgen noch geputzt, während Libby einen Stapel vorsintflutlicher Country-Life-Ausgaben durch aktuellere Zeitschriften ersetzt hatte. »Wenn Sie und, äh, Arthur es sich hier bequem machen und sich einen Tee oder einen Kaffee nehmen würden? Ich bin gleich zurück.«

Die Harolds beäugten den Hirschkopf, um dann unter seinem gläsernen Blick in die plüschige Gemütlichkeit des Salons zu treten.

Libby blinzelte in das grelle Sonnenlicht, das durch die Bäume fiel, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, was auf der Hauptstraße geschehen war.

Der monströse Geländewagen eines Bauern und ein roter Mini hatten in einem merkwürdigen Winkel geparkt, wie zwei Spielzeugautos, die ein gelangweiltes Kind einfach liegen gelassen hatte. Der Mini zeigte mit der Schnauze in die Hecke auf der Straßenböschung, der Land Rover stand mitten auf der Straße. Von seinem Fahrer war nichts zu sehen, während aus dem Mini jetzt ein Mann stieg, der vollkommen erschüttert wirkte.

Es war seine schuldbewusste Miene, die Libby einen Schauer über den Rücken jagte. Was auch immer hier passiert sein mochte, das Entsetzen spiegelte sich in seinem Gesicht wider.

»Geht es Ihnen gut?«, rief sie ihm zu. »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

Der Mann schüttelte den Kopf. Er war um die dreißig und hatte dunkle Haare und einen Dreitagebart. Libby nahm sich vor, sich die Details gut einzuprägen, falls sie später eine Zeugenaussage machen müsste – bis ihr irgendwann klar wurde, wohin der Mann starrte.

Auf dem Boden sah man zwei nackte Füße, die von den Rädern des Land Rover halb verdeckt wurden. Dann entdeckte Libby auf der anderen Straßenseite einen vereinzelten Flip-Flop, schlicht und schwarz.

Ihre Brust schnürte sich zusammen. Die Füße waren schmal und blass, Frauenfüße, und die Waden waren mit winzigen Tropfen frischen Bluts gesprenkelt.

»Ich habe sie nicht gesehen«, sagte der Fahrer des Mini und rieb sich ungläubig das Gesicht. »Die Sonne hat mich geblendet. Die Frau lief mitten auf der Straße …«

Libby eilte um den Land Rover herum, wo sich der Fahrer über den Körper einer jungen Frau beugte. Ein älterer Mann, registrierte sie, und verzichtete darauf, weiter hinabzuschauen. Graue Haare, irgendetwas in den Fünfzigern, kariertes Hemd, Cordhose. Vermutlich ein Bauer. Gut. Der würde wissen, was zu tun wäre, und hätte sicherlich auch keine Angst vor Blut. Libby hingegen war eher zart besaitet. Aufs Land zu ziehen hatte nicht geholfen, da bei Unfällen in der Gegend von Longhampton reihenweise Menschen umzukommen schienen.

Stell dich nicht so an, mahnte sie sich. Wer soll denn sonst helfen?

»Atmet sie?« Libby trat ein winziges Stück näher. »Geht es ihr … gut?«

Der Fahrer verzog das Gesicht. »Sie ist in den Mini hineingelaufen. Ich konnte ihr gerade noch ausweichen. Nachdem sie von seiner Motorhaube aufgegabelt wurde, ist sie auf die Straße geknallt. Ihr Kopf hat einen ziemlichen Schlag abbekommen. Ob etwas gebrochen ist, weiß ich nicht, aber sie ist nicht bei Bewusstsein, das arme Ding.«

Die Frau hatte sich zusammengerollt, als würde sie ein Nickerchen machen. Das dunkelbraune Haar wallte um ihren Kopf, und der Jeansrock war ihr bis über die Knie hochgerutscht. Die Fingernägel waren leuchtend pink lackiert, aber das war auch schon der einzige Farbklecks an ihr. Alles andere war düster: dunkler Rock, dunkles Haar, langärmeliges schwarzes T-Shirt, und das, obwohl die Sonne schien.

Unvermittelt schoss Libby ein Gedanke durch den Kopf: Sie sieht aus wie Sarah. Dann bekam sie es mit der Angst zu tun. Ihr war schon klar, dass dies nicht ihre kleine Schwester war – Sarah war in Hongkong –, aber dieses Gesicht hatte etwas so Verletzliches: die sanfte Haut mit den eichenbraunen Sommersprossen, die langen Puppenwimpern. Für einen Moment vergaß Libby ihre Empfindlichkeiten, beugte sich vor und legte die Finger an die blasse Kehle der Frau.

Die Haut war kühl, aber man konnte den Puls spüren. Libby atmete auf und merkte erst jetzt, wie heftig ihr eigenes Herz pochte.

»Alles gut, ich spüre den Puls.« Sie schaute auf. »Haben Sie die Polizei gerufen? Und einen Krankenwagen?«

»Das werde ich sofort tun.« Er trat beiseite und ging zu seinem Wagen zurück.

Libby konnte den Blick nicht von der Frau wenden. Gleichzeitig schaltete sich ihr Gehirn ein und versorgte sie mit praktischen Informationen, um die Panik abzuwehren. Für die Arbeit im Hotel hatte sie einen eintägigen Erste-Hilfe-Kurs absolviert (der Gott sei Dank vor allem in theoretischen Unterweisungen und nicht in makabren praktischen Übungen bestanden hatte) und ein paar grundlegende Kenntnisse erworben. Den Körper nicht bewegen, für den Fall, dass die Wirbelsäule verletzt sein sollte. Atemwege – frei. Gut. Blut – nein, obwohl der vollkommen verschrammte Arm in einem komischen Winkel abstand. Auf dem groben grauen Asphalt, wo er quer auf der weißen Linie lag, wirkte er noch blasser.

Die weiße Linie. Libby sprang auf und gestikulierte zu dem Fahrer des Mini hinüber.

»Wir müssen den Verkehr stoppen, der um die Ecke kommt. Sie haben doch ein Warndreieck dabei, oder?«

Er rührte sich nicht, sondern starrte immer noch auf den reglosen Körper, wie gelähmt von dem, was ihm da mitten an einem normalen Tag auf dem Lande widerfahren war. Libby hätte ebenfalls weiter hingestarrt, aber ihr war deutlich bewusst, dass für die Frau am Boden jede Sekunde zählte. An der blassen Schläfe hatte sich eine enteneigroße Beule gebildet, und die Augenpartie war blutunterlaufen. Libby mochte gar nicht darüber nachdenken, was für innere Verletzungen die Frau haben mochte.

»Warndreieck – Sie müssen es aus dem Wagen holen, schnell! Möchten Sie, dass noch jemand verletzt wird, weil er in Ihren Wagen kracht?« Sie warf ihm einen energischen Blick zu. Er wollte etwas sagen, besann sich dann aber anders und lief los.

Libby beugte sich hinab, um ihren eigenen Schock zu verbergen. »Alles ist gut«, murmelte sie und legte der Frau die Hand auf die Schulter. Das hatte der Erste-Hilfe-Lehrer ihnen nahegelegt: einfach weiterreden, Kontakt herstellen, selbst wenn man denkt, der Verletzte hört einen nicht. »Keine Angst, der Krankenwagen ist unterwegs. Sie werden das schon schaffen. Es wird alles gut …«

Dann war es wieder still. Man hörte nur das gedämpfte Murmeln des Bauern, der mit der Polizei telefonierte, und das Zwitschern der Vögel in den Bäumen. Solche Dramen sollten sich nicht in einer derart friedlichen Gegend abspielen, dachte Libby. In London würde man längst die Sirenen hören, und es hätten sich bereits die ersten Schaulustigen versammelt. Leute würden Kommentare abgeben, ihre Hilfe anbieten oder einfach weitergehen. In Longhampton gab es nur Scharen von Vögeln. Und in der Ferne vielleicht ein Schaf.

Das verlieh ihr das Gefühl, persönlich für die Sache verantwortlich zu sein.

»Halten Sie durch«, flüsterte sie wieder und gab sich alle Mühe, nicht ihre kleine Schwester in der Frau zu sehen. »Atmen Sie weiter. Es wird alles gut. Ich bleibe bei Ihnen, bis Sie im Krankenwagen liegen, das verspreche ich Ihnen. Ich bin hier.«

Was konnte sie sonst noch tun? Libby sah die nackten Füße der Frau und zog ihre blaue Kaschmirjacke aus, um sie zuzudecken. Komisch, dass sie überhaupt hier herumgelaufen war, und das auch noch in Flip-Flops. Die Straße hatte keinen Bürgersteig, und zu Fuß war es ziemlich weit von der Stadt bis zum Hotel. Manchmal sah Libby Leute mit Hunden hier vorbeikommen. Durch die Gegend führte ein Reitweg, der zum Apfelpfad von Longhampton gehörte, aber den konnte sie auch nicht genommen haben – von ihren Spaziergängen mit Margarets Hund wusste Libby, dass man besser Gummistiefel anzog, weil er noch ziemlich matschig war.

War sie auf dem Weg zum Hotel gewesen? Libby hielt nach einer Tasche Ausschau, konnte aber keine entdecken. Und eine einzelne Frau hatte definitiv nicht reserviert. Obwohl, wenn Margaret die Reservierung entgegengenommen hatte …

Sie schaute auf ihre Uhr. Fast zehn vor eins. Jason hatte nicht gesagt, wann er und Margaret zurückkehren würden. Margaret zog ihre Ausflüge zum großen Waitrose gerne in die Länge, nicht nur, weil sie die herausragende Qualität der Produkte schätzte. Für sie war es auch eine willkommene Gelegenheit, um vor ihren ebenso shoppingbegeisterten Komiteebekanntschaften mit ihrem brillanten Sohn, dem Finanzgenie, anzugeben. Libby wollte nicht, dass sich Margaret wegen des Unfalls aufregte, aber sie war auch nicht darauf erpicht, dass die Harolds vor Langeweile das Hotel erkundeten und das Chaos im Obergeschoss entdeckten. Es war eine dumme Idee, alle Zimmer gleichzeitig reinigen zu wollen, dachte Libby und trat sich innerlich in den Hintern. Ein Anfängerfehler – aus der Perspektive von Haus- und nicht von Hotelbesitzern gedacht.

Libby ließ sich auf die Fersen sinken, beschämt, weil sie über die Putzlogistik nachdachte, während die bewusstlose Fremde ernsthafte Verletzungen davongetragen haben konnte.

»Es ist alles gut«, flüsterte sie in der Hoffnung, die Frau bekomme mit, dass sich jemand um sie kümmerte. »Alles gut. Ich werde Sie nicht allein lassen.«

Sie summte tonlos, auch um ihre wachsende Panik unter Kontrolle zu halten, bis sie irgendwann Schritte hörte. Libbys Kopf fuhr herum, weil sie auf die beruhigende Gegenwart einer Person in Uniform hoffte oder wenigstens auf den Bauern, der mit neuen Nachrichten kam. Stattdessen erblickte sie Jasons kräftige Gestalt. Erleichterung durchströmte sie wie die plötzliche Wärme, wenn die Sonne hinter den Wolken hervortrat.

Jason wirkte besorgt, aber nicht ängstlich – Angst war nicht seine Sache. Als er näher kam, runzelte er allerdings die Stirn und fuhr sich mit der Hand durchs blonde Haar – durch seinen Bauernschopf, wie Libby zu Beginn ihrer Beziehung immer gespottet hatte. Zu seinen Nadelstreifenanzügen hatte er nie so recht passen wollen, dazu war er zu widerspenstig und zu dick. Zu dem karierten Hemd und der Jeans sah er aber gut aus. Überhaupt hatte sich Jason in die Welt hier eingefunden, als sei er nie woanders gewesen.

»Hat es einen Unfall gegeben? Ich habe kurz vor der Parkplatzeinfahrt das Warndreieck gesehen, daher sind wir ausgestiegen und …« Er riss die Augen auf, als er die Frau auf dem Boden liegen sah. »Um Himmels willen! Was ist denn passiert? Ist alles in Ordnung, Schatz?«

»Nein.« Libby stand mit wackeligen Knien auf. Ihr war schwindelig. »Ich meine, mir geht es gut, aber für die Frau gilt das wohl eher nicht.«

»Hey, komm her, du bist ja kreidebleich.« Jason zog sie an die Brust, drückte ihr sanfte Küsse auf die Stirn und massierte ihr den Rücken. Libby spürte, wie sich ihre Schultern entspannten. Seine Berührung hatte etwas Beruhigendes. Ihr Körper fügte sich perfekt an seinen, und ihr Kopf ruhte genau unterhalb seines Kinns. Gott sei Dank, dass Jason da ist, dachte sie und war sich bewusst, in wievielerlei Hinsicht sie das meinte.

Als sie sich gerade erkundigen wollte, ob Margaret direkt zum Hotel gegangen sei, sah sie ihre Schwiegermutter mit zwei Einkaufstüten um die Ecke biegen. Im ersten Moment wirkte sie wie die alte Margaret – immer in Eile, immer mit irgendetwas beschäftigt, immer perfekt gekleidet –, aber ihr Lächeln erlosch, als sie die Szene vor ihren Augen erfasste. Plötzlich schien sie um Jahre gealtert, eher siebzig als sechzig. Sie stellte die Tüten ab und schlug die Hand vor den Mund; in ihren Augen, die von demselben ungewöhnlichen Blassblau waren wie Jasons, spiegelte sich Entsetzen.

»Ach du meine Güte.« Es klang wie ein Klageruf. »Was ist denn hier passiert?«

Libby wünschte, Margaret wäre das erspart geblieben. Es war erst sechs Monate her, dass Donald in der Rezeption zusammengebrochen und noch vor dem Eintreffen des Krankenwagens an einem schweren Herzanfall gestorben war. Margaret war ganz allein gewesen. Praktisch über Nacht hatte sie jeden Lebensmut verloren und legte seither eine Nervosität an den Tag, die jeden Moment in einem Tränenausbruch enden konnte. Libby riss sich aus Jasons Armen los, ging ihr entgegen und verstellte ihr die Sicht.

»Keine Ahnung. Ich habe nichts gesehen. Ich bin gerade erst herausgekommen und sah die beiden Wagen hier stehen. Die Frau lag schon auf dem Boden. Mach dir keine Sorgen. Wir haben einen Krankenwagen gerufen, und die Polizei wird auch gleich da sein.« Libby äugte zu der Frau hinab; es fühlte sich komisch an, über sie zu reden, als sei sie gar nicht anwesend. »Sie wird die Sache bestens überstehen«, fügte sie hinzu, für den Fall, dass die Frau sie hören konnte.

»Offenbar hast du alles getan, was in deiner Macht stand.« Jason schaute zwischen seiner Frau und seiner Mutter hin und her und wusste nicht, wen er zuerst trösten sollte.

Libby schob ihn in Margarets Richtung und flüsterte: »Bring sie hinein. Im Salon wartet ein Paar – kannst du dich um sie kümmern? Sie heißen Harold und behaupten, sie hätten fürs Wochenende ein Zimmer gebucht. Im Computer ist allerdings nichts verzeichnet.«

Jason schaute sie gequält an, aber Libby schüttelte den Kopf. »Ist nicht so dramatisch. Mach keinen großen Aufstand deswegen. Wir müssen sie nur irgendwo unterbringen. Vielleicht kannst du nachschauen, ob Dawn eines der Zimmer fertig hat. Oder … Mit dem Teppich in Zimmer sieben hatten wir noch nicht angefangen, versuch es dort mal.«

»Können wir denn nicht irgendetwas tun?«, rief Margaret herüber. Ihre Stimme klang tapfer, aber weinerlich.

»Nein, es ist alles in die Wege geleitet, Margaret. Geh ruhig hinein.« Libby warf Jason einen Blick zu. »Beeil dich, bevor deine Mutter ihnen Zimmer vier gibt. Sie haben einen Hund.«

Er riss die Augen auf. »Kein Wort mehr.« Jason drückte ihre Schulter. »Bist du sicher, dass nicht ich auf die Polizei warten soll? Du hast schon so viel getan.«

Libby hätte fast eingewilligt, gleichzeitig sperrte sich irgendetwas in ihr, die Frau allein zu lassen. »Ist schon okay. Ich habe ihr versprochen, bei ihr zu bleiben, und das werde ich auch tun.«

»Wie heißt sie?«

»Keine Ahnung.«

»Wo ist ihre Handtasche?«

Sie blickten sich beide um; nichts zu sehen.

»Ich schau mal in der Hecke nach«, sagte Jason, aber Libby scheuchte ihn fort.

»Das mach ich schon, wenn die Polizei kommt. Du kümmerst dich erst einmal um unsere Gäste. Und stell bitte sicher, dass deine Mutter Bob nicht wieder in den Salon lässt. Ich habe den ganzen Morgen damit zugebracht, das Sofa abzusaugen. Er müsste längst kahl sein, so viele Haare wie er verliert.«

Jason machte den Mund auf, aber in diesem Moment zerrissen in der Ferne Sirenen die Luft. Der blanke Schmerz in Margarets Gesicht vertrieb jede Sorge um die Macken des Buchungssystems.

Die Sanitäter bemühten sich beflissen um die verletzte Frau, und als sie gerade die Trage vorbereiteten, traf ein Polizeiwagen ein. Die beiden Beamten befragten die Fahrer, sperrten den Unfallort ab und sprachen Anweisungen in ihr Funkgerät.

Nach der Stille hatte die kontrollierte Betriebsamkeit etwas Beruhigendes. Libby schritt die Straße ab und hielt nach der Handtasche der Frau Ausschau, fand aber nichts. Danach war sie unschlüssig, was sie noch unternehmen sollte. Eigentlich hatte sie nichts mit der Sache zu tun, aber sie wollte nicht gehen, bevor sie nicht wusste, was mit der Fremden geschehen würde. Die Sanitäter hatten sie in eine Decke gewickelt und ihr eine Sauerstoffmaske auf das blasse Gesicht gesetzt. Unter der Decke wirkte sie viel kleiner.

»Haben Sie den Unfall beobachtet, Ma’am?«

Libby zuckte zusammen. Direkt neben ihr stand ein junger Polizist. Er sprach mit dem lokalen Akzent mit den gedehnten Vokalen, die in Libby sofort den Gedanken an Traktoren, Äcker und Apfelhaine heraufbeschworen. Jasons Akzent, der in den Londoner Jahren härter geworden war, hatte sich nach den Begegnungen mit seinen alten Kumpels schon wieder ein wenig abgeschliffen. Keiner der Jungs, mit denen er im Bells herumhing, war nämlich länger als zwei Jahre aus Longhampton herausgekommen.

»Nein. Ich habe den Lärm vom Hotel aus gehört.« Sie zeigte in die Richtung. »Ich heiße Libby Corcoran. Uns gehört das Swan. Als ich hier eintraf, war alles schon so, wie Sie es jetzt sehen.«

»Und diese Frau kennen Sie nicht?«

»Nein. Ich habe sie noch nie gesehen.«

»Haben Sie ihre Handtasche an sich genommen?«

»Die habe ich gar nicht gesehen. Ich habe die Hecke abgesucht, aber da ist sie nicht. Vielleicht ist sie ja ins Feld geflogen.«

Der Polizist wirkte enttäuscht. »Ich hatte gehofft, dass Sie eine gefunden hätten. Das verkompliziert die Sache etwas, da wir keinerlei Hinweise auf ihre Identität haben.«

Libby war überrascht. »Überhaupt keine? Kein Handy? Haben Sie unter den Wagen nachgeschaut?«

»Wir haben den gesamten Unfallort abgesucht. Nichts. Und Sie sind sich absolut sicher, dass Sie die Frau noch nie zuvor gesehen haben?«

»Absolut«, sagte Libby. »Warum fragen Sie?«

Er runzelte die Stirn. »Weil das Einzige, das die Sanitäter bei ihr gefunden haben, Ihre Adresse war. Sie steckte in ihrer Tasche – handschriftlich notiert.«

»Meine Adresse?« Diese unerwartete Verbindung verblüffte sie. Warum sollte diese Fremde ihre Adresse haben? Sie waren meilenweit von Wandsworth entfernt.

»Ja.« Der Polizist schien sich über Libbys Reaktion zu wundern. »Sie sagten doch, Ihnen gehört das Hotel, oder?«

»Ach so, natürlich, das Hotel.« Was hatte sie denn gedacht? Das Haus in Wandsworth gehörte ihr sowieso nicht mehr. Andere Menschen wandelten jetzt durch ihre wunderbare Küche, dieselben, die auch in ihrer viktorianischen Emaille-Badewanne plantschten. Sie schüttelte den Kopf. »Entschuldigung, ich muss mich noch an meinen neuen Job gewöhnen. Wir sind erst ein paar Monate hier.«

Der Polizist lächelte freundlich. »War mir schon aufgefallen, dass Sie nicht wie eine Hiesige klingen, Ma’am.«

»Wenn ich von jedem, der das sagt, fünf Pfund bekommen würde …«, begann sie, unterbrach sich dann aber schnell. »Dann könnte ich wenigstens ein paar unserer Rechnungen begleichen«, wäre ihr fast herausgerutscht.

Die unerwartete Verbindung beunruhigte sie trotzdem: Diese dunkelhaarige, barfüßige Fremde hatte sich den Namen ihres Hotels notiert, woher auch immer sie ihn hatte, und war auf dem Weg zu ihnen gewesen. Nur noch zwei Minuten, und sie wäre zur Tür hereinspaziert und hätte den Schleier des Geheimnisses gelüftet. Für Libby war sie eine Fremde, die ihrerseits den Namen ihres Hotels kannte. An Libbys Armen richteten sich die Härchen auf.

»Für heute Abend haben wir keine Reservierung«, sagte sie.

»Vielleicht wollte sie sich erkundigen, ob Sie eine Stelle zu vergeben haben. Haben Sie in letzter Zeit eine Anzeige geschaltet? Suchen Sie Putzfrauen? Köchinnen?«

»Nein. Wir stellen keine neuen Leute ein.«

Im Gegenteil. Nachdem Jason die Bücher durchgegangen war, hatte es lange so ausgesehen, als könnten sie nicht einmal beide Teilzeitreinigungskräfte behalten.

»Vielleicht wollte sie sich mit jemandem treffen?« Der Polizist zog die Augenbrauen zusammen. »Einem Freund? Einem Liebhaber?«

»Entschuldigen Sie bitte«, witzelte Libby. »So ein Hotel sind wir bestimmt nicht.« Die knallroten Ohren des Polizisten signalisierten ihr, dass sie mit ihrem großstädtischen Humor vorsichtig sein sollte.

»Wir haben selten spontane Gäste, und essen kann man bei uns auch nicht, daher kommen die Leute nicht einfach so vorbei«, ergänzte sie hastig. »Ich kann aber darauf achten, ob sich jemand nach ihr erkundigt.«

»Wenn Sie uns dann anrufen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.« Er nahm ihre Kontaktdaten auf. Aus dem Augenwinkel sah Libby, dass die Trage in den Krankenwagen geschoben wurde. Die Frau war unter der Decke kaum zu sehen, aber das braune Haar, das oben herausschaute, erinnerte Libby an ihre Schwester, der immer der Pony in die Augen fiel. Sie wurde von einem schlechten Gewissen gepackt, weil sie der Frau versprochen hatte, bei ihr zu bleiben.

»Soll ich vielleicht mit ins Krankenhaus fahren?«, fragte sie. »Kann sie überhaupt allein bleiben?«

»Das ist sehr nett von Ihnen, aber in diesen Krankenwagen ist nicht viel Platz. Außerdem wollen sie sofort ein CT machen.« Das Funkgerät des Polizisten krächzte, und er griff danach. »Ich habe ja Ihre Daten. Und wenn Sie etwas in Erfahrung bringen, rufen Sie mich an.«

»In Ordnung.« Libby schaute zu, wie das Blaulicht wieder aufblinkte, und fühlte sich innerlich eiskalt. Sie musste an die verschrammten Beine und die pinkfarbenen Fingernägel denken. »Ich würde nur wünschen … ich könnte noch irgendetwas tun.«

»Sie haben schon sehr viel getan, indem Sie bei ihr geblieben sind und uns so schnell gerufen haben …« – er schaute in seine Notizen – »… Mrs Corcoran.«

»Libby«, sagte sie. »Aber das ist doch selbstverständlich. Was hätte ich denn sonst tun sollen?« Der andere Beamte schaute zu ihr herüber. Er stand neben dem Mini, dessen Fahrer missmutig in ein Röhrchen blies und mit den Tränen kämpfte.

»Viele Leute tun überhaupt nichts, das können Sie mir glauben. Sie wären wirklich überrascht. Aber jetzt lassen Sie sich schön eine Tasse Tee mit viel Zucker servieren, was?«, fügte er hinzu und tätschelte ihren Arm. »Der Schock kommt sicher, wenn Sie erst einmal sitzen. Im ersten Moment begreift man es meist gar nicht richtig, aber Sie haben heute viel geleistet.«

Libby zwang sich zu einem Lächeln. Seine Freundlichkeit, und nicht der Schock, ließ sie fast in Tränen ausbrechen.

Sie zuckte zusammen, weil der Krankenwagen die Sirene aufheulen ließ und losraste. Die Arme um den Leib geschlungen, sah sie ihm hinterher, bis er verschwunden war.

»Wir melden uns, wenn es … Neuigkeiten gibt«, sagte der Polizist. Erst die Haltung seines Kopfs und das Wort »Neuigkeiten« machten Libby bewusst, was hier tatsächlich passiert war, und es durchlief sie eiskalt.

Kapitel zwei

Das Erste, was sie beim Aufwachen bemerkte, war der Geruch von Desinfektionsmitteln und Kaffee.

Irgendjemand war im Raum. Eine Frau. Eine Krankenschwester in einem blauen Kittel, die soeben die Patientendaten am Fußende ihres Bettes kontrollierte, die Stirn gerunzelt. Als sie sich rührte, hielt die Schwester nicht in ihrer Tätigkeit inne, sondern wandelte nur das Stirnrunzeln in ein Lächeln um und sagte: »Guten Morgen!«

»Wo bin ich?«, wollte sie fragen, aber ihre Kehle war wund und trocken. Außer einem Krächzen brachte sie nichts heraus.

»Bleiben Sie ruhig liegen«, sagte die Schwester. »Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.«

In der Zeit, in der die Krankenschwester fort war, um schließlich mit einem Plastikbecher eiskalten Wassers wiederzukommen, konnte sie sich leidlich orientieren: Sie war in einem Krankenhauszimmer, ganz allein, mit Blick auf einen halb vollen Parkplatz, und wurde von schweren Decken aufs Bett gedrückt. Ihr Gehirn schien sich sehr langsam zu bewegen.

Wie bin ich nur hierhergekommen?, fragte sie sich. Statt einer Antwort hatte sie nur ein schweres, düsteres Gefühl im Kopf, eine Art gummiartiges Gewölk, das sich an der Stelle breitmachte, wo normalerweise die Antwort sein sollte. Das sollte mich eigentlich stärker beunruhigen, dachte sie.

»Hier, bitte sehr. Trinken Sie ganz langsam. Wahrscheinlich sind Sie noch ein wenig erschöpft. Sie waren ja ein Weile außer Gefecht gesetzt, nicht wahr?« Die Krankenschwester drückte ihr den Becher in die Hand.

Sie wollte reflexartig zurücklächeln, aber irgendetwas schien ihre Gesichtsmuskeln zu lähmen. Als sie sich ins Gesicht griff, spürten ihre Finger Bandagen. Grobe elastische Binden an der Wange.

Ihr Kopf war einbandagiert. Wie kam das denn? Was hatte sie nur getan? Sie hob die Hand höher, um zu ertasten, wo die Bandagen endeten, aber in ihrem Handrücken steckte die Kanüle vom Tropf, und der dünne Schlauch verfing sich in der Decke.

Die Krankenschwester hielt ihre Hand fest, freundlich, aber bestimmt.

»Fassen Sie die Bandagen bitte nicht an. Darunter juckt sicher alles, ich weiß.« Dann schob sie die Manschette eines Blutdruckmessgeräts über ihren Arm und setzte das Gerät in Gang. »Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung. Das muss sich anfühlen, als hätten Sie den Kater Ihres Lebens.«

Einen üblen Kater, das konnte man wohl sagen. In ihrem Kopf pochte der grauenhafteste Kopfschmerz, den sie je gehabt hatte, als sei das Gehirn zu groß für ihren Schädel. Ihre Augen waren wund und verklebt, und ihre Mundhöhle war … rau. Aber da war noch etwas anderes am Rande ihres Bewusstseins, etwas Schlimmeres, das sich ihrem hilflosen Zugriff immer wieder entzog.

Sie war im Krankenhaus, allerdings hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wie sie dorthin gelangt war. Alles schien in Ordnung, wirkte aber irgendwie künstlich. Als sei es ein wenig langsam. Als habe es sich wie eine schlechte Erinnerung in einen fernen Winkel ihres Bewusstseins zurückgezogen.

Warum werde ich nicht von Panik gepackt, fragte sie sich. Bevor sie etwas sagen konnte, erklärte die Krankenschwester: »Vermutlich fühlen Sie sich auch ein wenig dumpf von den Schmerzmitteln.« Sie zog die Manschette wieder ab. »Der Blutdruck ist in Ordnung, das ist schon einmal gut. Dürfte ich dann Ihre Pupillen kontrollieren? Schauen Sie einmal hierher … und jetzt hierher …«

Sie blinzelte, als sie sich auf den Finger der Krankenschwester konzentrierte, der sich langsam vorwärts und rückwärts und seitwärts bewegte. Auf dem Namensschild der Schwester stand »Karen Holister«. Sie hatte kurze graue Haare und trug eine schwarze Hornbrille. Ihr Gesicht war fremd, aber ihre Stimme nicht. Als sie dem Finger der Schwester folgte, war ihr auch diese Bewegung vertraut. Warum, wusste sie nicht. In ihrem Hinterkopf regte sich eine zittrige Angst, als würde der Wind sanfte Wellen auf die Oberfläche eines tiefen Sees malen.

»Was ist passiert?« Das klang nicht wie ihre eigene Stimme. Es war kratzig und schwach. Das Sprechen tat weh, nicht nur im Hals, sondern auch in Kopf und Brust.

»Sie hatten einen Unfall. Als Sie in die Notaufnahme eingeliefert wurden, waren Sie bewusstlos. Sie standen zwei Tage unter Beobachtung. Es war die ganze Zeit jemand bei Ihnen, keine Sorge.«

Zwei Tage? Sie war schon zwei Tage hier?

Sie nippte an dem Becher, um sich abzulenken. Das eiskalte Wasser rann schmerzhaft ihre ausgetrocknete Kehle hinunter und verstärkte das Pochen an ihren Schläfen. Ein Kater. War das ein Kater? Hatte sie so viel getrunken, dass sie ohnmächtig geworden war? Hatte man sie irgendwo gefunden? Das ergab alles keinen Sinn.

»War das der Grund, warum ich einen Unfall hatte?« Das Reden bereitete ihr Schmerzen.

Die Krankenschwester nahm ihr den Plastikbecher ab. »Was meinen Sie?«

»War ich … betrunken?« Sie wühlte in ihrem Geist nach Einzelheiten, aber da war nichts, nur Finsternis. Große Leere. Als würde man seine Hände ins Wasser stecken und nichts ertasten.

»Nein. Sie waren nicht betrunken. Sie wurden von einem Auto angefahren.«

Von einem Auto angefahren? Erneute Leere. Ihre Erinnerungen gaben nichts her. Keinen Krankenwagen, keinen Schmerz, keine Panik. »Wo bin ich?«

»Im Krankenhaus von Longhampton. Wir haben Sie in einen Nebenraum gelegt, weil es sonst etwas laut zugeht.« Die Krankenschwester blickte in ihre Notizen und schaute dann auf die Uhr, die falsch herum an ihrem blauen Kittel hing. »Der Neurologe kommt gleich, um Sie zu untersuchen.«

»Longhampton?«

Das konnte nicht sein. Oder?

Die Schwester nahm das Krankenblatt vom Plastikhalter am Fußende des Bettes, drückte auf ihren Kugelschreiber und lächelte sie an. »Da Sie nun wach sind, können Sie uns vielleicht helfen, ein paar Rätsel zu lösen. Zunächst einmal: Wie heißen Sie?«

Sie öffnete den Mund, aber im nächsten Moment hatte sie das Gefühl, als habe man ihr aus dem Nichts einen Kübel kaltes Wasser über den Leib gegossen.

Sie wusste es nicht.

Der Neurologe kam kurz nach elf, gefolgt von derselben Krankenschwester.

Die Schwester hieß Karen, sagte sie sich, Karen Holister. An gegenwärtige Dinge konnte sie sich erinnern. Die Gegenwart war kein Problem. Das Problem war alles, was dorthin geführt hatte.

»Guten Morgen, also.« Er lächelte und schob die Brille auf die Nase, um das Krankenblatt zu studieren. »Mein Name ist Jonathan Reynolds, ich bin Experte für Schädel-Hirn-Traumata. Und Sie sind …?«

»Wie ich Karen schon sagte …«, sie versuchte, ruhiger zu klingen, als sie sich fühlte, »ich kann mich nicht erinnern.«

Die nebelhafte Schwärze in ihrem Kopf verstärkte sich, und jenseits der künstlichen Ruhe der Schmerzmittel spürte sie Panik anrollen. Es zu hören, ließ es real werden. Und es löste keinesfalls eine plötzliche Flut an Erinnerungen aus, wie sie insgeheim gehofft hatte.

Jonathan Reynolds murmelte der Krankenschwester etwas zu. Sie schloss die Tür, während er sich an ihr Bett setzte, die Beine übereinanderschlug und sanft lächelte.

»Das muss ein schreckliches Gefühl sein, aber machen Sie sich bitte keine Sorgen. Sie haben bei Ihrem Unfall eine Gehirnerschütterung erlitten, und es sieht so aus, als würden sie unter retrograder Amnesie leiden. Gedächtnisverlust, mit anderen Worten. Das ist keineswegs ungewöhnlich. Normalerweise renkt sich das innerhalb kürzester Zeit wieder ein. Gleich nach Ihrer Einlieferung wurde ein CT gemacht, und das hat keinerlei signifikante Schädigung des Gehirns ergeben. Das ist ein sehr gutes Zeichen.«

Er wirkte entspannt, aber sie merkte, dass er sie genau beobachtete. Seine scharfen braunen Augen huschten hinter der Brille hin und her. Zwei Tage war sie schon hier. Zwei Tage hatte sie unter Beobachtung gestanden. Und sie hatte keinerlei Erinnerung an all diese Dinge.

»Heißt das nun, dass ich einen Hirnschaden habe?«, fragte sie langsam. »Oder heißt es das nicht?«

»Ja und nein. Das Gehirn ist ein seltsames Organ. Ich weiß nicht, wie viel Sie über das Gedächtnis und seine Funktionen wissen«, fuhr er fort, als würden sie über das Wetter reden. »Wir speichern frische und ältere Erinnerungen in anderen Gehirnarealen. Wenn Sie einen Schlag auf den Kopf bekommen oder eine traumatische Erfahrung machen, werden die Verbindungen unterbrochen und Sie haben keinen Zugriff mehr auf Dinge, die in der jüngeren Vergangenheit geschehen sind. Dinge, die Sie als Kind erlebt haben, sind davon nicht betroffen. Oder Dinge, die Sie durch unzählige Wiederholungen gelernt haben, wie gehen oder Auto fahren. All diese Dinge scheinen bei Ihnen prima zu funktionieren. Sie können reden, Ihre Körperkoordination ist nicht beeinträchtigt. Jetzt müssen wir nur herausfinden, welcher Teil Ihres Gedächtnisses betroffen ist, um alle anderen Fähigkeiten auch wieder herauszukitzeln. Oft ist nach ein paar Tagen alles wieder im Lot. Nur in ganz seltenen Fällen kommt es zu einem vollständigen Gedächtnisverlust. Machen Sie sich also keine Sorgen.«

»Ich kann mich nicht an den Unfall erinnern«, sagte sie.

»Nun, das überrascht mich nicht. Sie wurden mit einer schweren Gehirnerschütterung eingeliefert. Die gute Nachricht ist, dass Sie mit ein paar gebrochenen Rippen und ein paar ziemlich fiesen Schrammen davongekommen sind. Die üblen Blutergüsse nicht zu vergessen.«

Sie starrte ihn an, eiskalt unter der warmen Decke der Schmerzmittel. Er sprach ständig von »guten Nachrichten« und »guten Zeichen«, aber wie konnte das sein, wenn sie nicht einmal wusste, wer sie war?

»Aber ich weiß nicht einmal, wie ich heiße.« Es laut auszusprechen zog ihr den Boden unter den Füßen weg, als säße sie in einer Achterbahn, die unvermittelt ins Nichts stürzte. Sie fühlte sich schwerelos und hangelte sich von Sekunde zu Sekunde. »Ich weiß nicht, wer ich bin. Und wie kann es sein, dass nicht einmal Sie wissen, wer ich bin? Gibt es denn keinerlei … Hinweise?«

Der Arzt drehte sich um und gab die Frage an die Schwester weiter. Die schüttelte bedauernd den Kopf.

»So weit sind wir mit dem Polizeistaat nun auch noch nicht. Sie hatten keinen Ausweis dabei, als Sie eingeliefert wurden, also mussten wir warten, bis Sie aufwachen, damit Sie es uns verraten.«

Das ergab keinen Sinn. »Ich hatte keinen Ausweis dabei? Und was ist mit meiner Handtasche?«

»Sie hatten keine. Zumindest hat die Polizei am Unfallort keine gefunden.«

»Und ein Handy? Hatte ich kein Handy dabei?«

»Kaum zu glauben, nicht wahr?« Er lächelte. »Nein, ein Handy hatten Sie auch nicht dabei. Die Polizei erkundigt sich in den Fundbüros, ob vielleicht irgendjemand etwas abgegeben hat.«

»Aber hat denn niemand nach mir gefragt?« Noch ein merkwürdiges Gefühl durchlief sie: schnell und flirrend, zu schnell, um es greifen zu können. Ihre ganze Identität hing von anderen ab, von irgendjemandem, der sie finden und ihr einen Namen geben würde. Der sie zurückholen würde.

»Bislang nicht, obwohl wir natürlich die Vermisstenanzeigen prüfen. Nur eines haben wir …«, sagte Schwester Karen. »Dies hier hat die Polizei in Ihrer Rocktasche gefunden. Sagt Ihnen das etwas? Die Leute, die an der Adresse wohnen, kennen Sie leider nicht.«

Die Schwester reichte ihr einen kleinen Reißverschlussbeutel mit einem Zettel darin.

Ein Beweismittelbeutel, dachte sie, wie in einer Fernsehserie. Ich bin Teil einer Fernsehserie. Ich bin die geheimnisvolle Frau. Es fühlte sich an, als würden sie über eine andere Person sprechen.

Den Zettel hatte jemand aus einem Notizbuch herausgerissen. Jason und Libby Corcoran, The Swan Hotel, Rosehill Road, Longhampton, stand darauf. Darunter war eine Telefonnummer gekritzelt.

Enttäuschung übermannte sie, vermischt mit Panik. Das hatte nicht die geringste Bedeutung. Das war vollkommen irrelevant – wie die Rückseite eines Zettels, auf dessen Vorderseite etwas Wichtiges notiert war.

Ist das meine Handschrift?, fragte sie sich. Ordentliche Großbuchstaben, gut leserlich und präzise.

»Nein«, sagte sie. »Das … das weckt überhaupt keine Erinnerungen.«

»Nein? Kein Problem!«, sagte Jonathan Reynolds. Sollte er enttäuscht sein, ließ er es sich nicht anmerken. »Dann versuchen wir jetzt erst einmal herauszufinden, wann Ihr Gedächtnis einsetzt und abbricht, indem wir ein paar Fragen durchgehen. Ist das in Ordnung für Sie? Fühlen Sie sich in der Lage dazu?«

Sie nickte. Was hatte sie schon für eine Wahl?

»Denken Sie nicht allzu scharf über die Antworten nach, sondern sagen Sie einfach, was Ihnen spontan in den Sinn kommt.« Als er auf den Kugelschreiber drückte und in seine Unterlagen schaute, schoss ihr ein Gedanke in den Kopf. Bevor er seine erste Frage stellen konnte, hatte sie ihn bereits laut ausgesprochen.

»Wie haben Sie mich bislang genannt? Was für ein Name steht in Ihren Unterlagen?«

Sie fühlte sich verletzlich, weil sie diesen Fremden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Die Krankenschwestern kannten die Patienten auf ihrer Station nicht im eigentlichen Sinne des Wortes, aber die anderen hatten wenigstens einen Namen. Sie hatten eine Identität, irgendetwas, auf dem man ein Gespräch aufbauen konnte. Hinweise darauf, wer sie waren – eine Elsie, eine Camilla, eine Natalie.

»Wir haben Sie Jo genannt«, sagte die Schwester freundlich. »Das ist die Kurzform von Joanne Bloggs. Wir sind davon ausgegangen, dass wir Sie nach Ihrem Namen fragen können, wenn Sie das Bewusstsein wiedererlangen.«

Sie riss die Augen auf. Joanne. Ich bin keine Joanne. Aber jetzt bin ich es. Diese Leute haben entschieden, dass ich es bin.

»Oder dass Sie uns sagen, wie wir Sie nennen sollen, falls Sie sich nicht erinnern«, fuhr die Schwester fort, als sei das vollkommen normal.

Nun schauten beide sie an und warteten darauf, dass sie ihnen mitteilte, wie sie genannt werden wollte. Wer sie sein wollte.

»Na ja, ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich genannt werden möchte.« Sie war hin- und hergerissen, weil sie ihnen einerseits helfen wollte, sich andererseits nicht imstande sah, eine so gewaltige Entscheidung zu treffen.

»Wir kommen später darauf zurück, dann können Sie noch ein wenig darüber nachdenken.« Dr. Reynolds lächelte. »Also, wo wohnen Sie?«

»Das weiß ich nicht.«

»Okay. Mum und Dad, wo leben die?«

»Nirgendwo.« Das kam wie aus der Pistole geschossen. Es war eine Tatsache, nicht irgendetwas, das sie fühlte. »Sie sind beide tot.«

»Oh, das tut mir leid. Wie lange sind sie denn schon tot?« Er sprach im Plauderton, aber sie wusste, dass er seine Fragen sehr gezielt stellte, um im weichen emotionalen Gefüge ihres Lebens etwas medizinisch Verwertbares festzunageln.

Sie kniff die Augen zusammen, weil der dumpfe Schmerz in ihrem Kopf anschwoll und die Details sich ihrem Gedächtnis entzogen. Es war da, aber sie hatte keinen Zugriff darauf. »Das weiß ich nicht.«

»Darauf kommen wir später zurück«, sagte er unbekümmert. »Aber es ist schon mal ein gutes Zeichen, dass es nicht ganz weg ist. Was ist mit Ihnen? Wo leben Sie?«

Sie öffnete den Mund, aber … Nichts. Sie schüttelte den Kopf.

»Leben Sie hier in der Nähe? Leben Sie in Longhampton? Oder in der Nähe? Marley? Rosehill? Headley?«

Wieder schüttelte sie den Kopf. Keiner dieser Orte klang vertraut.

»Denken Sie nicht über einen Namen nach. Denken Sie einfach an Ihr Zuhause. Was riechen Sie? Was hören Sie?«

Die schwarze Masse hinter ihren Lidern verdichtete sich. Sie geriet in Panik. Dann aber sorgte irgendetwas dafür, dass sich ihre trockenen Lippen bewegten.

»Ich glaube … London?« Da war ein unbestimmter Eindruck von hohen Fensterfronten und roten Doppeldeckerbussen. Der Geruch von gegrilltem Huhn. Heiße Straßen und ein Park mit kümmerlichem Rasen. Lärm.

»London! Wunderbar. Nun, in dem Fall sind Sie ziemlich weit weg von zu Hause.«

»In letzter Zeit aber nicht«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen. Sie kramte verzweifelt in ihrem Gedächtnis, in ihrem Unterbewusstsein, damit ihr vielleicht noch etwas wie eine Tatsache in den Mund sprang. »Ich denke, das muss gewesen sein, als ich jünger war.«

»Das ist schon einmal ein Anfang. Leben Sie mit jemandem zusammen? Sind Sie verheiratet?«

Sie öffnete die Augen und schaute auf ihre Hände hinab, aber das half auch nicht weiter. Kein Ring. Keine blasse Stelle, wo der Ehering sein sollte. Kein Nagellack, keine abgekauten Nägel. Einfach nur ganz normale Hände.

Das ist grotesk, dachte sie, als sie sich das Hirn zermarterte: Ich betrachte meinen Körper, um etwas über mein Leben zu erfahren. Was könnte ihr Körper den Ärzten wohl noch alles erzählen, wozu sie selbst nicht in der Lage war? Könnte sie Mutter sein und sich nicht daran erinnern, obwohl sie die Narbe vom Kaiserschnitt am Bauch hatte? Hatten die Schwestern das längst kontrolliert und ihren nackten Körper, während sie im Koma lag, nach Anzeichen für irgendetwas abgesucht? Wussten sie etwas über sie, das sie selbst nicht wusste?

Das Gefühl, am Rande eines Abgrunds zu stehen, überkam sie wieder mit aller Macht.

Wer bin ich?

»Ich weiß nicht. Ich denke nicht.«

»Wie alt sind Sie an Ihrem letzten Geburtstag geworden?«, fragte Dr. Reynolds, und sie hörte sich antworten: »Dreißig«, ohne auch nur nachzudenken.

»Gut.« Er klang erfreut.

Aber ihr Gehirn griff nun wieder ins Leere. »Woher soll ich wissen, dass das stimmt? Was, wenn es einfach nur der letzte Geburtstag ist, an den ich mich erinnere?«

»Möglich. Aber immerhin wissen wir jetzt, dass Sie mindestens dreißig sind«, sagte er in seinem üblichen Plauderton und schaute über seine Brille hinweg. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich jemand an seinen dreißigsten Geburtstag erinnert, wenn er ihn noch gar nicht hatte, oder?«

Sie schaute an dem Neurologen vorbei zur Schwester. Zu Karen, bemühte sie sich zu denken. »Hat sich wirklich niemand gemeldet? Ganze zwei Tage lang nicht?«

Nach zwei Tagen dürfte doch irgendjemandem aufgefallen sein, dass sie nicht mehr da war. Wenn schon keinem Ehemann, so doch wenigstens irgendwelchen Arbeitskollegen, oder?

Ihre Brust schnürte sich zusammen, immer enger und enger. Was war das für ein Mensch, den niemand vermisste? Oder gab es vielleicht jemanden, der sie vermisste, der sie aber nicht finden konnte?

»Na ja, wir wissen nicht, ob nicht jemand nach Ihnen sucht. Sie könnten aber eine ganze Ecke von zu Hause weg sein. Man versucht es sicher erst in den Krankenhäusern in Ihrer Gegend.« Schwester Karen hatte freundliche Augen. »Aber keine Sorge, es gibt ein gut funktionierendes Netzwerk für vermisste Personen. Die Polizei kümmert sich darum. Die hat ziemlich oft hier angerufen, um sich nach Ihnen zu erkundigen – das ist wohl mal etwas anderes, als nach geklauten Traktoren und Ladendieben zu suchen.«

Sie schaute wieder auf ihre Hände hinab. An ihrem Handgelenk zog sich eine lange Narbe entlang, und die Handfläche war zugepflastert, weil sie vielleicht – wie sie vermutete – über den Asphalt geschrammt war. Die Fragen flatterten nun, da sich die Schläfrigkeit legte, wie ein Schwarm schwarzer Vögel in ihrem Hinterkopf auf. Was, wenn niemand kam? Was, wenn die Erinnerungen nicht zurückkehrten? Wo soll ich hingehen?

»Erinnern Sie sich, wo Sie letztes Jahr Weihnachten verbracht haben?«, fragte Jonathan Reynolds, und plötzlich wurde sie ohne Vorwarnung von großer Traurigkeit erfüllt.

»Nein.«

Tränen der Erschöpfung stiegen in ihrer Kehle auf, stauten sich in ihrem Kopf und traten in ihre verklebten Augen. Sie bemerkte eine Bewegung – die Schwester warf dem Arzt einen Blick zu und runzelte unmerklich die Augenbrauen, um zu signalisieren, dass es nun reichte. Sie war ihr dankbar dafür. Der Arzt war neugierig und wollte das Problem vor seinen Augen lösen, während sie selbst immer noch mit der Erkenntnis kämpfte, dass sie dieses Problem war. Wie begierig auch immer Jonathan Reynolds darauf sein mochte, ihre Identität zu ergründen, es war nichts gegen ihre eigene Sehnsucht, sie zu kennen.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann nicht … Mein Kopf … tut so weh.«

»Natürlich. Ich denke, das reicht wohl fürs Erste«, sagte er. »Das Wichtigste ist, dass Sie sich erholen. Wir lassen Ihnen Stifte und Papier hier, und wenn Ihnen etwas einfällt, schreiben Sie es einfach auf oder rufen Sie eine Schwester, um es ihr zu erzählen. Ich komme später noch einmal vorbei.«

Sollte das auch ein Test sein?, fragte sie sich. Ob ich noch schreiben kann?

Zögerlich griff sie nach einem Stift. Ihre Finger hielten ihn fest, und sie verspürte Erleichterung.

»Und bitte, machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er. »Bei den meisten Patienten mit retrograder Amnesie kehren die Erinnerungen nach ein, zwei Tagen zurück. Als würde man einen Computer wieder hochfahren.«

Sie merkte, dass sie sein beruhigendes Lächeln erwiderte. Tatsächlich aber war sie nicht im Mindesten beruhigt.

Kapitel drei

Bevor Libby nach Longhampton gezogen war und ihre neue Karriere als semiprofessionelle Frühstückschefin gestartet hatte, war ihr nicht klar gewesen, dass man Bacon auf eine richtige und auf eine falsche Weise braten konnte.

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