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Der Schattenprinz E-Book

David Gemmell

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Beschreibung

Nach "Die Legende": Der zweite Band der legendären Drenai-Saga von Kultautor David Gemmell Ein Jahrhundert, nachdem sie sich heldenhaft gegen die Nadir verteidigt haben, sieht sich das Volk der Drenai einer neuen Gefahr gegenüber: Ein wahnsinniger Herrscher will das Reich erobern, und bei ihm sind seltsame Krieger mit übernatürlichen Fähigkeiten und geheimnisvolle Priester, die die Dunkelheit heraufbeschwören können. Ein Mann jedoch stellt sich dieser finsteren Armee entgegen: Tenaka Khan, genannt der Schattenprinz. Er verfügt über Mut und Tapferkeit und großes militärisches Geschick – doch die Drenai, für die er kämpft, bringen ihm nichts als Verachtung entgegen, denn Tenaka ist ein halber Nadir … Seit über 30 Jahren begeistert David Gemmells Meisterwerk die Fans der Heroic Fantasy - jetzt endlich wieder lieferbar in zeitgemäßer Neuausstattung!

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Seitenzahl: 537

Veröffentlichungsjahr: 2018

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David Gemmell

Der Schattenprinz

Die Drenai-Saga 2

Ins Deutsche übertragen von Irmhild Seeland

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Der zweite Band der legendären Drenai-Saga.

Ein Jahrhundert, nachdem sie sich heldenhaft gegen die Nadir verteidigt haben, sieht sich das Volk der Drenai einer neuen Gefahr gegenüber: Ein wahnsinniger Herrscher will das Reich erobern, und bei ihm sind seltsame Krieger mit übernatürlichen Fähigkeiten und geheimnisvolle Priester, die die Dunkelheit heraufbeschwören können.

Ein Mann jedoch stellt sich dieser finsteren Armee entgegen: Tenaka Khan, genannt der Schattenprinz. Er verfügt über Mut und Tapferkeit und großes militärisches Geschick – doch die Drenai, für die er kämpft, bringen ihm nichts als Verachtung entgegen, denn Tenaka ist ein halber Nadir …

Inhaltsübersicht

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Epilog

Prolog

Auf den Bäumen lastete der Schnee, und der Wald lag wie eine schüchterne Braut unter der weißen Decke. Eine Weile blieb der Mann zwischen den Felsen und Steinblöcken stehen und betrachtete prüfend die Hänge. Schnee sammelte sich auf seinem pelzgefütterten Umhang und dem breitkrempigen Hut, doch er beachtete es nicht, wie er auch die Kälte ignorierte, die durch sein Fleisch drang und seine Knochen taub werden ließ. Er hätte der letzte Lebende auf einem sterbenden Planeten sein können.

Beinahe wünschte er, es wäre so.

Zufrieden, weil er keine Patrouillen entdeckt hatte, bewegte er sich schließlich den Hang hinab, wobei er die Füße behutsam auf den trügerischen Boden setzte. Seine Bewegungen waren langsam, und er wusste, dass die Kälte eine wachsende Gefahr darstellte. Er brauchte einen Lagerplatz und ein Feuer.

Hinter ihm erhoben sich die Delnoch-Berge unter sich zusammenballenden Wolken. Vor ihm lag der Skultik-Wald, ein Gebiet voll dunkler Legenden, enttäuschter Träume und Kindheitserinnerungen.

Der Wald lag schweigend da. Nur hin und wieder knackte trockenes Holz, wenn das immer dicker werdende Eis die Zweige brechen ließ, oder es rauschte leise, wenn der Schnee von den Ästen rutschte.

Tenaka drehte sich um und betrachtete seine Fußspuren. Die scharfen Konturen verschwammen bereits; in wenigen Minuten würde die Fährte nicht mehr zu sehen sein. Er ging weiter, seine Gedanken voller Kummer, seine Erinnerungen zerrissen.

Er schlug in einer flachen Höhle, die Schutz vor dem Wind bot, sein Lager auf und entzündete ein kleines Feuer. Die Flammen loderten auf und ließen rote Schatten auf den Höhlenwänden tanzen. Er zog seine Wollhandschuhe aus und wärmte sich die Hände über dem Feuer; dann rieb er sich das Gesicht und kniff sich in die Wangen, damit das Blut wieder besser zirkulierte. Er hätte gern geschlafen, aber noch war die Höhle nicht warm genug.

Der Drache war tot. Tenaka schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Ananais, Decado, Elias, Beltzer. Alle tot. Verraten, weil sie an die Ehre und vor allem an die Pflicht glaubten. Tot, weil sie glaubten, dass der Drache unbesiegbar war und dass das Gute letztendlich triumphieren musste.

Tenaka kämpfte die aufsteigende Müdigkeit nieder und legte dickere Äste auf das Feuer.

»Der Drache ist tot«, sagte er laut. Seine Stimme hallte in der Höhle wider. Wie seltsam, dachte er – es war die Wahrheit, und doch glaubte er sie nicht.

Er blickte in die Schatten des Feuers und sah wieder die Marmorhallen seines Palasts in Ventria vor sich. Dort gab es kein Feuer, nur die sanfte Kühle der inneren Gemächer, denn der kalte Stein hielt die kräftezehrende Hitze der Wüstensonne fern. Weiche Sessel und gewebte Teppiche, Diener, die Krüge mit geeistem Wein brachten und Eimer mit kostbarem Wasser heranschleppten, um die Rosengärten zu wässern, damit die Schönheit der blühenden Sträucher erhalten blieb.

Beltzer war der Bote gewesen. Der getreue Beltzer – der beste Krieger im Range eines Bar, der Flügel aufzuweisen hatte.

»Wir sind nach Hause zurückbeordert worden, General«, hatte er gesagt, als er unbehaglich in der großen Bibliothek stand. Seine Kleidung war voller Sand und wies Spuren der Reise auf. »Die Rebellen haben eins von Ceskas Regimentern im Norden geschlagen, und Baris hat den Rückzugsbefehl persönlich erteilt.«

»Woher weißt du, dass es Baris war?«

»Das Siegel, General. Sein persönliches Siegel. Und die Botschaft: ›Der Drache ruft‹.«

»Baris ist seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen worden.«

»Ich weiß, General. Aber sein Siegel …«

»Ein Klumpen Wachs bedeutet nichts.«

»Für mich schon, General.«

»Also wirst du nach Drenan zurückkehren?«

»Ja, General. Und du?«

»Zurück zu was, Beltzer? Das Land liegt in Trümmern. Die Bastarde sind unbesiegbar. Und wer weiß, welche schändlichen, zauberischen Mächte gegen die Rebellen ins Feld geführt werden? Sieh dem ins Gesicht, Mann! Der Orden des Drachen wurde vor fünfzehn Jahren aufgelöst, und wir alle sind älter geworden. Ich war damals einer der jüngeren Offiziere. Jetzt bin ich vierzig. Du musst auf die fünfzig zugehen – falls der Drache überlebt hätte, würdest du bald in den Ruhestand gehen.«

»Ich weiß«, sagte Beltzer und nahm straffe Haltung an. »Aber die Ehre ruft. Ich habe den Drenai mein Leben lang gedient und kann mich dem Ruf nicht verweigern.«

»Ich schon«, sagte Tenaka. »Die Sache ist verloren. Gib Ceska Zeit, und er wird sich selbst zerstören. Er ist verrückt. Das ganze System zerbricht.«

»Ich bin kein Mann der Worte, General. Ich bin dreihundert Kilometer geritten, um die Botschaft zu überbringen. Ich kam, um den Mann zu suchen, dem ich einst diente, doch er ist nicht hier. Es tut mir leid, wenn ich gestört habe.«

»Hör zu, Beltzer!«, sagte Tenaka, als der Krieger sich zur Tür wandte. »Wenn es nur die kleinste Aussicht auf Erfolg gäbe, würde ich gern mit dir kommen. Aber das Ganze riecht nach Niederlage.«

»Glaubst du, das wüsste ich nicht? Wir alle wissen es!«, erwiderte Beltzer. Dann war er gegangen.

Der Wind drehte und fuhr in die Höhle. Schnee trieb ins Feuer. Tenaka fluchte leise. Er zog sein Schwert und ging hinaus, um zwei dicke Büsche abzuhacken und als Schutz vor den Eingang zu zerren.

Als die Monate vergingen, hatte er den Drachen vergessen. Er musste sich um seine Besitztümer kümmern, um wichtige Dinge in der wirklichen Welt.

Dann war Illae krank geworden. Tenaka war im Norden gewesen, um Wachpatrouillen aufzustellen, welche die Gewürzstraße schützen sollten, als die Nachricht ihn erreichte, und er war nach Hause geeilt. Die Ärzte sagten, Illae hätte eine fiebrige Krankheit, die vorübergehen würde, und es bestünde kein Grund zur Sorge. Doch ihr Zustand hatte sich verschlechtert. Lungenbrand, hieß es. Sie magerte ab, bis sie zum Schluss nur noch in dem großen Bett liegen konnte. Ihr Atem ging stoßweise, und ihre einst blauen Augen schimmerten nun wie ein Bild des Todes. Tag für Tag saß er neben ihr, redete, betete, flehte sie an, nicht zu sterben.

Und dann war es ihr besser gegangen, und sein Herz tat einen Sprung. Sie erzählte ihm von ihren Plänen für ein Fest und hielt inne, um zu überlegen, wen sie einladen sollte.

»Sprich weiter!«, hatte er gesagt. Aber sie war tot. Zehn Jahre geteilter Erinnerungen, Hoffnungen und Freuden waren wie Wasser im Wüstensand versiegt.

Er hatte sie aus dem Bett gehoben und in einen weißen wollenen Schal gewickelt. Dann drückte er sie fest an sich und trug sie in den Rosengarten. »Ich liebe dich«, sagte er immer wieder, küsste ihr Haar und wiegte sie wie ein kleines Kind.

Die Diener scharten sich schweigend um ihn, bis nach einer Stunde zwei von ihnen vortraten. Sie trennten den weinenden Tenaka von der toten Frau und führten ihn auf seine Gemächer. Dort fand er das versiegelte Schreiben, aus dem der neueste Stand seiner geschäftlichen Unternehmungen hervorging; daneben lag ein Brief von Estes, seinem Buchhalter. Die Briefe enthielten Vorschläge für verschiedene Investitionen und bewiesen eine scharfe politische Einsicht dessen, was außer Acht zu lassen, auszunutzen und zu beachten war.

Ohne nachzudenken, hatte er den Brief geöffnet, die Liste von vagrischen Siedlungen überflogen, von lentrischen Eröffnungen und drenaischen Dummheiten, bis er zu den letzten Sätzen gelangte:

»Ceska hat die Rebellen südlich der sentranischen Ebene in die Flucht geschlagen. Es hat den Anschein, dass er wieder mit seiner Klugheit prahlt. Er hat Boten ausgeschickt, um alte Soldaten heimzurufen; es scheint, dass er den Drachen gefürchtet hat, seit er ihn vor fünfzehn Jahren entließ. Jetzt hat er seine Furcht überwunden – sie wurden bis auf einen Mann vernichtet. Die Bastarde sind entsetzlich. In was für einer Welt leben wir nur?«

»Leben?«, sagte Tenaka. »Niemand lebt – sie sind alle tot.«

Er stand auf und ging zu der nach Westen gelegenen Wand, stellte sich vor einen ovalen Spiegel und betrachtete die Trümmer seines Lebens.

Sein Spiegelbild starrte zurück; die schräg stehenden violetten Augen klagten ihn an, und der fest zusammengepresste Mund wirkte bitter und zornig.

»Geh nach Hause«, sagte sein Spiegelbild, »und töte Ceska.«

1

Die Gebäude der Unterkünfte waren schneebedeckt, die zerbrochenen Fenster standen offen wie alte, nicht verheilte Wunden. Der Platz, einst platt getreten von zehntausend Mann, war jetzt uneben, und das Gras drängte von unten gegen den Schnee.

Der Drache war brutal behandelt worden: Seine steinernen Flügel waren vom Rücken abgeschlagen, die Fänge zerschmettert und das Gesicht mit roter Farbe verunziert. Als Tenaka in schweigender Verehrung davorstand, hatte er den Eindruck, dass der Drache blutige Tränen weinte.

Dann betrachtete Tenaka den Platz, und die Erinnerung brachte blitzartig helle Bilder zurück: Ananais, der seinen Männern Kommandos zurief, widersprüchliche Befehle, die dazu führten, dass sie sich ineinander verkeilten und zu Boden gingen.

»Ihr Mistratten!«, brüllte der blonde Riese. »Ihr wollt Soldaten sein?«

Die Bilder verblassten vor der geisterhaften weißen Leere der Wirklichkeit, und Tenaka schauderte. Er ging zum Brunnen, neben dem ein alter Eimer lag, dessen Henkel noch immer an ein verrottetes Tau geknotet war. Er ließ den Eimer in den Brunnen hinab und hörte, wie das Eis brach; dann zog er ihn hinauf und trug ihn zum Drachen.

Die Farbe war nur schwer herunterzubekommen, doch er arbeitete fast eine Stunde daran und schabte die letzten roten Spuren mit seinem Dolch ab.

Dann sprang er zu Boden und betrachtete sein Werk.

Selbst ohne die Farbe sah der Drache bedauernswert aus, sein Stolz zerbrochen. Tenaka dachte wieder an Ananais.

»Vielleicht ist es besser, dass du gestorben bist, als das hier sehen zu müssen«, sagte er.

Es begann zu regnen, eisige Nadeln, die in sein Gesicht stachen. Tenaka warf sich sein Bündel über die Schulter und lief zu den verlassenen Unterkünften. Die Tür stand auf, und er trat in das ehemalige Offiziersquartier. Eine Ratte huschte ins Dunkel, als er vorbeiging, doch Tenaka beachtete sie nicht und ging zu den größeren, nach hinten gelegenen Räumen. Er ließ sein Gepäck in seinem alten Zimmer und kicherte, als er den Kamin sah: Holz war daneben aufgestapelt und alles für ein Feuer vorbereitet.

Am letzten Tag musste jemand in sein Zimmer gekommen sein und das Holz aufgeschichtet haben, obwohl er gewusst hatte, dass sie fortgingen.

Decado, sein Bursche?

Nein. Decado besaß keine romantischen Züge. Er war ein bösartiger Killer, der nur von der eisernen Disziplin des Drachen und seinem eigenen ausgeprägten Sinn für Loyalität gegenüber dem Regiment im Zaum gehalten wurde.

Wer war es dann gewesen?

Nach einer Weile gab Tenaka es auf, in seiner Erinnerung nach Gesichtern zu suchen. Er würde es nie erfahren.

Nach fünfzehn Jahren sollte das Holz trocken genug für ein rauchloses Feuer sein, sagte er sich und legte frischen Zunder unter die Scheite. Bald leckten Flammenzungen empor, und das Feuer begann zu flackern.

Aus einem plötzlichen Impuls heraus ging Tenaka zu der holzgetäfelten Wand und suchte nach der verborgenen Nische. Früher war sie bei der leisen Berührung des Knopfes aufgesprungen, jetzt knirschte die verrostete Feder. Sanft drückte er die Täfelung auf. Dahinter befand sich eine kleine Vertiefung, die entstanden war, als man einen Stein entfernt hatte, viele Jahre bevor der Drache aufgelöst wurde. Auf der Rückseite stand in der Sprache der Nadir:

Nadir sind wir

der Jugend geboren

Blutvergießer und

Äxteschwinger

doch Sieger sind wir.

Zum ersten Mal seit Monaten lächelte Tenaka, und ein Teil der Last wurde von seiner Seele genommen. Die Jahre fielen von ihm ab, und er sah sich wieder als jungen Mann aus der weiten Steppe, der gekommen war, seinen Dienst beim Drachen anzutreten. Er konnte wieder spüren, wie seine neuen Bruderoffiziere ihn anstarrten – und ihre kaum verhohlene Feindseligkeit.

Ein Nadirprinz beim Drachen? Das war unvorstellbar, ja, obszön. Doch unbestreitbar war dieser junge Bursche ein besonderer Fall.

Nach den Ersten Nadirkriegen vor hundert Jahren hatte Magnus Wundweber den Orden des Drachen gebildet, als der unbesiegbare Kriegsherr Ulric seine Horden gegen die Mauern von Dros Delnoch führte, der mächtigsten Festung der Welt, wo er von dem Bronzegrafen und dessen Kriegern jedoch zurückgeschlagen wurde. Der Drache sollte für die Drenai eine Waffe zum Schutz gegen künftige Invasionen der Nadir sein.

Und dann, wie ein Wirklichkeit gewordener Albtraum – und während die Erinnerungen an den Zweiten Nadirkrieg noch frisch waren –, war ein Stammesangehöriger der Nadir ins Regiment aufgenommen worden. Schlimmer noch, er war ein direkter Nachfahre von Ulric. Und doch hatten sie keine andere Wahl, als ihm seinen Säbel zu überreichen.

Denn er war nur von der mütterlichen Seite her ein Nadir. Von der väterlichen Seite war er der Urenkel von Regnak, dem Wanderer: dem Bronzegrafen.

Das war ein Problem für diejenigen, die ihn so gern gehasst hätten.

Wie konnten sie einen Nachfahren des größten Helden der Drenai hassen? Es war nicht leicht für sie, aber sie schafften es.

Ziegenblut wurde auf Tenakas Kissen verschüttet, Skorpione in seinen Stiefeln versteckt. Seine Sattelgurte wurden angeschnitten, und schließlich legte man ihm sogar eine Viper ins Bett.

Die Schlange hätte ihn beinahe getötet, als er sich zu Bett legte und sie ihre Zähne in seinen Oberschenkel hieb. Er schnappte seinen Dolch vom Nachttisch, tötete die Schlange und machte dann einen kreuzförmigen Schnitt in die Wunde, in der Hoffnung, der Blutstrom würde das Gift ausschwemmen. Dann blieb er still liegen; denn er wusste, dass jede Bewegung das Gift schneller in seinen Blutkreislauf gelangen ließ. Er hörte Schritte auf dem Flur und wusste, es war Ananais, der Wachoffizier, der nach Beendigung seines Dienstes in sein Zimmer zurückkehrte.

Tenaka wollte nicht um Hilfe rufen, denn er wusste, dass Ananais ihn nicht mochte. Aber er wollte auch nicht sterben! So rief er Ananais’ Namen; die Tür wurde geöffnet, und der blonde Riese erschien.

»Eine Viper hat mich gebissen«, erklärte Tenaka.

Ananais duckte sich unter dem Türrahmen hindurch, kam zu Tenakas Bett und stieß die tote Viper mit seinem Stiefel beiseite. Dann betrachtete er die Wunde in Tenakas Bein.

»Wie lange ist das her?«, fragte er.

»Zwei oder drei Minuten.«

Ananais nickte. »Die Schnitte sind nicht tief genug.«

Tenaka reichte ihm den Dolch.

»Nein. Wenn sie tief genug wären, würdest du wichtige Muskeln verletzen.«

Ananais beugte sich vor und drückte seinen Mund auf die Wunde, um das Gift herauszusaugen. Dann legte er einen Druckverband an und holte einen Arzt herbei.

Obwohl der größte Teil des Gifts heraus war, wäre der junge Nadirprinz beinahe gestorben. Er fiel in ein Koma, das vier Tage anhielt. Als er aufwachte, saß Ananais an seinem Bett.

»Wie fühlst du dich?«

»Gut.«

»Du siehst aber nicht so aus. Trotzdem, ich bin froh, dass du am Leben bist.«

»Danke, dass du mich gerettet hast«, sagte Tenaka, als der Riese aufstand, um zu gehen.

»Es war mir ein Vergnügen. Aber ich möchte trotzdem nicht, dass du meine Schwester heiratest«, sagte er grinsend und ging zur Tür. »Übrigens, gestern wurden drei junge Offiziere entlassen. Ich glaube, von jetzt an kannst du ruhig schlafen.«

»Das werde ich nie können«, erwiderte Tenaka. »Für die Nadir ist das der Weg des Todes.«

»Kein Wunder, dass ihre Augen schräg stehen«, meinte Ananais.

 

Renya half dem alten Mann auf die Füße. Dann häufte sie Schnee auf das kleine Feuer, um es zu löschen. Die Temperatur sank, als die Sturmwolken sich finster und drohend über ihnen zusammenballten. Das Mädchen hatte Angst, denn der alte Mann hatte aufgehört zu zittern. Er stand jetzt bei dem verkrüppelten Baum und starrte mit leerem Blick zu Boden.

»Komm, Aulin«, sagte sie und legte einen Arm um seine Hüfte. »Die alte Kaserne ist nicht mehr fern.«

»Nein!«, rief er und wich zurück. »Sie werden mich dort finden. Ich weiß es.«

»Die Kälte wird dich umbringen«, zischte sie. »Komm schon!«

Widerstrebend erlaubte er Renya, ihn durch den Schnee zu führen. Sie war ein großes Mädchen und stark, doch das Gehen war mühsam, und sie atmete schwer, als sie durch die letzte Reihe Buschwerk vor dem Platz des Drachen kamen.

»Nur noch ein paar Minuten«, sagte sie. »Dann kannst du dich ausruhen.«

Der alte Mann schien aus diesen Worten neue Kraft zu schöpfen und stolperte schneller voran. Zweimal fiel er beinahe zu Boden, doch sie fing ihn auf.

Renya trat die Tür des nächsten Gebäudes auf und half dem alten Mann hinein. Dann streifte sie ihr weißes, wollenes Kopftuch ab und fuhr sich mit der Hand durch das schweißnasse, kurz geschnittene schwarze Haar.

Geschützt vor dem beißenden Wind, spürte sie, wie ihre Haut zu brennen anfing, als ihr Körper sich auf die warme Umgebung einstellte. Sie löste den Gürtel ihres weißen Schaffellmantels und schob ihn über ihre kräftigen Schultern zurück. Darunter trug sie eine hellblaue Wolltunika und schwarze Beinkleider, die zum Teil von schenkellangen, schaffellgefütterten Stiefeln verborgen wurden. An ihrer Hüfte hing ein schmaler Dolch.

Der alte Mann lehnte sich an die Wand. Er zitterte heftig.

»Sie werden mich finden! Sie werden!«, jammerte er. Renya beachtete ihn nicht, sondern schritt den Gang hinunter.

Am anderen Ende erschien plötzlich ein Mann. Renya fuhr zusammen; der Dolch sprang ihr in die Hand. Der Mann war groß und dunkel und schwarz gekleidet. An seiner Hüfte hing ein Langschwert. Er kam langsam näher, doch mit einer Zuversicht, die Renya einschüchterte. Während er auf sie zukam, bereitete sie sich auf den Angriff vor und beobachtete seine Augen.

Sie stellte fest, dass sie von einem wunderschönen Violett waren und schräg standen, wie die Augen der Menschen von den Nadirstämmen im Norden. Sein Gesicht war kantig und beinahe schön zu nennen, abgesehen von dem grimmigen Zug um den Mund.

Renya wollte ihn mit Worten aufhalten, ihm sagen, dass sie ihn töten würde, wenn er noch näher käme. Aber sie konnte nicht. Den Mann umhüllte eine Aura der Macht – eine Autorität, die Renya keine andere Wahl ließ, als zu reagieren statt zu handeln.

Und dann war er an ihr vorbei und beugte sich über Aulin.

»Lass ihn in Ruhe!«, rief Renya. Tenaka drehte sich zu ihr um.

»In meinem Zimmer brennt ein Feuer. Hier entlang, auf der rechten Seite«, sagte er ruhig. »Ich werde ihn dorthin tragen.« Geschmeidig hob er den alten Mann hoch und trug ihn in seine Unterkunft, wo er ihn auf das schmale Bett legte. Dann zog er dem Alten Mantel und Stiefel aus und begann, ihm sanft die Waden zu massieren, deren Haut blau und fleckig war. Er drehte sich um und warf dem Mädchen eine Decke zu. »Wärm sie am Feuer«, bat er und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Nach einer Weile horchte er auf die Atmung des Mannes – sie war tief und gleichmäßig.

»Schläft er?«, fragte sie.

»Ja.«

»Wird er es überstehen?«

»Wer kann das sagen?«, entgegnete Tenaka, stand auf und streckte sich.

»Danke, dass du ihm geholfen hast.«

»Danke, dass du mich nicht getötet hast«, erwiderte er.

»Was tust du hier?«

»Ich sitze an meinem Feuer und warte darauf, dass der Sturm nachlässt. Möchtest du etwas essen?«

Gemeinsam saßen sie vor dem Feuer und teilten sich getrocknetes Fleisch und Hartzwieback. Sie sprachen wenig. Tenaka war nicht besonders neugierig, und Renya spürte intuitiv, dass er keine Lust hatte zu reden. Doch das Schweigen war keineswegs unbehaglich. Sie fühlte sich ruhig und friedlich, zum ersten Mal seit Wochen, und selbst die Bedrohung durch die Meuchelmörder wirkte weniger real. Es schien, als würde die Kaserne durch Magie geschützt – unsichtbar, aber unendlich mächtig.

Tenaka lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete das Mädchen, das in die Flammen starrte. Ihr Gesicht war anziehend, oval mit hohen Wangenknochen und großen Augen, die so dunkel waren, dass die Pupillen mit der Iris verschmolzen. Sie machte den Eindruck von Kraft, unter der sich Verletzlichkeit verbarg, als ob geheime Ängste oder eine verborgene Schwäche das Mädchen quälten. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er sich zu ihr hingezogen gefühlt. Doch wenn er jetzt in sich hineinsah, konnte er keine Gefühle entdecken, kein Begehren … kein Leben, wie er erstaunt feststellte.

»Wir werden gejagt!«, sagte sie schließlich.

»Ich weiß.«

»Woher willst du das wissen?«

Er zuckte die Achseln und legte Holz nach. »Ihr seid auf einer Straße, die nirgends hinführt, ohne Pferde und Verpflegung. Und doch sind eure Kleider teuer und euer Benehmen kultiviert. Also lauft ihr vor irgendetwas oder irgendjemandem davon, und daraus folgt, dass man hinter euch her ist.«

»Stört dich das?«, fragte sie.

»Warum sollte es?«

»Wenn du mit uns zusammen erwischt wirst, musst du auch sterben.«

»Dann werde ich eben nicht mit euch zusammen erwischt.«

»Soll ich dir sagen, warum man uns jagt?«, fragte sie.

»Nein. Das ist euer Leben. Unsere Wege haben sich hier gekreuzt, aber wir gehen einem unterschiedlichen Schicksal entgegen. Es besteht keine Notwendigkeit, mehr über den anderen zu erfahren.«

»Warum? Hast du Angst, du würdest dich ängstigen, falls du es wüsstest?«

Er dachte sorgfältig über die Frage nach und sah den Zorn in ihren Augen. »Kann sein. Aber vor allem fürchte ich die Schwäche, die sich daraus ergibt, wenn man Anteil nimmt. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, und ich kann nicht noch andere Probleme gebrauchen. Nein, das stimmt nicht – ich will keine anderen Probleme.«

»Ist das nicht selbstsüchtig?«

»Natürlich. Aber es hilft zu überleben.«

»Und ist das so wichtig?«, fuhr sie ihn an.

»Das muss es wohl sein, sonst würdet ihr nicht davonlaufen.«

»Es ist wichtig für ihn«, sagte sie und deutete auf den alten Mann im Bett. »Nicht für mich.«

»Vor dem Tod kann er nicht davonlaufen«, sagte Tenaka leise. »Auch wenn es Mystiker gibt, die behaupten, dass es ein Paradies nach dem Tode gibt.«

»Er glaubt daran«, sagte sie lächelnd. »Und genau davor hat er Angst.«

Tenaka schüttelte langsam den Kopf; dann rieb er sich die Augen.

»Das ist etwas zu viel für mich«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich glaube, ich werde jetzt schlafen.« Er nahm seine Decke, breitete sie auf dem Boden aus und legte sich darauf; sein Kopf ruhte auf seinem Bündel.

»Du gehörst zum Drachen, nicht wahr?«, fragte Renya.

»Woher weißt du das?«, fragte er zurück und stützte sich auf den Ellbogen.

»Die Art, wie du gesagt hast: ›mein Zimmer‹.«

»Sehr scharf beobachtet.« Er legte sich wieder hin und schloss die Augen.

»Ich heiße Renya.«

»Gute Nacht, Renya.«

»Willst du mir nicht deinen Namen sagen?«

Er musste an all die Gründe denken, ihr seinen Namen zu verschweigen.

»Tenaka Khan«, sagte er schließlich. Und schlief ein.

 

Das Leben ist eine Farce, dachte Steiger, als er dreizehn Meter über dem gepflasterten Hof an den Fingerspitzen hing. Unter ihm schnüffelte ein riesiger Bastard, den zottigen Kopf hin- und herschwenkend, die klauenbewehrten Finger um den Griff eines Schwertes mit gezackter Klinge gekrallt. Schnee wehte in eisigen Schauern herein und stach Steiger in die Augen.

»Vielen Dank«, wisperte er und blickte zu den dunklen, schweren Sturmwolken empor. Steiger war ein religiöser Mann, der die Götter als eine Gruppe uralter Wesen betrachtete – Ewige, die mit der Menschheit endlose Scherze von kosmisch schlechtem Geschmack trieben.

Unter ihm schob der Bastard sein Schwert in die Scheide und stapfte davon in die Dunkelheit. Tief Luft holend, zog Steiger sich über die Fensterbrüstung und schob die schwarzen Samtvorhänge auseinander. Er befand sich in einem Arbeitszimmer, das mit einem Schreibtisch, drei Eichenstühlen, mehreren Truhen und einer Reihe von Bücherregalen und Ständern für Schriftrollen ausgestattet war. Das Arbeitszimmer war aufgeräumt, übertrieben aufgeräumt, dachte Steiger, als er feststellte, dass die drei Schreibfedern exakt in der Mitte des Tisches und parallel zueinander ausgerichtet waren. Von Magister Silius hätte er auch nichts anderes erwartet.

Ein langer, silberner Spiegel in einem Mahagonirahmen hing an der Wand gegenüber dem Schreibtisch. Steiger richtete sich zu seiner vollen Größe auf, nahm die Schultern zurück und betrachtete sich in diesem Spiegel. Die schwarze Gesichtsmaske, dunkle Tunika und Beinkleider verliehen ihm ein furchterregendes Äußeres. Er zog seinen Dolch und nahm die Lauerstellung des Kriegers an. Die Wirkung war beängstigend.

Perfekt, sagte er zu seinem Spiegelbild. Dir möchte ich nicht in einer dunklen Gasse begegnen! Er steckte den Dolch wieder weg, ging zur Tür und hob vorsichtig den eisernen Riegel.

Hinter der Tür lag ein schmaler Gang, von dem vier weitere Türen wegführten – zwei auf der linken und zwei auf der rechten Seite. Steiger schlich zum letzten Raum links und hob behutsam den Riegel. Die Tür öffnete sich lautlos, und er ging hinein, wobei er sich dicht an die Wand drückte. Der Raum war warm, obwohl das Holzfeuer im Kamin nur noch schwach brannte, ein gedämpftes rotes Glühen, das die Vorhänge rund um ein großes Bett beleuchtete. Steiger ging zu diesem Bett, um einen Blick auf den dicken Silius und seine ebenso dicke Frau zu werfen. Silius lag auf dem Bauch, sie auf dem Rücken, und beide schnarchten.

Warum schleiche ich eigentlich?, fragte Steiger sich. Ich hätte auch laut pfeifend hereinkommen können. Er unterdrückte ein Kichern, fand das Schmuckkästchen in der verborgenen Nische unterhalb des Fensters, öffnete es und ließ den Inhalt in einen schwarzen Samtbeutel gleiten, den er am Gürtel trug. Der Wert des Schmucks würde ihm fünf Jahre ein Leben in Luxus erlauben. Aber so, wie die Dinge lagen, musste er den Schmuck an einen der schäbigen Händler im Südviertel verkaufen, und dann würde das Geld nur für drei Monate reichen oder für sechs, falls er nicht spielte. Steiger erwog, diesmal die Finger vom Glücksspiel zu lassen, aber das war unvorstellbar. Also gut. Dann eben nur drei Monate.

Er knüpfte den Beutel wieder zu, schlich rückwärts auf den Gang hinaus, drehte sich um …

… und fand sich einem Diener gegenüber, einer großen hageren Gestalt in einem wollenen Nachthemd.

Der Mann schrie auf und ergriff die Flucht.

Steiger schrie ebenfalls auf und flüchtete, schoss eine Wendeltreppe hinab und prallte mit zwei Wächtern zusammen. Beide taumelten zurück und schrien im Fallen. Steiger rollte sich ab, kam wieder auf die Füße und rannte nach links, die Wächter dicht auf den Fersen. Eine weitere Treppe tauchte rechts von ihm auf, und er rannte hinauf, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Seine langen Beine trugen ihn mit erstaunlicher Geschwindigkeit davon.

Zweimal verlor er beinahe das Gleichgewicht, ehe er das nächste Geschoss erreichte. Vor ihm befand sich ein eisernes Tor – verschlossen, aber der Schlüssel hing an einem hölzernen Haken. Der Gestank, der durch das Tor drang, brachte ihn wieder zu Sinnen, und Angst verdrängte seine Panik.

Die Verliese der Bastarde!

Hinter sich hörte er, wie die Wächter die Treppe hinaufkeuchten. Er nahm den Schlüssel, öffnete das Tor, schlüpfte hindurch und verschloss es von innen. Dann ging er vorsichtig in die Dunkelheit und betete zu den Uralten, dass sie ihn noch für ein paar weitere solcher Scherze am Leben ließen.

Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er zu beiden Seiten des Ganges mehrere Öffnungen, in denen Silius’ Bastarde auf Stroh schliefen.

Er ging auf das Tor am anderen Ende zu und nahm dabei seine Maske ab.

Er hatte das Tor fast erreicht, als hinter ihm das Trommeln einsetzte und die gedämpften Schreie der Wächter die Stille durchdrangen. Ein Bastard stolperte aus seinem Nest; die blutroten Augen hefteten sich auf Steiger. Der Bastard war über zwei Meter groß, hatte gewaltige Schultern und muskelbepackte Arme, die mit schwarzem Fell bedeckt waren. Sein Gesicht war lang gezogen, scharfe Zähne säumten das Maul. Das Trommeln wurde lauter, und Steiger holte tief Luft.

»Geh und sieh nach, was der Lärm bedeutet«, befahl er dem Untier.

»Wer du?«, zischte es. Die Worte wurden durch die heraushängende Zunge verzerrt.

»Steh hier nicht rum! Geh und sieh nach, was da los ist!«, rief Steiger scharf.

Das Untier stapfte an ihm vorbei. Weitere Bastarde kamen auf den Gang und folgten ihm, ohne Steiger zu beachten. Er lief zum Tor und schob den Schlüssel ins Schloss. Als er ihn drehte und das Tor aufschwang, scholl plötzlich ein bellendes Gebrüll durch den schmalen Gang. Steiger blickte sich um und stellte fest, dass die Bastarde mit wütendem Geheul auf ihn zurannten. Mit zitternden Fingern zog er den Schlüssel aus dem Schloss, sprang durch das Tor, warf es hinter sich zu und verschloss es.

Die Nachtluft war frisch, als er die wenigen Stufen zum Westhof hinaufrannte und weiter zu der verzierten Mauer, die er geschickt erstieg. Er ließ sich auf die dahinterliegende gepflasterte Straße fallen.

Das Abendläuten war längst vorbei, und so hielt Steiger sich auf dem ganzen Weg zum Wirtshaus in den Schatten. Am Ziel angelangt, kletterte er am Spalier hinauf zu seinem Zimmer und klopfte an die Läden.

Belder öffnete das Fenster und half ihm hinein.

»Nun?«, fragte der alte Soldat.

»Ich hab die Juwelen«, erklärte Steiger.

»Ich verzweifle noch an dir«, sagte Belder. »Nach all den Jahren, die ich dir gewidmet habe – was ist aus dir geworden? Ein Dieb!«

»Das liegt mir im Blut«, sagte Steiger grinsend. »Erinnerst du dich an den Bronzegrafen?«

»Das ist Legende«, erwiderte Belder. »Und selbst, wenn es stimmt, hat keiner seiner Nachfahren je ein unehrenhaftes Leben geführt. Selbst diese Nadirbrut Tenaka nicht!«

»Sprich nicht schlecht von ihm, Belder!«, sagte Steiger leise. »Er war mein Freund.«

2

Tenaka schlief, und die vertrauten Träume kamen wieder und peinigten ihn.

Die Steppe dehnte sich vor ihm aus wie ein gefrorener grüner Ozean, bis zum Ende der Welt. Sein Pony stieg, als er an den ungegerbten Lederzügeln zog; dann schwenkte es nach Süden und galoppierte mit trommelnden Hufen über den trockenen, harten Boden.

Tenaka grinste, als er den trockenen Wind auf seinem Gesicht spürte.

Hier, und nur hier, war er er selbst. Halb Nadir, halb Drenai – ein Produkt des Krieges, ein Symbol aus Fleisch und Blut für einen unbeständigen Frieden. Bei den Stämmen akzeptierte man ihn mit kühler Höflichkeit, wie es jemandem gebührte, in dessen Adern das Blut Ulrics floss. Aber Kameradschaft wurde ihm kaum zuteil. Zweimal waren die Stämme von den Drenai zurückgeworfen worden. Einmal, vor langer Zeit, hatte der legendäre Bronzegraf Dros die Festung Delnoch gegen Ulrics Horde verteidigt. Vor zwanzig Jahren hatte der Drache Jongirs Armee dezimiert.

Und jetzt war Tenaka da, eine lebende Erinnerung an die Niederlage.

So ritt er allein und bewältigte alle Aufgaben, die ihm gestellt wurden. Schwert, Bogen, Speer, Axt – mit all diesen Waffen war er geschickter als alle anderen; denn wenn sie mit den Übungen aufhörten, um die Spiele der Kindheit zu genießen, arbeitete Tenaka weiter. Er lauschte den Weisen, sodass er Kriege und Schlachten aus einer anderen Sicht erfuhr, und sein scharfer Verstand sog alle Lektionen auf.

Eines Tages würden sie ihn respektieren. Wenn er nur Geduld hatte.

Aber er war zurück nach Hause in die Zeltstadt gekommen und hatte seine Mutter neben Jongir stehen sehen. Sie weinte.

Und da wusste er Bescheid.

Er sprang aus dem Sattel und verbeugte sich vor dem Khan, wie es sich gehörte, ohne seine Mutter zu beachten.

»Es ist Zeit für dich, nach Hause zu gehen«, sagte Jongir.

Er sagte nichts, nickte nur.

»Sie haben im Drachen für dich einen Platz. Es ist dein Recht als Sohn eines Grafen.« Der Khan fühlte sich sichtlich unbehaglich und blickte Tenaka nicht in die Augen. »Na, sag schon etwas«, fuhr er ihn an.

»Wie du es wünschst, Herr, so soll es geschehen.«

»Du flehst mich nicht an, bleiben zu dürfen?«

»Wenn du es von mir verlangst.«

»Ich verlange gar nichts von dir.«

»Wann soll ich aufbrechen?«

»Morgen. Du wirst eine Eskorte bekommen – zwanzig Reiter, so wie es meinem Enkel zusteht.«

»Du ehrst mich, Herr.«

Der Khan nickte, warf Shillat einen Blick zu und ging davon. Shillat öffnete die Zeltklappe, und Tenaka trat in ihr Heim. Sie folgte ihm, und sobald sie drinnen waren, drehte er sich um und nahm sie in die Arme.

»O Tani«, flüsterte sie unter Tränen. »Was musst du noch alles tun?«

»Vielleicht werde ich in Dros Delnoch wirklich zu Hause sein«, sagte er. Aber die Hoffnung erstarb in ihm, noch während er die Worte aussprach, denn er war kein Narr.

 

Tenaka erwachte, weil der Sturm heulte und an den Fensterläden rüttelte. Er streckte sich und warf einen Blick auf das Feuer – es war bis auf ein paar glühende Kohlen heruntergebrannt. Das Mädchen schlief im Sessel, ihr Atem ging tief und gleichmäßig. Tenaka stand auf und ging zum Feuer, legte Holz nach und entfachte es vorsichtig wieder. Er schaute sich den alten Mann an – seine Farbe sah nicht gut aus. Tenaka zuckte die Achseln und verließ das Zimmer. Der Flur war eiskalt, die hölzernen Dielen knackten unter seinen Stiefeln. Er ging in die alte Küche und zum Brunnen. Es war schwer zu pumpen, doch er genoss die Anstrengung und wurde belohnt, als das Wasser in den Holzeimer strömte. Dann streifte er die dunkle Weste und die grauwollene Tunika ab, wusch sich den Oberkörper und erfreute sich an der fast schmerzhaften Kälte, als das eisige Wasser seine schlafwarme Haut berührte.

Tenaka zog sich aus und ging in den Turnsaal. Dort wirbelte und sprang er, landete leichtfüßig und ließ erst seine rechte, dann seine linke Hand durch die Luft sausen. Er rollte sich auf den Boden, bog den Rücken durch und sprang wieder auf die Füße.

Von der Tür her beobachtete Renya ihn aus dem Schatten des Flurs. Sie war fasziniert. Er bewegte sich wie ein Tänzer, doch es lag etwas Barbarisches über der Szene: ein ursprüngliches Element, das gleichzeitig schön und tödlich war. Seine Hände und Füße waren Waffen, die blitzschnell unsichtbare Gegner töteten, doch sein Gesicht war nüchtern und bar jeden Ausdrucks.

Sie schauderte und hätte sich gern in die Sicherheit seines Zimmers zurückgezogen, doch sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Seine Haut hatte die Farbe von Gold in der Sonne, weich und warm, doch die Muskeln darunter bewegten sich und spielten wie Silberstahl. Sie schloss die Augen, stolperte rückwärts und wünschte, sie hätte ihn nie gesehen.

Tenaka wusch sich den Schweiß vom Körper und zog sich dann rasch an. Hunger nagte an ihm. Zurück auf seinem Zimmer, spürte er die Veränderung der Atmosphäre. Renya mied seinen Blick, als sie bei dem alten Mann saß und ihm über das Haar strich.

»Der Sturm lässt nach«, sagte Tenaka.

»Ja.«

»Was ist los?«

»Nichts … nur, dass Aulin unregelmäßig atmet. Was meinst du, wird er wieder gesund?«

Tenaka ging zu ihr. Er nahm das dünne Handgelenk des alten Mannes und fühlte nach dem Puls. Er war schwach und unregelmäßig.

»Wann hat er das letzte Mal etwas gegessen?«

»Vor zwei Tagen.«

Tenaka suchte in seinem Gepäck und brachte einen Beutel mit getrocknetem Fleisch und einen kleineren mit Haferflocken zum Vorschein. »Ich wünschte, ich hätte Zucker«, sagte er, »aber das hier muss es auch tun. Geh und hol Wasser und einen Kochtopf.«

Ohne ein Wort verließ Renya den Raum. Tenaka lächelte. Das war es also – sie hatte ihn beim Üben beobachtet, und aus irgendeinem Grund hatte es sie aus der Fassung gebracht. Er schüttelte den Kopf.

Sie kam mit einem eisernen Topf zurück, der bis zum Rand mit Wasser gefüllt war.

»Gieß die Hälfte weg«, befahl er. Sie schüttete es in den Gang, und er brachte den Topf zum Feuer und schnitt mit seinem Dolch das Fleisch hinein. Dann setzte er den Topf vorsichtig in die Flammen.

»Warum hast du heute Morgen nichts gesagt?«, fragte er, ihr den Rücken zugewandt.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Als du mir beim Üben zugesehen hast.«

»Ich habe dich nicht gesehen.«

»Woher wusstest du dann, wo du Topf und Wasser finden kannst? Du bist diese Nacht nicht an mir vorbeigegangen.«

»Wer bist du, mir Fragen zu stellen?«, fauchte sie.

Er drehte sich zu ihr um. »Ich bin ein Fremder. Du brauchst mich nicht anzulügen oder mir etwas vorzumachen. Nur unter Freunden brauchen wir eine Maske.«

Sie setzte sich vors Feuer und streckte ihre langen Beine den Flammen entgegen.

»Wie traurig«, sagte sie leise. »Bestimmt kann man doch nur unter Freunden in Frieden sein?«

»Mit Fremden ist es einfacher, denn sie berühren unser Leben nur für einen Augenblick. Du enttäuschst sie nicht, denn du schuldest ihnen nichts, und sie erwarten auch nichts. Freunde kann man verletzen, denn sie erwarten alles.«

»Du musst seltsame Freunde gehabt haben«, meinte sie.

Tenaka rührte mit dem Dolch in der Brühe. Ihm war auf einmal unbehaglich; denn er hatte das Gefühl, die Kontrolle über ihr Gespräch verloren zu haben.

»Woher kommst du?«, fragte er.

»Ich dachte, das interessiert dich nicht.«

»Warum hast du nichts gesagt?«

Ihre Augen wurden schmal, und sie wandte den Kopf ab. »Ich wollte deine Konzentration nicht stören.«

Das war eine Lüge, und sie wussten es beide, doch die Spannung ließ nach, und die Stille wurde größer und zog sie zueinander.

Draußen hatte der Sturm sich ausgetobt und erstarb.

Als der Eintopf dick wurde, gab Tenaka die Haferflocken dazu, um die Mischung noch mehr anzudicken; dann streute er ein wenig Salz aus seinem kleinen Vorrat hinein.

»Riecht gut«, sagte Renya und beugte sich über das Feuer. »Was ist das für Fleisch?«

»Vor allem Maultier«, sagte er.

Er ging in die Küche, um hölzerne Teller zu holen. Als er zurückkam, hatte Renya den alten Mann geweckt und half ihm, sich aufzusetzen.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Tenaka.

»Bist du ein Krieger?«, fragte Aulin ängstlich.

»Ja. Aber du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«

»Bist du ein Nadir?«

»Söldner. Ich habe Eintopf für dich gekocht.«

»Ich bin nicht hungrig.«

»Iss trotzdem«, befahl Tenaka. Der alte Mann zuckte bei dem schroffen Tonfall zusammen; dann aber wandte er die Augen ab und nickte. Renya fütterte ihn langsam, während Tenaka sich am Feuer niederließ. Es war eine Verschwendung von Nahrung, denn der alte Mann lag im Sterben. Doch Tenaka bedauerte es nicht, und er verstand nicht, weshalb.

Als die Mahlzeit beendet war, sammelte Renya Topf und Teller ein. »Mein Großvater möchte mit dir sprechen«, sagte sie und ging hinaus.

Tenaka trat ans Bett und starrte auf den Sterbenden hinab. Aulins Augen waren grau und glänzten in beginnendem Fieber.

»Ich bin nicht stark«, sagte Aulin. »Das war ich nie. Ich habe jeden enttäuscht, der mir vertraute. Außer Renya … ich habe sie nie im Stich gelassen. Glaubst du mir das?«

»Ja«, antwortete Tenaka. Warum haben schwache Männer immer das Bedürfnis zu beichten?

»Wirst du sie beschützen?«

»Nein.«

»Ich kann dich bezahlen.« Aulin ergriff Tenakas Arm. »Bring sie nach Sousa. Die Stadt liegt nur fünf, sechs Tage südlich von hier.«

»Du bedeutest mir nichts. Ich schulde dir nichts. Und du kannst mir nicht genug bezahlen.«

»Renya sagt, du hättest einmal zum Drachen gehört. Wo ist dein Ehrgefühl?«

»Begraben unter Wüstensand. Verloren in den wirbelnden Nebeln der Zeit. Ich will nicht mit dir reden, alter Mann. Du hast mir nichts zu sagen.«

»Bitte, hör mich an!«, flehte Aulin. »Als junger Mann diente ich dem Rat. Ich unterstützte Ceska, arbeitete für seinen Sieg. Ich glaubte an ihn. Dadurch bin ich mitverantwortlich für den abscheulichen Schrecken, den er über dieses Land gebracht hat. Ich war einst ein Priester der Quelle. Mein Leben verlief in Harmonie. Jetzt sterbe ich und weiß überhaupt nichts mehr. Aber ich kann nicht sterben und Renya den Bastarden überlassen! Ich kann nicht! Verstehst du nicht? Mein ganzes Leben war Versagen – mein Tod muss etwas bewirken.«

Tenaka schob die Hand des alten Mannes fort und stand auf.

»Jetzt hör du mir zu«, sagte er. »Ich bin hier, um Ceska zu töten. Ich erwarte nicht, dass ich am Leben bleibe, doch ich habe weder die Zeit noch den Wunsch, deine Verantwortung zu übernehmen. Wenn du willst, dass das Mädchen nach Sousa kommt, dann werde gesund. Setze deine Willenskraft ein.«

Plötzlich lächelte der alte Mann, und alle Spannung und Furcht fielen von ihm ab. »Du willst Ceska töten?«, wisperte er. »Ich kann dir etwas Besseres raten.«

»Besser? Was könnte besser sein?«

»Bringe ihn zu Fall. Beende seine Herrschaft.«

»Wenn ich ihn töte, ist das erreicht.«

»Ja. Aber dann würde einer seiner Generäle die Macht übernehmen! Ich kann dir das Geheimnis verraten, mit dem du sein Reich zerstören und die Drenai befreien kannst.«

»Wenn das eine Geschichte von Zauberschwertern und magischen Sprüchen ist, vergeudest du nur deine Zeit. Diese Geschichten habe ich allesamt schon gehört.«

»Ich will dir keine Geschichte erzählen. Versprich mir nur, dass du Renya beschützen wirst, bis sie in Sousa ist.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Tenaka. Wieder drohte das Feuer zu verlöschen, und er legte das letzte Holz auf die Flammen, ehe er den Raum verließ, um das Mädchen zu suchen. Er fand sie in der kalten Küche.

»Ich will deine Hilfe nicht«, sagte sie, ohne aufzusehen.

»Ich habe sie dir noch nicht angeboten.«

»Es ist mir egal, ob sie mich fangen.«

»Du bist zu jung, als dass dir das egal sein könnte«, sagte er, kniete neben ihr nieder und hob ihr Kinn. »Ich werde dafür sorgen, dass du sicher nach Sousa kommst.«

»Glaubst du, er kann dir genug zahlen?«

»Er sagt es jedenfalls.«

»Ich mag dich nicht besonders, Tenaka Khan.«

»Willkommen bei der Mehrheit!«, erwiderte er.

Er ging zu dem alten Mann zurück. Lachend riss er das Fenster weit auf, um die Winterluft ins Zimmer zu lassen.

Vor ihm dehnte sich der Wald in weißer Unendlichkeit.

Hinter ihm lag der alte Mann. Er war tot.

 

Renya trat ins Zimmer, da sie sein Lachen gehört hatte. Aulins Arm war aus dem Bett gerutscht, und seine knochigen Finger deuteten auf den hölzernen Fußboden. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht friedlich.

Sie ging zu ihm und strich ihm zärtlich über die Wangen. »Nun musst du nicht mehr davonlaufen, Aulin. Nun brauchst du keine Angst mehr zu haben. Möge die Quelle dich heimgeleiten!«

Sie breitete eine Decke über sein Gesicht.

»Jetzt bist du deiner Verpflichtung enthoben«, erklärte Renya dem schweigenden Tenaka.

»Noch nicht«, erwiderte er und schloss das Fenster. »Er sagte, er wüsste einen Weg, um Ceskas Herrschaft zu beenden. Weißt du, was er damit gemeint hat?«

»Nein.« Sie wandte sich ab und hob ihren Mantel auf. Ihr Herz war plötzlich leer. Dann hielt sie inne. Der Mantel entglitt ihren Fingern, als sie in das verlöschende Feuer starrte und den Kopf schüttelte. Die Wirklichkeit verblasste. Was gab es denn, wofür zu leben sich lohnte?

Nichts.

Was zu lieben sich lohnte?

Nichts.

Sie kniete vor dem Feuer nieder und starrte hinein, ohne zu blinzeln, während ein furchtbarer Schmerz die Leere in ihrem Innern vertrieb. Aulins Leben war ein dauernder Strom von kleinen Freundlichkeiten, Zärtlichkeiten und Fürsorge gewesen. Er war niemals absichtlich grausam oder bösartig gewesen, und niemals gierig. Doch er hatte sein Leben in einer verlassenen Kaserne ausgehaucht – gejagt wie ein Verbrecher, verraten von seinen Freunden und verloren für seinen Gott.

Tenaka beobachtete das Mädchen. In seinen violetten Augen war kein Gefühl zu lesen. Er war ein Mann, der an den Tod gewöhnt war. Langsam packte er seine Sachen in den Leinenbeutel; dann zog er Renya auf die Füße, legte ihr den Mantel um und schob sie sanft aus der Tür.

»Warte hier«, bat er. Er ging zum Bett zurück und zog seine Decke vom Leichnam. Die Augen des alten Mannes hatten sich geöffnet, sodass er den Krieger anzustarren schien.

»Schlafe in Ruhe«, flüsterte Tenaka. »Ich werde auf sie achtgeben.« Er schloss dem Toten die Augen und faltete seine Decke zusammen.

Draußen war die Luft kalt und frisch. Der Wind hatte nachgelassen, und die Sonne schien blass von einem klaren Himmel. Tenaka sog langsam und tief die Luft ein.

»Jetzt ist es vorbei«, flüsterte Renya.

Tenaka sah sich um.

Vier Krieger waren aus dem Schutz der Bäume getreten und kamen mit gezogenen Schwertern auf sie zu.

»Lass mich«, sagte sie.

»Sei still.«

Er löste sein Bündel und ließ es in den Schnee gleiten. Dann schob er seinen Mantel von den Schultern, sodass seine Schwertscheide und das Jagdmesser sichtbar wurden. Er ging zehn Schritte auf die Krieger zu; dann wartete er und musterte sie abschätzend.

Sie trugen die rot-bronzenen Brustplatten Delnochs.

»Was sucht ihr hier?«, fragte Tenaka, als sie näher kamen.

Keiner der Soldaten erwiderte etwas, was sie als Veteranen auswies; stattdessen schwärmten sie aus – bereit für den Angriff des Kriegers.

»Sprecht – oder der Kaiser bekommt eure Köpfe!«, sagte Tenaka. Sie hielten inne, und ihre Blicke fuhren zu einem Schwertkämpfer mit scharf geschnittenen Zügen, der zu ihrer Linken stand. Seine blauen Augen blickten kalt und bösartig.

»Seit wann macht ein Wilder aus dem Norden Versprechen an den Kaiser?«, zischte er.

Tenaka lächelte. Die Männer waren stehen geblieben und warteten auf eine Antwort – und damit hatten sie ihre Stoßkraft verloren.

»Vielleicht sollte ich es erklären«, sagte er, immer noch lächelnd, und ging auf den Mann zu. »Es ist so …«, seine Hand schoss vor und nach oben und krachte dem Mann mit ausgestreckten Fingern in die Nase. Der dünne Knorpel riss bis zum Hirn auf, und er fiel ohne einen Laut zu Boden. Sofort wirbelte Tenaka herum und sprang, sodass seine Stiefel einen zweiten Gegner an der Kehle trafen. Noch im Sprung zog er sein Jagdmesser. Auf den Fußballen landend, schoss er herum, parierte einen Hieb und grub die Klinge in den Hals des dritten Mannes. Der Vierte stürmte mit erhobenem Schwert auf Renya zu. Sie stand ruhig da und beobachtete ihn ohne Interesse.

Tenaka warf das Jagdmesser. Es traf den Mann mit dem Griff an der Helmkante. Aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelte er in den Schnee und verlor dabei sein Schwert. Tenaka rannte auf ihn zu, als er versuchte, auf die Füße zu kommen. Dann warf er sich auf den Rücken des Mannes, sodass er wieder zu Boden ging und ihm der Helm vom Kopf fiel. Tenaka packte ihn an den Haaren, zog den Kopf zurück, griff das Kinn des Mannes und drehte es ruckartig nach links. Sein Genick brach wie ein trockener Ast.

Tenaka hob sein Messer auf, wischte es sauber und steckte es ein. Er blickte prüfend über die Lichtung. Alles war ruhig.

»Nadir sind wir«, flüsterte er mit geschlossenen Augen.

»Sollen wir gehen?«, fragte Renya.

Verwirrt nahm er ihren Arm und sah ihr in die Augen.

»Was ist los mit dir? Willst du sterben?«

»Nein«, antwortete sie abwesend.

»Warum bist du dann einfach stehen geblieben?«

Tränen stiegen ihr in die nachtdunklen Augen und liefen ihr über die Wangen, doch ihr blasses Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck.

Er wischte ihr eine Träne ab.

»Bitte, fass mich nicht an«, flüsterte sie.

»Jetzt hör mir mal zu. Der alte Mann wollte, dass du lebst. Er hat dich geliebt.«

»Das spielt keine Rolle.«

»Es spielte eine Rolle für ihn!«

»Spielt es eine Rolle für dich?« Die Frage traf ihn so kalt wie ein Windstoß, und er suchte in seinem Innern nach der richtigen Antwort.

»Ja.« Die Lüge ging ihm leicht über die Lippen, und erst als er sie ausgesprochen hatte, erkannte er, dass es gar keine Lüge war.

Sie schaute ihm tief in die Augen, dann nickte sie.

»Ich werde mit dir kommen«, sagte sie. »Aber eins musst du wissen: Ich bin ein Fluch für alle, die mich lieben. Der Tod verfolgt mich, denn ich hätte nie das Leben kosten dürfen.«

»Der Tod verfolgt jeden, und er versagt nie«, erwiderte Tenaka.

Gemeinsam wanderten sie nach Süden. Bei dem steinernen Drachen blieben sie stehen. Eisregen war auf seine Flanken gefallen und hatte ihm einen diamantenen Schimmer verliehen. Tenaka blieb die Luft weg, als er das Gesicht betrachtete – das Wasser war auf die zersprungenen Fänge des Oberkiefers gelaufen, hatte neue Zähne aus funkelndem Eis geschaffen und auf diese Weise die Pracht des Drachen erneuert, seine Macht wiederhergestellt.

Tenaka nickte, als würde er eine leise Botschaft hören.

»Er ist schön«, sagte Renya.

»Viel mehr als das«, sagte Tenaka leise, »er lebt.«

»Lebt?«

»Hier drin«, antwortete er und berührte sein Herz. »Er heißt mich zu Hause willkommen.«

 

Den ganzen Tag über eilten sie nach Süden. Tenaka sprach nur wenig; stattdessen konzentrierte er sich auf die unter dem Schnee verborgenen Pfade und hielt wachsam Ausschau nach Patrouillen. Er konnte ja nicht wissen, ob die vier Soldaten sämtliche Jäger gewesen waren oder ob es noch weitere Gruppen gab, die das Mädchen verfolgten.

Auf eine seltsame Art kümmerte ihn das nicht. Er beschleunigte das Tempo und schaute sich nur selten um, ob Renya Schwierigkeiten hatte, mitzuhalten. Wenn er hielt, um Landmarken zu studieren oder offenes Gelände zu beobachten, war sie immer dicht hinter ihm.

Renya folgte ihm still, die Augen auf den großen Krieger gerichtet. Sie bemerkte die Sicherheit seiner Bewegungen und die Sorgfalt, mit der er seinen Weg wählte. Wieder und wieder sah sie zwei Szenen vor sich: den nackten Tanz in dem verlassenen Turnsaal und den Todestanz mit den Soldaten im Schnee. Ein Bild überlagerte das andere … sie vermischten sich, wurden eins. Derselbe Tanz. Die Bewegungen waren so geschmeidig, beinahe fließend, wenn er sprang und sich drehte. Die Soldaten hatten im Vergleich zu ihm unbeholfen und ungelenk gewirkt, wie lentrische Marionetten an verknoteten Stricken.

Und jetzt waren sie tot. Hatten sie Familien? Wahrscheinlich. Liebten sie ihre Kinder? Wahrscheinlich. Sie waren voller Zuversicht auf jene Lichtung marschiert. Und dann, binnen weniger schrecklicher Augenblicke, waren sie nicht mehr.

Warum?

Weil sie mit Tenaka Khan getanzt hatten.

Sie schauderte. Das Tageslicht ließ nach, und lange Schatten krochen aus den Bäumen hervor.

Tenaka wählte als Platz für ihr Lagerfeuer eine Stelle hinter einem vorspringenden Felsen, wo sie vor dem Wind geschützt waren. Sie lag in einer flachen Senke und war von knorrigen Eichen umgeben, die das Feuer gut abschirmten. Renya ging zu ihm, sammelte Holz und stapelte es sorgfältig auf. Ein Gefühl der Unwirklichkeit packte sie.

Die ganze Welt sollte so sein, dachte sie. Von Eis bedeckt und rein: Alle Pflanzen schlafen, warten auf die goldene Vollkommenheit des Frühlings; alles Böse vergeht unter dem reinigenden Eis.

Ceska und seine Legionen der Dämonenbrut würden verschwinden wie die Albträume der Kindheit, und die Freude würde wieder Einzug bei den Drenai halten, wie das Geschenk der Morgendämmerung.

Tenaka holte einen Topf aus seinem Gepäck und setzte ihn aufs Feuer; dann warf er Schnee hinein, bis der Topf halb voll mit warmem Wasser war. Anschließend schüttete er aus einem kleinen Leinenbeutel eine großzügige Portion Haferflocken hinein und gab Salz hinzu. Renya beobachtete ihn schweigend, den Blick auf seine schräg stehenden violetten Augen geheftet. Wieder fühlte sie sich ruhig und friedlich, als sie mit ihm am Feuer saß.

»Warum bist du hier?«, fragte sie.

»Um Ceska zu töten«, antwortete er, während er den Haferbrei mit einem Holzlöffel umrührte.

»Warum bist du hier?«, wiederholte sie.

Einige Augenblicke verstrichen, doch sie wusste, dass er Antwort geben würde, und so wartete sie und genoss die Wärme und die Nähe dieses Mannes.

»Es gibt sonst keinen Ort, wohin ich gehen könnte. Meine Freunde sind tot … Meine Frau … ich habe nichts. In Wirklichkeit habe ich immer nur … nichts gehabt.«

»Du hattest Freunde … eine Frau.«

»Ja. Es ist nicht leicht zu erklären. In der Nähe von Ventria, wo ich zu Hause war, gab es einst einen weisen alten Mann. Ich sprach oft mit ihm über das Leben und die Liebe und Freundschaft. Er schalt mich, machte mich wütend. Er sprach von tönernen Diamanten.« Tenaka schüttelte den Kopf und verfiel in Schweigen.

»Tönerne Diamanten?«, fragte sie.

»Spielt keine Rolle. Erzähl mir von Aulin.«

»Ich weiß nicht, was er dir sagen wollte.«

»Das glaube ich«, erwiderte er. »Erzähl mir einfach von ihm.« Mit zwei Stöcken hob er den Topf aus den Flammen und setzte ihn zum Abkühlen auf den Boden. Sie beugte sich vor, um frisches Holz nachzulegen.

»Er war ein friedlicher Mann, ein Priester der Quelle. Aber er war auch Arcanist und liebte nichts mehr, als das Land nach Relikten der Alten zu durchsuchen. Er hat sich mit seinen Fähigkeiten einen Namen gemacht. Er erzählte, dass er Ceska unterstützt hat, als er an die Macht kam, dass er ihm alle seine Versprechen für eine bessere Zukunft geglaubt hat. Aber dann begann die Schreckensherrschaft. Und die Bastarde …«

»Ceska hat die Zauberei immer schon geliebt«, meinte Tenaka.

»Du kennst ihn?«

»Ja. Erzähl weiter.«

»Aulin war einer der Ersten, der Graven erforschte. Er fand die verborgene Tür unter dem Wald und die Maschinen, die dort standen. Er erzählte mir, dass seine Forschungen bewiesen, dass die Maschinen gebaut worden waren, um bestimmte Krankheiten zu heilen, unter denen die Alten litten. Aber anstatt sie für diesen Zweck zu benutzen, schufen Ceskas Adepten die Bastarde. Zuerst wurden sie nur für die Arena gebraucht, wo sie sich gegenseitig in Stücke rissen, als Nervenkitzel für die Zuschauer. Aber schon bald erschienen sie auf den Straßen von Drenan, trugen Rüstung und die Abzeichen von Ceskas Wache.

Aulin gab sich die Schuld daran und reiste nach Delnoch, um die Kammer des Lichts unter der Inneren Festung zu untersuchen – vergeblich. Dann bestach er einen Wächter und versuchte, durch das Land der Sathuli zu flüchten. Aber die Jagd begann, und wir wurden stattdessen nach Süden gehetzt.«

»Wo bist du in diese Geschichte hineingeraten?«, fragte er.

»Du hast nicht nach mir gefragt, sondern nach Aulin.«

»Ich frage jetzt aber dich.«

»Kann ich ein wenig Haferbrei bekommen?«

Er nickte, berührte prüfend den Kessel und reichte ihn ihr. Sie aß schweigend und gab Tenaka dann den Rest. Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, lehnte der Krieger sich an den kalten Felsen.

»Dich umgibt ein Geheimnis, junge Dame. Aber belassen wir es dabei. Ohne Geheimnisse wäre die Welt ein trauriger Ort.«

»Die Welt ist ein trauriger Ort«, sagte sie, »voller Tod und Schrecken. Warum ist das Böse so viel stärker als die Liebe?«

»Wer sagt das?«, entgegnete er.

»Du hast nicht unter den Drenai gelebt. Männer wie Aulin werden wie Verbrecher gejagt. Bauern werden niedergemetzelt, weil sie es nicht schaffen, wahnwitzig große Getreideernten abzuliefern, und die Arenen sind voll von geifernden Mengen, die es genießen, wenn Tiere Frauen und Kinder in Stücke reißen. Das ist abscheulich! Alles!«

»Es wird vorübergehen«, sagte er sanft. »Aber jetzt sollten wir schlafen.« Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie wich zurück, in ihren Augen stand plötzlich Angst. »Ich will dir nichts tun, aber wir müssen das Feuer verlöschen lassen. Wir werden die Wärme teilen, aber das ist auch alles. Vertrau mir.«

»Ich kann allein schlafen«, sagte sie.

»Na schön.« Er band seine Decke los und reichte sie ihr; dann wickelte er sich in seinen Mantel, lehnte den Kopf an den Felsen und schloss die Augen.

Renya streckte sich auf dem kalten Boden aus und bettete den Kopf auf den Arm.

Als das Feuer erlosch, nahm die Nachtkälte zu und drang in ihre Glieder. Renya erwachte, unkontrolliert zitternd, und setzte sich auf, um ihre gefühllosen Beine warm zu rubbeln.

Tenaka öffnete die Augen und streckte die Hand aus. »Komm«, sagte er.

Sie ging zu ihm, und er öffnete seinen Mantel, wickelte sie mit hinein und zog sie an seine Brust, ehe er die Decke über sie beide breitete. Noch immer zitternd, kuschelte sie sich an ihn.

»E-E-Erzähl mir von den tönernen Diamanten«, bat sie.

Er lächelte. »Der weise Mann hieß Kias. Er sagte, zu viele Leute gingen durchs Leben, ohne innezuhalten und sich an dem zu erfreuen, was sie haben. Er erzählte von einem Mann, der von einem Freund einen Tonkrug bekam. Der Freund sagte: ›Schau ihn dir an, wenn du Zeit hast.‹ Aber es war nur ein schlichter Krug aus Ton, und der Mann stellte ihn beiseite und lebte sein Leben weiter und verbrachte seine Zeit damit, Reichtümer anzuhäufen. Eines Tages, als er alt war, nahm er den Krug und öffnete ihn. Darin lag ein riesiger Diamant.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Kias behauptete, das Leben wäre wie dieser Tonkrug. Solange wir es nicht genau anschauen und verstehen, können wir uns nicht daran erfreuen.«

»Manchmal raubt dir das Verständnis auch die Freude«, wisperte sie.

Er sagte nichts, sondern richtete die Augen auf den Nachthimmel und die fernen Sterne. Renya versank in einen traumlosen Schlaf; ihr Kopf fiel nach vorn, sodass die Wollkapuze verrutschte, die sonst ihr kurz geschnittenes Haar bedeckte. Tenaka wollte sie wieder hochziehen, hielt aber inne, als seine Hand ihren Kopf berührte. Das Haar war nicht kurz geschnitten – es war so lang, wie es nur sein konnte. Denn es war kein Haar, sondern dunkles Fell, weich wie Zobel. Sanft zog er die Kapuze wieder hoch und schloss die Augen.

Das Mädchen war ein Bastard, halb Mensch, halb Tier.

Kein Wunder, dass sie sich nichts aus dem Leben machte.

Gibt es auch für Wesen wie sie tönerne Diamanten?, fragte er sich.

3

An der Drachen-Kaserne zwängte sich ein Mann durch das Gebüsch vor dem Exerzierplatz. Er war groß und hatte breite Schultern, schmale Hüften und lange Beine. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug einen Ebenholzstab mit Eisenspitze. Er hatte eine Kapuze auf, und sein Gesicht war unter einer Maske aus geformtem, schwarzem Leder verborgen. Er bewegte sich leichtfüßig, mit den gleichmäßigen, fließenden Bewegungen eines Athleten, doch er war wachsam, und seine hellblauen Augen prüften jeden Busch und jeden Schatten unter den Bäumen.

Als er die Toten sah, umkreiste er sie langsam und las aus den Spuren den kurzen Kampf ab.

Ein Mann gegen vier.

Die ersten drei waren fast sofort gestorben, und das war ein Zeichen für Schnelligkeit. Der Vierte war an dem einsamen Krieger vorbeigerannt. Der große Mann folgte der Spur und nickte.

So. Hier lag ein Geheimnis. Der einsame Krieger war nicht einsam – er hatte einen Gefährten, der am Kampf jedoch nicht teilgenommen hatte. Die Fußspuren waren klein, die Schrittweite jedoch groß. Eine Frau?

Ja, eine Frau. Eine große Frau.

Er warf einen Blick zurück auf die Toten.

»Das war gute Arbeit«, sagte er laut. Seine Stimme klang gedämpft durch die Maske. »Sehr gute Arbeit.« Einer gegen vier. Nicht viele Männer würden einen solchen Kampf überleben – und dieser Mann hatte nicht nur überlebt, sondern gesiegt, ohne seine Fähigkeiten voll einzusetzen.

Ringar? Er war ein blitzschneller Killer mit fantastischen Reflexen. Doch er wagte selten einen Nackenhieb, sondern wählte öfter den unteren Rumpf: den Bauchstich.

Argonin? Nein, er war tot. Seltsam, wie schnell man so etwas vergessen konnte.

Wer dann? Ein Unbekannter? Nein. In einer Welt, in der Waffenfertigkeit von höchster Wichtigkeit war, gab es nur wenige Unbekannte mit so erstaunlichen Gaben.

Der Mann besah sich die Spuren noch einmal, malte sich den Kampf aus, und sah zuletzt den verwischten Abdruck in der Mitte. Der Krieger war in die Höhe gesprungen und hatte sich in der Luft gedreht wie ein Tänzer, ehe er den tödlichen Hieb anbrachte.

Tenaka Khan!

Die Erkenntnis traf den großen Mann wie ein Schlag. Seine Augen funkelten seltsam, und sein Atem ging stoßweise.

Von allen Männern auf dieser Welt, die er hasste, nahm Tenaka Khan den ersten Platz ein.

Entsprach das noch der Wahrheit? Er entspannte und erinnerte sich; seine Gedanken folgten den Spuren in seinem Gedächtnis, die sich wie Salz in eine schwärende Wunde gefressen hatten. »Ich hätte dich damals töten sollen«, sagte er. »Dann wäre mir nichts von alldem zugestoßen.«

Er stellte sich vor, wie Tenaka starb, wie sein Blut in den Schnee rann. Es bereitete ihm keine Freude; dennoch hungerte er nach der Tat.

»Dafür wirst du mir bezahlen«, sagte er.

Und brach auf nach Süden.

 

Tenaka und Renya kamen am zweiten Tag gut voran. Sie sahen niemanden, nicht einmal Anzeichen von Menschen. Der Wind hatte sich gelegt, und in der klaren Luft lag eine Verheißung des Frühlings. Tenaka schwieg zumeist, und Renya drang nicht in ihn.

Gegen Abend, als sie einen steilen Hang hinabkletterten, rutschte sie aus und schoss vorwärts, rollte Hals über Kopf den Hügel hinab und schlug sich den Kopf an einer knorrigen Baumwurzel auf. Tenaka lief zu ihr, streifte ihr den Burnus ab und untersuchte die klaffende Wunde an der Schläfe. Sie funkelte ihn an.

»Fass mich nicht an!«, schrie sie und schlug nach seinen Händen.

Er wich zurück und reichte ihr den Baumwollschal.

»Ich mag es nicht, wenn man mich anfasst«, entschuldigte sie sich.

»Dann werde ich dich nicht anfassen«, antwortete er. »Aber du solltest die Wunde verbinden.«



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