Der Schlaf in den Uhren - Uwe Tellkamp - E-Book

Der Schlaf in den Uhren E-Book

Uwe Tellkamp

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Beschreibung

August 2015: Fabian Hoffmann, der einstige Dissident, steht als Chronist in Diensten der »Tausendundeinenachtabteilung« von Treva. Hier, in den Labyrinthen eines unterirdischen Reichs, arbeitet die »Sicherheit« an Aktivitäten, zu denen einst auch die Wiedervereinigung zweier geteilter Staaten gehörte. In diese Welt ist Fabian einem ihrer Kapitäne, Deckname »Nemo«, gefolgt, um herauszufinden, wer seine Schwester und seine Eltern verraten hat. Zugleich ist Fabian mit einer Chronik befasst, die zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung erscheinen soll. Doch es kommt anders. Fabian gerät auf eine Reise, die ihn tief in die trevische Gesellschaft und ihre Utopien hineinführt.

Er analysiert Ordnungsvorstellungen und Prinzipien der Machtausübung, die Verflechtungen von Politik, Staatsapparat und Medien, beobachtet die Veränderungen im alltäglichen Leben. Immer mehr löst sich dabei seine Chronik von ihrem ursprünglich amtlichen Auftrag, streift zurück bis in das Dresden seiner Kindheit, in die stillstehende Zeit vor zwei Epochenjahren. Auf seiner Suche nach Ordnung und Sinn kämpft Fabian gegen die Windmühlen der Macht, die Fälschungen der Wirklichkeit, den Verlust aller Sicherheiten – und gibt doch den Traum von einer befreiten Zukunft nicht verloren.

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Seitenzahl: 1106

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Titel

Uwe Tellkamp

Der Schlaf in den Uhren

Archipelagus 1

Roman

Suhrkamp

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Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.Die Personen, wie sie geschildert werden, leben in der Vorstellung und haben mit tatsächlich existierenden Menschen soviel gemein wie eine Skulptur mit dem Bildhauerton.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin 2022 Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagfoto: Addictive Stock/photocase

eISBN 978-3-518-77514-1

www.suhrkamp.de

Der Schlaf in den Uhren

Motto

August 2015Sommer 1989 – Januar 1990

Der Schlaf in den Uhren

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Motto

I

.

Vigilie

:

Nemo

Einkreisen des Bedürfnisses nach Vergewisserung

Logbuch

1.8.2015 Sonnabend

2.8.2015 Sonntag

10.11.2021 Mittwoch

3.8.2015 Montag: Die Trevische Nachrichtenagentur

4.8.2015 Dienstag: Das Seeminenreferat

Die Karte der Seeminen

Totensommer

5.8.2015 Mittwoch: Chronos

… als ob

Siebenter Oktober

Das Politbüro tagte,

Achter Oktober

Das Politbüro erklärte,

Elfter Oktober

Siebenter Oktober

Elfter Oktober

Noch immer lagen, am neunten Oktober,

Schongscht bschmie wschtschynie

Elfter Oktober

Vierzehnter Oktober

Neunter Oktober

Am fünften Oktober

Am sechsten Oktober

Sag mir, wo du stehst

Das Literaturkombinat. Vestibül

Neunter Oktober

Neunter November

Kontakttelefon, oder: Die Görlitzer Prozedur

Neunter Oktober

6.8.2015 Donnerstag: Die Kupferinsel

Der Machtkomplex im Umriß des Moments. Der Sandkasten

Der Machtkomplex im Umriß des Moments. Die Windmühle

Operativer Vorgang »Marschallin«. Anna Dugina Rohde

Das Märchenreich am RheinYoutube, Sendung »Zur Person«. Günter Gaus interviewt Konrad Adenauer

Die Hellgraue Eminenz. Annäherungen an den Vergangenheitskomplex. Jupiterlampen. Bankier Pferdmenges, Regierungssprecher von Eckardt

Youtube, Film von Heinrich Breloer, Wehner, oder: Das Schweigen

Globke, oder: Die Verpuppung

Die Hellgraue Eminenz setzt fort. Erneutes Eindringen in den Machtkomplex

7.8.2015 Freitag: Bücherurlaub

Der Handschuhmacher

Der Oleanderschwärmer

8.8.2015 Sonnabend: Meno wird fünfundsiebzig. Hiddensee

9.8.2015 Sonntag: Prager Botschaft

10.8.2015 Montag: Der Leuchtturm

Der Wintermann

11.8.2015 Dienstag: Treva

… die sie in sich trug

Brandt, oder: Von der Fliehkraft

Aber was

Die Einladung

12.8.2015 Mittwoch: Operativer Vorgang »Marschallin«. Die Eiskönigin

Nachtfalter

Arbeit am Standpunkt, oder: Die Gefühlsschiene

13.8.2015 Donnerstag: Die Unsrigen, unvollständig

Die Zwangsjacke

14.8.2015 Freitag: Die Unsrigen. Weißewandparty bei Lionel

Haus Wolfsstein

15.8.2015 Sonnabend: Rasiermesser

Empfang im Ankerhof. Begräbnis eines See-Esels

Mitternachtsschlosser. Judith will nach Paris

Der Große Kommodenfalter

Schwarzsauer

Die Blechbrille

16.8.2015 Sonntag: Der Machtkomplex im Umriß des Moments. Sommerinterview

17.8.2015 Montag: Die Tausendundeinenachtabteilung

Die Tausendundeinenachtabteilung

Die Tausendundeinenachtabteilung,

Das Literaturkombinat. Die Buntgarnfabrik

Das Literaturkombinat ist für unser Land

Weitere Betrachtungen zur Tausendundeinenachtabteilung. Intransparenzen, oder: Nachwirkungen des Großen Burstah

Logbuch

18.8.2015 Dienstag

Einsamer nie als im August –

Hörst du das nicht?

Wenn sie fliegen konnte

19. 8. 2015 Mittwoch: Chronos

Berger, oder: Mühen der Ebene

Das Krankenhaus am Rande der Stadt

Rosenträger, oder: Von der Geduld

Neue Möbel

Fünfter Dezember,

Der Leierschwanz

und sehe Hans

20.8.2015 Donnerstag: Das Geschichtsphilosophische Kombinat. Anmerkungen zur Chronik. Schnittstellen zur Linie 

XVIII

und zur 1001

Das Geschichtsphilosophische Kombinat an der Schnittstelle zum Literaturkombinat. Lieferungen, oder: Hier ist es Prophetie, dort, was so einkommt

12.7.2021 Montag: Das Referat Aufarbeitung antwortet auf ein Auskunftsersuchen der Linie

XX

(Kunst, Kultur, Staatsapparat, Untergrund), Abt. für Beförderungs- und Auszeichnungswesen,

AZ

171

/

7-21

Schwebstoffe. Konquistadoren der Wünsche

Pfarrer Glander aus Rostock

Zybarth, oder: Fusion von Elefant und Igel. Der Igelant

Logbuch

20.8.2015 Donnerstag

21.8.2015 Freitag

22.8.2015 Sonnabend

23.8.2015 Sonntag

24.8.2015 Sonntag

Samtleben, oder: Das Dreimäntelproblem

Zastoi

Die Garteninsel

Schwarzrot

Civitas solis

Albin, oder: Fusion von Elefant und Igel. Der Elefigel

Das Literaturkombinat des weiteren. Die Spindel

Das Literaturkombinat. Vom Lesen und Schreiben

25.8.2015 Dienstag: Narrative. Die Tausendundeinenachtabteilung erwacht zu neuen Taten

Zuckersieder

Weil

26.8.2015 Mittwoch: Operativer Vorgang »Marschallin«. Das volle Aufbrechen der Subjektivität verhindert in der Regel objektive Fortschritte. Das Impulspapier, erster Entwurf

27.

8.2015 Donnerstag: »R«, oder: Spiralförmige Entwicklungen. Rauchmelder

28.8.2015 Freitag: Camp Eins

Der Polarstern

29.8.2015 Sonnabend: Baumarkt

30.8.2015 Sonntag: Vorläufige Lösung des Haftsaugerproblems. Leim in der Umzugskiste von »Nickern

New York«

Annäherungen an Elisabeth. Die 1001 zeigt ein menschliches Gesicht

Tillandsien

31.8.2015 Montag: Gelb

Haussuchung

II

.Vigilie: Vom Verständnis des Feindes

Der Bearbeitungskomplex

Einführung in den operativen Prozeß zur Gewinnung operativ bedeutsamer Informationen

III

.Vigilie: Die Mauer

Geisterbahnhöfe.

IM

»Ramses«.

OV

»Gemüse«

Die Waldinsel.

OV

»Kellerassel« im Rahmen des

OV

»Gemüse«

Der Kampf gegen den Apfelblattsauger. Überlegungen zur Theobaldschen Brühe.

OV

»Platzhirsch« im Rahmen des

OV

»Gemüse«

Operativer Vorgang »Der Schlaf in den Uhren«

Die Archipelagier

Die Hoffmanns

Die Delanottes

Die Grotes

Die Rohdes

Die Unsrigen

Verzeichnis von Inhalten

Informationen zum Buch

I.Vigilie: Nemo

[unleserlich] … ist die Ordnung. Wir von der Sicherheit haben nie daran gezweifelt. Er ist das Wort, und das Wort ist bei Ihm, der alles sieht und hört, nichts bleibt Ihm verborgen. Wie uns. Wir sind die Mitarbeiter des Systems, das Ihm auf Erden am nächsten kommt, wir, die Sicherheit. Es wäre falsch, uns zu den Ungläubigen zu rechnen. Die besten Köpfe unserer Behörde und der Kirche, die uns für Feinde hält, haben das immer gewußt.

Schon nach der ersten Wegbiegung befiel mich die alte Unsicherheit. Hier unten war nichts mehr zu hören außer dem Rieseln und Tropfen des Wassers, hin und wieder ein Hallen wie von einer Sprengung, ein ferner Pfiff der Schwarzen Mathilde, deren Tunnel weiter oben durch den Berg verlief. Ich nahm den Helm ab und wischte mir den Schweiß von der Stirn, die Wetterschächte waren lange nicht mehr gewartet worden. Einzelne Lichter hingen wie Zitronen an den Stiegen und vor den mit römischen Ziffern gekennzeichneten, vom Felsendom abzweigenden Gängen, ich fischte einen Kiesel aus der Manteltasche, warf ihn in die Schwärze, erst nach Sekunden ein Aufprall, Echos aus zunehmender Tiefe.

Mich aus der Verfassung zu befreien, die mich ans Gestern heftet, scheint nicht nur unmöglich, sondern Verrat zu sein; der Alte vom Berge verwies mich in die Abteilung zur Klärung von Sachverhalten:

– Wir haben davon noch keinen Begriff, sagte er, wir stehen immer noch am Anfang unserer Forschungen.

Waren sie anfangs noch nach außen gerichtet, in das Andere, wie hier gesagt wird, so richteten sie sich inzwischen auf die Kohleninsel selbst, ins Innere, und vielleicht bin nur ich ein leidenschaftlicherer Erkunder gewesen als Altberg, einer meiner Lehrer, oder »Nemo«, Lektor und Chronist, er genoß die Protektion eines der mächtigsten Mandarine unserer Behörde, Marn, Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung, des Lektorats I im Literaturkombinat.

Die Kohleninsel ein Labyrinth zu nennen wäre untertrieben, es gibt Labyrinthe auf mehreren vertikalen und horizontalen Ebenen, die den Archipelagus durchziehen, wie wir unser Gebiet vorzugsweise nennen. Der einfache und Staatsname erscheint uns unpassend und allzu oberflächlich. Wir dachten, wenn wir handelten, stets an das Ganze, nicht nur an den Klecks, dessen amtliche Bürger wir waren. Labyrinthe, manche in der Gestalt von Sternspindeln und Scheibengalaxien, deren Arme sich langsam und gleichmäßig in die Tiefe fraßen. Wie jede Behörde brauchten auch wir immer mehr Platz, die Abteilung Ozeanien glich, betrachtete man ihren Aufriß, einem Schneckenkegel, das Gerücht sagte, es sei möglich, von den Gängen unserer Kohleninseln zu denen der befreundeten Dienste zu gelangen, über Hunderte Kilometer, von unserer und von ihrer Seite gegraben. Labyrinthe, die ins scheinbare Nichts führen, seit Jahrzehnten tote Bereiche, die Totenkammern, wurde gesagt, wo nicht mehr im Umlauf befindliche Akten lagern und hinter verplombten Türen die Vergangenheit. In anderen Verzweigungen drangvolle Enge, viele der leitenden Mitarbeiter, sogar der Minister, hatten ihre Lieblingsaufenthalte, arbeiteten, wenn der Sommer oben zu heiß wurde, gern unter Tage, in der Stille der Welt hier unten.

Man mußte es beherrschen, wie eine Aufgabe oder ein Gedächtnis, dachte ich, dieses System, dieses Körpersystem aus Wegen, Schluchten, Verzweigungen. Wir hier unten sind die Liebhaber der Erinnerung und die Feinde des Vergessens. Es gibt bei uns eine der besten Bibliotheken, wir haben eine Neigung zur Geographie, zur Geschichte, die Kartenwerkstatt mit ihren Kupferstechern bekommt regelmäßig den Dank der Chefs und einen der begehrten Präsentkörbe.

– Gute Landkarten werden in Kupfer gestochen und auf Leinen gezogen, gute Landkarten, sagte der Alte vom Berge, werden für die Ewigkeit gemacht. Kostet uns ein Heidengeld, aber auch wir haben unsere Schwächen und Steckenpferde. Frag Meister Sperber nach seiner Sammlung menschlicher Abgründe. Ein schöner alter Geländeschnitt ist wenig gegen seine Kartographien.

Ich hatte einmal versucht, einen Lageplan zu zeichnen, doch hatte mich der Alte vom Berge an die ungeschriebenen Gesetze erinnert, eines davon wurde, wenn auch nicht offiziell, Sport und Spiel genannt, es wies auf die Freiheit hin, die das Auswendigwissen verschafft: Kenntnis und Gedächtnis, mit Mut verbrüdert, brauchten nichts Schriftliches, nichts, was etwas zeigte, und nichts, was verriet.

– Dabei sind wir hier unten auf Schriftliches versessen, sagte Altberg, nur was geschrieben ist, existiert, das ist auch eines der ungeschriebenen Gebote, ironischerweise. Man muß sich vor die Schreibmaschine setzen oder das Blatt Papier mit Handschrift bedecken, dann baut man sich hier eine Bleibe. Wir schätzen die Eleganz, wir ahnen, wo sie möglich wäre, aber wir begegnen ihr nur selten, hatte Altberg hinzugefügt, wir haben viel Sinn für Ästhetik. Während ich mit der Grubenlampe in die Gänge leuchtete, erinnerte ich mich daran, daß es auf der Kohleninsel Ost noch üblich war, Akten in preußischer und österreichischer Weise zu führen, letztere mit dem k.k. Aktenknoten versehen, viel verbindet uns mit Wien, und nicht nur der Minister hat bedauert, daß es von den sowjetischen Genossen, unseren Freunden, nicht besetzt geblieben ist. Eine Stadt wie geschaffen für uns. Ich verstehe, daß Altberg den Antrag gestellt hat, wieder Stahlfedern einzuführen, solches Schreibgerät, getaucht in die Kanzleitinte der Firma »Barock«, verbessert die Qualität der Texte ungemein, wobei es innerhalb der Kohleninsel die Blau- und die Schwarzfraktion gibt: Die einen bevorzugen das eigens für uns gemischte, zur Erhöhung der Farbbrillanz mit teuer importiertem Indigo statt einheimischem Färberwaid versetzte Dunkelblau, die anderen die Jahrhunderte überdauernde Eisengallustinte, die freilich den Nachteil hat, zu rosten und das Papier zu zerstören. Altberg und »Nemo« bringen es fertig, stundenlang vor alten Akten zu sitzen und sich an der Schönheit der Kanzleischrift zu berauschen, der Eleganz der Schnörkel und der Feinheit der Linien, mit denen man früher, als man noch wußte, daß Schnelligkeit allein nur Ungeduld ist, die Beute umgarnte. Eine Weile hat man hier unten erwogen, zur Sütterlinschrift zurückzukehren.

– Wenn uns die Amerikaner eines Tages doch kidnappen, sagte Altberg, werden sie nichts als Galimathias vorfinden. Die Amerikaner scheitern an der Sütterlinschrift. Sie wollen an unsere Stoffe und Hinterlassenschaften, sie glauben etwas vom Dritten Reich zu verstehen, wollen uns anzapfen, doch daraus wird nichts werden, wenn wir endlich beginnen, die Schrift der Väter zu übernehmen. Wissen Sie, daß Hitler die Fraktur gehaßt hat? Das sei die Schwabacher Judenletter. Und dabei hängt die Fraktur unabtrennbar am Dritten Reich, jeder halbwegs klischeebewußte Filmregisseur weiß das und läßt, wenn er Deutschland und Nazis inszenieren will, ein Schild mit Frakturschrift in die Kamera halten. Da steht dann natürlich »Arbeit macht frei« oder »Jedem das Seine« drauf, bestimmt nie »Ich liebe dich«. Die Fraktur ist unverdient gestorben, wir sollten ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Jeder Grafiker wird Ihnen sagen, daß die Fraktur viel besser aussieht als die runden Schriften, die wir inzwischen benutzen. Das Leben schreibt sowieso in gebrochener Schrift. Aber man predigt tauben Ohren.

Meine hat er damit nicht gemeint. Wir in den Lektoraten haben die alte Schrift wieder eingeführt. Altberg verschwieg taktvoll, daß es auch auf der Kohleninsel Bequemlichkeit und Dummheit gibt, Verständnislosigkeit und sogar Feindseligkeit zwischen einzelnen Abteilungen, die Organisation Kleist wirft seit Jahr und Tag alles, was aus den Lektoraten kommt, in den Papierkorb, sie, die sich die Praktiker nennen, glauben, daß wir, die Theoretiker, wie sie sagen, nichts als unterbeschäftigte, überbezahlte Spinner sind, die von der Realität so weit entfernt kreisen wie Pluto von der Sonne.

Ich bin Mitarbeiter nicht nur der Lektorate, sondern auch der Chronik, des Zeitarbeiterkollektivs, wir haben unsere Neigungen hier unten, eine davon ist die Beschäftigung mit Uhren. Sie gehören zu den faszinierendsten menschlichen Erfindungen. Wir besitzen eine nicht unbedeutende Sammlung, und für die Uhrmacher aus Glashütte, Künstler ihres Fachs, haben wir immer viel Bewunderung gehegt. Das Zeitarbeiterkollektiv beschäftigt sich mit dem Utopischen Projekt, das inneramtlich, nach der treffenden Bezeichnung eines dissidentischen Künstlers, der mit uns die Vorliebe für Höhlen und das Denken in Jahrhundertdimensionen teilt, das Geschichtsphilosophische Kombinat genannt wird. Dieses Vorhaben genießt das Wohlwollen einflußreicher Kreise, selbst des Ministers, über dessen Fähigkeit zur gedanklichen Vertiefung unserer Arbeit hier unten so mancher Witz kursiert. Aber auch er wußte, was unsere Aufgabe ist: die Aufgabe im Grunde, wie sie in den turnusmäßig wiederkehrenden innerbehördlichen Mitteilungen heißt.

Ich tastete mich voran. Sogar ganz oben, dachte ich, gibt es viel Sinn für Begegnungen von Genauigkeit und Schrulle, die manche unter dem Stichwort ›besondere Beziehung‹ abheften. Ich lauschte. Das Geräusch der Schwarzen Mathilde war verstummt. Das Ticken des Narrenturms war zu hören, auch diese Uhr eine der Besonderheiten der Kohleninsel.

– Es gibt kein größeres Geheimnis als das der Zeit, wie Altberg zu sagen pflegt, wenn wir in der Wiener Bibliothek beim Abendkaffee sitzen, vor uns die Träume der Seefahrer und Geographen, die Nacht mit ihren Plänen und Aufzeichnungen, ihrer Schlaflosigkeit, hinter uns einer der Tage, die uns der Wahrheit näherbringen sollten.

Einkreisen des Bedürfnisses nach Vergewisserung

Rohde bevorzugte bestimmte Wege, mit der Pünktlichkeit der Mönche würde er an der Weggabelung, an der ich auf ihn lauerte, auftauchen, anders gekleidet als am Tage, ohne die Kugelkopfpfeife, doch mit der abgeschabten Aktentasche, in der, im linken vorderen Fach, die »Alten deutschen Dichtungen« steckten, die zur Beglaubigung seiner ersten Existenz dienten, oben, in der Legende, die wie ein Kokon aus Spinnenseide um ihn gewebt war. Durch den ehemaligen Luftschutzgang, in dem Kerzenstummel, tote Mäuse und verschimmelte Exemplare des ›Völkischen Beobachters‹ lagen, würde er hinabgelangen, Meno Rohde, mein Feind, meine Liebe, mein Schatten. Jetzt sah ich ihn. Er schien unsicher (die Anfragen, die Klärungen, die einzelnen Verwaltungen), in diesen Gängen konnte man sich selbst als Kundiger, wenn man nicht achtgab, hoffnungslos verlaufen. Auch Rohde trug Helm und Grubenlampe, er zog ein Stück Papier aus der Manteltasche und studierte es im Lampenschein. Ich konnte gelassen abwarten und verborgen bleiben, als er ging, ich sah, daß er einen der alten Gänge benutzte, die mit Steinmetzzeichen versehen waren. Ich wußte, wohin sie führten. Er verschwand im Gang mit dem Wels, Rohde wollte zu Vogelstrom, aber nicht ins Spinnwebhaus, sondern hinunter, in die Tiefe, zur Quelle der Kupfernen Schwester, die einer der acht Arme des Elbischen Flusses ist, der durch den Archipelagus fließt. Dort lag der Riesensaal, in dem wir unsere Feste feierten, die neuen Jahrgänge vereidigt, die Jahreskonferenzen der Kohleninsel abgehalten wurden, dort malte Vogelstrom die Studien zum Revolutionspanorama im Weißen Pavillon bei Barsano in Ostrom, dort malte er das Herzstück des Panoramas, den Altar.

Ich sah der Lichtbrigade zu, die am gegenüberliegenden Bogen der Rotunde, in die der Gang mündete, auftauchte, wie immer arbeiteten die Männer, die in ihren graublauen Kitteln Unmengen von Glühbirnen trugen, lautlos, was bei der Feinhörigkeit der Mauern und Gewölbe hier unten erstaunlich war. Ich beobachtete die Hantierungen, die mit dem Heben eines Zeigefingers begannen, rücksichtsvoll und doch gebieterisch wie das Auftaktzeichen eines Dirigenten, worauf sich die Glühbirne, sonst nur über Leitern erreichbar, wie von selbst aus ihrer Fassung zu drehen schien und in die erwartungsvoll geöffnete Hand des Lichtputzers sank. Von der Rotunde zweigten mehrere Gänge ab. Geflügelte Schatten bewegten sich nahe der Lichtbrigade, und ich fragte mich, ob es Rohde inzwischen gelungen war, eine unbegrenzt gültige Genehmigung für Rundgänge zu bekommen. Wahrscheinlich hat er nur die B-Variante, dachte ich. Obwohl Marn ihn schützt (ich war dem Geheimnis zwischen den beiden auf der Spur, es gab Hinweise in den Akten), ist es kaum vorstellbar, daß er zu allen Bezirken der Kohleninsel Zutritt hat. Ich dagegen war im Besitz des A-Passierscheins, der nicht allzuoft ausgestellt wurde und mir den Zutritt selbst ins Vorzimmer des Ministers gestattete. Die Behörde prüfte lange, die Ausfertigung dieses Dokuments gehörte zu den Auszeichnungen, und zwar zu den begehrten. Die Lichtbrigade macht eigentlich gar nichts her, dachte ich, sie ist ein wenig zu kurz gekommen, man hat ihre Mitglieder hier und dort aufgelesen, Gestrandete, die bei uns Gelegenheit bekamen, sich zu bewähren, der Behörde und damit dem Staat zu beweisen, daß sie das Gnadenbrot verdienten, das, im übrigen, gar keines ist. Der Alte vom Berge erzählte, wie die Mitarbeiter der Lichtbrigade nach Schichtschluß oft noch beisammensaßen, um beim Bier über ihre Lage und Funktion nachzudenken. Sie selber seien die Gnadenbrotphilosophen, niemand sonst. Es sei nicht unbekannt, daß die Mitarbeiter der Linie XXV (Hausmeisterabteilung) in der Tarifklasse 2B stünden, einer der höchsten, von wegen also zu geringe Bezahlung.

– Sie haben Minderwertigkeitskomplexe, hatte der Alte vom Berge gesagt, sie klagen gern, und doch ist ihnen niemand böse, für die Kunst, zu der sie ihre Arbeit entwickelt haben, gibt es hier viel Sinn. Es ist nicht so, daß Behörden, und speziell diese, mit den schönen, scheinbar überflüssigen oder nutzlosen Seiten des Lebens nichts anfangen können. Übrigens sind die Glühlampen von Narva, unserem Beleuchtungswerk, besser als ihr Ruf.

Mir war, als ob die Reden des Alten vom Berge und Marns in den Gängen widerhallten, aus denen mir jetzt frische Luft entgegenschlug, ich mußte also in der Nähe eines Wetterschachtes sein. Noch immer, selbst nach diesen vielen Jahren, die ich hier unten ein und aus ging, hatte ich das Bedürfnis nach Vergewisserung, tastete die Gangmauern ab, strich mit den Händen über den Stein, der an manchen Stellen schon feucht war, prüfte die Beschaffenheit des Mauerwerks. In dieser Ebene waren die Gänge noch ausgemauert, erst in größerer Tiefe, unterhalb der Telefonabteilung, des Kinosaals und der Lebensmittellager, traf man auf roh belassene Felsdurchbrüche, viele davon noch von der ursprünglichen Zimmerung abgestützt. Ich legte die Hand auf einen Mauerziegel, er war angenehm kühl, mein Taschenmesser ließ sich nur wenige Millimeter in die Mörtelfuge hineintreiben, wie immer verschaffte mir das Befriedigung, ebenso daß die Maurer am Mörtel nicht gespart hatten, zwischen den Ziegelkanten wölbten sich Mörtelwülste vor. Dort, wo eine Glühbirne ihren Schein ins Dunkel goß, war die hier unten allgegenwärtige Flechte zu erkennen, Rohde hatte sie mit den Augen des Naturwissenschaftlers registriert, es war dieselbe filzige, mißfarbene Art wie im Sanatorium, und mich hatte Rohdes Behauptung erstaunt, sie nirgendwo klassifiziert gefunden zu haben, er hatte ihr den Namen Griseldis, die Graue, gegeben. Der Alte vom Berge war darüber amüsiert gewesen.

– Sie werden noch ganz andere Flora hier unten kennenlernen, lieber Rohde, und die Fauna erst! Eine wahre Fundgrube für einen Zoologen. Zumal für einen, wie Sie es sind.

– Unser Beobachter, sagte der Alte vom Berge zu Marn, Rohde ist ein geborener Beobachter, und Marn bestätigte:

– Ja, Rohde liebt die Langsamkeit, er weiß, daß die Geduld eines der schönsten Geschenke an die Menschenkinder ist, die dieses Geschenk natürlich meistens mißachten. Alles soll schnellschnell gehen, zackzack, keine Umstände, lieber larifari und hudrifludri als gediegen und langsam. Diese Krankheit beginne bereits in klassischen Zeiten, habe ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, wir würden uns noch wundern.

– Unsere Mühlen mahlen langsam, hatte der Alte vom Berge gesagt, hier unten ist nichts eilig. Dafür aber heilig (er hatte gelacht), und man sei gründlich. Das Wild sei scheu, und wer es jagen wolle, müsse Geduld mitbringen, genaue Kenntnisse, sonst werde es unweigerlich entwischen oder sogar niemals auftauchen.

– Hingabe und Geduld sind unsere Tugenden, hatte der Alte vom Berge gesagt, Treue zur Sache, wir sind das Schwert und der Schild. Wir sind ein Dienst, und der Dienst steht höher als alles andere, abgesehen von der Idee natürlich, der er dient. Befriedigend, zutiefst befriedigend sei es, im Dienst aufgehen zu dürfen, zu wissen, daß es ein Vorher und ein Nachher gebe, das die Begrenztheit des Einzelnen, die oft mehr hinderlichen als förderlichen Umstände seiner individuellen Existenz aufhebe, ihren Umriß unkenntlich mache und verwische im Großen Ganzen, von dem man dennoch Teil bleibe, dankbar dienend, bedankt vom Dienst.

– Man muß Zeit mitbringen, aber man bekommt sie auch. Zehn Minuten oben – Stunden hier unten, das mächtige Geschenk der Zeit. Ich greife vor, hatte der Alte vom Berge gesagt, für Sie stehen zunächst andere Angelegenheiten auf dem Plan. Sie werden in die Lehre gehen und sich bewähren müssen. So der Alte vom Berge, vor wie vielen Jahren? dachte ich.

Ich wartete noch, bis die Lichtbrigade verschwunden war. Die verinnerlichte Konspiration: Wer gesehen wird, hat einen Fehler gemacht. Ich befand mich noch in der ersten Ebene und würde bald auf die Erweiterungen des Lichtzustandes treffen, wie die Sprache der Akten zunehmende Helligkeit umschrieb. Bevor man an die Förderkörbe und damit in die tiefergelegenen Ebenen gelangte, mußte man sich anmelden, ein zweites Mal, auch wenn man, wie ich, über einen Schlüssel zu den Sonderzugängen verfügte, zu den Treppensystemen, über die in die Tiefe vorzudringen freilich viel länger dauerte. Es gab nicht nur den Pförtner oben in der Haupthalle der Kohleninsel, es gab seine Kollegen hier in den Gängen, und sie versahen ihren Dienst nicht minder pflichtbewußt, obwohl der unterirdische Dienst bei ihnen weniger beliebt ist als der oberirdische. Es gab ein ganzes System von Pförtnern, von An- und Abmeldungen, und nur auf der Brücke nach Ostrom schien es in letzter Zeit nachlässiger geworden zu sein. Auf der Kohleninsel aber funktionierten die Kontrollen nach wie vor tadellos, es schien ein diesbezüglicher Ehrgeiz zu existieren, ein Kontrollehrgeiz, die Behörde war, was die Kontrollen und überhaupt ihr innerbetriebliches System betraf, um so strenger geworden, je stärker die Auflösung draußen, an der Oberfläche, spürbar war.

– Wir müssen denen zeigen, was Haltung ist, hatte einer dieser Pförtner, der in einer der entlegensten Logen der ersten Ebene seinen Dienst versah, zum Alten vom Berge und zu mir gesagt, wir waren auf einem Rundgang gewesen. Wer, wenn nicht wir, Genosse Altberg, soll diese Haltung bewahren, es ist ja nicht mit anzusehen, geschweige denn zu begreifen, was geschieht.

– Bravo, Genosse, das ist eine japanische Haltung, sie gefällt mir, hatte der Alte vom Berge den Pförtner gelobt. Die Japaner geben niemals auf, sie sind uns Europäern überlegen in Disziplin und Ehrgefühl, mich wundert, daß sie uns noch nicht zu Sushi verarbeitet haben. Das kommt vielleicht noch.

– Wissen Sie, Genosse Altberg, sagte der Pförtner, daß es über zehn Jahre dauert, bis man ein Meister der Sushiküche wird? Vorher ist man nichts als Lehrling und Novize, der Meister befiehlt, den Dreck wegzuräumen, und der Novize muß den Dreck wegräumen. Der Meister befiehlt, die Messer zu reinigen, der Novize verneigt sich vor dem Meister und vor den Messern und poliert die Klingen ohne Widerrede. Das müßten wir auch einführen, das wäre ein ausgezeichnetes Mittel gegen die Schlamperei und Nachlässigkeit. Die Abteilung Ozeanien hat wieder das Licht brennen lassen, obwohl ich schon x Rundschreiben herausgegeben und an ihre Türen genagelt habe.

Rohde war verschwunden, aber ich sah seinen Namenszug in der Kladde, die mir »Schleiereule«, der Pförtner, zum Unterschreiben hinschob. Vogelstroms Namenszug sah ich nicht, so daß ich mich fragte, ob Rohde tatsächlich hinunterwollte. Er wußte, daß Vogelstrom es nicht schätzte, wenn man seine Bilder ohne ihn betrachtete. Außerdem liebte Rohde die Erklärungen des Malers, seine Ausführungen zur Geschichte der Malerei und ihrer Techniken, seinen scharfen und überaus belesenen Geist. Niemand kam an den Pförtnern vorbei, ohne sich einzutragen. Also war Vogelstrom entweder nicht unten oder im Besitz eines Schlüssels zu den Sonderwegen, aber davon hätte ich wissen müssen, die Anträge darüber landeten in der Hauptverwaltung Aufklärung. Hatte man mich übergangen? Dieser Gedanke beunruhigte mich. Zugleich aber war das die Gelegenheit, Rohdes Stübchen aufzusuchen und ein wenig in seinen Papieren zu stöbern. Es gab zwei Stübchen: das oben im Tausendaugenhaus (aber dort bestand die Möglichkeit, von der schrecklichen Frau Honich, der Pionierleiterin, ertappt zu werden) und das hier unten, seinen Arbeitsplatz auf der Kohleninsel. Zu dieser Zeit herrschte wenig Betrieb in der Hauptabteilung XX, zuständig für Kunst, Kultur, Kirche, Staatsapparat und Untergrund.

Logbuch

1.8.2015 Sonnabend

Ruhige See. Castor und Pollux im Sternbild Zwillinge über dem Stier, dessen Hauptstern den Plejaden folgt. Karte Argo von Treva gezeichnet.

2.8.2015 Sonntag

Abschluß der ersten Fassung meines Beitrags zum 25.Jubiläum der Wiedervereinigung. Die Fassung geht, nach Kontrolle und Überprüfung sämtlicher Daten, in unsere Rohrpost, der nun folgende Prozeß heißt Die Genehmigung. Karte Brenta von Treva gezeichnet.

10.11.2021 Mittwoch

Wie es begonnen hat. Warum sitze ich, im Jahr zwei Corona, in einer mit Bürsten vom Bürstenbinder Zwazl (s. Operativer Vorgang »Reinigung«) und »Nautik«-Seife aus den Beständen des Flottenamts geschrubbten Kajüte und suche in meinen Aufzeichnungen nach Klarheit?

Ich: Fabian Hoffmann, Jahrgang 1968, aus Dresden, Filmvorführer, Dissident, Angehöriger der Novalisklasse der Kohleninsel, Chronist. Der im Dezember 1989 zum ersten Mal den Decknamen »Nemo« auf einem Blatt Papier sah und noch in der Nacht seiner letzten Vorführung im Urania-Kino beschloß, »Nemo« zu folgen, auch wenn das bedeuten würde, in die Kohleninsel einzutreten. Einer von ihnen zu werden, um »Nemo« folgen zu können. Die neue Kohleninsel würde der Demokratie dienen. »Nemo« folgen: in die Sicherheit. Wenn es sein mußte, bis auf den Grund, bis ganz nach unten.

Die Chronik ist teils in Quarantäne, teils im Home-Office, letzteres auf unbestimmte Zeit. Bedroht war die Chronik schon immer. Nicht jeder hat ein Interesse an der Darstellung dessen, was war – soweit es überhaupt möglich ist, das, was war, darzustellen. Nicht jeder liebt sie, die Konfrontation mit dem Gedächtnis. Ich bin nicht mehr offizieller Mitarbeiter der Chronik, damit auch nicht mehr der Tausendundeinenachtabteilung. Ich habe meine Wohnung in der Republik der Seeungeheuer verloren, hause, meine Siebensachen in dem von Muriel gefertigten Seesack, auf der »Nimrod«. Treva hat sich verändert. Mir erscheinen die Jahre vor 2015 wie eine kaum mehr glaubhafte, im Unwirklichen versinkende Zeit. Was ist geschehen, woher diese Düsternis?

Arme aus Schrift, die ins Dunkel tasten, wo bist du, ist da wer, bin ich ein Planet, um eine Sonne kreisend, die ihn, in gehörigem Abstand, mit Wärme nährt und mit Vernichtung bedroht, bin ich ein Tiefseewesen, driftend in seiner natürlichen Umgebung, mit hinreichenden, aber rudimentären (im Vergleich zu den Lebewesen da oben – dringt etwas von ihnen nach hier unten, doch, das Konfetti ihrer Zersetzung) Sinnesorganen ausgestattet, Bewohner eines fließenden Bergwerks, das mächtige, schreibt Péter Nádas, unüberblickbare, von Tiefenströmungen durchzogene Wasser, dessen Sog mich erfaßt, dieser vertraute, einer Werbung ähnelnde Kampf.

Ad fontes. Wo »Nemo« an der Arbeit ist, »Nemo«, dessen Spuren ich verfolge, mein Begleiter hier unten, mein Schatten. Ich werde die Nachtwachen fortsetzen, werde den Stimmen der Inoffiziellen Mitarbeiter folgen, den Garnen, der Aufgabe im Grunde.

3.8.2015 Montag: Die Trevische Nachrichtenagentur

Das, was ist. Das aber, was ist, ist in Form von Nachrichten. Willkommen, sagte ich mir jeden Tag, an dem ich die Hohe Pforte der Torwächter durchquerte, willkommen in der Trevischen Nachrichtenagentur, abgekürzt tna, unserem Nachrichtendienst, unserem Quasimonopolisten. Ich passierte die Sicherheitsschleusen, in denen die Linie XXV, zu der die Pförtner und die hauseigene Security inzwischen gehörten, Kontrollen vornahm, ließ mich registrieren wie an Hunderten Tagen vorher, indem ich, ebenfalls wie an Hunderten Tagen vorher, an Gespräche dachte, die ich in der Trevischen Nachrichtenagentur geführt hatte (oder die mit mir geführt worden waren), an Dialogfetzen, Szenen, an das, was uns ausmachte. Wie so oft tauchte der Colonel vor meinem inneren Auge auf, Ferenc Rainer de Manko-Bük, mein Chef im Flottenamt und Chefredakteur der Trevischen Nachrichtenagentur als Teil der Tausendundeinenachtabteilung, ein Nachrichtenmann von altem Schrot und Korn, wie es sie kaum noch gab. Er pflegte eine Liberalität britischen Zuschnitts, mit einem Schuß Franzosengeist, wenn man darunter die Liebe zur Nation, im guten Sinne, versteht. Wie viele langgediente Chefs liebte er es, jüngeren Mitarbeitern, die zuhören konnten (oder mußten), aus seinem windungsreichen Wanderleben zu erzählen, wobei natürlich gewisse Maximen immer wiederkehrten, die mich immer wieder dazu brachten, über den Umstand nachzudenken, wie alles Leben, mag es auch siebzig oder achtzig Jahre währen, wie es in der Bibel heißt, in der Rückschau auf wenige Momente zusammenschnurrt, wenige existentielle Augenblicke und Erfahrungen, aus denen dann für die nachfolgenden Generationen Sinnsprüche herausgepreßt werden, welche die nachfolgenden Generationen oft mit dem Blick zur Uhr aufnehmen.

– Nichts Neues unter der Sonne. Aber unter dem Mond. Wir sind doch alle Romantiker. Und hatte sich eine seiner usbekischen Lungenraspeln angesteckt, die er aus einem Laden in Brenta bezog, in dem außer Tabak und Zeitschriften auch Tickets für Aeroflot verkauft wurden. Der Colonel war Mitglied im Marineclub, wo man sich am ›Leuchtenden Schwein‹, unserer hauseigenen Satirezeitschrift, ergötzte, die ›Times‹, das ›Prager Tagblatt‹, die ›Rote Fahne‹ las, den auf großformatigen Schinken dargestellten Haudegen zuprostete, die noch ganze Kontinente in den Besitz der Krone gebracht und dabei das eine oder andere Massaker angerichtet hatten, aber überaus korrekt mit den Gefangenen umgegangen waren. In diesem Klub waren keine Frauen zugelassen, was der Colonel ausdrücklich begrüßte. Inzwischen hätten selbst die Wiener Philharmoniker Frauen in ihre Reihen aufgenommen, die Trevische Philharmonie sei schon lange eingeknickt, er habe den letzten Harfenisten noch gekannt. Ein Trauerspiel, dieser Verfall der Sitten. Usbekische Zigarren, dachte ich im Weitergehen, brachte man nicht ohne weiteres mit unserem Newsroom zusammen, in dem sich Monitor an Monitor reiht und unsere Hipster, ungebärdig und idealistisch, wie sie sind, mit den Bildern der Bildagenturen jonglieren. Aber auch den Scotch, den Colonel Rainer stets in Griffweite hatte, brachte man wohl nicht ohne weiteres mit dem Newsroom zusammen, seiner Sauberkeit, seinem aus Glasfasern gespeisten Flimmern, mit dem eine neue, vollkommen unverständliche Generation auf vollkommen selbstverständliche Weise heranwächst. Ferenc Rainer war an Schreibmaschinen groß geworden, er hatte die Zeiten noch erlebt, als in der Trevischen Nachrichtenagentur Fernschreiber gestanden hatten und Meldungen aus Kairo oder Kapstadt per Pressetelegramm geschickt worden waren.

Doch war er weder sentimental noch nostalgisch, er war, wie alle Journalisten, auf Neues erpicht und hatte nichts gegen den Fortschritt der Technik. Wir nannten Ferenc Rainer, den Colonel, ffolkes nach einer Figur, die von Roger Moore gespielt worden war, ffolkes mit zwei kleinen f. Rufus Excalibur ffolkes liebte Katzen, trank Whisky ohne Umweg über ein Glas, konnte Frauen nicht leiden, drillte auf seinem schottischen Schloß ein Privatkommando für Aufgaben leicht neben der Legalität. Wenn er sich konzentrieren wollte, zog er einen Stickrahmen hervor und stickte an einem Katzenbildnis weiter, das ihn seit Jahren beschäftigte. Für das Kreuzworträtsel der ›Times‹ brauchte er weniger als zehn Minuten. Ferenc Rainer, unser ffolkes, fragte Praktikantinnen mit ausgeprägten Wölbungen, ob sie sich schon auf Silikonunverträglichkeit hätten testen lassen, Praktikantinnen mit nicht so ausgeprägten Wölbungen, warum sie nicht zu ihrer Männlichkeit stünden. Er nahm keine Rücksicht auf Verordnungen, die seinem Gerechtigkeits- und Wirklichkeitssinn zuwiderliefen oder seine Freiheit angriffen, wozu die Freiheit seines Scotchs von Reinheitsgeboten gehörte. Das Geschäftsmodell der Trevischen Nachrichtenagentur war bedroht: seit es das Internet gab, war der Wert der Ware Nachricht rapide gesunken. Wofür wir Geld verlangten, stehe, hieß es, kostenlos im Netz. Guter Journalismus mußte sich auf einmal erklären, seine Notwendigkeit beweisen. Den Zeitungen brachen die Anzeigen weg, mit denen sie sich hauptsächlich finanzierten, in der Folge brachen uns die Zeitungen weg, oft mit dem Argument, daß kein Leser die Artikel der Trevischen Nachrichtenagentur vermißte, ja, daß die Leser nicht einmal wüßten, daß diese Artikel von uns und nicht von einem Redakteur der jeweiligen Zeitung stammten. Viele Zeitungen begannen sich neu zu erfinden, wollten unverwechselbar sein, und auf dem Weg zur Unverwechselbarkeit waren wir mit unseren wenig individuellen Nachrichten nur ein Hindernis. Rainer hatte diesen Trend schon früh bemerkt und gegenzusteuern versucht, allerdings nicht sehr erfolgreich. Die Märkte waren nicht nur schwach und anspruchsvoll geworden, sondern, und das war das Hauptproblem der Trevischen Nachrichtenagentur, immer unterschiedlicher, sie verwendeten immer weniger der von der Agentur angebotenen Nachrichten, kritisierten die Preise, wollten nicht mehr den ganzen Dienst, sondern nur noch die Rosinen bezahlen, warfen der Agentur vor, daß die Nutzungsquote des Materials zurückgehe – wenn man das Angebot vergrößert, um den Wünschen der Kunden nachzukommen, ohne daß der Umfang der Zeitungen zunimmt, muß die Quote des genutzten Materials sinken.

Der Colonel wußte, daß Nachrichtenagenturen langsam sterben. Nicht der Infarkt oder Schlaganfall sei charakteristisch für ihr Sterbeverhalten, sondern das Siechtum. United Press International, die UPI, in der Rainer angefangen hatte, einst eine der größten und stolzesten Nachrichtenagenturen, gehörte inzwischen der sogenannten Vereinigungskirche des Koreaners Moon. Der Brief, den Virgil Pinkley, Vizepräsident der United Press und deren Generaldirektor für Europa, einst an einen Vorläufer der Trevischen Nachrichtenagentur geschrieben hatte, hing gerahmt in Rainers Büro.

Bedrohtes Geschäftsmodell: Noch galten sie, die Grundsätze, die einst im »Codex für journalistische Ethik« der Wisconsin Press Association formuliert worden waren und die jedem Mitarbeiter der Trevischen Nachrichtenagentur, und nicht nur ihnen, bei der Einstellung vorgelesen wurden: »Wir sind der Auffassung, daß eine Zeitung die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit in allen Angelegenheiten veröffentlichen sollte … Nach unserer Auffassung hängt der Erfolg einer Demokratie von einer fundierten öffentlichen Meinung ab; die Zeitung soll … dazu beitragen, daß eine fundierte öffentliche Meinung geschaffen und erhalten werden kann.« Nun war zwar die Trevische Nachrichtenagentur keine Zeitung, jedenfalls noch nicht (allerdings waren in letzter Zeit Gerüchte aufgekommen, unsere ohnehin schon enge Zusammenarbeit mit der ›Wahrheit‹, dem Flaggschiff des trevischen Journalismus, würde noch enger werden), ich wußte aus dem Sekretariat für Fusion, daß es Pläne gab, die Trevische Nachrichtenagentur und die ›Wahrheit‹ zu verschmelzen. Viele Journalisten der ›Wahrheit‹ hatten bei der Trevischen Nachrichtenagentur angefangen, umgekehrt gingen unsere Journalisten an der Speerspitze ein und aus, wo die ›Wahrheit‹ ihren Sitz hatte. Wir nennen das »die Außendarstellung«, kurz Außen Eins (die ›Wahrheit‹) und Außen Zwei (die ›Trevische Allgemeine‹). Was die Verflechtungen zwischen ›Wahrheit‹ und Trevischer Nachrichtenagentur einerseits und Tausendundeinenachtabteilung andererseits anbelangte, so veröffentlichten viele Journalisten der ›Wahrheit‹ Bücher und Schriften, die für die ›Wahrheit‹ zu umfangreich waren, im Hermes-Verlag, manche Journalisten hatten ein formales Anstellungsverhältnis in der 1001 (unser gängiges Kürzel), schrieben aber hauptsächlich für die ›Wahrheit‹, manche hatten ein formales Anstellungsverhältnis in der ›Wahrheit‹, schrieben aber hauptsächlich für uns, arbeiteten als Lektoren oder in der Trevischen Nachrichtenagentur. Ich beobachtete unsere Hipster im Newsroom, die Monitore flimmerten, Nachrichten, Bilder im Sekundentakt, und dachte an eine Bemerkung Lionels am Rande einer unserer Fechterrunden, daß nicht nur die Verbindung zwischen der Tausendundeinenachtabteilung und der ›Wahrheit‹, die inzwischen auf dem Weg zu einem Medienkonglomerat war (wie auch die Trevische Nachrichtenagentur längst nicht mehr nur Texte und Bilder anbot, sondern Blogs, Vlogs, Streams, Audiodateien, Grafiken, Portfolios für sogenannte Nichtmedienmärkte, meist Unternehmen), sodann die Verbindung zwischen Trevischer Nachrichtenagentur und ›Wahrheit‹ zu einer tna-Wahrheit, wie Lionel sagte, und der tna-Wahrheit wiederum mit der Tausendundeinenachtabteilung, daß also nicht nur diese Verbindungsverbindungen Fortschritte machten, sondern auch die Verbindungen der Bilder, das heißt derer, die sie lieferten, Lionel meinte, er wisse nicht, ob es außer unserer Agentur Zentralbild, einer Tochter der Trevischen Nachrichtenagentur, und ihrer größten Konkurrentin, Getty Images, überhaupt noch unabhängige Bildagenturen gebe. Der Colonel verwies auf die Websites der Bildagenturen: Mauritius Images und plainpicture, Stocksy und F1 online, Shutterstock, Bulls Press und die Spezialbildagenturen von Stockfood (für Lebensmittel, gern von Restaurants für Flyer und Speisekarten gebucht) über Okapia (Tierfotografien), laif (Reportagefotos), Disability Images (Fotos von Menschen mit Beeinträchtigungen), pixathlon (Sportbilder), Mother Image, die Women’s Lifestyle propagierten. Der Colonel meinte, sie gehörten inzwischen alle zu Zentralbild. Nachrichten hielt er (zunächst und grundsätzlich) für Irrtümer, erklärte den Volontären, indem er ein Flugzeug durch den Newsroom kreisen ließ, keine Drohne, sondern ein Modell aus Kunststoff, das er am ausgestreckten Arm hielt:

– Ein Irrtum, meine Damen und Herren, wenn Sie glauben, daß auf den Flügeln der Nachricht auch schon die Wahrheit sitzt. Nachrichten können lügen, das ist trivial und nicht das, was ich meine. In diesem Flugzeug, das wir Nachricht nennen, sitzen ein paar hundert Passagiere, und nur manche von ihnen arbeiten für die Wahrheit, die anderen sind Touristen, die vom Urlaub träumen, Lobbyisten, die für die Firma unterwegs sind, die das Flugzeug baut, in dem sie sitzen, Geschäftsleute, die gar nicht mit Wahrheit, sondern mit Obst, Feuerwerkskörpern und Öl handeln, hauptsächlich aber mit Waffen und Kosmetik, und gewiß ist auch der eine oder andere Terrorist dabei, dessen Wahrheitswerkzeuge es hoffentlich nicht durch die Flughafensecurity geschafft haben. Dann natürlich noch die Crew und diejenigen, welche die Plätze im Flugzeug verkaufen und deren äußerste Boten beim Check-in unser Gepäck entgegennehmen, falls es nicht zum Schalter für Sperrgepäck muß.

Nachrichten seien die aus einem Ozean voller Fischschwärme geangelten Fische. Der einzelne Fisch aber könne nicht für den Fischschwarm stehen, auch wenn der Ozean längst an Überfischung leide und eine Makrele zugegebenermaßen so gut wie die andere sei. Er wolle damit sagen, daß eine Nachricht stets nur der sichtbare Teil der Wahrheit sei.

Wohl nur wenige der Menschen, die in Treva eine Zeitung aufschlugen oder anklickten, verwandten einen Gedanken darauf, woher die täglichen Nachrichten kamen. Vielleicht studierten sie die Namen der Korrespondenten, die aus Peking oder Moskau, New York und Istanbul berichteten, doch selbst unter diesen wenigen Menschen mochte es nur eine Handvoll sein, die sich für die Kürzel oder Namen unter den Artikeln interessierte, die nicht von einem dieser Korrespondenten stammten, tna, AP oder AFP, dpa, TASS, ANSA, PAP, Reuters und Belga, Xinhua, KNA, EFE, und vielleicht gaben sich von dieser Handvoll zwei mit dem Gedanken zufrieden, es handele sich um die Kürzel oder Namen von Journalisten. Mich erstaunte immer wieder, wie wenig die meisten Menschen, obwohl sie fernsahen, im Netz unterwegs waren, Tageszeitungen lasen, die immer häufiger in Artikel gebetteten Videos anklickten, Radio hörten, über Nachrichtenagenturen wußten. Keine Tageszeitung und kein Fernsehsender konnte es sich leisten, auf Nachrichtenagenturen zu verzichten, nur wenige Zeitungen leisteten sich noch Auslandskorrespondenten, was bedeutete, daß die meisten Zeitungen, die Auslandsnachrichten bringen wollten, auf Agenturmaterial zurückgriffen. Entsprechend galt das auch fürs Inland. Der Colonel verband den Nachrichtenstrom mit den vier in der Bibel erwähnten Wassern, die aus dem Garten Eden flossen: Pison, Gihon, Euphrat und Hiddekel, sie alle vermischten ihre Wasser zu einem einzigen, die ganze Welt überspülenden Strom, Twitter, Facebook, Google, AP alias Associated Press, Reuters, AFP alias Agence France-Presse und die tna, die Trevische Nachrichtenagentur. Die tna unter die Big Player zu rechnen war vermessen, zumal der Colonel die größte Nachrichtenagentur, Xinhua, Neues China, nicht erwähnte. Und was er ebenfalls nicht erwähnte: Woher eigentlich die Nachrichtenagenturen ihre Nachrichten bezogen.

– Wenn Sie etwas nicht verstehen, müssen Sie ad fontes gehen, pflegte er zu zitieren. Ad fontes: zu den Quellen. Er war wohl tatsächlich ein Romantiker. Die Wahrheit über die Verhältnisse stimmte mit der wahrgenommenen Wahrheit über die Verhältnisse nicht überein. Nachrichten trafen auf ungläubige Leser und Zuschauer. Wie sollten sie, die Leser und Zuschauer, auch wissen, daß hinter so manchen Nachrichten der Trevischen Nachrichtenagentur der Erdölinformationsdienst stand, für den wiederum unsere Rohstoffspezialisten aus der Tausendundeinenachtabteilung schrieben, von denen wiederum einige im Referat Rohstoffe des Wirtschaftsministeriums (Wimini) arbeiteten.

Ich blieb stehen. Gerade dieses Stehenbleiben war auffällig, hier, wo alles in Bewegung war. Wo die Schreiber, wie hier die Redakteure hießen, unablässig telefonierten, Texte übersetzten, strukturierten, umstellten, durchs Rechtschreibprogramm jagten, zum Gegenlesen an den Dienstleiter, den Slotter, gaben, der vor seinen Bildschirmen saß und aufs Eingangsgerät, auch Slot genannt, starrte: Böblinger, ein stets optimistischer, mit allen Nachrichtenwassern gewaschener Mensch, der in großer Schnelligkeit (auf mich wirkte es reflexhaft und intuitiv, doch wußte ich, daß er aus Erfahrung handelte) Nachrichten aussortierte, die unverwendbaren unter die Löschtaste des Slots, die verwendbaren, an denen nur wenig zu korrigieren war, auf den Redaktionscomputer daneben, wo er sie gleich selbst bearbeitete, diejenigen Meldungen, an denen mehr zu tun war, auf die Bildschirme der Schreiber, mit einer knappen Bemerkung. Zu übersetzende Meldungen druckte er aus, diese Meldungen kamen oft von Unserem Mann in Pakistan, Sri Lanka und Bangladesh, der nur englisch sprach und normalerweise seine Meldungen Unserem Mann in Neu-Delhi übermittelte, der die Meldungen übersetzte, veredelte und an die Zentrale weiterleitete. Die Arme Böblingers bewegten sich zwischen Eingangs- und Ausgangskorb, was im Eingangskorb schwand, wuchs im Ausgangskorb, was im Ausgangskorb schwand, schien im Eingangskorb nachzuwachsen, ohne daß der Assistent, ein Jüngling mit Bart und großem Wissen über Fair Trade, der nach altem Brauch als Schreibermoses bezeichnet wurde, in gleichem Maß nachfüllte, wie Böblinger entnahm oder die Körbe selbst mittels einer Hand von Böblinger entnahmen (die Hand kurvte wie die träumerisch fliegenden Papiere, die unsere Computer beim Herunterladen von Dateien einspielten), der Drucker druckte Dienstmeldungen aus, Böblinger sortierte sie mit der linken Hand, während die rechte Eingangs- und Ausgangspapiere umverteilte, nach Gültigkeitsdauer, wobei zwei Holztafeln, Bingo und Bongo genannt, als Ablage dienten: auf Bingo alle kurzfristigen Dienstmeldungen, sie waren nur für den Tag von Bedeutung, auf Bongo dagegen alle Informationen, die, weil sie über längere Zeit beobachtet werden mußten, für den Böblinger ablösenden Kollegen interessant sein würden.

4.8.2015 Dienstag: Das Seeminenreferat

Flottenamt, Erdölinformationsdienst, das Rosinenreferat im Wirtschaftsministerium mit seinen Schwebfliegenforschern, die mit dem Flottenamt seit Jahr und Tag Papierkrieg führen, die Dorotheenbehörde, die Tausendundeinenachtabteilung und ihre Lektorate: manchmal frage ich mich, ob wir existieren, und wenn ja, in welcher Form. Zu meinen Verträgen, meinem Vertragswust, wie der Colonel sagt, gehört eine grundlegende Unsicherheit: einerseits bin ich Mitarbeiter der Chronik, die der Colonel auch als unsere Abteilung Kriegstagebuch und Kriegsarchiv bezeichnet, so wie es im Ersten und Zweiten Weltkrieg solche Abteilungen gegeben hat, andererseits bin ich Mitarbeiter des Flottenamts im Referat für Seeminen, Abteilung Bekleidung/Ausrüstung, doch löst sich dieser Widerspruch (oder Zwiespalt) bei näherer Betrachtung auf: die Chiffre 1001 findet man in den internen Berichten, wir gehören zur Kohleninsel, zur Sicherheit, und sind, wenigstens behauptet das der Dienstweg, dem Verteidigungsministerium berichtspflichtig. Im Verteidigungsministerium, das mit der Kohleninsel West, genannt »Das Auge«, noch engere Verbindungen unterhält als mit der Kohleninsel Ost, genannt »Das Ohr«, herrscht eine gewisse Unsicherheit in bezug auf uns, immer wieder kommt es zu Anfragen, Revisionsbegehren, werden, wenn ein neuer Chef (zur Zeit eine Chefin, Brigitte Ursula von Cremmen) im Verteidigungsministerium aufschlägt, externe Berater hinzugezogen, die »den ganzen Laden«, wie wir im Verteidigungsministerium, abgekürzt Vemini, oft genannt werden, von oben bis unten durchleuchten und auskehren sollen, was aber, da wir wiederum unsere Berater bei den externen Beratern haben, in der Regel mißlingt; der Colonel ist ein langmütiger Mensch und hat sich meines Wissens nur einmal dazu hinreißen lassen, die sogenannte Aktion Schwarz zu starten, nach der, ebenfalls in der Regel, der Rücktritt des Verteidigungsministers erfolgt.

Das Seeminenreferat hat, wie so vieles bei uns, eine lange Tradition. Ein eigenes Büro hat es nicht, aber einen Schreibtisch: meinen. Neben mir sitzt, wenn er nicht die Hafenwetterwarte und die korrekte Anbringung der Ahmings, der Tiefgangsmarken, der Plimsoll- und der Lademarken an den trevischen Schiffen kontrolliert, Rasmussen, ich kenne ihn nur unter diesem Namen, habe noch nie seinen Vornamen gehört. Ich höre überhaupt wenig von ihm. Es kommt vor, daß er wochenlang schweigt, dann kommuniziert er nur über hausinterne Mails oder die Rohrpost, wenn sie nicht streikt. Die Seeminen gehören nicht in seine Zuständigkeit, wie ich umgekehrt nichts auf der Hafenwetterwarte zu suchen habe, das ist vermintes, rein dänisches Gebiet. Der erste menschliche Laut, ein mürrisches Ächzen, soll dort erklungen sein, als ein Däne mit grönländischem Migrationshintergrund die Wetterwarte zu betreten wünschte. Stolz macht mich die Ahnenreihe an der Wand. Ein Foto des jungen Ove Sprogøe ist dabei. Sprogøe, der später so berühmte Darsteller des Egon Olsen aus der »Olsenbande« von Erik Balling und Henning Bahs, war im Zweiten Weltkrieg Mitarbeiter des Seeminenreferats. Zu den Eigenheiten des Referats und seiner Mitarbeiter gehört eine Vorliebe für die Vogelkunde, die Ornithologie. Mein Vorgänger hat einen ausgestopften Riesenalk zurückgelassen. Rasmussen klebte eines Tages einen Zettel an sein Gefieder: Ich weiß, daß du ausgestorben bist. Dienstfahrten auf die trevische See, Planquadrate nach alten, unkartierten Seeminen absuchen ist eintönige Arbeit, die kartierten Seeminen wandern, müssen neu verzeichnet werden, dergleichen schärft das Auge. Der eine und andere Band zur Vogelkunde hat nach dem Tod seines Besitzers das Referat nicht mehr verlassen.

Seit der Scheidung von Elisabeth wohne ich in der Republik der Seeungeheuer, amtlich vom trevischen Senat, der die Miete einzieht, als Marineblock bezeichnet. Elisabeth Delanotte, Chefin der 1001, Abgeordnete der Grünen, Mitarbeiterin im Architekturbüro Kastan, Delanotte & Partner (das Arbeitsverhältnis ruht allerdings), fand eine Eigentumswohnung im Dänischen Viertel, Alexandra-Barsano-Projekt mit Freundinnenrabatt, hundertfünfzig Quadratmeter in unserer von Wohnungsnot geplagten Hauptstadt, Vorschuß aufs Erbe vom Papa, Entwicklungshilfe vom alten Grote. Meine Wohnung liegt im fünften Stock von Haus H, hat ein Bad mit Fenster (das ist nicht mehr selbstverständlich), Blick über den Sund, zu dem sich die Elbische Bucht verbreitert, auch Strohmeer genannt der hellen Farbe des Wassers an Sonnentagen wegen.

Die Karte der Seeminen

Operativer Vorgang »Sie«. Trägt Explosions- oder Zündhörner (sog. Hertz-Horns) mit jeweils eingebautem Glasröhrchen, das zerbricht, wenn das Zündhorn durch heftige Berührung verbogen wird. Säure fließt in ein trockenes galvanisches Element, dadurch wird der Strom für die Zündung erzeugt. Unberechenbare nächtliche Aktivität. »Sie« steht neben meinem Schreibtisch im Seeminenreferat. Spricht mit mir, wenn sie will.

Gürtel I vor Südtreva. Ausdehnung 85 sm West-Ost, 120 sm in Nord-Süd-Richtung. Gürtel I wurde von britischen Flugzeugen während des Zweiten Weltkriegs gelegt, ein Minenfeld, um das Auslaufen deutscher U-Boote zu erschweren oder unmöglich zu machen. Gehört zur sogenannten Feldkette mit den Feldern North Sea Mine Barrage (zwischen Schottland und Norwegen), Britannia Barrage (britische Ostküste), Straits of Dover, Heligoland Bight / Helgoländer Bucht, Terschelling, Wald von Skagerrak und Wald von Kattegat.

Gürtel II vor Treva Hafen West/Nord, Ausdehnung 32 sm West-Ost, 8 sm in Nord-Süd-Richtung, hier vorwiegend deutsche Minen, ihre Aufgabe war passiver Natur: sie sollten das Eindringen feindlicher Schiffe nach Treva und die Eroberung des Hafens verhindern.

Ankertaumine/Moored mine. Beim Operativen Vorgang »Ankertaumine« handelt es sich um den ältesten Minentyp, schon 1813 bei der Belagerung von Fort Richmond eingesetzt. Vorherrschender Minentyp bei Minensperren. Berührungszünder. Weibliche und männliche Form, oft in einer Mine gleichzeitig. Verfügt über den sogenannten Minenwagen, auch Werteformat oder Wertekoffer genannt, der die Ankertaumine über ein Ankertau im Wasser auf Höhe (oder Tiefe) hält. Die Ankertaulänge richtet sich nach der entsprechenden Wassertiefe in bezug auf das Einsatzziel: steht die Mine zu flach, ist das Minengefäß an der Wasseroberfläche und verrät die Absicht, steht die Mine zu tief, fährt das Ziel der Absicht darüber hinweg. Die Absicht ist, Kanzler zu werden. Dazu muß die Ankertaumine allerdings aus Kanzlermaterial, sogenanntem Kanzlerstahl, bestehen (internationale Entsprechung: im Flur der Mitbringsel im Verteidigungsministerium ist eine sogenannte Präsidentenmine zu besichtigen, diese aus sogenanntem Despotenholz geschnitzt). Taktierer, der den sogenannten guten Eindruck erweckt, in Talkshows durch eine gewisse Eleganz, eine gewisse Abscheu vor dem Pöbel und seinen Neigungen, eine wohlgeformte Stimme, Plaudereien über Weine, Klassikerzitate (vom Referenten zusammengestellt) und jene sogenannte staatsmännische Zurückhaltung auffällt, die auf Gewinnmaximierungen beruht und dem Zuschauer mitteilt, daß Politik qua Bakschisch hier nicht anwendbar ist. Der Wertekoffer ist mit populären Bestandsgarantien gefüllt, an denen die Ankertaumine hängt wie ein Versprechen. Bewohner der Nordgewässer, schwankenden Strömungen und Beeinflussungen ausgesetzt, eher kühl temperiert, zögernd, betrachtend, taktisch, nicht zupackend konstruiert. Systeme automatischer Tiefenregulierung, Einstellung durch Wasserdruck halten die Waffe im Stand der Vorwärtsverzögerung und des Wertewechsels. Vertreter: IM »Mimose«. Seit seiner Entschärfung im Schmollstatus. Immer wieder in Talkshows und sogenannten Hintergrundartikeln als Geheimtip für die Windmühle gehandelt, da theoretisch von enormer Sprengkraft. Immer wieder praktisch nur theoretisch geblieben.

Küsters Feld zwischen dem Bohrturm X1 (auf dem der Colonel und Rasmussen leben), Bohrturm X2 (unbewohnt) und X3 (in der Nähe der Rand-Raffinerien), nach einem Tüftler (Leberecht Küster) benannt, der, ähnlich wie Bushnell im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg für den Delaware River, im Ersten Weltkrieg Seeminen für Elbe Eins, Zwei, Drei, wie die sich im Hafengebiet verzweigenden Elbarme abgekürzt werden, entworfen und verlegt hat, für diese Elbarme (außerdem noch Elbe Vier) erschienen Seeminen effektiv, für die anderen hat man die mittelalterlichen Kettensperren zwischen den Elbtürmen wieder eingesetzt.

Elbe-Vier-Feld mit Oszillationsminen und Antiinvasionsminen verschiedener Herkunft. Zum Teil noch deutsche sogenannte Hafthohlladungen (»Panzerknacker«) der Kriegsmarine, bei der letzten Minenräumaktion drei Hafthohlladungen Typ H3 (drei Kilogramm) und zwei Typ H3,5 (dreieinhalb Kilogramm) entfernt. Der Typ Hafthohlladung findet sich häufig in den Operativen Vorgängen »Unterhaus« und »Oberhaus«. Die Oszillationsminen enthalten ein hydrostatisches Kontrollsystem, das ihnen erlaubt, eine vorgegebene Unterwasserposition unabhängig von Ebbe und Flut einzunehmen.

Grundmine/Bottom mine. Dieser Operative Vorgang wird oft als notwendiges Übel betrachtet. Kann diese Meinung nicht teilen. Was wären wir ohne diese submarine Bedrohung, ohne das Wissen, daß da unten etwas lauert, das auf akustische ebenso wie auf magnetische, seismische und Druckreize reagieren kann, in vergleichsweise flachen Wassern liegt und zum Teil jahrzehntelang überdauert. Diese Minen heißen auch Schläfer. Der sogenannte Abweichlertypus ist unter ihnen nicht selten. Er bildet sich in der Stille heran. Der Abweichler wird zum Abweichler gemacht: lag er längere Zeit unbehelligt im warmen Strom der applaudierten Meinungen, so genügt ein Umstand, ein Kontakt mit einer anderen Wirklichkeit, um von einem Erweckungsschock aus dem Hauptstrom geschleudert zu werden und sich in kälteren, tieferen, deutlich nahrungsärmeren Gewässern wiederzufinden. Der Abweichler ist nun auf Abstand zu den applaudierten Meinungen und ihren Geburtskanälen, den sogenannten Hauptstrommedien, und innerhalb der Hauptstrommedien zu den Statthaltern des Hauptstroms. Sie lassen die abweichende Position nicht auf der sogenannten Augenhöhe gelten, sondern strafen sie mit sozialer Verachtung, was den Abweichler in die Position des Grüblers und psychisch Herausgeforderten versetzt. Schwächere Vertreter des Abweichlertypus knicken ein oder resignieren, die Grundmine gräbt sich in den Schlick und wird von Seepflanzen überwachsen. Stärkere Vertreter halten die Stellung, warten auf Beute.

Gürtel III vor Treva Hafen West/Süd, Ausdehnung 18 sm West-Ost, 5 sm in Nord-Süd-Richtung, mit einigen Auskurvungen des Minenteppichs (Wracks, Strömungen, ein Durchfahrtskorridor für unsere Schiffe). Hier vorwiegend Seeminen Typ Antiinvasion (Fluß-, Uferminen), Torpedominen Typ MK-60 Captor und MK-62 Quickstrike.

Gürtel IV vor Treva-Brenta Nordost, 2 sm Breite bei 27 sm Länge in sichelförmigem Verlauf, vorherrschend Kontakt-Ankertauminen polnischer (alliierter) Herkunft, immer wieder altersbedingt aus den Ankerkästen gelöst und daher driftend, nicht immer, wie im VIII. Haager Abkommen (»Abkommen über die Legung von unterseeischen selbsttätigen Kontaktminen«) von 1907 gefordert, beim Losreißen von selbst unscharf geworden.

Karl-Marx-Feld. Lage in den Sümpfen im ehemaligen Grenzgebiet zwischen Treva und Dresden. Wechselnde Tiefe der dort stark verzweigten Flußarme, Ausdehnung des Felds bis heute nicht eindeutig geklärt. Mindestens 20 sm Länge und mindestens 3 sm Breite (über mehrere Flußarme und ihre seenartigen Verbindungen gerechnet), dabei an den schmalsten Stellen besondere Minenkonzentration. Vorherrschender Typ die sowjetische Kontaktmine JAM, »die Kleine« genannt, in den Sümpfen benutzt als Grundmine, da die Wassertiefe meist unter zweieinhalb Metern. In Bereichen ab vier Metern Wassertiefe vorherrschend die M-08. Selten die Fernzündungsminen KMD-2-500 und 1000, vereinzelt, vor allem im über fünfzehn Meter tiefen Faulen See, die Kontaktmine KB, »die Große«.

Kontaktminen / Contact mines. Operativer Vorgang »Überläufer«. Der Überläufer (s. auch Operativer Vorgang »Treibmine«) wird gefeiert, nichts Berauschenderes gibt es, als einem Feind einen Anhänger abspenstig zu machen. Die Eigengewächse hat man selbst großgezogen, man ist mit ihnen lange umgegangen, doch keine Begeisterung kann sich mit der jenes Moments vergleichen, wenn vom Ufer hüben jemand erklärt, das Ufer drüben habe recht. So hat die Kirche die bekehrten Sünder immer am liebsten gehabt und nicht die treuen Glaubensschäfchen. Umgekehrt wird niemand härter verfolgt als der Überläufer – das Ufer, von dem er kam, wird die Schmach niemals verwinden. Der Überläufer sollte sich keine Illusionen machen. Zwar wird die neue Partei ihn ausstellen wie eine Trophäe, wird ihn in der Hoffnung vorweisen, alle Argumente seien durch dieses Beispiel überflüssig, doch wird sie niemals vergessen, daß der Überläufer, um zum anderen Ufer zu gelangen, einen Verrat begangen hat. Wer einmal verriet, kann es wieder tun, vermutlich, so rechnen die Taktiker, wird er es wieder tun. So ist der Überläufer bei näherem Hinsehen eine traurige Figur, heimatlos, ein verratener Verräter, der benutzt wird, und was man ihm gegenüber empfindet, ist die Anfangsbegeisterung verraucht, ist eine mit Scham, auch mit Grauen gemischte Verachtung. Er hat gewagt, wozu man selbst nicht in der Lage ist. Kommt es zur Wahl, wird es heißen: der nicht.

Dummy mines. Gefüllt mit Sand oder Beton. Gleichen in Form und Größe den echten Minen, dienen vor allem dazu, die Minenräumung zu verlangsamen.

Gürtel V vor Treva-Brenta Süd, unregelmäßige Lage, mehrere Verlegungsepisoden, deutsche Minen aus WK I und II, britische, dänische, kanadische und US-Minen, vereinzelt italienische Minen Typ Manta, auch iranische Minen sowjetischer Herkunft, mehrere Limpetminen (nach einer Seeschnecke mit besonderem Haftorgan) an den Gründungspfählen einiger unmittelbar an Kanälen stehenden Bauten (Anzahl und Lage bekannt).

Gürtel VI vor dem Marinehafen, ebenfalls unregelmäßige Lage, ebenfalls mehrere Verlegungsepisoden. Regelmäßig neu zu bestimmende Durchfahrtskorridore. Übungsgebiet.

Unkartierte und schlecht kartierte Minen. Meist von Flugzeugen aus großer Höhe abgeworfen.

There’s no doubt that a mine is our greatest obstacle to success. A clear path to storm the beaches. The performance of the minesweepers can only be described as magnificent. And if we manage to reach the enemy coast without becoming disorganized and suffering serious losses we shall be fortunate. Concerning reality, Naval mines

Totensommer

Im Sommer des Jahres 1989 flogen die Marienkäfer in niegesehenen Schwärmen, belagerten die Häuser der Gebliebenen, das Urania-Kino, in dem ich, als Gehilfe des alten Sulke, Filmvorführer war.

Wenn es dunkel wurde, begann meine Zeit. Dann konnte mir nichts mehr geschehen, schon wenn ich die Wohnung verließ, nicht mehr und nicht auf dem Weg zur Abendvorstellung ins Urania. Wenn ich die Leuchtschrift mit den an- und absteigenden Buchstaben über der runden Ecke des Kinos sah, blieb ich stehen, um mit der zwischen Freude, Ungläubigkeit, Schrecken pendelnden Empfindung fertig zu werden, Erstaunen über das Nichtvergehen von Zeit, das manchmal in ihrem Vergehen blieb wie ein unlöslicher Rest: daß ich nicht mehr der Junge war, der mit Muriel, Christian, Reglinde, Ezzo und Robert, seltener mit Ina, in eine Vorstellung der Tannhäuser-Lichtspiele ging, auch dieser Name in altmodischen Neonbuchstaben, aus der Vorkriegszeit übriggeblieben, daß es nicht der Fabian war, der mit Englisch Drops auf einem der Holzklappstühle der Tannhäuser-Lichtspiele Platz nehmen würde, um einen Sindbad- oder Gojko-Mitić-Film anzusehen, sondern ein Erwachsener, für den die Träume des Jungen noch immer gegenwärtig waren, als wäre dieser Junge in den Erwachsenen hinübergewandert, so wie ich aus dem Zuschauerraum einfach nur in den Vorführraum an einen Projektor gegangen zu sein schien, ohne das Kino zu verlassen. Als wäre meine eigentliche Existenz das Kino (noch nicht einmal die darin gezeigten Filme), als wären Kindheit, Eltern, Schule, Alltag nur eine flüchtige Beigabe oder Verkleidung, die mich davon abhielt, das Kino zu betreten und den Vorführraum, wo ich der Herr der farbigen Schatten sein würde. Urania-Lichtspiele, Schauburg, Faunpalast, Stephenson- und Schiller-Lichtspiele, Olympia, Namen mit einer Aura von Ufa und Nachkrieg, der Not abgestohlenen Vergnügungen, ein Sternbild. Tagsüber schlief ich, so gut es ging. Ich stellte Muriel und Alexandra ein Frühstück hin, starrte auf einen der Doppeldecker, um mich zu beruhigen, denn meist war ich gedanklich noch im Film, den ich gezeigt hatte. Niemand lernt einen Film so gut kennen wie der Filmvorführer, der ihn täglich mehrmals, und das wochenlang, zeigt. Die Gerüche aus der Kofa, der Johannstädter Konservenfabrik, drangen durch die verschlossenen und mit Decken abgedunkelten Fenster. Noch kein Geschrei, irgendwo umgestürzte Möbel, noch kein Lustgekreisch des Sadomasopärchens am Ende des Flurs, »Hilfe, Hilfe«- und »Ich murks dich ab, du Sau«-Zärtlichkeiten, die an Sommernachmittagen ebenso regelmäßig wie ungehemmt durch den Neubaublock schallten und mit »Jetzt hol ich aber die Bullen«-Rufen quittiert wurden, noch kein Lärm von Dissidenten und Musenjüngern, die sich fluchend auf die Suche nach etwas Trinkbarem machten nach langem Tagschlaf, denn nachmittags erwachen die Kreativen, noch nicht »Die Firma« oder »Herbst in Peking« aus Kassettenrecordern auf den Treppen. Muriels und Alexandras Schritte, das Gestochere eines Schlüssels, der eine Schloßöffnung zu treffen versucht, in einer vom Maschinentakt noch zitternden Hand.

Muriel schlief auf einer Zwangsjacke, die sie sich beim Abbruch ihrer Lehre bei Schneider Lukas am Lindwurmring mitgenommen hatte. Über der Matratze hingen Doppeldecker, die meisten hatte Muriel gebaut, einen davon Günter aus Berlin, den wir Jünta nannten. Einmal, nach einer Kinovorstellung, in der ich dem alten Sulke beim Vorführen von Dreyers »Vampyr« behilflich gewesen war, fand ich Muriel in die Zwangsjacke verschnürt auf der Matratze liegend, Alexandra hockte auf ihr, lachte, vielleicht, weil auch Muriel lachte.

Sie arbeiteten bei Pentacon, den früheren Zeiss-Ikon-Werken, an der Schandauer und Junghansstraße. Muriel hatte den Arbeitsplatz zugewiesen bekommen, außerdem schneiderte sie für private Kunden. Manchmal begleitete ich sie zur Nachtschicht. Jünta half in der Verpackung aus, fragte mich nach Kinofilmen und Gratiskarten, um auf diese Weise, dachte ich, ein Interesse an mir zu signalisieren, das eigentlich Muriel galt, er wollte sie aus ihrer Zurückhaltung locken, denn Muriel sprach wenig auf dem Weg zur Arbeit, die sie nicht mochte. Sie stand an einer Stanze, Alexandra war an der Taktstraße beschäftigt.

– Na dann, hau ab, sagte Muriel.

Aber wenn ich auf dem Absatz kehrtmachte, suchte Muriel erschrocken meine Hand, oder Jünta faßte mich am Ärmel, oder Alexandra bat mich, mit ans Betriebstor zu kommen, ich wisse doch, wie Muriel es meine.

Ich ging zum Urania-Kino durch die Reste einstiger Pracht, Atlanten trugen Gesimse, bewachten Höfe voller Sperrmüll, Sphinxen luden in Durchgänge, die Augen von Taubendreck verkleistert, die Wangen von Einschußlöchern aus dem Krieg aufgeplatzt, manchmal pulten Kinder in den Geschoßkanälen und versuchten, Kugeln herauszuholen, die in den Ziegeln schliefen wie Larven über Jahrzehnte reifender Insekten. Manchmal tauchte ein Gebäude auf, ein finsterer, gardinenloser Block, den man für unbewohnt halten konnte, die Türen zu den Wohnungen teils offen – die Wohnungen voller Schutt –, teils mit nagelneuen Schlössern versehen, der Hausflur mit Ölfarbe gestrichen, die in Farngefiedern abblätterte, so daß ich die Vorstellung hatte, mich nicht in Dresden zu befinden, sondern in einer von Dschungelpflanzen überwucherten Urwaldkultur, versunken und exotisch wie das Inkareich. Hauseingänge, in die ich eindrang, um mich zu vergewissern, ich wußte nicht, was es war, wonach ich suchte, was mir die fremden Türen verraten sollten, hinter denen ich wer weiß welche Geheimnisse und Überraschungen vermutete, einen Geheimgang nach unten, in die sagenumrankten Tunnelsysteme der Kohleninsel, einen Steg, der zu einem U-Boot führte. Die Hitze verstärkte den Geruch, über dem die Häuser zu brüten schienen wie rachsüchtige Glucken, Geruch nach Trabantabgasen und Müll, in dem, gleichmütig, ob sie jemand beobachtete oder nicht, Rentner wühlten, jeder für sich in einer von der heimsuchenden Sonne ausgeglühten Stille.

An den Abenden ohne Vorführung spielte Wostok, Gagarins Band, im Hauptsaal des Urania, und Johann der Eremit, Baßgitarrist, zelebrierte das Spaghettiriff für Ruth Sulke, die uns Essen kochte. Gagarin war stolz auf seine Tramperzehen, die sich, wenn er mit Alexandra schlief, in die von Frau Sulke gewaschenen und aus dem Schrank meiner Eltern stammenden Laken bohrten. Manchmal kam er nackt, bedeckt mit Theatergold. Muriel konnte Gagarins Auftritte nicht leiden. Er strebte, wenn er nicht schon völlig betrunken war, den Freien Weltkommunismus an, in dem alles allen gehören und jeder es mit jeder treiben sollte. Auf Hinterhöfen gab es Rockkonzerte, in der »scheune« an der Alaunstraße inszenierte Alexandra ein Theaterstück, Muriel kleidete die Schauspieler ein. Sie fertigte Kreationen aus Duschvorhängen, die ein Muster aus schwarzen Blumen trugen, Gürtel aus Silberpapier und futuristische Kopfbedeckungen. Im Stück ging es um Fliegenpilze, Liebe, die dunkle Seite von Daisy Duck. Judith Schevola las in Kirchen und Abrißwohnungen der Neustadt, wo manchmal auch Meno war, um ihr zuzuhören und vielleicht, dachte ich, unter Menschen zu kommen, nie war er mir so einsam erschienen wie in jenen lichtfiebernden Augusttagen.