Der Ruul-Konflikt 4: Verschwörung auf Serena - Stefan Burban - E-Book

Der Ruul-Konflikt 4: Verschwörung auf Serena E-Book

Stefan Burban

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Beschreibung

Lieutenant Colonel David Coltor, ehemaliger Kampfpilot und hochdekorierter Geheimdienstoffizier, wird während einer verdeckten Operation auf der strategisch wichtigen Welt Serena verhaftet. Die Anklage: Hochverrat, Kollaboration mit dem Feind und Mord. Die Beweise sind erdrückend und eine Verurteilung scheint nur noch eine reine Formalität. Nur Major Rachel Kepshaw, eine alte Freundin und Kollegin Coltors, glaubt fest an dessen Unschuld. Sie nimmt auf eigene Faust Nachforschungen auf und bringt sich dadurch selbst in tödliche Gefahr ...

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Inhalt

Prolog

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Epilog

Weitere Atlantis-Titel

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg November 2021 Alle Rechte vorbehalten. Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild: Allan J. Stark Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-041-4 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-071-1 Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich. Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

Prolog

Es war geradezu gespenstisch ruhig. Lieutenant Colonel David Coltor war nicht gerade der Typ Mensch, der leicht zur Nervosität neigte. Dennoch fühlte er sich im Moment ganz und gar nicht wohl in seiner Haut. Dafür sehr, sehr verwundbar. Zwei Emotionen, auf die er gut hätte verzichten können. Nur mit Mühe widerstand er dem überwältigenden Drang, sich alle paar Meter zu vergewissern, dass ihm niemand folgte.

Die vier orbitalen Forts, die die Serena-Kolonie in einer niedrigen Umlaufbahn umkreisten, waren eigentlich nur dem Namen nach rein militärische Einrichtungen. Tatsächlich handelt es sich eher um kleine Städte, die neben den jeweils stationierten dreitausend Soldaten noch an die viertausend Zivilisten als Heimat dienten; überwiegend Arbeiter und Angestellte in den Hangars und Docks sowie die Familien der Soldaten. Die Orbitalforts gehörten der Baureihe vom Typ Protector an. Es handelte sich um Trutzburgen im All, die nicht nur überaus schwer gepanzert waren, sondern auch mit überwältigender Feuerkraft ausgestattet. Ein Zugeständnis an Serena als eine Welt in Frontnähe.

Die Forts verfügten darüber hinaus über ein ausgedehntes Erholungs- und Freizeitzentrum für dienstfreie Soldaten und die ansässige Zivilbevölkerung. Damit Frauen und Kinder zumindest zeitweise vergaßen, dass sie sich im All befanden.

Es war eigentlich unmöglich, sich in dieser Einrichtung verloren vorzukommen, und dennoch hatte David gerade das Gefühl, der einzige Mensch in dieser großen Anlage zu sein. Das war insofern beunruhigend, als dass er das bevorstehende Treffen lieber an einem Ort mit etwas größerem Publikum abgehalten hätte. Nur für alle Fälle. Leider hatte sein Gesprächspartner dies strikt abgelehnt.

Er schaute auf die Uhr. Das Stationschronometer war auf einen 31-Stunden-Tag eingestellt. Seine Armbanduhr immer noch auf den 24-Stunden-Tag der Erde. Demnach war auf der Erde gerade 18 Uhr abends, während hier auf Serena bereits 25 Uhr nachts war.

Und diese Erkenntnis half ihm … kein bisschen weiter.

Es erklärte lediglich, warum die ganze Station wie ausgestorben wirkte.

David erreichte den Stationsabschnitt, in dem sich hauptsächlich die Büros der Logistik und einige kleinere Lagerräume befanden. Er kämpfte nun nicht mehr gegen seine Instinkte an, sondern sah sich nach allen Seiten um, bevor er das Büro mit der Nummer elf betrat und leise die Tür hinter sich schloss.

Der Raum war in schummriges Licht getaucht, die Umrisse eines schmalen Schreibtisches gerade noch zu erkennen. Dahinter stand ein kleiner, unbequem aussehender Bürostuhl, allein bei dessen Anblick David schon Rückenschmerzen bekam.

»Tony?«

Keine Antwort.

»Tony? Bist du hier?«

»Ja«, drang eine wispernde Stimme endlich aus dem Dunkel einer Ecke. Jegliche Anspannung wich aus Davids Muskeln, als sich die korpulente Gestalt seines Kontaktmannes aus den Schatten schälte.

»Das hat ja gedauert«, hielt der Mann ihm vor. »Ich warte schon eine halbe Ewigkeit.«

»Tut mir leid. Ich wollte sichergehen, dass mir niemand folgt.«

»Und?«

»Scheint so weit alles in Ordnung zu sein«, beschwichtigte er den nervösen Informanten.

»Es scheint? Es SCHEINT? Hast du überhaupt eine Ahnung, was ich hier alles riskiere?«

»Beruhige dich und sei verdammt noch mal etwas leiser! Niemand ist mir gefolgt. Versprochen.«

»Bist du sicher?« Die Stimme des Informanten klang immer noch etwas weinerlich, trotzdem war dieser anscheinend bereit, Davids Worten vorerst Glauben zu schenken.

»Ja und jetzt komm mal wieder auf den Teppich runter. Was hast du für mich?«

Der Mann trat einen Schritt näher, sodass David ihn endlich deutlicher sehen konnte. Er war etwas kleiner als David und trug die weiße Uniform eines Flottenoffiziers mit den Insignien eines Lieutenant Commanders am Kragen.

Lieutenant Commander Anthony Benson war Kommunikationsoffizier und Computerexperte an Bord von Serena-Orbitalfort-III. Darüber hinaus war er ein Bekannter Davids aus früheren Zeiten. Ein Freund, den David sehr schätzte. Auch wenn dieser, trotz der eingeschlagenen militärischen Laufbahn, nicht mit großem Mut gesegnet war.

Die beiden Offiziere tauschten einen freundschaftlichen Händedruck. Als sie sich voneinander lösten, trat David einen Schritt zurück und musterte den anderen Offizier besorgt. Der Mann wirkte aufgelöst, fast schon der Panik nahe. Hätte David es nicht besser gewusst, er wäre sicher gewesen, dass Tony am Rande der Paranoia schwebte.

»Was ist los, Anthony? Du hast gesagt, es wäre dringend, und hier bin ich.«

Der Lieutenant Commander schluckte schwer, ehe er antwortete: »Du hast ja keine Ahnung, David. Keine Ahnung!«

»Jetzt beruhige dich und hol erst mal tief Luft. Es wird noch Stunden dauern, bis hier wieder jemand herkommt. Wir haben Zeit genug.«

»Ach ja? Denkst du?«

Tonys Stimmlage erreichte eine unangenehm hohe Frequenz. Nervös begann er, auf und ab zu laufen. Eine Angewohnheit, die in dem ohnehin schon beengten Büro zusätzlich an den Nerven zehrte.

David wollte ihn beruhigen und streckte behutsam die Hand nach ihm aus. Dies war der Augenblick, in dem ihm bewusst wurde, dass etwas nicht stimmte. Seine ausgestreckte Hand wirkte seltsam unscharf in seinen Augen. Als würde er sie durch dichten Nebel sehen. Er ging noch einen Schritt – und musste sich am Schreibtisch festhalten, als seine Beine ihm den Gehorsam versagten.

Mit alarmierender Geschwindigkeit wich jegliche Kraft aus seinem Körper. Bevor er noch wusste, wie ihm geschah, kniete er auch schon auf dem Boden.

»David?! David, was ist denn?« Tonys Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm durch; war kaum zu hören. Sie klang dumpf. Unwirklich.

»David? DAVID?«

Die Sicht verschwamm ihm nun völlig vor den Augen. Dann wurde es dunkel. Er bemerkte kaum, dass er auf dem Boden aufschlug.

Seine Sinne klärten sich nur langsam. Und die Eindrücke, die auf ihn einstürmten, ergaben allesamt keinen Sinn. Sofort übernahm der analytisch denkende Teil seines Verstands und begann mit der Arbeit, seine Situation in einen logischen Kontext zu bringen.

Er lag auf dem Boden. So viel war ihm klar. Nur war der Boden seltsam kalt. Nicht wie der Teppich in dem Büro, an das er sich erinnerte. Außerdem lag er auf dem Bauch. Er war sich ziemlich sicher, auf den Rücken gefallen zu sein, als er das Bewusstsein verloren hatte.

David öffnete die Augen. Der Nebel, der seine Sicht verschleierte, löste sich erschreckend zäh auf. Was er sah, half nicht unbedingt, seine Verwirrung zu beenden. Er sah Kisten. Genauer gesagt: eine Unmenge gestapelter Kisten.

Er stemmte sich mühsam auf die Ellbogen hoch und bereute die Bewegung augenblicklich, als Schmerzwellen durch seinen Kopf schossen und sein Rückgrat hinunterflossen.

Dessen ungeachtet setzte David sich auf seine Knie in eine halbwegs aufrechte Position. Er spürte einen unangenehm chemischen Geschmack auf der Zunge. Der Raum drehte sich um ihn. Beide Eindrücke kombiniert ließen Galle in seine Kehle aufsteigen. Er beugte sich vor und übergab sich lautstark auf das Deck.

Das Deck?

David fischte ein Taschentuch aus seiner Uniformjacke und wischte sich den Mund ab, während er seine Umgebung einer genaueren Untersuchung widmete. Er kniete in einem Lagerraum auf allen vieren vor einer Luftschleuse, durch die Versorgungsschiffe schnell und bequem ihre Ladung löschen konnten. Nur was tat er hier? Und was noch wichtiger war: Wie war er hierher gekommen? Der Bürotrakt, in dem er sich mit Tony getroffen hatte, war fünf Decks unter ihm. Zumindest, falls er den Grundriss des Forts annähernd richtig im Kopf hatte, wovon er im Moment eigentlich ausging.

Wacklig kam er endlich auf die Beine. Mehr schlecht als recht zwar, aber immerhin stand er wieder. Wo war Tony? Was um alles in der Welt war mit ihm passiert? Was zur Hölle ging hier vor?

Zischend öffnete sich eines der Druckschotten in der Nähe. Erschrocken wirbelte David herum und wäre beinahe gestürzt. Der Raum drehte sich immer noch beunruhigend und weigerte sich vehement, dieses nicht den Naturgesetzen gehorchende Verhalten einzustellen.

Durch das Schott stürmte ein Trupp Marines mit angelegten Waffen in den Raum. Die Männer umringten ihn wortlos. David starrte die Soldaten nur verständnislos an. Die Waffen waren allesamt auf seinen Kopf gerichtet. Er vermied jede unnötige Bewegung, um die kampferprobten Männer nicht zu einer tödlichen Reaktion zu provozieren. Die Hände hielt er in einer abwehrenden Position auf Brusthöhe mit den Handflächen nach außen, damit die Soldaten sehen konnten, dass er unbewaffnet war. Er hoffte inständig, dass sie darauf überhaupt Wert legten.

»Hier muss ein Missverständnis vorliegen«, brachte er mühsam hervor. Seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren rau und undeutlich. Seine Zunge prickelte und fühlte sich schwer an. Beinahe wie nach der Betäubung beim Zahnarzt.

»Das denke ich nicht«, sagte der Captain, der den Trupp anführte. Das Gesicht des Mannes war unter seinem Kampfhelm kaum zu erkennen. Nur die Augen waren gut sichtbar. Sie glühten vor Verachtung.

»Was geht hier vor?«

»Lieutenant Colonel David Coltor?«, fragte der Mann, ohne auf die Frage einzugehen.

»Sie wissen verdammt gut, wer ich bin!«

»Allerdings.«

»Darf ich also um eine Erklärung bitten?«

»Sie stehen hiermit unter Arrest. Gemäß den derzeit geltenden Kriegsgesetzen und den Bestimmungen des Kriegsrechts werden sie in Haft genommen und vor ein Militärgericht gestellt.«

»Auf wessen Anordnung?«

»Des kommandierenden Offiziers der Orbitalverteidigung der Serena-Kolonie, Admiral John J. Stuck.«

Langsam ließ David seine Hände sinken. Nur am Rande nahm er wahr, dass sich die Zeigefinger einiger Marines gefährlich um die Abzüge ihrer Waffen spannten.

»Und wessen werde ich beschuldigt?«

Falls David bezweifelt hatte, dass die Augen des Offiziers noch mehr zu funkeln imstande waren, so wurde er nun eines Besseren belehrt. In den Blick des Marine-Captains trat ein Ausdruck, den man nur mit Abscheu beschreiben konnte. Abscheu und Ekel. Noch etwas anderes entdeckte David darin – blanken Hass.

Die Antwort bestand aus nur einem Wort: »Hochverrat!«

David fühlte sich, als würde er aus großer Höhe in die Tiefe stürzen. Er verlor buchstäblich jeden Halt.

Er wollte auf diese unglaubliche Anschuldigung antworten. Er wollte diesem Captain verdeutlichen, dass dies alles lediglich ein furchtbares Missverständnis sein konnte. Doch ehe er die Gelegenheit dazu bekam, sagte der Captain sieben weitere Wörter, die ihm die Kehle vollends zuschnürten.

»Und Mord an Lieutenant Commander Anthony Benson!«

1

Major Rachel Kepshaw rekelte sich genüsslich in dem warmen, weichen Bett, das nicht ihr eigenes war. Durch die halb geöffneten Fensterläden drangen erste Sonnenstrahlen und verbreiteten ein sanftes Licht in dem Schlafzimmer. Sie drehte sich schlaftrunken zu dem Mann neben sich um und registrierte erleichtert, dass dieser immer noch tief und fest schlief. Erschöpft von den Anstrengungen der vergangenen Nacht.

Es wäre auch zu peinlich gewesen, ihm gegenüber zuzugeben, dass sie seinen Namen vergessen hatte. Sie stutzte einen Augenblick. Hatte er ihr gegenüber überhaupt seinen Namen gesagt? Vermutlich schon. Soweit sie sich erinnern konnte, war er Sven – oder Björn?! So ähnlich jedenfalls.

Sie zuckte ergeben die Achseln. Und wenn schon. Es lief ohnehin immer auf das Gleiche hinaus. Sie schlüpfte leise aus dem Bett, suchte sich ihre in der ganzen Wohnung verstreuten Kleider zusammen und zog sich geschwind an. Im Vorbeigehen angelte sie sich noch ein Croissant aus einem kleinen geflochtenen Körbchen in der Küche und verschwand wie ein Geist durch die Tür, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Sven (oder Björn?!) würde es verstehen. Es war sogar wahrscheinlich, dass er über ihr Verhalten zutiefst erleichtert sein würde. Das war diese Art Mann immer, die sie sich für ihre Vergnügungen aussuchte. Darüber hinaus war sie sich auch ziemlich sicher, dass er ohnehin nicht vorgehabt hatte, sie zum Traualtar zu führen. Der Gedanke entlockte ihr ein unterdrücktes Kichern.

Während sie ihr karges, improvisiertes Frühstück verzehrte, schlenderte sie die Straße hinab und beobachtete die Kopenhagener Bevölkerung auf dem Weg zur Arbeit. Einen flüchtigen Moment lang fühlte sie einen Stich des Bedauerns in ihrem Herzen. Sie sah Männer und Frauen, die sich an der Wohnungstür noch einmal umdrehten, um sich von ihren Liebsten zu verabschieden. Wohl wissend, dass sie in sieben, acht oder neun Stunden wieder nach Hause kamen, zu Abend aßen und sich gegenseitig erzählten, wie der Tag gelaufen war.

Ihr Leben verlief bei Weitem komplizierter. Ihre Arbeit nahm den Großteil ihres Lebens ein. Für richtige Beziehungen blieb da nur wenig Zeit. Oder Platz. Das schloss ihre eigene Familie mit ein, zu der sie fast keinen Kontakt mehr unterhielt. Sollte einmal tatsächlich so etwas wie Freizeit vorhanden sein, füllte sie diese kostbaren Stunden damit aus, sich einen Gespielen für die Nacht zu suchen. In diesen wenigen Augenblicken ungehemmter Intimität konnte sie ihre Arbeit wenigstens kurzzeitig vergessen und einfach nur Frau sein.

Sie beneidete die Männer und Frauen, die ihr begegneten und einem ganz geregelten Leben nachgingen. Sie konnte einfach nicht anders. Den Mann von vergangener Nacht hatte sie gestern Abend in New York kennengelernt. In einer heruntergekommenen Kneipe. Solche Etablissements waren ihr bevorzugtes … Jagdrevier. Ja, das war wohl der beste Ausdruck dafür.

Es war fast sicher, dass man dort Männer fand, die mit ihrer Art, sich morgens davonzustehlen, bestens zurechtkamen. Dank des suborbitalen Verkehrsnetzes hatten sie nicht mal eine Stunde für den Flug nach Kopenhagen gebraucht und sie war ihm äußerst bereitwillig in seine Wohnung gefolgt. Regel Nummer eins für One-Night-Stands: nie in der eigenen Wohnung!

Das Dumme an ihrem Lebensstil war, dass sie sich am nächsten Morgen – wenn auch körperlich meistens rundum befriedigt – doch leerer fühlte als jemals zuvor. Doch die kurzzeitige Zerstreuung half ihr immer, die nächste Aufgabe konzentriert in Angriff zu nehmen.

Vor zehn Jahren hätte sie nicht vermutet, dass ihr Leben in absehbarer Zeit in derartigen Bahnen verlaufen würde. Sie hatte von einem Mann, einer Familie und einem Haus mit weißem Zaun geträumt. Vielleicht noch von einem Hund, der im Garten mit ihren Kindern herumtollte.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie sich in so kurzer Zeit so viel an ihrer inneren Einstellung hatte verändern können. Sie fühlte sich zunehmend leerer, ausgelaugter. Auch ihre Arbeit, der Job, den sie sich immer gewünscht hatte, half da nichts mehr. Ihre Aufgaben bestanden aus einer Aneinanderreihung von Routine. Äußerst langweiliger Routine. Vor dem Waffenstillstand, so gefährlich diese Zeit auch gewesen war, hatte sie sich besser gefühlt. Ausgefüllter. Gebrauchter. Das Gefühl, ihre Arbeit sei wichtig, hatte sie zu jedem beliebigen Augenblick mit tiefer Befriedigung erfüllt. Seit sich die Ruul ruhig verhielten, war dies alles anders. Natürlich sehnte sie den Krieg nicht herbei. Nur ein Dummkopf würde das tun. Doch ihr fehlte das Gefühl, wichtige Arbeit zum Schutz ihrer Heimat zu leisten. Diese Lücke versuchte sie mit Männerbekanntschaften zu füllen, allerdings war dem wenig Erfolg beschieden. Die Dauer ihrer Beziehungen belief sich meistens auf wenige Stunden.

Fast als hätte er ihre momentane Stimmung vorausgeahnt, piepte ihr Kommunikator. Sie fischte ihn mit zwei Fingern aus der Tasche, würgte eilig die letzten Reste des Croissants hinunter und bestätigte die eingehende Verbindung.

»Kepshaw.«

»Major? Wo sind Sie gerade?«

Bei jedem anderen Menschen hätte sie die Unhöflichkeit, sich nicht mit Namen zu melden, auf die Palme gebracht. Doch dies war einfach Konteradmiral Nogujamas Art. Außerdem hatte er eine Stimme, die man sogar über die Anonymität einer Funkverbindung jederzeit wiedererkannte.

»In Kopenhagen. Wieso?«

»Gehen Sie zum Flughafen. Ich werde dafür sorgen, dass ein Ticket für Sie bereitliegt, wenn Sie ankommen.«

»Und wohin geht’s?«

»San Francisco. Sie nehmen die nächste Maschine. Ich will Sie hier in meinem Büro sehen. Am liebsten gestern.«

»Was ist passiert?«

»Nicht über Kommunikator. Ich würde Ihnen das gerne persönlich mitteilen.«

»Klingt ernst.«

»Ernst ist gar kein Ausdruck! Beeilen Sie sich.«

Ein Klicken und die Verbindung war unterbrochen. Die Stimme des alten Admirals hatte noch mürrischer geklungen als sonst. Und wenn er sich Sorgen machte, sollte sich Rachel lieber auch welche machen. Sie sah sich in beide Richtungen um, bis sie das Gesuchte entdeckte. Sie hob ihre Hand, um auf sich aufmerksam zu machen.

»Taxi!«

Zweieinhalb Stunden später stand sie nach einem haarsträubenden Flug in einem suborbitalen Hochgeschwindigkeitsflugzeug, dessen Pilot besser Kampfpilot hätte werden sollen, vor Nogujamas Büro. Mit einem Unheil verkündenden Gefühl in der Magengegend.

Der MAD-Chef hatte fast auf jedem Kontinent das eine oder andere Quartier, wenn er dringend vor Ort gebraucht wurde. Sein permanentes Büro befand sich jedoch in San Francisco. Im Hauptquartier der Streitkräfte.

Selbst dem atemberaubenden Panorama mit der Golden Gate Bridge im Hintergrund, den man von den Fenstern hier hatte und der ihr normalerweise immer half, sich zu beruhigen, begegnete sie nur mit mäßigem Interesse. Nogujamas rätselhaftes Verhalten beschäftigte sie viel zu sehr.

Die Tür ging unvermittelt auf und Rachel nahm sofort Habachtstellung ein. Der Admiral höchstselbst stand in der Tür und bedachte sie mit einem Ausdruck tiefster Anteilnahme und von fast so etwas wie körperlichem Schmerz. Er sah aus, als hätte jemand seinen Hund erschossen. Mit einem Wink bedeutete er ihr, ihm zu folgen.

Sie tat, wie ihr geheißen wurde, und auf einen weiteren Wink setzte sie sich auf einen der Stühle vor Nogujamas Schreibtisch. Der Admiral selbst ging um das Möbelstück herum und nahm dahinter Platz. Er betrachtete sie einen langen Moment lang, bevor er endlich das Gespräch eröffnete.

»Es war mir wichtig, dass Sie es von mir erfahren und nicht durch die Medien oder Dritte.«

»Sir?«

»David Coltor ist verhaftet worden.«

»WAS?«

Der Schock über diese Enthüllung traf sie völlig unvorbereitet. Rachel war schon halb von ihrem Stuhl aufgesprungen, noch bevor ihr richtig bewusst wurde, dass sie sich überhaupt in Bewegung gesetzt hatte. Mit zitternden Knien nahm sie erneut Platz. Nicht sicher, ob sie vielleicht Opfer eines grausamen Scherzes geworden war. Doch ein Blick in Nogujamas traurige Augen bestätigte, was sie insgeheim schon wusste. Es war sein Ernst. David Coltor saß in Haft. Nun verstand sie auch die Haltung des Admirals viel besser. Coltor war nicht nur Nogujamas Untergebener, sondern auch dessen Protegé. Und darüber hinaus ein enger, persönlicher Freund. Mehr noch. Er war für den alternden Admiral der Sohn, der ihm nie vergönnt gewesen war. Die Angelegenheit musste ihn darum nur umso härter treffen.

»Unter welcher Anklage?«, fragte sie mit leicht vibrierender Stimme. Es kostete sie ungeheure Anstrengung, nicht in Tränen auszubrechen. David war auch einer ihrer engsten Freunde.

»Hochverrat, Kollaboration mit dem Feind und Mord.«

»Lächerlich!«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Schon möglich.«

Rachel glaubte, sich verhört zu haben. Kampflustig beugte sie sich in ihrem Stuhl vor, bereit, Davids Ehre auch vor dem Admiral zu verteidigen.

»Es ist immerhin David Coltor, von dem wir hier reden. Der Mann, der die Mars-Verschwörung aufgedeckt hat. Der Mann, der geholfen hat, die Lydia zu befreien. Der Mann, der die ROCKETS mit großem Erfolg und Geschick leitet und sie zu einer ganz hervorragenden Kampftruppe gemacht hat. Von diesem David Coltor reden wir hier. Und dieser Mann soll ein Mörder und Verräter sein? Auf keinen Fall!«

»Ich weiß sehr gut, von wem hier die Rede ist!«, fauchte Nogujama zurück. Der Admiral verlor für einen Moment – aber wirklich nur für einen Moment – die Fassung, brachte seine Miene aber sofort wieder unter Kontrolle.

»Ich weiß es«, wiederholte er betont gelassen. Viel zu gelassen, als dass es seinen wahren Gefühlen hätte entsprechen können. Rachel bemerkte winzige Risse in seiner Fassade, hinter denen es gefährlich brodelte.

»Ich befürchte nur, die Beweislast ist erdrückend.«

»Was für Beweise?«

Nogujama öffnete eine Schublade und holte eine Akte hervor. Wortlos reichte er sie an Rachel weiter, die sie aufschlug und begierig darin blätterte. Bereits nach den ersten paar Seiten wurde ihr klar, dass Nogujama nicht übertrieben hatte. Die Sache sah wirklich sehr, sehr übel aus. Die Leiche eines Anthony Benson, Lieutenant Commander der Flotte, war außerhalb des Orbitalforts III im Serena-System gefunden worden. Der Körper so schrecklich entstellt, dass man ihn anhand seiner DNS hatte identifizieren müssen.

David Coltor hatte man in dem Lagerraum gefunden, aus dem Benson per Luftschleuse ins All befördert worden war. Es gab Zeugen für ein Treffen zwischen Benson und David kurz vor der Tat. Außerdem war umfangreiches Datenmaterial zu den Verteidigungsmöglichkeiten Serenas, dem Netzwerk orbitaler Forts, den momentan gültigen Codes und Anflugschneisen, den Abschaltprotokollen für das Minenfeld und die Abwehrsatelliten sowie eine detaillierte Aufstellung aller momentan im System stationierten Truppen- und Flottenkontingente bei Davids Gepäck gefunden worden. Komplett mit Dossiers der Führungsoffiziere und psychologischen Profilen.

Die Daten wären für jeden potenziellen Angreifer von unschätzbarem Wert und würden die Einnahme des Serena-Systems zu einem Kinderspiel machen. Und man war auch einhellig der Auffassung, genau zu wissen, für wen diese Datensammlung bestimmt gewesen war.

»Die Ruul? David soll für die Ruul spioniert haben? Ich habe selten so einen Quatsch gelesen.«

»Ich würde Ihnen normalerweise gern zustimmen, doch leider gibt es einige sehr beunruhigende Entwicklungen in der RIZ.«

Die Ruulanische Invasionszone war ein Sammelbegriff für alle Systeme, die während der Invasion der ruulanischen Stämme vor sechs Jahren an die Ruul gefallen waren. Seit den Schlachten bei Fortress, Serena und Starlight hatte es keine größeren Kampfhandlungen mehr gegeben. Die Ruul bauten langsam ihre Kräfte wieder auf und die Menschen, Til-Nara und ihre Nachbarn waren durchaus bereit, sie gewähren zu lassen, während sie ihrerseits die eigene Kampfkraft wieder aufbauten. Ein frustrierender Status quo war die Folge. Die Koalition kam nicht in die RIZ rein, die Ruul dafür nicht raus. Und als wäre das noch nicht genug, war Taradan nach sechs Jahren immer noch vom übrigen menschlichen Raum abgeschnitten. Eine Enklave der Freiheit inmitten feindlich besetzten Territoriums. Der einzige Kontakt fand über gelegentlich ausgetauschte Funkbotschaften statt. Trotzdem war es keine ideale Situation.

Das Konglomerat hatte darüber hinaus seine Stellungen in und um die Fortress-Linie massiv mit Verteidigungsanlangen verstärkt und sich regelrecht eingeigelt. Sollten die Ruul ihre Invasion wieder aufnehmen, wäre dies ein äußerst kostspieliges Unterfangen.

Es sei denn, sie bekämen diese Daten in ihre Hände. Damit würden sie in die Lage versetzt, die Verteidigung der Fortress-Linie auszumanövrieren und diese quasi nutzlos zu machen. Wäre erst einmal ein Loch in die Linie gerissen, könnten gefahrlos größere Flottenverbände die Welten hinter der Linie überrennen. Selbst Fortress und Starlight – eigentlich schwer befestigte Systeme – wären ohne den Flankenschutz durch Serena nicht mehr sicher.

»Es gab sehr verdächtige Truppenbewegungen in der ganzen RIZ«, spann Nogujama den Faden weiter. »Welten, die als ruulanische Hochburgen bekannt sind, haben ihre Schiffe in Marsch gesetzt und in Stellungen verlegt, die nur wenige Lichtjahre von der Fortress-Linie entfernt sind. Fünf grenznahe Systeme wurden in regelrechte Feldlager verwandelt und ich will eigentlich gar nicht wissen, wie viele Truppen dort jetzt möglicherweise stationiert sind. Aber es werden eine Menge sein. MAD-Analytiker gehen von einer Truppenstärke von mindestens achthunderttausend ruulanischen Kriegern pro Welt aus. Tendenz steigend.«

»Wenn das alles stimmt, worauf warten die dann noch?«

»Vielleicht auf das hier?!« Er wies vielsagend auf die Akte. »Etwas, das ihnen hilft, ihre Verluste zu minimieren.«

»Und Sie glauben allen Ernstes, dass David den Ruul diese Daten beschaffen würde? David Coltor? Ich hasse es, mich zu wiederholen, aber meine Güte, was für ein Quatsch!«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es gibt jedoch noch etwas, das Sie wissen sollten.«

»Nämlich?«

»Coltor hatte keinen Grund, auf Serena zu sein. Es gab keinen offiziellen Auftrag. Er hätte nicht mal in der Nähe sein dürfen. Was hat er dort getan? Und warum hat er es getan? Und warum wussten weder ich noch sonst jemand beim MAD, dass er sich dort herumtrieb. Allein das würde schon ein Verfahren rechtfertigen.«

Sie schüttelte abwehrend den Kopf, als sie bemerkte, welche Richtung das Gespräch einschlug. »Dafür gibt es doch ganz bestimmt einen guten Grund.«

»Mag sein. Jedenfalls liegt das nicht länger in unserer Hand. Ein Militärtribunal wird sich dieser Sache annehmen und über Coltors Schuld oder Unschuld befinden. Die Anklage behauptet, Benson wäre ihm auf die Schliche gekommen und hätte deshalb sterben müssen. Das Ganze klingt erschreckend plausibel.«

»Also schön. Wie gehen wir vor?«

»Wie bitte?«

»Was unternehmen wir, um ihn zu entlasten?«

»Es tut mir leid, Major, aber wir tun gar nichts.«

»Gar nichts?«

Ein wehmütiges Lächeln stahl sich auf Nogujamas Lippen. »Ich weiß Ihren Einsatz durchaus zu schätzen und ich weiß, wie gut Sie und Coltor befreundet sind, doch ich habe Ihnen das alles wirklich nur gesagt, damit es Sie nicht ganz so hart trifft, als wenn es Ihnen über offizielle Kanäle zu Ohren kommt. Wie ich schon sagte, liegt die Angelegenheit nicht in unseren Händen.«

»Was ist mit einer unvoreingenommenen Untersuchung?«

»Unvoreingenommen? Durch uns? Machen Sie sich bitte nicht lächerlich. Jeder würde denken, dass wir nur versuchen, einen der unseren herauszupauken. Und das mit Recht.«

Rachel sah den Admiral fassungslos und mit offenem Mund an. »Soll das heißen, wir legen einfach unsere Hände in den Schoß?«

»Ich sehe nicht, was wir sonst tun könnten.«

»Mord, Kollaboration mit dem Feind und Hochverrat. Für jedes dieser Vergehen ist ihm die Todesstrafe sicher, falls er verurteilt wird.«

»Ja.«

»Ja? Ist das alles, was Sie dazu sagen?«

Nogujama hob beschwichtigend die Hände. »Major. Ich verstehe durchaus Ihre Gefühle, aber …«

»Aber die Sache liegt nicht in unseren Händen«, wiederholte sie sein voriges Argument. Ihr Tonfall schrammte dabei nur um Haaresbreite am Tatbestand der Insubordination vorbei.

»So ist es.« Nogujamas stoische Miene drückte Unnachgiebigkeit aus, wobei Rachel schon damit zufrieden war, dass er über ihre harschen Worte und ihren Tonfall hinwegsah.

»Wir können ihn doch nicht einfach sich selbst überlassen?!«, wagte sie einen letzten, verzweifelten Vorstoß. »Wäre einer von uns in Schwierigkeiten, würde David alles stehen und liegen lassen, um uns beizustehen.«

»Ich weiß. Das macht es für mich ja so schwierig.« Der Admiral seufzte tief, stand auf und ging zum Fenster hinüber. Er starrte lange Zeit hinaus. So lange, dass Rachel sich schon fragte, ob er sie vielleicht vergessen hatte oder dies seine Art war, sie zum Gehen zu ermuntern. Als er doch wieder sprach, war seine Stimme kaum mehr als ein verzweifeltes Wispern. Sie musste die Ohren spitzen, um nicht versehentlich ganze Satzfetzen zu verpassen.

»Es ist ja nicht so, dass ich nicht schon versucht hätte zu intervenieren. Zu Davids Gunsten. Ich habe Fragen gestellt. Sehr viele Fragen. Außerdem wollte ich eine eigene Ermittlung der Umstände des Mordes durchführen.«

Rachel wurde hellhörig. »Aber?«

»Mir wurde nahegelegt … die Sache auf sich beruhen zu lassen. Um genau zu sein, hat man meiner Initiative ziemlich rabiat einen Riegel vorgeschoben.«

Rachels Gedanken überschlugen sich. Wer war so mächtig, dass er dem MAD-Chef Steine in den Weg legen konnte? Die Liste der betreffenden Personen war sehr kurz. Bevor sie fragen konnte, um wen es sich handelte, gab Nogujama ihr jedoch schon die Antwort.

»Sie dürften die Person sogar kennen. General James Maxwell. Ihr ehemaliger Vorgesetzter.«

Rachel schluckte schwer. Auch das noch. Maxwell. Abteilung für innere Sicherheit. Sie hatte viele Jahre unter Maxwell gearbeitet, bevor sie zum MAD gewechselt war. Der Mann war ein Frauenhasser und kurz gesagt ein Vollidiot. Er wäre schon unter normalen Umständen nicht gut auf sie zu sprechen. Eben einfach deshalb, weil sie eine Frau war. Was der Sache in seinen Augen noch die Krone aufsetzte, war, dass sie ihm den Rücken gekehrt und die Abteilung gewechselt hatte, um unter Nogujama ihren Dienst zu versehen. Der Mann hatte sie seitdem auf dem Kieker und es sich zur persönlichen Aufgabe gemacht, ihr das Leben zu erschweren, wann immer es möglich war.

Theoretisch war die Abteilung für innere Sicherheit Teil des MAD. Praktisch war die Innere eine eigenständig operierende Behörde und eine sehr mächtige obendrein. Sie war nur der Präsidentin und bestimmten Aufsichtsgremien des Parlaments verantwortlich. Es war ihre Aufgabe, Spione und Verräter innerhalb des Militärs zur Strecke zu bringen. Daher waren sie nirgendwo gern gesehen.

»Habe ich schon erwähnt, dass Maxwell bei Coltors Verfahren persönlich den Vorsitz des Militärtribunals übernehmen wird … Zusammen mit zwei Kollegen, die noch nicht bekannt sind.«

»Das … das kann er nicht. Das … das … « Noch während sie stotterte und sich weigerte, Nogujamas Worten zu glauben, erkannte sie, dass Maxwell sehr wohl den Vorsitz übernehmen konnte, wenn er dies wollte. Diejenigen, die ihn davon hätten abhalten wollen, besaßen nicht die Macht dazu. Und die, die ihn hätten abhalten können, wollten es nicht. Doch warum sollte ausgerechnet er den Vorsitz des Tribunals so vehement übernehmen wollen? Der Mann hatte seit fast zwei Jahrzehnten keinen Gerichtssaal mehr von innen gesehen.

Wusste er von ihrer Freundschaft mit David? Möglich. Nein, eigentlich sogar wahrscheinlich. David und sie hatten vor vierzehn Jahren auf dem Mars ermittelt. Damals war sie zum ersten Mal mit dem MAD in Berührung gekommen. Seiner Arbeitsweise und seinen Offizieren. Das hatte sie so beeindruckt, dass sie um Versetzung gebeten hatte und diese auch gewährt wurde. Mit Nogujamas heimlicher Hilfe.

Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass er auch David grollte, für den Anteil, den dieser an Rachels Austritt aus der Abteilung für innere Sicherheit gehabt hatte. Wenn man diesen Faden weiterverfolgte, führte jener Gedankengang zu der Erkenntnis, dass David mit allem rechnen konnte, nur nicht mit einem fairen Verfahren, wenn Maxwell das Sagen hatte. Der Mann war kleinlich, arrogant, von sich eingenommen und der Meinung, das Universum drehe sich allein um ihn. Er würde nicht zögern, die Regeln von Fairness, Wahrheit und Anstand seinen eigenen, egoistischen Zielen unterzuordnen. Sie musste etwas unternehmen. Unbedingt!

»Ich fliege nach Serena.«

Nogujama drehte sich verwirrt zu ihr um. »Um was zu tun?«

»David zu unterstützen. Helfen, wo ich kann. Irgendwas zu tun. Ach, keine Ahnung.«

Die Augenbrauen des Admirals zogen sich drohend zusammen. »Das muss ich Ihnen verbieten.«

»Wie bitte?«

»Ganz im Ernst. Das kann ich nicht zulassen. Maxwell war in dieser Hinsicht sehr deutlich. Er will keine zusätzlichen MAD-Offiziere auf oder um Serena sehen. Und den Offizieren vor Ort sind praktisch die Hände gebunden. Ich für meinen Teil bin froh, dass er sie nicht alle des Systems verwiesen hat. Sie werden von Maxwells Leuten jedoch streng überwacht, damit sie nicht in dieser Angelegenheit herumstochern. Das Schlimme ist, er hat auch noch Rückendeckung durch Präsidentin Tyler. Seit den Kindern der Zukunft und dem Zulauf, den sie vor allem in letzter Zeit anscheinend genießen, ist man sehr empfindlich, wenn es um mögliche Verräter geht.«

Rachel sackte buchstäblich auf ihrem Stuhl zusammen. Alle Kraft wich aus ihrem Körper und machte einer betäubenden Depression Platz. Dann gab es also wirklich nichts, was sie tun konnte.

Ein Funken Leben kehrte mit einem Mal in ihre Glieder zurück, als eine Idee im hintersten Winkel ihres Verstandes langsam Gestalt annahm. »Admiral?«

»Hm …?!«

»Im Moment liegen doch keine wichtigen Fälle an, oder?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte der Admiral misstrauisch. »Wieso?«

»Dann möchte ich Urlaub nehmen.«

Zu ihrer Überraschung lachte der Admiral prustend los. »Major, glauben Sie etwa, Sie hätten einen Dummkopf vor sich? Wo möchten Sie denn Ihren Urlaub verbringen? Auf Serena?«

Sie zuckte nichtssagend mit den Achseln. »Die Sache geht mir wirklich unheimlich nahe. Ich glaube nicht, dass ich meinen Dienst versehen kann, solange ich nicht weiß, was mit David geschehen wird. Urlaub scheint mir da die beste Alternative zu sein. Mein letzter Urlaub ist ohnehin schon viel zu lange her.«

Nogujama überlegte und warf ihr mehrere vielsagende Blicke zu, um ihr zu zeigen, was er von den Erklärungsversuchen hielt. Trotzdem nickte er und seine Gesichtszüge weichten auf.

»Also schön. Urlaub wäre vielleicht tatsächlich keine so schlechte Idee. Dadurch erhalten Sie zumindest Gelegenheit, Abstand zu gewinnen. Einen freien Kopf zu bekommen.«

Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, nahm ein Formular zur Hand und füllte es mit wenigen Handgriffen aus. Abschließend drückte er noch einen Stempel darauf und händigte es Rachel aus.

»Der Urlaub ist genehmigt.«

Sie griff nach dem Dokument, doch als ihre Finger sich darum schlossen, hielt der Admiral es weiterhin fest. »Allerdings werden Sie sich vom Serena-System fernhalten. Ich will nicht einmal, dass Sie sich im gleichen Sektor wie das Serena-System aufhalten. Es gibt so viele schöne Planeten. Besuchen Sie einen von denen.«

»Ich habe verstanden«, nickte sie.

»Ich meine es ernst, Rachel. Serena ist für Sie tabu. Es ist viel zu gefährlich. Der Planet ist zu einem brodelnden Krankheitsherd mutiert.«

»Ich habe den Eindruck, Sie meinen damit nicht nur Maxwell und seine Schergen.«

»Ganz und gar nicht. Es gibt seit relativ kurzer Zeit zivile Unruhen auf Serena, die teilweise in regelrechte Straßenschlachten mit der Polizei ausarten. Serena ist im Moment kein geeigneter Urlaubsort. Selbst, wenn man Davids momentane Situation außer Acht lässt.«

»Ich habe verstanden«, erwiderte sie so ernsthaft es ihr möglich war. »Serena ist von der Liste möglicher Urlaubsorte gestrichen.«

Der Admiral ließ das Papier los und sie faltete es zusammen und steckte es in die Tasche, bevor er es sich noch anders überlegen konnte. Dabei vermied sie es, sich ein triumphierendes Hochgefühl anmerken zu lassen. Nogujamas nächste Worte ließen ihre Adern jedoch zu Eis erstarren.

»Um ganz sicher zu gehen, werde ich Ihre Reisegenehmigung einschränken, sodass sie weder das Serena-System noch die Systeme in unmittelbarer Umgebung anfliegen können.«

Ihr Kopf zuckte nach oben. Das leichte Zucken um Nogujamas Mundwinkel zeigte, dass er ihre Absicht erraten und bereits im Vorfeld vereitelt hatte.

»Ich werde es noch ein einziges Mal ganz klar sagen: Sie werden sich von Serena fernhalten! Das ist ein ausdrücklicher Befehl.«

»Aye, Sir.«

Rachel stand stocksteif auf, salutierte knapp und stolzierte hinaus. Sie widerstand dem Impuls, die Tür hinter sich zuzuschlagen. Aber nur knapp. Verdammt und zugenäht! Nogujama konnte sich ihretwegen auf den Kopf stellen! Sie würde irgendwie ins Serena-System kommen … David brauchte sie; umgekehrt würde er das Gleiche für sie tun.

Jeder legale Weg, um zu ihrem alten Freund und Kollegen zu kommen, war ihr nun versperrt. Nun, dann musste wohl ein illegaler Weg herhalten. Als langjährige MAD-Offizierin hatte sie so ihre Möglichkeiten. Ihr fielen auf Anhieb ein halbes Dutzend begabter »Künstler« ein, die ihr eine falsche Identität oder trotz ihrer Reisesperre ein Ticket ins Serena-System besorgen konnten. Und die meisten von ihnen schuldeten ihr sogar den einen oder anderen Gefallen und wären begierig, diese Schuld endlich begleichen zu können.

Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, als sich langsam eine bestimmte Vorgehensweise in ihrem Geist herauskristallisierte. Zielstrebig verließ sie das Hauptquartier der Streitkräfte und steuerte die nächste öffentliche Telefonzelle an.

Nogujama grinste vergnügt, als er Rachel hinterhersah, wie sie vor dem Gebäude mit weit ausgreifenden Schritten davonschlenderte. So vorhersehbar. Wenn man jemandem wie Major Kepshaw etwas rigoros befahl, war es fast schon todsicher, dass sie das genaue Gegenteil tun würde. Wirklich äußerst vorhersehbar.

Er setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, nahm den Telefonhörer ab und drückte eine Taste des Kurzwahlspeichers. Als am anderen Ende abgenommen wurde, sagte er nur drei Worte.

»Sie ist unterwegs.«

2

Die Queen Elizabeth II senkte sich behäbig der Oberfläche von Serena entgegen. Der Passagierraumer war kein Luxusliner. Sie verfügte nicht über moderne Trägheitsdämpfer, künstliche Schwerkraft, Andruckabsorber oder Hitzeschilde, wie es auf neueren Schiffen Standard war. Stattdessen musste man sich mit Technologie zufriedengeben, die schon vor dreißig Jahren veraltet gewesen war. In der Konsequenz spürte man jeden einzelnen Ruckler in jeder Faser des Körpers, als das Schiff die oberen Atmosphäreschichten durchstieß.

Rachel rekelte sich. Nicht, weil sie sich wohlfühlte, sondern weil sie ihrem malträtierten Rücken nach dem langen, eintönigen Flug endlich wieder etwas Gutes tun wollte. Wie die anderen Passagiere auch, saß sie in einer kleinen Zelle angeschnallt und ein kleines Gitter – ähnlich einem Moskitonetz, nur sehr viel stabiler – hinderte sie daran, in der Schwerelosigkeit davonzufliegen.

Serena anzufliegen hatte sich als nicht ganz so einfach erwiesen, wie sie sich das vorgestellt hatte. Gefälschte Unterlagen zu bekommen war nicht schwierig gewesen. Eigentlich war es sogar der einfachste Teil der Übung gewesen. Auf ihrem Pass stand jetzt Norma Dellingbrough – ein ekelhafter Name, aber was sollte es –, eine Lehrerin für Mathematik und Geschichte aus Detroit auf der Erde. Die wirkliche Schwierigkeit bestand darin, einen Flug nach Serena zu ergattern.

Das System hatte seit sechs Jahren keine wirkliche Schlacht mehr erlebt. Nicht, seit die Ruul zurückgeschlagen worden waren. Trotzdem galt die Fortress-Linie – wegen der Nähe zu den Slugs – noch immer als Kriegsgebiet. Die meisten Schiffslinien weigerten sich rundheraus, das System anzufliegen. Immer wieder hörte sie, die geringen Verdienstmöglichkeiten lohnten das enorme Risiko nicht.

Als sie endlich eine Reederei gefunden hatte, die tatsächlich noch nach Serena auslief, waren bereits zehn Tage verstrichen. Der Flug an Bord des altersschwachen Schiffes nahm dann weitere zwei Wochen in Anspruch. Und Davids erster Verhandlungstag war für den 12. April angesetzt. Nur noch drei Tage.

Unter ihr wurde der Raumhafen von Nomad, der planetaren Hauptstadt von Serena, größer und sie spürte, wie die Schwerkraft langsam, aber beharrlich an ihr zog. Es überraschte sie doch sehr, wie heruntergekommen die Stadt von hier oben aus wirkte. Die Straßen und Gebäude waren baufällig und auch dem Verkehrsnetz konnte eine Überholung nicht schaden.

Das ganze System litt unter Massenarbeitslosigkeit und daraus resultierender Abwanderung in andere Systeme. Das konnte man den Menschen kaum vorwerfen. Serena war eine Festung. Der Planet wurde mittlerweile von einem Ring aus vier Orbitalforts geschützt. Und über dem Nordpol hing Central. Doppelt so groß wie die anderen Raumstationen und dafür ausgelegt, den Ring aus Orbitalforts zu kontrollieren und deren Vorgehen im Falle eines Angriffs zu koordinieren. Die Forts (inklusive Central) waren schwer bewaffnet und inzwischen mit Flak-Batterien der Stufe 3 ausgerüstet. Die Stufe 3 stellte die neueste Generation dieser Technologie dar und besaß eine effektive Reichweite von fast fünf Kilometern. Dadurch waren die Orbitalforts in der Lage, eine Todeszone um Serena zu schaffen, die sich nur mit äußerster Hartnäckigkeit und selbst dann nur unter sehr schweren Verlusten durchbrechen ließ.

Unter dem Südpol war die Parkposition der 9. Flotte, die den Auftrag hatte, das System zu beschützen. Damit war Serena auf allen Seiten von militärischen Einrichtungen umringt. Müßig zu erwähnen, dass Starlight und Fortress inzwischen auf die gleiche Weise geschützt wurden.

Das Militär stellte derweil mehr als sechzig Prozent aller Arbeitsplätze auf Serena. Zunächst unbemerkt und schleichend hatte sich die Kolonie in ein Feldlager verwandelt. Wer wollte schon in so einer Umgebung leben?

Darüber hinaus gab es noch eine Entwicklung ganz anderer Art. Das System lockte Scharen von Söldnern, Glücksrittern, Abenteurern und zwielichtigen Gestalten an. Im Gegenzug hatten sich nach und nach wichtige Industrien und deren Zuliefererbetriebe aus dem System und in sicherere Kolonien zurückgezogen. Es bedurfte keiner Erklärung, dass der Schwarzmarkt florierte. Und viele Bewohner Serenas kamen nur über die Runden, indem sie das Spiel mitspielten. Drogen, Waffen, Prostitution. Der Kreislauf aus Leid und Kriminalität hatte Serena fest im Griff. Das Militär war nicht willens oder in der Lage, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Vielleicht kümmerte es auch schlicht und ergreifend niemanden.

Die Queen Elizabeth II setzte mit einem ungewöhnlich harten Ruck auf. Selbst für ein so altersschwaches Schiff ungewöhnlich hart. Die Lautsprecheranlage an Bord erwachte krachend zum Leben.

»Sehr geehrte Passagiere«, verkündete eine übertrieben freundliche Stimme. Offensichtlich eine Bandaufnahme aus Zeiten, als es der Reederei noch wesentlich besser ergangen war. »Wir haben gerade auf Serena aufgesetzt, dem Schmuckstück des Theta-Sektors. Bitte denken Sie daran, die vielen Sehenswürdigkeiten von Nomad zu besichtigen. Wir hoffen, Sie hatten einen angenehmen Flug, und würden uns freuen, Sie bald wieder auf einem Flug der InterStellarExpress-Linie begrüßen zu dürfen. Bitte folgen Sie nun einer unserer charmanten Flugbegleiterinnen zum nächsten Ausgang und der Einreiseabfertigung. Die Besatzung der Queen Elizabeth II wünscht Ihnen noch einen angenehmen Tag.«

»Herzlichen Dank«, gab Rachel mürrisch in Richtung des Lautsprechers zurück.

Es klopfte an der Tür. Dem Geräusch nach hätte es ein lettischer Ringer sein können. Als sie öffnete, stand jedoch ein überraschend schmächtiges Persönchen in der billigen Aufmachung einer drittklassigen Flugbegleiterin vor ihr. Rachel konnte sich nicht helfen, aber die Frau passte durchaus auf die Queen Elizabeth II. Wie das Schiff selbst hatte auch die Frau schon deutlich bessere Tage erlebt. Rachel schnallte sich ab und öffnete das Gitter über ihrem Sitz.

Die Frau führte Rachel durch die eintönigen Gänge des Raumschiffs zum nächstgelegenen Ausgang drei Decks unter ihrem Quartier. Sie trug nur leichtes Gepäck in Form einer kleinen Reisetasche bei sich. Außer einigen Hygieneartikeln führte sie nur noch ihre Uniform und Unterwäsche zum Wechseln mit.

Sie war nicht hier, um Urlaub zu machen. Ermittlungen zur Entlastung David Coltors führten sie hierher. Also brauchte sie Zugang zum Tatort und allen Beweisen und es war unwahrscheinlich, dass man einer Lehrerin Zugang zu all diesen Dingen ermöglichen würde. Ein schmales Lächeln umspielte ihre Lippen. Nogujama hatte gesagt, sie dürfe nicht nach Serena reisen. Er hatte kein Wort gesagt, sie dürfte hier nicht als MAD-Offizierin auftreten, sollte sie es doch hierher schaffen.

Die Flugbegleiterin wies ihr und den wenigen anderen Passagieren den Weg zum Ausgang, wobei in diesem Fall eher von einem Rausschmiss zu reden war. Rachel stellte sich gehorsam an der Schlange vor der Abfertigung an und wartete …

… und wartete …

… und wartete …

Könnte sie es riskieren, bereits jetzt ihren MAD-Ausweis vorzulegen, würde sie vermutlich einfach durchgegewunken. Oder die Beamten würden sie in Haft nehmen und mit dem nächsten Schiff, das den Planeten verließ, zur Erde zurückschicken. Vorerst musste sie ihrer Tarnidentität treu bleiben. Zumindest so lange, bis sie den militärischen Teil des Raumhafens erreichte. Und dann konnte es mitunter erst richtig kompliziert werden.

Nach einer schier endlos scheinenden Zeit kam sie endlich an die Reihe und sah sich einem gelangweilten Beamten in der stumpfen, fantasielosen beigen Uniform der planetaren Zollbehörde gegenüber.

»Papiere«, verlangte er knapp. Die Art und Weise, wie er dieses eine Wort aussprach, zeigte schon die gelangweilte Eintönigkeit, mit der er einen Dienst versah, für den er sich selbst offensichtlich als viel zu wertvoll einstufte.

Wortlos reichte sie ihm Pass und Einreisegenehmigung. Im Geist kreuzte sie ihre Finger. Jetzt würde sich erweisen, wie gut der Fälscher wirklich war, den sie sich für ihre kleine Verschwörung ausgesucht hatte. Die beklemmende Antwort war: nicht allzu gut.

»Hm …«, war das einzige Geräusch, das der Beamte von sich gab, während er die beiden Dokumente gründlich musterte.

»Gibt es ein Problem?«, fragte sie betont unschuldig.

»Wo wurden diese Papiere abgestempelt?«

»Auf der Erde. Zentrales Reiseministerium, London. Wieso?«

»Hm …«, war wiederum die einzige Antwort.

Der Beamte unterzog die Dokumente einer viel zu gründlichen Untersuchung, kratzte sich zwischendurch am Kopf, am Kinn und Rachel wollte gar nicht wissen, an welchen anderen Stellen auch noch, und begutachtete vor allem die Einreisegenehmigung von allen Seiten. Und zwar wirklich von ALLEN Seiten. So sehr, dass Rachel am liebsten zugegeben hätte, dass beides gefälscht war, nur um diese Tortur endlich zu beenden.

»Hm … hm … hm …«

Nun tippte er auch noch auf seinem Computer etwas ein. Rachel hielt den Atem an. Hatte er unter Umständen ihre Beschreibung auf seinem Bildschirm? War Nogujama vielleicht schon darauf aufmerksam geworden, was sie hier versuchte?

»Diese Idioten!«, sagte er schließlich.

»Äh … Wie bitte?«

»Die haben zwei Stempel vergessen. Ohne die dürfte ich Sie eigentlich nicht durchlassen.«

»Oh … äh … ach nein, wie ärgerlich. Und jetzt?«

Der Beamte warf ihr einen ratlosen Blick zu. »Ich kann Sie ja schlecht wieder den weiten Weg zur Erde zurückschicken. Zumal sowieso recht wenige Schiffe hier an- und ablegen.« Er zwinkerte ihr schelmisch zu. »Wissen Sie was? Wir lassen das einfach unter den Tisch fallen. Vergessen Sie nur das nächste Mal nicht, den zuständigen Beamten, der Ihnen die Einreisegenehmigung ausstellt, auf die Stempel hinzuweisen. Die sind unheimlich wichtig.«

»Oh, vielen Dank! Das ist ja wahnsinnig lieb von Ihnen!« Sie klimperte etwas mit den Augenlidern und der Mann lief augenblicklich bis unter die Haarwurzeln rot an. Komplimente war er wohl nicht gewohnt.

Rachel nahm eilig ihre Papiere wieder an sich und steuerte den Ausgang an, so schnell sie konnte. Nur für den Fall, dass der Zollbeamte es sich noch anderes überlegte. Dieser bedeutete gelangweilt dem nächsten Mann in der Schlange, einfach durchzugehen.

Rachel bekam gar nicht mit, wie ihr der Zollbeamte aufmerksam mit den Augen folgte und jede ihrer Bewegungen beobachtete, bis sie außer Sicht war.

»Wenn ich jetzt noch eine Toilette finde, bin ich glücklich«, murrte Rachel zu sich selbst.

»Dort drüben«, antwortete überraschend eine freundliche Stimme. Als sie sich umdrehte, stand sie dem bestaussehenden Mann gegenüber, den sie je gesehen hatte. Wobei sie beim zweiten Blick ihre Einschätzung gleich wieder revidieren musste. Er war optisch nicht unbedingt beeindruckend. Eigentlich noch nicht mal ihr Typ. Es war eher seine Ausstrahlung, die auf sie wirkte und sie sofort einnahm. Von seinem strahlenden, ehrlichen Lächeln einmal ganz abgesehen.

Ihr Gehirn ratterte. Sie glaubte, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben.

Ja, genau. Er hatte in der Warteschlange hinter ihr gestanden. Dort war er ihr bereits aufgefallen.

Der Mann war etwa zwei Köpfe größer als sie, strohblond, mit leicht zerzauster Mähne, grauen Augen und einem strahlend weißen Lächeln. Sofort meldete sich ihre Libido zu Wort. Sie unterdrückte den Impuls mit eiserner Entschlossenheit.

Na gut, er sieht toll aus, sagte sie in Gedanken zu sich selbst. Aber ist das ein Grund, gleich mit ihm in die Kiste zu springen?

Und eine gehässige Stimme im hintersten Winkel ihres Gehirns antwortete: »Jajajajajaja!«

NEIN!, schrie sie zurück. Dafür bin ich nicht hier!

Das Lächeln des Mannes schwand ein wenig und ihr wurde bewusst, dass sie schon zu lange schwieg. »Äh … vielen Dank.«

»Keine Ursache, ich helfe, wo ich kann.« Er zwinkerte ihr zu, ging an ihr vorbei und bestieg ein Taxi. Sie sah dem davonbrausenden Gefährt nach und seufzte leise.

Na schön. Schon wieder eine Chance vertan.

Sie suchte die Toilette auf, zog sich aus und streifte ihre Uniform über. Adieu, Norma Dellingbrough. Willkommen Rachel Kepshaw. Sie verließ die öffentliche Toilette wieder und bestieg ein Taxi.

»Bringen Sie mich ins Waffenviertel!«, ordnete sie an. Der Fahrer startete gehorsam das Hover-Car und fuhr los. Das Waffenviertel war die inoffizielle Bezeichnung für den militärischen Teil des Raumhafens. Ziviler und militärischer Teil waren sowohl bürokratisch als auch räumlich voneinander getrennt und so dauerte die Fahrt ein paar Minuten. Zeit genug, um sich einen kurzen Eindruck von der Stadt zu verschaffen.

Rachel war nicht beeindruckt.

Vielmehr gelangte sie zu der Erkenntnis, dass aus der Nähe alles noch sehr viel schäbiger wirkte als aus den Bullaugen eines Raumschiffs betrachtet. Eine Schande. Serena war tatsächlich einmal das Schmuckstück des gesamten Sektors gewesen. Vor dem Krieg.

Der Wagen kam vor einer Schranke zum Stehen, vor der vier Marines Wache standen. Im Gegensatz zum Rest der Stadt wirkten die drei Männer und eine Frau adrett, sauber, diszipliniert und äußerst kompetent.

Sie bezahlte den Fahrer und stieg aus. Der Kommandant der Wachmannschaft – ein Sergeant Major – trat höflich vor, musterte ihre Uniform mit den Abzeichen eines Majors und den Insignien des MAD und salutierte zackig. Die drei anderen Soldaten nahmen Haltung an.

»Ma’am?«, erkundigte er sich höflich.

Sie nickte ihm ebenso freundlich zu und reichte ihm einen Passierschein. Sie hoffte, dass ihr Fälscherfreund wenigstens hier so etwas wie beruflichen Stolz gezeigt und eine gute Arbeit abgeliefert hatte.

Der Sergeant Major begutachtete den Passierschein nur ein paar Sekunden, reichte ihn zurück und bedeutete seiner Wachmannschaft, den Weg freizumachen. Rachel widerstand dem Drang, hörbar aufzuatmen. Damit hätte sie sich nur verdächtig gemacht. Sie hatte es geschafft. Sie war im Waffenviertel von Nomad.

Auf dem Flugfeld standen Dutzende von Schiffen auf der ihnen zugewiesenen Position. Kleine, schnelle, aber schwach bewaffnete Korvetten, die man bevorzugt einsetzte, um Schmuggler zu jagen, Stingrays, alle Arten von Shuttles und sogar zwei Großraumtruppentransporter. Mit ihren weit geöffneten Luken wirkten die Transporter zwischen den kleineren Schiffen wie Monster aus irgendeiner Mythologie, die sich anschickten, ihre Opfer zu verschlingen.

Der Raumhafen war gut gesichert, die Mannschaften diszipliniert. Die meisten Soldaten gehörten den Marines an. TKA-Soldaten sah sie hingegen nur wenige. Die TKA war für den Schutz der Städte, Ortschaften und planetaren Einrichtungen zuständig. Allein in und um Nomad waren zwei große Divisionen stationiert.

Aber Nomad war noch nicht ihre Endstation. Es gab noch eine Hürde zu nehmen, bevor sie am Ziel war. Das orbitale Abwehrnetz. Genauer gesagt: Central. Dort war David im Moment inhaftiert und dieser Ort würde ihr erster Anlaufpunkt sein.

Sie erreichte einen kleinen Landeplatz mit einem einzelnen Personenshuttle. Ein Marine stand auf Posten an der geöffneten Luke des kleinen Raumschiffs und ein Flottenoffizier – ein Lieutenant – überwachte das Ganze. Auf einem tragbaren Datenterminal machte er sich Notizen und hakte die Namen der Personen ab, die einstiegen. Nun würde sich erweisen, ob auch das zweite offiziell wirkende Dokument, das der Fälscher ihr besorgt hatte, sein Geld wert war.

Mit unbewegter Miene zog sie den Marschbefehl aus der Tasche und reichte ihn dem Lieutenant.

»Major Rachel Kepshaw. MAD. Derzeit auf Sondermission.«

Der Lieutenant ging die Namen auf seinem Terminal durch und stutzte. Dann ging er die Liste ein weiteres Mal etwas langsamer durch, wobei seine Gesichtsausdruck zunehmend verzweifelt wirkte. Fast bekam sie Mitleid mit dem Junioroffizier. Er konnte ihren Namen dort gar nicht finden. Nur wusste er das nicht. Und wer käme schon auf die Idee, dass irgendjemand so dämlich – um nicht zu sagen: frech – sein könnte, sich derart offensichtlich in eine hoch gesicherte Militäreinrichtung hineinzustehlen.

»Bitte um Verzeihung, Ma’am. Leider sind Sie nicht auf der für heute gültigen Personenliste.«

In gespielter Ergebenheit rollte sie mit den Augen und stieß einen tiefen Stoßseufzer aus, der ihre Verachtung für Bürokratie in jeglicher Form zum Ausdruck bringen sollte. Dazu musste sie noch nicht einmal ihre Schauspielkunst bemühen.

»Vermutlich ein Fehler der hohen Tiere auf der Erde. Ich sag Ihnen was. Lassen Sie mich einfach in das Shuttle und Schwamm drüber.« Sie schickte sich an, das Shuttle zu betreten, doch der Lieutenant war nicht bereit, so schnell klein beizugeben. Das wäre auch zu schön gewesen.

»Ma’am. Das kann ich leider nicht tun. Vorschriften sind nun mal Vorschriften. Darüber kann ich mich nicht so einfach hinwegsetzen.«

»Das verlangt doch auch keiner von Ihnen. Allerdings ist es von äußerster Dringlichkeit, dass ich meinen Auftrag ausführen kann. Und das kann ich nun mal nicht von hier unten. Ich muss da rauf.« Sie deutete mit dem Daumen in die ungefähre Richtung, in der sich Central befand.

»Das verstehe ich ja, Major Kepshaw. Aber Sie stehen nun mal nicht auf der Liste.« Er hielt sein Terminal hoch, als wäre die darauf gespeicherte Liste etwas Heiliges, gegen das zu verstoßen, einem Sakrileg gleichkam.

Rachel hielt den Augenblick für gekommen, etwas forscher aufzutreten. Mit einer Hand machte sie eine unbestimmte Geste und wischte das Terminal, das der Lieutenant ihr unter die Nase hielt, ungeduldig beiseite.

»Bleiben Sie mir doch mit dieser vermaledeiten Liste vom Leib. Auftrag ist Auftrag. Basta!«

»Aber die Liste …«, beharrte der Junioroffizier weiter.

Einer plötzlichen Eingebung folgend sagte sie: »Dann können ja meinetwegen Sie General Maxwell sagen, dass sein Auftrag an irgendeiner nutzlosen Liste scheitern wird.«

Das traf ins Schwarze. Wie sie gehofft hatte, hatte sich Maxwell bereits einen Namen im Serena-System gemacht. Und zwar keinen guten, der Art nach zu urteilen, wie das Gesicht ihres Gegenübers von einer Sekunde zur anderen jegliche Farbe verlor. Eigentlich kein Wunder. Maxwell war ein Tyrann. Eine Schlange konnte noch so oft ihre Haut abstreifen, sie blieb dennoch eine Schlange. Übertragen auf Maxwell hieß das: Tyrann blieb immer Tyrann.

»Der Auftrag ist also für General Maxwell?«, fragte der Lieutenant in einem Tonfall, der nur ganz knapp unter unverhohlener Panik rangierte.

Rachel nickte großspurig.

»Na wenn das so ist, dann kann … ich wohl ein Auge zudrücken«, stammelte der Mann verhalten. Jetzt tat er ihr wirklich leid. Sie hoffte, dass er keinen Ärger bekam, sobald die ganze Sache aufflog. Und dass sie aufflog, stand außer Frage. Die einzige Frage, die sich stellte, war, ob sie diese Scharade lange genug durchhielt, um Davids Unschuld zu beweisen.

Und wenn er nicht unschuldig ist?, fragte die gehässige Stimme in ihrem Geist. Sie schüttelte den Kopf, um diesen unwillkommenen Gedanken zu vertreiben. Natürlich war David unschuldig. Bevor sie das Shuttle bestieg, hielt sie noch einmal inne und drehte sich zu dem immer noch geschockten Lieutenant um. Sie fragte sich, wie weit sie ihre Frechheit noch würde treiben können, und beschloss, es auf die Probe zu stellen.

»Ach, und könnten Sie mir einen Gefallen tun? Wenn meine Vorgesetzten auf der Erde vergessen haben, meine Ankunft hier zu melden, dann steht auch bestimmt kein Quartier für mich bereit. Funken Sie doch kurz Central an und regeln Sie das. Ich will schließlich nicht in den Gängen übernachten. Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg sie ein und die Luke schloss sich hinter ihr. Durch das Fenster sah sie noch den Offizier, wie er wild gestikulierend in sein Headset sprach. Während sie sich anschnallte, hob das Shuttle auch schon ab.«

Central, ich komme.

3

Sie konnte zwar nicht genau sagen, was sie sich unter Central vorgestellt hatte, aber das ganz sicher nicht. Ursprünglich als Militäradministration und Kommandoposten gedacht, hatte die Raumstation inzwischen eine Art Eigenleben entwickelt. Dies fing schon bei der Tatsache an, dass die Besatzung nicht mehr ausschließlich militärisch war.

Wo in und um Nomad eine ständig wachsende Anzahl Soldaten das tägliche Bild prägten, schlug Central den entgegengesetzten Weg ein. Eine Verwaltung, die man benötigte, um etwas so Großes wie eine Flotte und eine TKA-Armee zu unterhalten, beinhaltete zwangsläufig Horden von Buchhaltern, Sekretären und Mitarbeitern in anderen Berufen ziviler Natur. So etwas wie Ordnung herrschte hier nicht. Jedenfalls keine, die Rachel auf den ersten Blick hätte erkennen können.

Es war ein buntes Sammelsurium von Uniformen, Anzügen und Freizeitbekleidungen aller Arten, Formen und Farben. Man konnte vergessen, auf einem Militärstützpunkt zu sein. Beinahe. Und zwar so lange, bis man die schwer bewaffneten Marines entdeckte, die jeden Zugang zum Hangar mit Argusaugen bewachten. Trotzdem bekam man hier das Gefühl, eine kleine abgeschottete Welt mit eigenen Gesetzen und eigenen Regeln zu betreten.

Was ihr als Nächstes auffiel: Die Besatzung von Central war nicht nur nicht ausschließlich militärisch, sondern darüber hinaus auch noch nicht ausschließlich menschlich. Nach den Schlachten von Fortress, Starlight und Serena vor sechs Jahren waren die Til-Nara nach relativ kurzer Zeit ihrem Versprechen nachgekommen und hatten ihren menschlichen Verbündeten tatsächlich Truppen und Schiffe zur Sicherung der eigenen Stellungen zur Verfügung gestellt.

Zweihunderttausend Soldaten und mehr als vierhundert Schiffe. Ein beeindruckendes Kontingent, das auf die drei Systeme der Fortress-Linie aufgeteilt worden war. Da Fortress selbst die höchsten Verluste an Schiffen zu beklagen gehabt hatte, wurde die Til-Nara-Flotte dorthin abkommandiert, während man die Bodentruppen zu gleichen Teilen auf Starlight und Serena stationierte. Wenn auch räumlich etwas entfernt von den größten Bevölkerungszentren der Kolonien, da sich menschliche Zivilisten in Gegenwart der Insektoiden häufig immer noch unbehaglich – um nicht zu sagen: ängstlich – fühlten.

Einige höhere Offiziere ihrer Verbündeten – beziehungsweise deren Entsprechung bei den Til-Nara – wurden mit eigener Leibwache und Adjutanten auf Central einquartiert, sodass die Station zugleich zu einem Koalitionshauptquartier mutierte. Ebenfalls eine Entwicklung, die man in dieser Art nicht im Auge gehabt hatte.

Die Insektoiden bewegten sich wie selbstverständlich unter den Menschen und diese schienen sich der Gegenwart der Fremdweltler gar nicht bewusst zu sein. Ein deutliches Anzeichen, dass Menschen und Til-Nara auf dieser Station bereits seit geraumer Zeit zusammen arbeiteten. Rachel war auf ihre erste Begegnung mit einem Til-Nara schon sehr gespannt.

Zu ihrer Überraschung kam ein junger Mann zielstrebig auf sie zu, sobald sie das Shuttle verließ. Offenbar wurde sie bereits erwartet. Ein Junioroffizier – ein Lieutenant – stand vor ihr stramm und salutierte zackig. Sie ließ sich ihre Verwirrung nicht anmerken und erwiderte die Ehrenbezeugung ein wenig lasch mit genau dem richtigen Grad an Langeweile, wie ihn höhere Offiziere häufig gegenüber Junioroffizieren an den Tag legten.

»Ma’am? Darf ich Ihre Tasche nehmen?«, fragte der junge Mann galant.

»Gern … Lieutenant …?« Sie reichte ihm ihre Reisetasche, während sie auf eine Antwort wartete.

»Lujankow, Ma’am. Ich habe mir erlaubt, Ihre Unterkunft für Sie zu regeln. Lieutenant Lassiter hat Sie bereits angekündigt.«

Mit dem Namen Lassiter konnte sie zwar nichts anfangen, doch sie hatte so eine Ahnung, dass es sich dabei um den jungen Offizier handelte, der die Passagierliste des Shuttles kontrolliert hatte. Also war ihre Taktik erfolgreich gewesen und nun war sie stolze Besitzerin einer Unterkunft auf Central. Das lief ja besser als erwartet.

Autsch, den Gedanken hätte sie besser nicht gedacht, denn eines hatte ihre Erfahrung sie gelehrt: Auf Dinge, die viel zu glatt liefen, folgten oftmals richtig üble Probleme …

Dieses üble Problem stellte sich als recht korpulenter, bulliger Offizier heraus, der sich streitlustig vor ihr aufbaute und ihr somit effektiv den Weg versperrte. Lieutenant Lujankow verschluckte sich fast an seiner eigenen Zunge und nahm schnell Haltung an. Rachel brauchte ihm keinen Blick zuzuwerfen, um zu wissen, dass er jetzt gerne woanders wäre. Vorzugsweise an einem weit, weit entfernten Ort.

Rachel nahm ebenfalls Haltung an. Allerdings nicht so schnell und auch nicht so zackig wie Lujankow. Vor dem Mann, der ihr gegenüberstand, hatte sie nicht den Hauch von Respekt. Und das wusste dieser ganz genau.

»Lernt man beim MAD, auf diese Art einen vorgesetzten Offizier zu grüßen?«, polterte Lieutenant General James Maxwell und stemmte seine Fäuste in die Hüften.

Verdammt! Warum muss mir der Kerl gleich im Hangar über den Weg laufen?

Die Mitarbeiter der Inneren trugen die gleiche Uniform wie der Rest des MAD-Personals. Von zwei kleinen Unterschieden abgesehen. Herkömmliche MAD-Uniformen waren vollständig schwarz. Bei Soldaten der Inneren jedoch war der Rücken in Dunkelblau gehalten, was den Mitgliedern der Inneren den eher inoffiziellen Beinamen Blaurücken eingebracht hatte. Und am Kragen prangte ein silbernes Abzeichen mit der Abkürzung A.i.S. Nur ein klitzekleiner Unterschied, aber die Typen von der Inneren waren darauf unheimlich stolz. Das hatte auch für sie gegolten, als sie noch für die Abteilung gearbeitet hatte. Heutzutage jedoch war ihr das unsagbar peinlich.

Hinter dem General standen zwei seiner Speichellecker. Stramm, aufrecht, eifrig und … mit dem IQ eines Kühlschranks.

»General Maxwell, Sir. Schön, Sie zu sehen.« Es war natürlich eine Lüge. Und noch nicht mal eine besonders gute. Maxwells feiste Lippen kräuselten sich vor Verachtung. Er hatte ihre Lüge also als solche durchschaut. In Ordnung, wenn er schon wusste, was sie über ihn dachte, konnte sie genauso gut noch einen draufsetzen.

»Mit Verlaub, Sir. Sie sind ranghöher, aber nicht mein Vorgesetzter. Bei allem Respekt.«

Natürlich nur bei all dem Respekt, den sie dem General entgegenbrachte. Was nicht besonders viel war.

Maxwell plusterte sich auf. Auf dem Kopf trug er fast keine Haare mehr. Die wenigen, die er bisher hatte retten können, waren zu einer Hufeisenform angeordnet. Es war jedoch abzusehen, dass er über kurz oder lang die restliche Haarpracht auch noch verlieren würde. Und wenn er nicht sehr auf seinen Blutdruck achtgab, würde das eher früher als später sein.

Maxwell war bei ihren Worten nämlich hochrot angelaufen und schien fest entschlossen, seine Haare aus dem Kopf hinauspressen zu wollen. Dabei wusste sie gar nicht, was ihn wohl mehr aufregte. Dass sie sich weigerte, vor ihm Angst zu haben, oder dass sie dies auch noch ganz offen zeigte.

»Sie steigen jetzt wieder in dieses Shuttle, fliegen zur Oberfläche zurück und verschwinden mit dem nächsten Schiff, das Serena verlässt!«

»Oder?«

»Oder sie verlassen das System an Bord eines Gefängnisschiffes. Sie sollten gar nicht hier sein und Sie haben mit Sicherheit auch keine Erlaubnis, hier zu sein.«

»Oh doch, die habe ich.« Sie wedelte provokant mit dem gefälschten Marschbefehl vor seinen Augen herum. Dass es keine besonders kluge Vorgehensweise war, vor dem Chef der Abteilung für innere Sicherheit mit einem gefälschten Dokument anzugeben, auf den Gedanken kam sie in dem Moment nicht. Die Gegenwart dieses aufgeblasenen Fatzkes reizte sie bis zur Weißglut.

Immer noch zitternd vor Wut, riss er ihr das Dokument aus der Hand, faltete es auseinander und begann, es zu lesen. Als er fertig war, las er es erneut. Und dann noch einmal.

»Woher haben Sie das?«, fuhr er sie an, wobei seine Augen sie über den Rand des Schriftstücks hinweg wütend anfunkelten.

»Von wem werde ich das wohl haben?«