Der Ruul-Konflikt 7: Brüder im Geiste - Stefan Burban - E-Book

Der Ruul-Konflikt 7: Brüder im Geiste E-Book

Stefan Burban

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Beschreibung

Aus der Not heraus, die entstandenen Lücken schnell zu schließen, entscheidet sich das terranische Militär, auch weniger geeignete Rekruten einzuziehen und in Freiwilligenregimentern zu organisieren. Schlecht ausgerüstet und nur unzureichend ausgebildet, versehen diese Einheiten als Garnisonstruppen weit hinter den eigenen Linien ihren Dienst, um reguläre Truppen für den Einsatz an der Front freizustellen. Eine dieser Einheiten ist das 171. Freiwilligenregiment auf dem Planeten Alacantor. Doch dann suchen sich die Ruul ausgerechnet Alacantor als Ziel für einen ihrer Überfälle aus und plötzlich muss das 171. Regiment unter Beweis stellen, was es wirklich wert ist …

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Inhalt

Prolog Willkommen in der Hölle

Teil I Ausbildung

1

2

3

4

5

6

Teil II Ernstfall

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

Teil III Brüder im Geiste

17

18

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20

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26

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Epilog Der Wahnsinn des Krieges

Weitere Atlantis-Titel

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg Juli 2022 Alle Rechte vorbehalten. Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild: Andy Adamus Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN: 978-3-86402-202-9 Dieses E-Book ist auch als Paperback überall im Handel erhältlich sowie als Hardcover direkt beim Verlag. Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

Prolog Willkommen in der Hölle

Noch einmal stürmt, noch einmal, liebe Freunde …William Shakespeare, König Heinrich, 3. Akt, 1. Szene

Die Kufen des altersschwachen Truppentransporters der Gargoyle-Klasse senkten sich schwer auf das Landefeld. Das Metall ächzte vor Beanspruchung und man erwartete halb, dass das Schiff doch noch in den letzten Momenten auseinanderbrechen würde, obwohl es den Wiedereintritt in die Atmosphäre des Planeten überstanden hatte.

Die Tore zum Mannschaftsabteil öffneten sich quietschend und entließen die menschliche Fracht nach beinahe einem Monat endlich ins Freie. Die Gargoyle-Klasse war eigentlich als Kurzstreckenschiff zwischen nahe gelegenen Systemen konzipiert und die sanitären Einrichtungen an Bord dementsprechend bescheiden. Daher war der überwiegende Teil der Passagiere froh, dem überwältigenden Gestank im Inneren zu entkommen, der ein Gemisch aus den Körperausdünstungen von fast zweitausend Menschen war. Die meisten hatten seit Antritt der Reise nicht mehr geduscht. Selbst einfachste Körperhygiene stellte an Bord dieses rudimentär ausgestatteten Schiffes ein Problem dar.

Erst einmal im Freien, holten die meisten Passagiere des Schiffes tief Luft – der erste unbeschwerte Atemzug seit über dreißig Tagen.

Derek Carlyle setzte seinen Fuß auf die Rampe des Schiffes und kniff die Augen unwillkürlich vor dem Licht zusammen, das die beiden Sonnen Alacantors spendeten. Für jemanden, der wie er von Rainbow stammte, war das Licht ausgesprochen grell und es brannte in seinen Augen, sodass sie praktisch augenblicklich anfingen zu tränen. Er angelte seine Sonnenbrille aus der Brusttasche seiner Jacke und setzte sie auf.

»Viel besser«, seufzte er erleichtert.

»Hey, kleiner Mann«, pöbelte ihn jemand an. »Geht’s da vorne auch mal weiter? Du versperrst den Eingang.«

Derek drehte sich um, um dem Rüpel eine angemessene Antwort zuteilwerden zu lassen, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Hinter ihm stand ein Mann, der allem Anschein nach ohne Weiteres in der Lage schien, ohne Hilfe einen Baumstamm zu stemmen. Einen großen.

»Ähm … ’tschuldigung«, nuschelte Derek und setzte sich wieder in Bewegung. Manchmal war es besser, sich nicht wegen einer Nichtigkeit auf einen Streit einzulassen, vor allem wenn besagter Streitgegner aussah, als sei er ein schiefgelaufenes genetisches Experiment.

Derek selbst war eins siebzig groß, ein wenig untersetzt und durch den Monat in dem Schiff so blass, dass man ihn für eine Wasserleiche hätte halten können.

Die Menschen aus dem Gargoyle-Truppentransporter sammelten sich auf dem Landefeld, wobei es so aussah, als wüsste niemand so recht, was jetzt zu tun sei.

Derek verfügte nur über geringe militärische Erfahrung und selbst diese war … nun ja … nichts, mit dem man prahlen konnte. Doch selbst er erkannte, welchen Wert als Soldaten die hierher verfrachteten Menschen innehatten: Er entsprach irgendetwas zwischen null und einer Zahl im Minusbereich. Aber gut, nun waren sie einmal hier, um ihrem Volk und ihrer Heimat zu dienen.

Er sah sich missmutig um.

Was immer das hier auch bedeuten mochte.

Aus dem Orbit hatte Alacantor wie eine riesige gelbe Fläche gewirkt. Nun, aus der Nähe betrachtet, bemerkte er erst, wie sehr dieser Eindruck zutraf. Der Planet bestand zu gut sechzig Prozent aus Ackerland. Aufgrund der beiden Sonnen und der Bahn, die der Planet um diese zog, herrschte auf Alacantor das ganze Jahr über Erntezeit. Der Planet war eine gigantische Nahrungsmittelfabrik. Die Bevölkerung zählte etwa vierhunderttausend Menschen, wobei sich der Großteil auf etliche Farmen und Bauernhöfe verteilte. Die einzige größere Stadt auf dem Planeten war die Hauptstadt Crossover, die den militärisch genutzten Raumhafen des Planeten beherbergte. Der einzige andere Raumhafen lag bei der Stadt Carras. Dieser wurde aber hauptsächlich zum Verladen und Verschiffen der Handelswaren des Planeten – sprich der Nahrungsmittel – genutzt.

Vor dem Krieg hatte es insgesamt sieben Kolonien gegeben, die sich auf die Produktion von Nahrung oder die Zucht von Nutzvieh spezialisiert hatten. Zwei davon befanden sich jetzt tief hinter den feindlichen Linien und galten als verloren. Blieben nur noch fünf und diese waren zum Glück weit außerhalb der Reichweite der Ruul.

»Was für ein Drecksloch!«, maulte der hünenhafte Kerl, der ihn schon auf der Rampe angepöbelt hatte.

»Ein wenig mehr Respekt«, meinte Derek halbherzig. »Dieser Planet ernährt Milliarden von Menschen und Dutzende von Welten.«

»Hab ich dich vielleicht nach deiner Meinung gefragt?« Ohne auf ein Antwort zu warten, stapfte der Kerl an ihm vorbei.

Oh Derek. Wann lernst du es endlich mal, deine große Klappe zu halten?

Derek schmunzelte über sich selbst, als er sich zu den anderen Rekruten gesellte. Die Sonne brannte auf das Flugfeld, doch niemand kam, um sie zu begrüßen oder überhaupt einzuweisen. Stattdessen verharrten sie dort neben dem Truppentransporter wie bestellt und nicht abgeholt.

Wie viele Stunden sie dort standen, wusste Derek am Ende nicht zu sagen. Er wusste nur noch, dass sie fast den ganzen Tag dort blieben. Ohne Wasser oder Nahrung. Wer sich auf eine heiße Dusche gefreut hatte, wurde enttäuscht, denn statt erfrischendem Wasser, das über ihre Köpfe lief, tränkte Schweiß ihre Körper. Nicht wenige wurden ohnmächtig und sanken auf dem Asphalt zusammen.

Derek vermutete schon, man könnte sie vielleicht vergessen haben, als zwei Männer aus einem der Gebäude traten und sich der zusammengewürfelten Truppe näherten.

Der eine war klein und untersetzt, mit dichtem Bart und stechenden Augen. Auch ohne die Rangabzeichen auf der Brust zu sehen, wusste Derek sofort, dass er einen Unteroffizier vor sich hatte. Diesen Typus erkannte er auf hundert Kilometer.

Der andere war offenbar Offizier. Als das Duo näher trat, entdeckte er die Abzeichen eines Lieutenant Colonels am Kragen. Der Mann war nur einen Kopf größer als Derek und schien in den Vierzigern zu sein. Er war schlank, hatte ein wenig Muskeln, das dunkle Haar war zurückgekämmt, das Gesicht glatt rasiert. Auf den ersten Blick wirkte der Offizier sogar recht sympathisch. Nicht so wie viele andere, die auf niedere Dienstgrade herabsahen.

Derek hatte für Offiziere nicht viel übrig. Sie gaben Befehle und andere trugen die Konsequenzen. In den meisten Fällen bedeutete das, sie starben.

Derek fiel auf, dass die Augen des Mannes ein wenig zu unbeständig hin und her huschten. Nach seinem Dafürhalten gab es für so ein Verhalten nur zwei Erklärungen: Entweder er rechnete jederzeit damit, dass Slugs hinter der nächsten Ecke hervorkamen, oder es mangelte ihm an Selbstvertrauen. Vielleicht auch eine Mischung aus beidem. Falls der Offizier einen Dachschaden hatte, passte er auf jeden Fall beunruhigend gut in diese Einheit.

Das Duo blieb vor der Menschenmenge stehen. Der Offizier verschränkte die Arme hinter dem Rücken, während der Unteroffizier vortrat und mit volltönender Stimme zu sprechen begann.

»Mein Name ist Lucas Delaney. Master Sergeant Lucas Delaney. Ich bin der ranghöchste Unteroffizier dieser Einheit und in dieser Funktion habe ich die zweifelhafte Ehre, eure Ausbildung zu leiten und zu überwachen.« Er blickte sich unter den gespannt wartenden Personen aufmerksam um. »Und eines will ich gleich vorneweg sagen: Ich bin kein netter Mensch. Ich bin nicht euer Freund und vor allem bin ich nicht eure Mami. Ich werde euch schleifen, bis ihr eure Eingeweide auskotzt und ihr euch wünschen werdet, wieder zu Hause bei Muttern zu sein. Und danach schleife ich euch weiter, nur weil ich Lust dazu habe. Hier und heute ist das einzige Mal, dass ich ein derart schlampiges Auftreten toleriere. Ab sofort werdet ihr vorschriftsmäßig Aufstellung nehmen, sobald ihr antretet, und das heißt eine Armlänge von eurem Nachbarn sowie von eurem Vordermann entfernt.« Unruhiges Gemurmel brandete unter den Zuhörern auf. Denjenigen, die der Meinung gewesen waren, in einer Freiwilligeneinheit sei es leichter, wurde nun bewusst, wie sehr sie sich geirrt hatten.

»Zunächst einmal«, fuhr der Master Sergeant fort, »ein paar grundsätzliche Dinge. Wisst ihr eigentlich, warum ihr hier seid?«

Derek bemerkte, wie sich viele seiner Leidensgenossen gegenseitig unsichere Blicke zuwarfen, doch niemand wagte, sich zu melden. Niemand wollte es riskieren, bereits zum jetzigen Zeitpunkt in den Fokus ihres Ausbilders zu geraten.

Delaney schnaubte abfällig. »Das hatte ich auch nicht erwartet. Dann will ich euch mal aufklären. Die Ruul haben vor nicht ganz einem Jahr einen erfolgreichen Angriff gegen das schwer befestigte Serena-System gestartet und dort einen Brückenkopf errichtet, der dazu dient, den Planeten unter ihre Kontrolle zu bringen.

Seit diesem Angriff ist die Fortress-Linie nicht länger sicher und ruulanische Überfallkommandos werden zunehmend frecher und greifen immer wieder Kolonien hinter der Frontlinie an. Das Oberkommando in seiner unendlichen Weisheit hat nun beschlossen, auch weniger taugliche Rekruten einzuziehen, um sie als Garnisonstruppen einzusetzen. Und wisst ihr auch wieso?« Dieses Mal wartete er gar nicht erst auf eine Antwort. »Ihr sollt richtige Soldaten für den Kampf an der Front freistellen. Denn die sind jetzt zu wichtig, um sie auf Garnisonsposten zu vergeuden. Sie werden eingesetzt, um gefährdete Planeten zu sichern und die Truppen bei Serena zu unterstützen.«

Bei der Bemerkung richtige Soldaten, brandete erneut Gemurmel auf, das diesmal entschieden wütend klang. Viele der Anwesenden fühlten sich durch diese Wortwahl offenbar beleidigt. Derek war sich leider bewusst, dass diese Bemerkung, wenn auch taktlos, doch der Wahrheit entsprach. Die meisten Menschen, die ihn umgaben, hätten keine Chance bei regulären Einheiten gehabt.

»Einige von euch haben bereits in militärischen Einheiten gedient, haben aber aus irgendwelchen Gründen versagt oder den Dienst quittiert.« Derek fühlte Delaneys Blick auf sich ruhen und fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte angesichts des Themas, das der Master Sergeant gerade ansprach. »Andere haben nie beim Militär gedient und ohne die neu aufgestellten Freiwilligenregimenter hätte man nie auch nur daran gedacht, ihnen eine Waffe in die Hand zu drücken. Aber die Zeiten sind nicht rosig und jeder Mann und jede Frau werden dringend gebraucht, um unsere Welten zu schützen.«

Der Master Sergeant seufzte. »Ich persönliche halte es für Verschwendung von Zeit und Ressourcen, euch ausbilden und ausrüsten zu wollen. Ihr werdet erst kämpfen, wenn Schweine das Fliegen lernen.«

»Tolle Motivationsrede von unserem Ausbilder«, sprach Derek unvermittelt eine amüsiert klingende Stimme von rechts an. Der Mann, von dem die Bemerkung kam, war etwas kleiner als Derek und drahtig. Der Kerl war relativ jung, vielleicht so um die zwanzig. Jovial streckte er Derek die Hand hin.

»Kolja Koslov«, stellte er sich vor. Derek erwiderte die Begrüßung.

»Derek Carlyle.«

»Freut mich.«

Derek nickte als Antwort lediglich und versuchte, weiter Delaneys Ausführungen zu folgen, während Kolja neben ihm munter drauflosplapperte.

Der Sergeant ließ den Blick über die versammelte Menge gleiten, während er zum letzten Teil seiner Rede kam.

»Es gibt bei den Bodenstreitkräften des Terranischen Konglomerats fünf Einstufungen für aktive Kampfeinheiten: Elite, Veteranen, fronttauglich, garnisonstauglich, was für Milizeinheiten reserviert ist, und grüne Rekruten. Extra für Freiwilligenregimenter wurde eine sechste Einstufung eingeführt: Hilfstruppen. Das seid ihr jetzt. Hilfstruppen. Nicht mehr und nicht weniger. Das bedeutet, ihr steht rangmäßig sogar unter der Miliz, was schon einiges heißt.« Delaney spuckte aus. »Ihr seid jetzt das 171. Freiwilligenregiment mit temporärem Standort Alacantor. Temporär deshalb, weil ihr jederzeit woanders hingeschickt werden könnt, falls irgendwo Garnisonstruppen gebraucht werden. Technisch gesehen gehört ihr zur TKA. Derzeit stehen vier reguläre TKA-Regimenter auf Alacantor, die allerdings alle in den nächsten Monaten abrücken werden. Und dann, meine Freunde, seid ihr für die Sicherheit von Alacantor verantwortlich. Es stehen außerdem noch vier Milizregimenter auf dem Planeten, die sich aus Einheimischen zusammensetzen, doch ihr werdet mit denen nicht viel zu tun haben.«

Delaney blickte in gespieltem Entsetzen zum Himmel. »Gott stehe uns bei!«

Der Master Sergeant drehte sich halb um und deutete auf den schweigsamen Offizier hinter ihm. »Dies ist Lieutenant Colonel Ethan Wolf, der Kommandeur des 171. In den nächsten Tagen dürft ihr euch noch ausruhen. Wir werden die Zeit nutzen, um mit einigen von euch persönlich zu sprechen. Dieser ausgewählte Personenkreis ist nicht ganz so nutzlos wie der Rest von euch und wird im Regiment als Zug- und Kompanieführer dienen. Bildet euch nicht zu viel darauf ein, ihr werdet nur ausgewählt, weil es an besseren Alternativen mangelt.«

Er deutete auf eine Anzahl Baracken, die knapp einen Kilometer nördlich des Flugfeldes lagen.

»Das dort sind eure Unterkünfte. Richtet euch dort ein. Ihr werdet sie eine Weile nutzen.«

Der Master Sergeant machte Anstalten, sich umzudrehen, überlegte es sich jedoch im letzten Augenblick noch einmal anders und sagte: »Willkommen auf Alacantor!«

Derek fragte sich, ob er der Einzige war, der den sarkastischen Unterton in der Stimme Delaneys erkannte.

Teil I Ausbildung

Jede Kriegsführung beruht auf Täuschung»Die Kunst des Krieges« von Sun Tzu

1

Die Baracken waren ebenso heruntergekommen wie der Truppentransporter, der sie hergebracht hatte. Sie schienen darüber hinaus auch genauso alt zu sein. Trotzdem fielen viele der Rekruten des neuen 171. Regiments auf die unbequemen, harten und unbezogenen Matratzen, sobald sie sich eine Schlafstatt gesichert hatten, und fingen sofort an zu schnarchen.

Die Baracken waren mit Doppelbetten ausgerüstet, auf denen Bettzeug lag. Derek sicherte sich die obere Matratze eines Bettes im hinteren Teil der Unterkunft. Direkt neben seinem Bett befand sich ein Fenster, wodurch die Geruchsbelästigung auf ein Minimum reduziert und das für angenehme Kühlung sorgen würde. Er faltete das Bettzeug auseinander und machte sich daran, sein Bett zu beziehen. Er achtete peinlich genau darauf, dass eine Münze von dem Bettlaken abprallen könnte. Ein Überbleibsel seiner militärischen Ausbildung. Die Macht der Gewohnheit war schwer abzulegen.

Kolja sicherte sich das Bett unter Derek, wobei er ein vergnügtes Grinsen zur Schau stellte. So langsam ging es Derek gehörig auf die Nerven.

»Was hat dich hierher verschlagen?«, fragte Kolja, während er einen Seesack mit seinen wenigen Habseligkeiten auspackte.

»Lange Geschichte.«

»Das sind die besten.«

»Nicht wirklich«, hielt Derek dagegen und hoffte, das Gespräch sei damit beendet, doch Kolja hatte nicht vor, es ihm einfach zu machen.

»Warst du schon mal Soldat?«

Derek stutzte und sah sich zu dem kleineren Mann um. »Wie kommst du darauf?«

»Ich weiß nicht. Ist bloß eine Vermutung. Jedenfalls beziehst du dein Bett wie einer.«

Derek lächelte leicht angesichts des überraschenden Scharfsinns seines neuen Kameraden.

»Ja, ich war mal bei einer planetaren Miliz.«

»Wo?«

Derek machte sich wieder daran, sein Bett zu beziehen. »Weit weg. Das war in einer anderen Zeit. Einem anderen Leben.«

Kolja musterte ihn schweigend und vermittelte den Eindruck, noch etwas sagen zu wollen, doch schließlich zuckte er die Achseln und widmete sich erneut seiner Arbeit.

»Das ist mein Bett«, sprach ihn unvermittelt eine harte Stimme an. Derek und Kolja sahen sich gleichzeitig um. Ihnen stand der große Rüpel gegenüber, der ihm schon auf dem Flugfeld aufgefallen war. Der Kerl deutete auf Koljas Schlafstatt.

»Tut mir leid«, sagte dieser, »aber wer zuerst kommt, malt zuerst.«

Der Riese kam drohend näher. »Ich sagte, das ist mein Bett.«

Der Hüne ragte gut drei Köpfe über Kolja auf. Dieser wurde sichtlich bleich, da ihm langsam ein Licht aufging, in was für Schwierigkeiten er sich befand.

Derek kannte diesen Typ Mensch. In seiner Schulzeit hatte man so etwas gemeinhin einen Rowdy genannt. Sie bekamen normalerweise, was sie wollten, einfach weil sie stärker und größer waren als alle anderen – allerdings waren sie auch immer ein wenig unterbelichtet. Derek hatte in seiner Schulzeit selbst mal so jemanden gekannt. Er hatte die ganze Klasse tyrannisiert. Solche Kerle waren die Pest. Bei der Erinnerung daran, grinste Derek verschmitzt. Ja, der Kerl war wirklich die Pest gewesen … bis er auf jemand getroffen war, der noch größer und stärker gewesen war als er selbst. Nach dieser Begegnung war er nicht mehr so großspurig gewesen.

Solche Typen versuchten, in einer neuen Umgebung sofort eine dominante Position einzunehmen, weil sie der Meinung waren, sich behaupten zu müssen. Die beste Methode hierzu war es, Schwächere zu drangsalieren.

Derek hatte es sich auf seine Fahnen geschrieben, nie einem solchen Rowdy einen Grund zu liefern, es auf ihn abzusehen. Niemals. Es war besser, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten.

Doch als er sah, wie Kolja vor dem viel Größeren in sich zusammenfiel und auch noch anfing, unkontrolliert zu zittern, ging es mit ihm durch und er sagte etwas, das er selbst als äußerst dumm empfunden hätte – wenn er sich denn die Zeit genommen hätte, darüber nachzudenken.

»Warum suchst du dir nicht einfach jemand anderen zum Spielen? Der Junge hat das Bett zuerst belegt.«

Der Blick des Hünen richtete sich auf ihn, die Augenbrauen zogen sich drohend über der Nasenwurzel zusammen. Widerspruch war er offenbar nicht gewohnt.

»Sieh einer an. Schon wieder du. Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß! Ich bestimme, wo ich schlafe.«

Halt die Klappe, Derek! Halt einfach die Klappe!, beschwor er sich selbst.

Derek seufzte.

»Ich weiß nicht, aus welcher Kloake du gekrochen bist, aber hier beim Militär läuft es anders.«

»Kloake?« Der Hüne richtete sich zu voller – beachtlicher – Größe auf und schob Kolja beiseite, der über die Verlagerung der Aufmerksamkeit seines Widersachers sichtlich erleichtert wirkte.

»Wiederhol das doch noch mal, Großmaul!«

»Das Großmaul hier bist du. Schüchterst Schwächere ein und denkst, dass du damit durchkommst.«

Der Hüne packte Derek am Kragen. »Du brauchst wohl eine Lektion in gutem Benehmen.«

»Du scheinst von dir selbst auf andere zu schließen«, mischte sich eine andere Stimme ein.

Der Hüne und Derek wandten sich dem Neuankömmling gleichzeitig zu. Der Mann war etwa so groß wie Derek und von stämmiger Statur, was nicht bedeutete, er wäre mollig gewesen. Ganz im Gegenteil, seine Stämmigkeit rührte von einer gut definierten Muskulatur her. Sein Hautteint war um einige Nuancen dunkler als bei allen anderen Anwesenden. Außerdem trug der Mann einen roten Punkt auf der Stirn. Und noch etwas anderes fiel Derek auf: Der Mann zeigte vor dem Rüpel keinerlei Angst.

»Was haben wir denn da?«, höhnte der riesenhafte Kerl. »Noch einen potenziellen Todeskandidaten.«

»Lass ihn los!«, erwiderte der Neuankömmling ungerührt. »Sofort!«

Der Rüpel gehorchte sogar und ließ Derek los, jedoch nur um noch in derselben Bewegung mit seiner Faust auszuholen. Der Schlag hätte den anderen mit Sicherheit gefällt, wenn er denn getroffen hätte.

Der dunkelhäutige Mann wich gekonnt nach links aus, seine Hand kam in einer geschmeidigen Bewegung hoch, die Finger wie tödliche Dolche ausgestreckt.

Er stieß seine Fingerspitzen kaltblütig gegen den Adamsapfel seines Gegners. Dieser keuchte auf und klappte wie ein nasser Sack in sich zusammen, während er verzweifelt versuchte, zu Atem zu kommen.

»Ich hätte dich töten können«, sprach der Fremde ungerührt weiter, als hätte die Konfrontation gar nicht stattgefunden. »Denk daran, wenn du das nächste Mal Streit suchst, und jetzt verschwinde!«

Der Riese sammelte den Rest seiner Würde ein und kroch unter dem wachsamen Blick des anderen zu einem noch freien Bett davon. In der Baracke war es mucksmäuschenstill. Die Auseinandersetzung wurde von Dutzenden Augenpaaren gespannt verfolgt. Nicht wenige musterten den dunkelhäutigen Mann mit großen Augen. Dieser gab vor, von alledem nichts zu bemerken, drehte sich ohne ein Wort um und ging zu seinem eigenen Bett zurück.

Derek und Kolja wechselten einen Blick und gingen ihm schließlich nach. Da die Auseinandersetzung beendet war, kehrte das Leben in die Baracke zurück, als sich alle wieder ihren jeweiligen Tätigkeiten widmeten.

»Danke«, sagte Derek ehrlich.

»Ja, von mir auch«, schloss sich Kolja immer noch ein wenig atemlos vor Ehrfurcht an.

»Mein Name ist Derek Carlyle, das ist Kolja Koslov«, stellte Derek sie beide vor.

Der andere widmete ihnen nur einen beiläufigen Blick. Derek überkam das ungute Gefühl, der Mann überlegte, ob er überhaupt antworten sollte.

»Narim Singh«, sagte er schließlich.

»Danke«, sprach Derek weiter. »Für deine Hilfe eben.«

»Schon gut. Ich verabscheue solche Typen.«

»Das war echt super«, plapperte Kolja drauflos. »Wirklich super. Wie du den Typen fertiggemacht hast. Mit solchen Fertigkeiten solltest du bei den regulären Truppen sein. Nicht bei unserem Haufen. Wo lernt man denn so was?«

Narim schwieg zunächst, als er doch antwortete, war sein Tonfall bar jeder Emotion. »Bei den ROCKETS.«

Derek stockte der Atem. Nun war es an ihm, den Mann vor Ehrfurcht anzustarren.

»Du warst bei den ROCKETS? Was zum Teufel machst du dann hier?«

»Ist das wichtig?«

»Ich … ich bin nur neugierig.«

Narim überlegte angestrengt. Er drehte sich zu den beiden um und als er anfing zu sprechen, fiel ihm jedes Wort sichtlich schwer.

»Ich habe Mist gebaut. Hab im Gefängnis gesessen. Darauf folgte unehrenhafte Entlassung. Keine reguläre Einheit wird mich mehr nehmen.« Er sah sich in der Baracke um. »Die Anforderungen von Freiwilligeneinheiten sind jedoch wesentlich geringer. Sie sind die Einzigen, die mich noch haben wollen.« Er lachte humorlos. »Besser als nichts … irgendwie.«

»Das ist … tragisch«, sagte Derek in Ermangelung besserer Worte.

»Ja«, erwiderte Narim emotionslos. »Das ist es.«

»Und ihr beide?«, fragte Narim interessiert. »Was verschlägt euch zu dieser Reserveeinheit?«

Kolja zuckte die Achseln. »Ich wollte am liebsten zum Gebirgsjägerkorps der TKA.«

»Und was hielt dich auf?«, fragte Derek.

»Na, unter anderem meine panische Höhenangst – und noch ein paar andere Phobien. Also haben sie mir die Wahl gelassen. Entweder das Zivilleben oder diese Einheit.« Er breitete die Arme aus. »Und hier bin ich.«

Narims Blick richtete sich auf Derek. »Und du?« Derek fühlte plötzlich auch Koljas neugierigen Blick auf sich und ihm wurde klar, dass er um dieses leidige Thema wohl nicht herumkam.

»Ich war bei der planetaren Miliz auf Rainbow, als die Invasion begann.«

Narim zog beeindruckt eine Augenbraue hoch und stieß einen lang gezogenen Pfiff aus. »Da hast du ja einiges hinter dir. Ein heldenhafter Kampf. Meine Anerkennung.«

Derek sah betreten zu Boden. Er wusste genau, worauf Narims Anspielung abzielte. Die Verteidiger von Rainbow hielten während der Invasion durch die Slugs die Invasoren vor der planetaren Hauptstadt fast einen vollen Tag auf und verschafften dem Großteil der Bevölkerung kostbare Stunden für die Evakuierung. Die Verluste der Verteidiger waren jedoch erschreckend hoch. Neun von zehn Soldaten der damaligen Schlacht waren tot oder galten seither als vermisst.

»Danke, aber diese Schlacht ist nichts, woran ich mich gern erinnere.«

»Glaub ich gern.«

»Ich gehörte zu den wenigen, die es bis zur Evakuierung geschafft haben. Von Rainbow ging es gleich nach Fortress, wo ich eine der schlimmsten Schlachten des Krieges erleben durfte.« Dereks Stimme troff vor Verbitterung und Sarkasmus.

»Als die Ruul zurückgeschlagen waren und es schien, als würden sie Ruhe geben, hab ich bei nächstbester Gelegenheit den Dienst quittiert.«

»Und jetzt willst du wieder mitmischen?«

»So ungefähr, aber wenn man das Militär einmal in einer Krisensituation verlässt, nehmen sie einem das ziemlich krumm. Es geht mir wie dir. Eine andere Einheit als ein Freiwilligenregiment wollte mich nicht nehmen.«

Narim zuckte lässig mit den Achseln. »Wir haben doch alle unsere Vorgeschichte. Umsonst ist niemand bei einem Freiwilligenregiment. Wisst ihr, wie man solche Einheiten gemeinhin beim Militär nennt? Abfalleimer. Weil diese alles aufnehmen, was sonst nie eine Waffe in die Hand bekommen würde. Ausnahmslos sind wir gescheiterte Existenzen.«

Derek nickte.

Den wichtigsten Teil seiner Erzählungen ließ er jedoch wohlweislich aus. Nicht aus Angst, was die anderen von ihm denken mochten, sondern aus Scham über das eigene Handeln. Er hatte es nur deshalb zur Evakuierung geschafft, weil er früher als alle anderen mit seiner Einheit den Rückzug angetreten hatte. Auf die Weise hatte er eines der letzten Evakuierungsschiffe erreicht.

Eine Anklage wegen Pflichtverletzung oder Feigheit vor dem Feind hatte es nicht gegeben, aber schlicht und ergreifend aus dem Grund, weil er technisch gesehen das Recht gehabt hatte, seiner Einheit den Rückzug zu befehlen. Zu diesem Zeitpunkt hatte niemand mehr den Oberbefehl geführt. Jeder lokale Kommandeur, angefangen bei Zugführern bis hin zu Bataillonskommandeuren, hatte weitestgehend freie Hand gehabt. Trotzdem änderte dies nichts daran, dass er sich selbst als Feigling sah. Er war in Panik geraten und hatte seine Leute im Stich gelassen, die nach seinem Abzug noch stundenlang weitergekämpft hatten. Auf Fortress hatte er dann versucht, sich zu beweisen, sich selbst davon zu überzeugen, dass er kein Feigling war. Trotzdem hatte er nach der Schlacht den Dienst quittiert, weil er die Blicke anderer Soldaten nicht ertragen konnte. Ein solches Verhalten ließ sich nicht lange geheim halten und Gerüchte über ihn hatten schnell die Runde gemacht.

Dieses Mal wird alles anders, schwor er sich insgeheim.

Die nächsten Stunden verbrachten sie damit, sich in ihre neue Umgebung einzugewöhnen und sich gegenseitig kennenzulernen. Wie sich herausstellte, kam Kolja aus Wladiwostok und Narim aus Indien.

Vor allem in der Kennenlernphase zeigte sich, dass Narims Sicht der Dinge durchaus nicht von der Hand zu weisen war.

Da war zum Beispiel der Riese, mit dem Derek, Kolja und Narim aneinandergeraten waren. Sein Name war Manoel Calderon. Er stammte aus der Akosta-Kolonie nahe der RIZ. Er gab recht freimütig zum Besten, dass der psychologische Dienst der Streitkräfte ihn abgelehnt hatte. Wegen AMI.

Derek verdrehte bei dieser Äußerung vor Frust die Augen. Das konnte ja heiter werden. AMI stand für Akute Mentale Instabilität und bedeutete im Klartext, dass der Mann nicht alle Tassen im Schrank hatte. Er neigte zu cholerischen Ausrastern, die im Ernstfall nicht nur ihn, sondern seine ganze Einheit gefährdeten. Dass ihn eine Freiwilligeneinheit aufgenommen hatte, bewies überdeutlich, wie verzweifelt man auf der Suche nach Soldaten war und dass man praktisch jeden nahm, so unbrauchbar und sogar gefährlich er auch war. Nach eigener Angabe war er ein recht brauchbarer Scharfschütze. Das mochte stimmen oder nicht. Keiner der Anwesenden hatte die Möglichkeit, das nachzuprüfen. Vermutlich war der Mann einfach nur ein Aufschneider.

Die nächste in der Runde war Gina Hooper, die ihrem gewalttätigen Ehemann davongelaufen war und das Militär quasi als Versteck nutzte. Dass es sich durchaus im Bereich des Möglichen befand, dass man auf sie schießen könnte, schien dabei völlig an ihr vorüberzugehen. Sie stammte aus der Marskolonie.

Eveline DaSilva, die in einem der orbitalen Habitate des Jupitermondes Titan geboren und aufgewachsen war, hatte es aus purer Langeweile zu den Streitkräften verschlagen. Dass sie eine eher lockere Moral und ein freches Mundwerk hatte, das sie nur schwer im Zaum hielt, verhinderte, dass sie zu einer regulären Einheit kam. Derek vermutete, dass ihre Beweggründe, zum Militär zu gehen, ebenfalls zu dieser Entscheidung beigetragen hatten.

Jessica Cummings schien noch die normalste der Anwesenden zu sein. Sie stammte ebenfalls von Rainbow und hatte es mit den letzten Transportern geschafft, evakuiert zu werden. Leider hatte sie während der Kämpfe ihre ganze Familie verloren. Ehemann und zwei Kinder. Der psychologische Dienst hatte ihr schwere Depressionen bescheinigt, was sie vom Eintritt in eine reguläre oder sogar Fronteinheit automatisch ausschloss.

Manfred Baumann, der aus der Neu-Berlin-Kolonie stammte, hatte sogar bei den Marines gedient. Vor zwei Jahren war er während eines ruulanischen Überfalls schwer verwundet worden. Sein rechter Arm war durch eine Prothese ersetzt worden. Danach hatte man ihn vor die Wahl gestellt: ehrenhafter Ruhestand oder Dienst bei einer Freiwilligeneinheit. Seine Entscheidung mochte den einen oder anderen verwundern, doch Derek hatte auf Rainbow Soldaten wie Baumann gekannt. Solche Männer ließen sich von etwas so Belanglosem wie einem verlorenen Arm nicht davon abbringen, das zu tun, was sie als ihre Pflicht ansahen.

Yato Kamamura, ein kleiner und spindeldürrer Asiate, war auf der Flucht vor den Ermittlungsbehörden auf der Kyotokolonie, wobei Flucht in diesem Fall nicht wirklich zutraf. Bei geringen Vergehen bot man den Betreffenden neuerdings eine Amnestie an, falls sie sich zu einer Freiwilligeneinheit meldeten. Nach drei Jahren Dienst, wurde das Vergehen endgültig als erledigt betrachtet und die Kriminellen durften ins Zivilleben zurückkehren.

Die Letzte im Bunde war Nadja Rouganova, eine etwas untersetzte, rothaarige Tschechin von der Erde. Sie gehörte zu den wenigen, die aus Überzeugung hier waren. Sie glaubte tatsächlich daran, dass es wichtig war, dass es solche Einheiten wie das 171. gab. Andere, wichtige Einheiten sollten entlastet werden. Sie erzählte, dass sie sich am liebsten zu einer TKA-Einheit gemeldet hätte, doch einige Beschwerden, an denen sie litt, hätten dies verhindert. Was dies für Beschwerden waren, erzählte sie jedoch nicht. Für Dereks Dafürhalten, sah sie ganz gesund aus. Derek musterte jeden Einzelnen nachdenklich. Sie waren wirklich ein heruntergekommener Haufen Verlierer.

2

Derek klopfte zaghaft an die Tür. Es folgte eine Pause von wenigen Sekunden, die er nutzte, um seine neue TKA-Uniform glatt zu streichen.

Sie hatten die Uniformen erst gestern bekommen und sie zu tragen, fühlte sich irgendwie seltsam an. Als würde er nicht hineingehören. Die Uniform entsprach in fast jedem Detail den Uniformen anderer TKA-Einheiten, bis auf einen Unterschied. Die Freiwilligenregimenter erhielten Uniformen, die am linken und rechten Ärmel jeweils einen blauen Streifen aufwiesen.

Als ob es nötig wäre, uns noch mehr auszugrenzen, dachte Derek missmutig.

Die letzten sieben Tage hatten seine Kameraden und er damit zugebracht, sich in ihr neues Zuhause einzugewöhnen. Sie hatten sich in den Baracken häuslich eingerichtet und sie erst mal von oben bis unten geputzt, da sie wohl längere Zeit nicht benutzt worden waren. Anschließend hatten sie sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut gemacht und einige Streifzüge durch die Städte unternommen.

Abgesehen von den Soldaten der regulären TKA-Einheiten, die sie alle mit unverhohlenem Argwohn beäugten, standen – wie Delaney bereits erwähnt hatte – auch noch vier Milizregimenter auf Alacantor. Die TKA hielt sich weitgehend von den Mitgliedern der Freiwilligenregimenter fern, nicht aber die Miliz. Die Milizionäre fühlten sich von den Neuankömmlingen wohl durch deren bloße Gegenwart persönlich beleidigt, sodass es zu mehreren Schlägereien gekommen war. So lange, bis Master Sergeant Delaney bis auf Weiteres jeden Freigang gestrichen hatte. Seitdem drehten die Soldaten des 171. Däumchen – im wahrsten Sinne des Wortes.

In den letzten zwei Tagen hatte Wolf schließlich damit begonnen, einzelne Rekruten zu sich zu rufen. Es kursierte das hartnäckige Gerücht, es gehe um die Besetzung verschiedener Ränge des neuen Regiments. Andere behaupteten, Wolf wolle sich von jedem Soldaten ein eigenes Bild machen. Es mochte vielleicht sein, dass der Zweck der Unterredung eine Kombination beider Gründe war. Nun war Derek an der Reihe, dem großen Obermacker des Regiments gegenüberzutreten. Eine Erfahrung, auf die er gut hätte verzichten können.

Er öffnete die Tür zu Wolfs Büro und der Lieutenant Colonel saß hinter einem Schreibtisch, der schon deutlich bessere Tage erlebt hatte. Tatsächlich wirkte die ganze Einrichtung des Büros etwas heruntergekommen und irgendwie zusammengeschustert. Damit passte das Büro perfekt zum Zustand des ganzen Regiments.

Der Gedanke entlockte Derek ein leichtes Schmunzeln.

»Setzen Sie sich!«, bellte Delaney. Der Master Sergeant saß mit durchgedrücktem Rücken in einem recht unbequem aussehenden Sessel zu Wolfs Linker. Derek fragte sich, ob der Mann überhaupt fähig war, sich zu entspannen, so wie er dasaß.

Derek tat wie ihm geheißen, durchquerte den Raum und setzte sich auf einen schmucklosen Stuhl gegenüber des einzigen Offiziers im Raum.

Lieutenant Colonel Ethan Wolf nahm im ersten Augenblick keinerlei Notiz von Derek. Vielmehr beschäftigte ihn die Akte, die aufgeschlagen auf seinem Tisch vor ihm lag und in der er interessiert blätterte. Delaney im Gegenzug musterte Derek mit undurchschaubarer Miene.

Schließlich schlug Wolf die Akte zu und sah Derek durchdringend an.

»Warum sind Sie hier, Carlyle?«, fragte er mit emotionsloser Stimme.

Derek richtete sich unwillkürlich kerzengerade auf. »Um meinen Beitrag zu leisten.«

Wolf schnaubte auf und Derek sah aus dem Augenwinkel, wie Delaney die Augen verdrehte.

»Das ist lediglich ein Slogan, aber keine Antwort«, gab Wolf zurück und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Also noch mal, warum sind Sie hier? Und diesmal bitte nichts, was Sie von einem Rekrutierungsplakat abgelesen haben.«

»Ich … ich …«, stammelte Derek, leicht aus dem Konzept gebracht.

»Hören Sie auf zu stottern«, bellte Delaney, »der Colonel hat Ihnen eine Frage gestellt.«

»Ich … ich …«, begann Derek von Neuem, »ich diente bei der Miliz auf Rainbow.«

»Ich weiß.« Wolf klopfte vielsagend auf die Akte vor sich auf dem Tisch. »Und wie ich sehe, wollten sie nach Fortress möglichst schnell weg vom Militär. Warum sollte ich Sie jetzt gebrauchen können?«

»Ich … ich hatte damals furchtbare Angst. Ich konnte nicht mehr. Auf Fortress lagen wir im Dreck, während Tausende von Slugs unsere Stellungen stürmten und wir nicht wussten, ob wir die nächste Stunde überleben würden.«

»Das ist aber nur die halbe Wahrheit, nicht wahr?«, hielt Wolf dagegen. »Was war auf Rainbow?«

»Sir?« Derek schluckte schwer

»Sie wissen genau, was ich meine.«

»Ja. Ich weiß.« Derek sah betreten zu Boden. Als er keine Anstalten machte weiterzusprechen, fuhr Wolf stattdessen fort.

»Ihre Einheit hat die Stellung, die sie verteidigen sollte, aufgegeben. Ohne Befehl, wie ich hinzufügen möchte. Das ist wohl einer der Gründe, weshalb Sie es rechtzeitig zur Evakuierung geschafft haben, nicht wahr?«

Dereks Kopf zuckte hoch. »Ich bin kein Feigling.«

»Wirklich nicht?«, zweifelte Wolf. »Dann erklären Sie es mir.«

Plötzlich sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. »Die Schlacht war vorbei. Es war gelaufen. Unsere Linie bröckelte und entlang der gesamten Verteidigung liefen Soldaten davon. Diejenigen von uns, die bis dahin die Stellung gehalten hatten, wollten nur noch leben. Ist das ein Verbrechen?«

»Nein, ein Verbrechen nicht«, stimmte Wolf zu. »Doch Ihr Verhalten lässt doch an Ihrer Eignung zum Soldaten zweifeln. Warum man sie nicht vors Kriegsgericht stellte, bleibt mir ehrlich gesagt ein Rätsel.«

Harte Worte, doch Derek wusste, dass sie der Wahrheit entsprachen. Er hatte keine Ahnung, was er groß darauf erwidern sollte, also entschloss er sich zur Flucht nach vorn.

»Der Planet war verloren. Die meisten Offiziere, die den Rückzug hätten anordnen können, waren tot oder bereits selbst geflohen, daher traf ich eine Entscheidung. Sie sehen es vielleicht als falsche Entscheidung an, aber ich habe überlebt, daher war es für mich persönlich die richtige Entscheidung.«

Er atmete tief durch.

»Und weshalb ich hier bin? Ich könnte jetzt sagen, dass ich Slugs töten möchte oder das Gefühl haben möchte, etwas Nützliches zu tun, aber das stimmt nicht. Zumindest nicht ganz. Vielleicht bin ich hier, weil ich Menschen wie Ihnen – und auch mir selbst – beweisen möchte, dass ich eben kein Feigling bin. Ich weiß es nicht. Aber Tatsache ist, dass ich hier bin, weil ich nicht weiß, wo ich sonst hinsoll. Und, wenn Sie mir eine Chance geben, werde ich Ihnen beweisen, dass ich einiges leisten kann.«

Der Lieutenant Colonel hörte sich die Litanei aus Dereks Mund kommentarlos an. Als er fertig war, schwieg Wolf lange Zeit, während er Derek musterte. Schließlich warf er Delaney einen ratlosen Blick zu. Dieser zuckte nur andeutungsweise mit den Achseln und sagte: »Wir haben noch weitaus schlimmere Kandidaten.«

Derek zuckte innerlich zusammen. Diese Worte schmerzten beinahe noch mehr als Wolfs Verachtung zuvor, doch er riss sich zusammen und wartete auf das unvermeidbare Urteil.

»Carlyle«, fuhr Wolf schließlich fort, »was wissen Sie über die Organisationsstruktur von Freiwilligenregimentern?«

Derek runzelte verwirrt die Stirn. »Unterschiedet die sich von regulären Einheiten?«

Wolf schnaubte erneut, diesmal ein Laut tiefer Frustration. »Oh ja. Reguläre Regimenter sind in drei Bataillone zu je fünf Kompanien zu je hundert Mann organisiert. Insgesamt also eintausendfünfhundert Mann. Bei uns ist das anders. Wir leiden chronisch an gutem Offiziersmaterial, daher sind Freiwilligenregimenter in zwei Bataillone zu je zwei Kompanien zu je vierhundert Mann, also insgesamt eintausendsechshundert Mann organisiert. Leider haben die meisten unserer Rekruten noch nie eine Waffe in der Hand gehabt, geschweige denn abgefeuert. Wir bilden unser Regiment also nicht in einer Militärakademie aus, sondern direkt im Feld. Klartext: hier auf Alacantor.«

Wolf blickte Derek einen Sekundenbruchteil durchdringend an. »Sie übernehmen Kompanie A des 1. Bataillons. Narim Singh übernimmt Kompanie B. Ihr Bataillonskommandeur wird Manfred Baumann sein, den ich zum Major ernannt habe. Herzlichen Glückwunsch, Captain. Mal sehen, was Ihre Beteuerungen wert sind, wenn es drauf ankommt.«

Als Derek Wolfs Büro verließ, fühlte er sich immer noch wie betäubt. Er? Captain? Mit dem Befehl über eine vierhundert Mann starke Kompanie? Das war wirklich der Witz des Jahrhunderts.

Derek kehrte umgehend in die Baracke zurück, da er dies erst mal verdauen musste. Dort angekommen, erfuhr er, dass Yato Kamamura die A-Kompanie und Nadja Rouganova die B-Kompanie des 2. Bataillons befehligen würden. Oberbefehl würde ein gewisser Björn Storker innehaben, den sie noch nicht kannten. Vermutlich war er in einer anderen Baracke untergebracht.

Des Weiteren würde Jessica Cummings zum Lieutenant ernannt und Zugführerin innerhalb von Dereks A-Kompanie sein und Kolja hatte es nur zum gemeinen Soldaten gebracht, allerdings ebenfalls in der A-Kompanie des 1. Bataillons. Eveline DaSilva und Gina Hooper würden als gemeine Soldaten in der B-Kompanie unter Narim Singh dienen.

Manoel Calderon hatte es tatsächlich geschafft, zu den Scharfschützen versetzt zu werden, einer separaten Einheit bestehend aus dreißig Mann innerhalb des Regiments. Niemand war wirklich traurig darüber, dass der Kerl damit per se zu keiner Kompanie gehörte und es somit weniger Berührungspunkte geben würde. Der Mann war allen unheimlich.

Als Calderon die Baracke verließ, folgten ihm Dutzende erleichterter Augenpaare. Die Scharfschützen wurden in einer anderen Unterkunft einquartiert.

Somit waren die wichtigsten Posten des Regiments besetzt, nun mussten nur noch die Löcher aufgefüllt werden.

Morgen kam die nächste Fuhre Freiwilliger an, um genau diesen Zweck zu erfüllen, und danach ging die Schinderei los. Wie Wolf und Delaney gesagt hatten, das Regiment wurde an Ort und Stelle ausgebildet. Die Leute mussten lernen, was es hieß, Soldat zu sein. Derek sah dieser Aussicht bereits mit einem leicht flauen Gefühl in der Magengegend entgegen.

3

»Aaachtung! Stillgestanden!«, brüllte Delaney. Seine durchdringende Stimme war sogar noch im hintersten Winkel des Exerzierplatzes zu vernehmen. Als wäre der letzte Befehl nicht ausreichend, fügte er noch hinzu: »Ruhe im Glied!«

Daraufhin eine Stimme aus einer der hinteren Reihen: »In welchem?«

Derek schloss die Augen und zählte langsam bis zehn. Er hoffte inständig, dass der Typ, der hier unbedingt den Clown spielen musste, nicht zu seinen Leuten gehörte.

Der erwartete Tobsuchtsanfall des Master Sergeants angesichts dieser Respektlosigkeit blieb jedoch aus. Stattdessen lächelte er süffisant und sagte: »Das ganze Regiment darf sich jetzt erst mal auf einen ausgedehnten Zwanzigkilometermarsch gefasst machen und bedanken dürft ihr euch dafür bei dem Scherzkeks in Kompanie B des 2. Bataillons.«

Derek schmunzelte.

Also keiner von meinen.

Kollektives Stöhnen begleitete die Ankündigung Delaneys, und während sich das gesamte Regiment auf den Weg machte, bemerkte Derek, wie mehrere Soldaten einem Rotschopf boshafte Blicke zuwarfen, die nichts Gutes für den Jungen bedeuteten. Derek bezweifelte, dass dieser je wieder derart frech sein würde, dafür würden dessen Kameraden schon sorgen.

Lieutenant Colonel Ethan Wolf sah den Soldaten nachdenklich hinterher, die von den Sergeants des Regiments auf Trab gebracht wurden. Einige keuchten bereits jetzt bedenklich, dabei hatte der Marsch doch noch gar nicht richtig angefangen.

Als einziger Sergeant war lediglich Delaney zurückgeblieben und gesellte sich zu seinem Kommandeur.

Wolf warf ihm einen leicht amüsierten Blick zu, bevor er das Gespräch eröffnete. »Und? Was meinen Sie?«

Als Antwort spuckte Delaney aus. »Ich denke mit Schaudern an den Tag, an dem wir tatsächlich kämpfen müssen.«

»So schlimm also?«

»Ich denke, Sie haben sich schon selbst ein recht genaues Bild gemacht, Colonel.«

»Das Bild, das ich mir gemacht habe, ist vielleicht etwas gnädiger als Ihres«, schmunzelte Wolf.

»Dann machen Sie sich was vor«, hielt Delaney dagegen. »Man schickt uns Leute, die eigentlich nie eine Waffe tragen dürften, und erwartet, dass wir mit ihnen Kriege führen.«

»Vergessen Sie nicht, Delaney, unsere Aufgabe ist es lediglich, Präsenz zu zeigen. Vielleicht hin und wieder Polizeiaufgaben. Nichts weiter. Wir sind hier, damit reguläre Einheiten nicht für Garnisonsdienste verschwendet werden. Mit etwas Glück werden die meisten von denen nie auch nur einen Schuss abgeben müssen.«

Wolf überlegte einen Augenblick. »Delaney? Haben Sie eigentlich je »Die Kunst des Krieges« von Sun Tzu gelesen?«

Delaney schüttelte den Kopf.

»Es gibt einen Satz, der mir besonders im Gedächtnis geblieben ist: Alle Kriegsführung beruht auf Täuschung.«

»Und das heißt?«

»Das heißt, wir sind hier, damit der Planet eine Garnison besitzt und um die Ruul von einem Angriff abzuschrecken. Die Slugs wissen nicht, in was für einem Zustand unser Regiment ist.«

»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«

Wolf seufzte. »Es ist doch so, es ist nicht nötig, dass der Planet gut verteidigt wird, solange der Feind denkt, dass er gut verteidigt wird.«

Delaney nickte verstehend. »Unsere Aufgabe ist also rein repräsentativer Natur.«

»So ist es. Im Prinzip haben wir erst dann einen guten Job erledigt, wenn wir nie dazu gezwungen werden, eine Waffe abzufeuern.«

»Bei allem Respekt, Sir, aber genügt Ihnen das?«, bemerkte der Master Sergeant zweifelnd.

Wolf warf ihm einen schrägen Blick zu. »Ich habe genug Tote gesehen. Das reicht für zwei Leben. Was glauben Sie, warum ich hier bin? Dieser Posten ist mein Gnadenbrot. Mir würden die Herren Generäle nie wieder ein Frontkommando anvertrauen – und das ist auch gut so. Ich hatte nur die Wahl, hier zu sein oder mich in den Ruhestand versetzen zu lassen, und hier kann ich wenigstens noch halbwegs von Nutzen sein.« Der Lieutenant Colonel warf Delaney einen weiteren Blick zu, aus dem diesmal mehr als nur ein wenig Amüsement sprach. »Sie wissen doch bestimmt, was für ein Scherz in den Unterkünften kursiert, oder? Niemand ist grundlos bei einem Freiwilligenregiment. So tragisch das auch ist, aber es stimmt. Was ist mit Ihnen?«

»Haben Sie meine Akte nicht gelesen?«, fragte der Master Sergeant.

»Doch, Sie haben ein Problem mit Autorität.«

Delaney lachte kurz bellend auf. »Eine schöne Umschreibung. Ich betrinke mich gern und dann mach ich mir einen Spaß daraus, Offiziere zu verprügeln.«

Wolf zog eine Augenbraue hoch, unterdrückte jedoch mit Mühe ein Lächeln, woraufhin Delaney ergeben mit den Achseln zuckte. »Jeder braucht ein Hobby.«

»Ich glaube, wir werden uns gut verstehen«, meinte Wolf mit sorgsam beherrschter Stimme.

»Auf jeden Fall verspreche ich, Sie nicht zu verprügeln … Sir.«

»Dafür wäre ich dankbar«, erwiderte Wolf. »Aber zurück zum Thema. Was steht als Nächstes auf dem Programm?«

Fünf Firebird-Jäger der Miliz donnerten in einer Diamantformation über sie hinweg. Obwohl die Formation etwas holprig wirkte, so beneidete Wolf die Miliz doch um deren Ausrüstung. Die Kasernen der planetaren Miliz von Alacantor sowie deren Flugfeld befanden sich weniger als drei Klicks entfernt am Stadtrand von Crossover. Es war bitter, dass sogar die Miliz besser ausgerüstet war als sie, dabei galten Milizionäre normalerweise als Bodensatz des Militärs. Nun hatten diesen Posten die Freiwilligenregimenter inne.

»Morgen werden die Waffen ausgegeben und wir fangen auch sofort mit dem Schießtraining, den Übungen mit dem Bajonett und den waffenlosen Nahkampftechniken an. Je eher, desto besser. Wir haben viel vor uns und es wird seine Zeit dauern, diesen Sauhaufen auf Vordermann zu bringen.«

»Was schätzen Sie?«

»Mindestens sechs Monate nur für die Grundübungen und um die Spreu vom Weizen zu trennen. Einige von ihnen werden nicht einmal für ein Freiwilligenregiment gut genug sein. Die müssen wir aussortieren und wieder nach Hause schicken. Im Moment haben wir knapp zweitausendsiebenhundert Rekruten zur Verfügung. Ich schätze, dass etwa sechzig bis siebzig Prozent übrig bleiben werden.«

»So wenige? Damit würden wir gerade mal knapp die Sollstärke erreichen.«

»Und das auch nur mit viel Glück. Die Musterungsstellen schicken uns jeden, den sie kriegen können und der nicht in eine reguläre Einheit passt. Das Aussieben überlassen sie uns.«

»Als hätten wir nicht schon genug Probleme.« Wolf seufzte. »Na schön, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig.«

Der Lieutenant Colonel schirmte seine Augen mit der Hand ab und sah den Miliz-Jägern hinterher. »Ich wünschte nur, wir hätten ein paar von den Babys.«

Delaney zuckte die Achseln. »Luftunterstützung ist immer was Feines, aber selbst wenn wir einige von den Dingern hätten, so hätten wir niemanden, der sie fliegen könnte.«

»Auch wieder wahr.«

Derek hatte das Gefühl, seine Lunge auskotzen zu müssen. Im Gegensatz zu den Soldaten und den meisten Offizieren des 171. waren die Unteroffiziere in der Mehrzahl Veteranen, die wussten, wie man grüne Rekruten anpacken musste. Sie scheuchten die Soldaten des 171. Regiments inzwischen seit mehr als zehn Kilometern. Derek hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren, auch der Stand der Sonnen bot kaum einen Anhaltspunkt für die vergangene Zeit. Es fühlte sich jedoch nach etlichen Stunden an. Seine Brust tat bei jedem Atemzug weh und seine Muskeln – insbesondere in den Waden – brannten wie die Hölle. Doch egal wie schlecht es ihm ging, anderen erging es schlechter.

Einige der Ungeübteren waren bereits auf der Strecke geblieben. Sanitäter, die neben den Truppen herliefen, eilten sofort herbei, um sich um die Ärmsten zu kümmern.

Die Sergeants, die sie begleiteten und antrieben, hatten nach einer gefühlten Ewigkeit ein Einsehen, dass an diesem Tag nicht mehr aus den Leuten herauszuholen war, und ließen den ganzen Tross endlich anhalten.

Derek fiel schwer keuchend auf die Wiese. Das Gras fühlte sich unter seinem Körper viel weicher an als die Matratze in der Baracke. Er war immer der Meinung gewesen, recht gut in Form zu sein, doch die Jahre als Zivilist hatten wohl stärker an ihm gezehrt, als er geglaubt hatte.

Kolja ließ sich neben ihn nieder. Der starken Atemfrequenz nach zu urteilen, stand er kurz vor dem Hyperventilieren.

Manoel Calderon schwitzte aus jeder Pore und hätte sich ebenfalls am liebsten niedergelassen, doch er ging demonstrativ an ihnen vorbei und ließ sich ein gutes Stück weiter auf das Gras sinken. Der Kerl hielt nicht viel von Gruppenzusammenhalt und blieb bewusst abseits von allen anderen. Allerdings war dies jedem nur allzu recht. Niemand wollte mit dem Schläger irgendetwas zu tun haben.

Narim Singh gesellte sich zu ihnen. Derek bemerkte ein wenig neidisch, dass der Inder kein bisschen außer Atem war. Er wirkte frisch und munter und sogar gut gelaunt – oder was bei dem eher schweigsamen Exkommandosoldat als gut gelaunt durchging.

Manfred Baumann und Björn Storker – die beiden Bataillonskommandeure – unterhielten sich im Vorbeigehen und nickten der Gruppe lediglich kurz zu. Der Exmarine wirkte ebenfalls kaum außer Atem, während sein Pendant vom zweiten Bataillon heftig schnaufte, was darauf hinwies, dass seine militärische Karriere – sollte er denn so was besitzen – bereits seit Längerem vorbei war.

Eveline DaSilva und Jessica Cummings gesellten sich ebenfalls zu ihnen. Von den anderen aus ihrer Baracke fehlte jede Spur. Derek konnte nur vermuten, dass sie zu den Schlusslichtern gehörten oder zu jenen Unglücklichen, die bereits ärztlicher Hilfe bedurften.

Eveline trug nur ein knappes T-Shirt – das darüber hinaus auch noch durchgeschwitzt war und nur wenig der Fantasie überließ – und Shorts. Als Kolja bewusst wurde, dass er ihre Rundungen anstarrte, wandte er erschrocken den Blick ab, was Derek ein Schmunzeln entlockte und Eveline übers ganze Gesicht grinsen ließ. Derek kannte sie noch nicht lange, hatte jedoch bereits den Eindruck gewonnen, dass sie zu den wenigen Frauen gehörte, die derlei unverhohlene Aufmerksamkeit genossen.

Narim Singh hingegen gönnte ihr nur einen kurzen Blick, kramte aus seinen Taschen einen Apfel hervor und begann, diesen genüsslich zu essen.

Jessica Cummings lag rücklings auf dem Gras, alle Gliedmaßen ausgestreckt, und bemühte sich verzweifelt, wieder zu Atem zu kommen.

Derek ließ den Blick über die versammelten Männer und Frauen schweifen, die inzwischen die Wiese bevölkerten. Es war interessant, wie sich fast zwangsläufig Grüppchen bildeten und einzelne Trupps zueinanderfanden, Züge und schließlich Kompanien. Die Gruppendynamik hatte bereits damit begonnen, Form anzunehmen.

Nur die wenigsten gingen optisch als Soldaten durch. So langsam begann er sich zu fragen, wer überhaupt auf die Schnapsidee mit den Freiwilligenregimentern gekommen war. Jede ruulanische Einheit würde ein Freiwilligenregiment ohne große Mühe durch den Fleischwolf drehen. Dieses Konzept gab ihm zwar die Möglichkeit, erneut in die Armee einzutreten, gut und schön, aber er sah keine große Chance, dass diese Einheit es je schaffen würde, einen Planeten zu verteidigen. Mit viel Glück würde diese Einheit niemals kämpfen müssen.

Aber wenn sie niemals kämpften, was taten sie dann alle überhaupt hier? Ging es diesen Männern und Frauen nur darum, Soldat zu spielen? Damit sie sich nicht gänzlich nutzlos vorkamen, während – wie hatte Delaney sich ausgedrückt? – richtige Soldaten sich den Ruul in den Weg stellten? Auf einige traf dies vermutlich zu, höchstwahrscheinlich sogar auf die meisten.

Dann gab es da natürlich eine kleine Minderheit – die Psychos. Menschen wie Manoel Calderon, die einfach keine Chance hatten, regulären Dienst zu leisten.

Und es gab Männer wie Narim, die einfach wieder Dienst in Uniform verrichten wollten, egal wie unbedeutend oder herablassend belächelnd dieser Dienst auch sein mochte.

Es war äußerst unwahrscheinlich, dass sie jemals zu einer Kampftruppe wurden, die es auch nur mit einem kleineren Plünderertrupp der Slugs würde aufnehmen können. Und einigen hier wäre das mit Sicherheit ganz recht. Einige wollten hier lediglich eine ruhige Kugel schieben, nur um später allen sagen zu können, sie wären ja dabei gewesen.

Kolja tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab und wandte sich an Derek. »Ich wette, ich weiß etwas, das du nicht weißt.«

Derek lächelte. »Spielen wir jetzt Kinderspiele?«

»Ich weiß nur etwas über unseren Kommandanten.«

»Wolf?«

»Jepp.«

Schlagartig war ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderen Anwesenden sicher. Selbst Narim spitzte die Ohren, aß aber seinen Apfel weiter, um vorzugeben, er täte es nicht.

»Und was weißt du?«

»Der Kerl ist ein waschechter Kriegsheld.«

»Sagt wer?«, fragte Jessica Cummings.

»So ein Typ aus dem 2. Bataillon. Er hat schon mal vor einigen Jahren unter Wolf gedient. Sagt er jedenfalls.«

»Was hat er noch erzählt?«

»Wolf hat vier große Operationen gegen die Ruul angeführt. Alle erfolgreich.«

Derek kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Was hat ihn dann ausgerechnet in ein Freiwilligenregiment verschlagen?«

»Das kommt jetzt: Seine letzten Kommandos waren nicht mehr so erfolgreich. Er kommandierte früher das 116. TKA-Infanterieregiment. Und die armen Schweine wurden massakriert. In einem Hinterhalt.«

»Etwa alle?«, fragte Eveline, während sie wie gebannt lauschte.

»Fast. Der Typ, der mir das erzählt hat, meinte, es wären vielleicht zwei- oder dreihundert davongekommen. Nicht mehr.«

»Au weia, ganz schön heftig.«

Kolja nickte. »Danach übertrug man ihm das Kommando über das 121. Infanterieregiment. Die sollten dann als Teil einer kombinierten Streitmacht aus Marine Corps und TKA den Planeten Abrahamus von den Ruul zurückerobern.«

»Und?«

»Die Operation war erfolgreich. Der Planet wurde befreit und befestigt, aber während der Kämpfe soll Wolf den Befehl erhalten haben, eine feindliche Stellung zu stürmen. Das hat er auch getan, hat aber dabei zwei Drittel seiner Einheit verloren. Die Verluste sollen sogar schlimmer gewesen sein als während des Hinterhalts. Danach bekam er für einige Zeit nur noch einen Schreibtischjob. Als das Konzept der Freiwiligenregimenter entworfen wurde, versetzte man ihn kurzerhand hierher.«

»Und jetzt haben wir ihn an der Backe?«, meinte Eveline.

»Sag das nicht, der Mann ist ein guter Offizier, sonst hätte er nicht so viele Gefechte gewonnen. Er ist einfach vom Pech verfolgt. So was passiert.« Derek wusste selbst nicht, warum er den Mann verteidigte, immerhin kannte er ihn kaum. Vielleicht lag es daran, dass Wolf der erste Offizier seit Langem war, der bereit war, ihm eine Chance zu geben.

»Seine Soldaten sind wohl eher die, die vom Pech verfolgt sind«, hielt Eveline dagegen. »Er selbst kommt ja immer wieder mit heiler Haut davon.«

»Nicht alle Narben sind immer sichtbar. Du solltest ihn nicht verurteilen. Keiner von uns war dabei. Wir wissen nicht, was wirklich geschah.« Er warf Kolja einen warnenden Blick zu. »Oder ob die Geschichten wirklich stimmen.«

Eveline wollte schon widersprechen, doch Narim kam ihr zuvor. »Derek hat recht. Wir wissen nicht, was vorgefallen ist oder ob überhaupt was vorgefallen ist.«

»Umsonst ist er nicht hier auf Alacantor.« Eveline schürzte stur die Lippen.

»Das sind wir doch alle nicht«, meinte Narim lächelnd. Eveline wollte etwas erwidern, überlegte es sich jedoch anders und schloss den Mund wieder. Schließlich neigte sie ergeben mit einem leichten Lächeln um die Mundwinkel den Kopf.

»Touché!«

In diesem Augenblick kam Gina Hooper an ihnen vorbei. Sie gehörten zu den Letzten, die eintrudelten. Aber anstatt sich zu ihnen zu gesellen, nickte sie nur kurz und ging weiter. Wie Manoel blieb sie lieber für sich. Sie war jedoch einfach nur schüchtern und in sich gekehrt, was nicht zuletzt an ihrer Vergangenheit mit ihrem prügelnden Ehemann lag.

Wenn jemand lange genug geschlagen und gedemütigt wurde, schwand jeglicher Selbsterhaltungstrieb, jegliche Selbstachtung und jegliches Selbstvertrauen. Zurück blieb nur eine zerbrochene Hülle, die zwar noch atmete, aber die man kaum lebendig nennen konnte. In Ginas Blick lagen nur noch Angst und Unsicherheit.

Als sie an Manoel vorüberkam, pfiff der aufdringliche Kerl und rief ihr einige Anzüglichkeiten zu. Als Derek das Verhalten des Scharfschützen bemerkte, kam ihm vor Abscheu beinahe die Galle hoch.

»Was für ein Arschloch!«, kommentierte Eveline. Den Mienen der Übrigen nach zu urteilen, sprach sie ihnen allen aus der Seele. Sogar die sonst so neutrale Miene Narim Singhs wirkte mit einem Mal hart wie Granit.

Derek schüttelte verständnislos den Kopf. Menschen wie Manoel konnten Schwäche riechen. Mehr noch, es stachelte sie an. Solche Leute waren Feiglinge, die sich auf Schwächere stürzten. Menschen wie Manoel würden nicht einmal im Traum daran denken, sich mit Ebenbürtigen oder sogar Stärkeren anzulegen, wie die Begegnung mit Narim belegte. Gott bewahre, wenn sie sich mit Stärkeren anlegten, könnten sie ja verlieren. Der Gedanke, was Narim mit Manoel anstellen könnte, zauberte ein Lächeln auf Dereks Gesicht. Er hoffte inständig, Manoel wäre so dumm, dem Inder einen Grund zu liefern.

4

Die nächsten drei Monate verbrachten sie in einer ewigen Abfolge derselben Übungen. Aufstehen vier Uhr morgens, dann erst mal einen gemütlichen Zehnkilometermarsch in voller Montur mit Waffe und Marschgepäck, dann Frühstück, Schießtraining, danach eine Stunde ihrer spärlichen Freizeit, anschließend das Training im waffenlosen Nahkampf, Abendessen, eine weitere Stunde Freizeit, abschließend noch ein paar Theoriestunden in Taktik, Militärgeschichte und ruulanischer Technik. Letzteres war ein Kurs, der eigentlich nicht Standard für Freiwilligenregimenter war, doch Wolf war der Meinung, seine Schützlinge sollten sich in solchen Dingen auskennen. Sie lernten eine Menge über Blitzschleudern und die verschiedenen Jäger- und Raumschifftypen der Ruul, sodass sie zumindest wussten, was ein Reaper und ein Manta waren, wozu sie dienten und wie sie bewaffnet waren.

Anschließend hatten sie den Rest des Tages frei. Nach einem solchen Tag dachten die meisten nur noch ans Bett. Auf diese Art verbrachten sie vier Tage die Woche, die anderen drei verbrachten sie mit endlosem Wachdienst, nicht enden wollenden Patrouillen und tödlicher Langeweile. Delaney ließ sie zu keinem Zeitpunkt vergessen, dass sie eine aktive Einheit auf Garnisonsposten waren. Die örtliche Miliz ließ es sich jedoch nicht nehmen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Verachtung zum Ausdruck zu bringen. Die Milizionäre genossen es offenbar sehr, in der Hackordnung des Militärs nicht länger ganz unten zu stehen.

Doch obwohl sie per Definition eine Kampfeinheit waren, stellten weder die Beleidigung der Milizionäre noch die Ruul den schlimmsten Feind dar. Der schlimmste Feind, dem sich das 171. Regiment gegenübersah, war Monotonie.

Entgegen den Befehlen schlichen sich deshalb hin und wieder einige davon, um in der Stadt einen draufzumachen und etwas Dampf abzulassen. Der überwiegende Teil tat es nach Dienstschluss, die Mutigeren auch während des Dienstes. Wurden sie erwischt, drohten ihnen harte Strafen. Wolf und Delaney verstanden keinen Spaß, wenn jemand seine Pflichten nicht ernst nahm.

Eveline schlich sich öfters davon, um eine neue Eroberung ihrer Erfolgsliste hinzuzufügen. Dafür verschaffte sie sich Zugang zu den Baracken des 2. Bataillons oder sie ging in Crossover auf Zivilistenfang, wie diese Vergnügung inzwischen innerhalb des Freiwilligenregiments hieß. Man musste ihr zugestehen, dass es abgesehen vom Training und dem Wachdienst nur wenig Zerstreuung für die Soldaten gab und Sex eine gute Methode darstellte, sich vom ewigen Alltagstrott abzulenken. Um genau zu sein, konnte man auf Alacantor in seiner Freizeit nicht sehr viel mehr tun als eben das. Eveline war beileibe nicht die Einzige, die sich diesem Hobby mit Leidenschaft und Inbrunst hingab, wohl aber diejenige, die sich zu diesem Zweck am häufigsten davonschlich.

Derek versuchte anfangs – wie einige andere Offiziere –, dies zu unterbinden, erkannte jedoch recht schnell, dass er gegen Windmühlen kämpfte.

Irgendwann begriff er das eigentliche Problem: Die Leute verstanden sich nicht einmal selbst als Soldaten. Und wenn man kein Soldat war, warum dann seine Zeit mit so etwas Trivialem wie Wachdienst verbringen? Die Leute benötigten dringend etwas, das sie als Einheit zusammenwachsen ließ. Doch ein Kampfeinsatz wäre so ziemlich das Einzige gewesen, was dies hätte bewerkstelligen können, und es sah nicht so aus, als würde das 171. in nächster Zeit in ein Kampfgebiet abrücken.

Delaney und Wolf erkannten das Problem auch. Ihr Lösungsansatz bestand darin, eine Art Wettbewerb einzuführen, indem die vier Kompanien des Regiments im Zuge ihrer Ausbildung um Punkte wetteiferten. Die Kompanie, die in den jeweiligen Sparten die meisten Punkte erzielte, durfte mit Vergünstigungen rechnen. Außerdem war dies eine gute Methode, das brauchbare Soldatenmaterial von den hoffnungslosen Fällen zu trennen. Nach etwa sechs weiteren Wochen, mussten knapp fünfhundert aussortierte Rekruten Alacantor wieder verlassen. Viele hofften, dass Manoel Calderon zu den Aussortierten gehören würde, doch dieser erwies sich tatsächlich als so guter Scharfschütze, dass er zum Leidwesen vieler bleiben durfte.

Der Wettbewerb war eine gute Idee gewesen und die Verstöße gegen die Disziplin gingen etwas zurück, trotzdem blieben die Langeweile und die daraus resultierenden unerlaubten Gänge in die Stadt ein großes Problem.

»Mann, ist das ätzend!« Kolja starrte lustlos an die Decke.

»Langweilig?«, meinte Derek, der es sich ebenfalls auf seiner Pritsche gemütlich gemacht hatte.

»Jaaa«, erwiderte Kolja, indem er das einzelne Wort ausdehnte und somit seiner Frustration Ausdruck verlieh.