Der Turm - Uwe Tellkamp - E-Book

Der Turm E-Book

Uwe Tellkamp

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Anne und Richard Hoffmann stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man sich vor den Zumutungen des Systems in die Dresdner Nostalgie flüchten? Oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen? Christian, ihr ältester Sohn, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Er hat Zugang zum Bezirk »Ostrom«, wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird. In epischer Sprache, in eingehend-liebevollen wie dramatischen Szenen beschreibt Uwe Tellkamp den Untergang eines Gesellschaftssystems. Ein monumentales Panorama der untergehenden DDR, in der Angehörige dreier Generationen teils gestaltend, teils ohnmächtig auf den Mahlstrom der Revolution von 1989 zutreiben. Kein anderes Buch hat in den letzten Jahren gleichermaßen Kritiker und Publikum derart begeistert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1519

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Uwe Tellkamp

Der Turm

Geschichte auseinem versunkenen Land

Roman

Suhrkamp

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.

Die Personen, wie sie geschildert werden, leben in der Vorstellung und haben mit tatsächlich existierenden Menschen soviel gemein wie der Bildhauerton mit einer Skulptur.

ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-518-74060-6

Für Annett und für Meno Nikolaus Tellkamp

Ouvertüre

Suchend, der Strom schien sich zu straffen in der beginnenden Nacht, seine Haut knitterte und knisterte; es schien, als wollte er dem Wind vorgreifen, der sich in der Stadt erhob, wenn der Verkehr auf den Brücken schon bis auf wenige Autos und vereinzelte Straßenbahnen ausgedünnt war, dem Wind vom Meer, das die Sozialistische Union umschloß, das Rote Reich, den Archipel, durchädert durchwachsen durchwuchert von den Arterien Venen Kapillaren des Stroms, aus dem Meer gespeist, in der Nacht der Strom, der die Geräusche und Gedanken mit sich nahm auf schimmernder Oberfläche, das Lachen und den Ernst und die Heiterkeit ins sammelnde Dunkel; Schwebstoffe hinab in die Tiefe, wo die Rinnsale der Stadt sich mischten; im Tiefseedunkel kroch das Spülicht der Kanalisation, tropfender Absud der Häuser und VEB, in der Tiefe, wo die Lemuren gruben, stauten sich die ölig-schwere, metallische Brühe der Galvanikbäder, Wasser aus Restaurants und Braunkohlekraftwerken und Kombinaten, die Schaumbäche der Reinigungsmittelfabriken, Abwässer der Stahlwerke, der Krankenhäuser, der Eisenhütten und der Industriezonen, die verstrahlte Beize der Uranbergwerke, Giftsuppen der Chemieanlagen Leuna Buna Halle und der Kaliwerke, von Magnitogorsk und von den Plattenbaugebieten, die Toxine der Düngemittelanlagen, der Schwefelsäurefabriken; in der Nacht der Strom, weitverzweigt die Schlamm-, die Schlacke-, Erdöl-, Zellstoff-Flüsse, Wasser verschmolzen zu einem großen pechträgen Band, darauf die Schiffe fuhren, unter den rostigen Spinnweben der Brücken hindurch, in die Erzhäfen Getreidehäfen Südfrüchtehäfen die Häfen der 1000 Kleinen Dinge

– Und ich erinnere mich an die Stadt, das Land, die Inseln, von Brücken zur Sozialistischen Union verbunden, ein Kontinent Laurasia, in dem die Zeit eingekapselt war in eine Druse, zur Anderzeit geschlossen, und die Musik erklang von den Plattenspielern, knisternd unter den Abtastarmen im dünenden Vinylschwarz, Lichtspindeln hin zum Gelbetikett der Deutschen Grammophon, zum Eterna- und Melodia-Schriftzug pulsend, während draußen der Winter das Land einfror, Schraubstöcke aus Eis an den Ufern auftürmte, die den Strom in ihren Zangen preßten und, wie den Lauf der Zeiger auf den Uhren, an den Stillstand bremsten. … aber die Uhren schlugen, ich höre, als wäre es heute, den Westminster-Gong in der Karavelle, wenn das Wohnzimmerfenster geöffnet war und ich die Straße hinunterging, ich höre den Schlag der Flügeluhr aus der Wohnung im Erdgeschoß des Glyzinienhauses; das feine Klingen der Wiener Uhr aus Tietzes Musikzimmer, das melodisch aufsteigende, dann, mit dem letzten Ton, abknickende Ta-ta-ta-taa nach dem durchdringenden Sägton der Zeitanzeige des Deutschlandfunks, der Anfang der achtziger Jahre von den Türmern auf der Insel Dresden nicht mehr unter dem Tuch gehört wurde; jetzt die stimmlose Nadel einer japanischen Quarzuhr, die vom Handgelenk eines Staatskapell-Kontrabassisten in das Gongen und Plingen, Scheppern und die Kuckucksrufe beim Uhrmacher Simmchen, genannt Ticketack-Simmchen, sticht, in die tiefen Stundenschläge der Standuhren, das vollstimmige Repetieren der großen und kleinen Regulatoren bei Uhren-Pieper, Turmstraße 8; der Koloratursopran einer Schnörkel-Porzellanuhr bei Witwe Fiebig im Haus Zu den Meerkatzen, die heisere Rebellion einer Fliegeruhr, in der zweiten Etage der Pension Steiner, beim ehemaligen Generalstäbler in Rommels Afrikakorps; das Pekinesenkeckern im Appartement am Ende des Flurs, wo ein Mann namens Hermann Schreiber wohnte, einst Meisterspion der zaristischen Ochrana und der Roten Truppen; eine Uhr mit dem Zarenwappen, aus der Erstürmung des Winterpalais’ in St. Petersburg gerettet, 1917; ich höre, als säße ich in seiner Sprechstunde oder stünde im Röntgenwagen einer der jährlichen Tbc-Reihenuntersuchungen und blickte auf das Schwarzweiß des Durchleuchtungsschirms, über das der grauhaarige Arzt sich beugt, das Krächzen von Dr. Fernaus Taschenuhr; die Porzellanglocken am Zwinger fallen ein, die Uhren im Gebäude der Staatlichen Plankommission, ehemals Reichsluftfahrtministerium, höre ich unbeirrt von Schritten, Hast auf den Gängen, Telefonklingeln, Zeitläuften, dem Geräusch der Paternosteraufzüge weiterrücken

– Auf dem Meer, dem dunklen Ozean in immerwährender Nacht, suchend, suchend, der sich zweigte in Strom und Flüsse, kriechend um die Bewohnten Inseln

– Und hörte die Uhren der Papierrepublik über die Meeresarme klingen tönen schlagen, Gelehrteninsel: Schneckenkegel, der zum Himmel wuchs, Helix, auf den Tisch gezeichnet in Auerbachs Keller, Wohnungen verbunden durch Stiegen, Häuser verschraubt mit Treppen, Gehörgänge auf Reißbrettern entworfen, Spinnweben, die Brücken

– In der Nacht, die rostigen, die vom Mehltau des Schlafs befallenen, die von Säuren zerfressenen, die bewachten, die brombeerumrankten, die im Grünspan gefangenen, festgeschmiedet der Preußische Adler, die Schlag Mitternacht ihre Lauschtiere freilassenden, die hundertäugigen Periskope reckenden, Okulare scharfstellenden, bannertragenden, die von den Schornsteinen geschwefelten, Musiklinien vortäuschenden, mit Bitumen bewalzten, von Tropfnässe Sickernässe Schwitznässe faulenden, die durch schimmelnde Akten kriechenden, mit Stacheldraht betreßten, mit Ziffernblättern verbleiten Brücken; was war ATLANTIS, das wir nachts betraten, wenn das Mutabor gesprochen war, das unsichtbare Reich hinter dem sichtbaren, das erst nach langen Aufenthalten, den Touristen nicht und nicht den Traumlosen, aus den Konturen des Tages brach und Risse hinterließ, einen Schatten unter den Diagrammen dessen, was wir Die erste Wirklichkeit nannten, ATLANTIS: Die zweite Wirklichkeit, Insel Dresden/die Kohleninsel/die Kupferinsel der Regierung/Insel mit dem roten Stern/die Askanische Insel, wo Justitias Jünger arbeiteten, zu ATLANTIS verknüpft versponnen verkrustet

– Die Bahnhofsuhren in den verästelten Trakten des Anatomischen Instituts ließen die Sekundenzeiger schleichen und auf der Zwölf zögern, bis der Minutenzeiger aus seiner Erstarrung ins nächste Fach fiel, wo er Haftanker auszuschießen schien, in denen er wie betäubt, gestaucht von den Puffern der vergangenen und der bevorstehenden Minute, hängenblieb; Omnia vincit labor, behauptete die Glocke auf dem Kroch-Hochhaus, von zwei Riesen mit Hämmern geschlagen, und die Gelehrten, die sozialistischen Glasperlenspieler, die ludi magistri an der Universität, die als geöffnetes steinernes Buch mit dem Karl-Marx-Kopf als Galions-Totem im Meer schwamm, beugten sich über den Geist der Goethezeit, luden die Revolution in den Zeugenstand, verkündeten das Prinzip Hoffnung, dozierten über das Klassische Erbe im Hörsaal 40, sezierten den menschlichen Körper in den Sälen unter der Liebigstraße: Hier steht der Tod im Dienst des Lebens, Anatomie: Schlüssel und Steuerruder der Medizin

– Suchend, in der Nacht der Strom, ein ermüdetes krankes Tier, träumend in einem Schlafgehäuse, um das die Kälte steigt, und Straßenadern auf den Inseln, schütter beleuchtet, eingezwängt in den Frost und das Schweigen, Menschen mit biegsamen Schatten hasten über die Magistralen, wo am 1. Mai die Banner wehen, Marschmusik aus den Lautsprechermembranen spiralt wie Metallspäne von einem Werkstück in einer Drehbank, Sprengladungen, Meißel, Preßlufthämmer treiben Stollen in den Berg, schälen die Fingerspitzen des Flusses voran, die Stachanow-, die Hennekke-Bewegung, die Tunnelbohrer schürfen unter den Inseln, Zimmerleute fügen die Stützhölzer, der Fluß öffnet Hörrohre

– Die Große Uhr schlug, und das Meer stieg vor den Fenstern, den Zimmern mit den Farntapeten und den Eisblumen an den Leuchtern, den Stuckdecken und schönen Möbeln, ererbt aus verschollener Bürgerlichkeit, worauf die Baskenmützen der Denkmalpfleger anspielten, die gemessenen Gesten törtchenessender Damen in den italienischen Cafés, die blumigen und chevaleresken Grußzeremonien der Dresdner Kunstausübung, die versteckten Zitate, die mandarinhaften, pädagogischen, anspielungsreichen Rituale des Freundeskreises Musik, die gravitätischen Küren schlittschuhlaufender älterer Herren in den Eisparks; übriggeblieben im sanfthügeligen Elbtal in Häusern unterm Sowjetstern, übriggeblieben wie die Hermann-Hesse-Ausgaben der Vorkriegszeit, die zigarrenbraunen Thomas-Mann-Bände des Aufbau-Verlags aus den fünfziger Jahren, eifersüchtig bewacht in Antiquariaten, deren unterseeisches Licht dem Eintretenden Andacht verordnete, Papierschiffe, in denen sich langsam an Erinnerungen vergiftende Fossile hausten, Topfpflanzen hegten und den Kompaß über den knarrenden Parketten unbeirrbar auf Weimar gerichtet hielten, übriggeblieben in den Rosen, die um die Insel wuchsen, über die Ziffernblätter der Uhren, die rosteten, und deren Perpendikel zwischen den Polen Stille und Unstille (es war eine, bloßer »Lärm« oder »Geräusch« war es nicht) durch unsere Leben schnitten. Wir hörten Musik, Eterna, Melodia hießen die Schallplatten, bei Herrn Trüpel gab es sie zu kaufen, im Schallplattenladen »Philharmonia« an der Bautzner Straße, oder im »Kunstsalon am Altmarkt« … die Große Uhr schlug

– Dresden … in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern

– Suchend, in der Nacht der Strom, Wald wurde Braunkohle, Braunkohle bildete Flöze unter den Häusern, die Gruben-Maulwürfe wühlten sich vor und schürften die Kohle, Förderbänder ließen sie zu den Heizern wandern, in die Kraftwerke mit ihren Feuerschloten, in die Häuser, wo aus den Schornsteinen der saure Rauch stieg, der die Mauern zerfraß und die Lungen und die Seelen, die Tapeten in Krötenhaut verwandelte; die abblätternden und blasenwerfenden Tapeten in den Zimmern, vergilbt und durchzogen von den Kotschnüren des Ungeziefers; wenn die Öfen angeheizt waren, schienen die Wände zu schwitzen und sonderten Nikotin ab, das sich seit alten Zeiten darin festgesetzt hatte; wurde es kalt, gefroren die Scheiben, überzogen sich die Tapeten mit Reif, Farnschlieren und öligem Eis (wie Fett in einer unabgewaschenen, in eine ungeheizte Abstellkammer verbannten Pfanne). Ein gelber Vogel, der manchmal in unseren Träumen krächzte, wachte über allem: der Minol-Pirol, und wenn die Uhren schlugen, waren unsere Körper erstarrt und gefangen, die Rosen wuchsen,

schrieb Meno Rohde,

Sandmann streute Schlaf

I. Buch:Die Pädagogische Provinz

1.Auffahrt

Die elektrischen Zitronen aus dem VEB »Narva«, mit denen der Baum dekoriert war, hatten einen Defekt, flackerten hin und wieder auf und löschten die elbabwärts liegende Silhouette Dresdens. Christian zog die feucht gewordenen, an den wollenen Innenseiten mit Eiskügelchen bedeckten Fäustlinge aus und rieb die vor Kälte fast taub gewordenen Finger rasch gegeneinander, hauchte sie an – der Atem verging als Nebelstreif vor dem finster liegenden, in den Fels gehauenen Eingang des Buchensteigs, der hinauf zu Arbogasts Instituten führte. Die Häuser der Schillerstraße verloren sich im Dunkel; vom nächstgelegenen, einem Fachwerkhaus mit verriegelten Fensterläden, lief eine Stromleitung ins Geäst einer der Buchen über dem Felsdurchgang, ein Adventsstern brannte dort, hell und reglos. Christian, der über das Blaue Wunder und den Körnerplatz gekommen war, ging weiter stadtauswärts, in Richtung Grundstraße, und erreichte bald die Standseilbahn. Vor den Schaufenstern der Geschäfte, an denen er vorüberging – ein Bäcker, Molkereiwaren, ein Fischladen –, waren die Rolläden herabgelassen; düster und mit aschigen Konturen, halb schon in Schatten, lagen die Häuser. Es schien ihm, als ob sie sich aneinanderdrängten, Schutz beieinander suchten vor etwas Unbestimmtem, noch nicht Ergründbarem, das vielleicht aufgleiten würde aus der Dunkelheit – wie der Eismond aufgeglitten war über der Elbe vorhin, als Christian auf der menschenleeren Brücke stehengeblieben war und auf den Fluß geblickt hatte, den dicken, von seiner Mutter gestrickten Wollschal über Ohren und Wangen gezogen gegen den frostscharfen Wind. Der Mond war langsam gestiegen und hatte sich von der kaltträgen, wie flüssige Erde wirkenden Masse des Stroms gelöst, um allein über den Wiesen mit ihren in Nebelgespinste gehüllten Weiden, dem Bootshaus auf der Altstädter Elbseite zu stehen, den gegen Pillnitz zu sich verlierenden Höhenzügen. Von einem Kirchturm in der Ferne schlug es vier, was Christian wunderte.

Er ging den Weg zur Standseilbahn hinauf, stellte seine Reisetasche auf die verwitterte Bank vor dem Gatter, das den Bahnsteig abschloß, und wartete, die Hände samt Handschuhen in die Taschen seiner militärgrünen Parka gesteckt. Die Zeiger der Bahnhofsuhr über dem Schaffnerhäuschen schienen sehr langsam vorzurücken. Außer ihm wartete niemand auf die Standseilbahn, und um sich die Zeit zu vertreiben, musterte er die Anzeigentafeln. Lange waren sie nicht mehr gesäubert worden. Eine warb für das Café Toscana auf der Altstädter Elbseite, eine für das weiter in Richtung Schillerplatz liegende Geschäft Nähter, eine andere für das Restaurant Sibyllenhof an der Bergstation. In Gedanken begann Christian Fingersatz und Melodiefolge des italienischen Stücks zu wiederholen, das auf der Geburtstagsfeier für den Vater gespielt werden sollte. Dann sah er in die Dunkelheit des Tunnels. Ein schwacher Schein wuchs, füllte allmählich die Tunnelhöhlung wie steigendes Wasser einen Brunnen; zugleich wuchs das Geräusch: ein schieferiges Knarren und Ächzen, das Führungsseil aus Stahldrähten knackte unter der Last, ruckend näherte sich die Bahn, eine mit Meereslicht gefüllte Kapsel; zwei Scheinwerferaugen beleuchteten die Strecke. Im Wagenquader waren die unscharf umrissenen Körper einzelner Fahrgäste zu sehen; in der Mitte der verfließende Schatten des graubärtigen Schaffners, der seit Jahren auf dieser Strecke fuhr: hinauf und hinab, hinab und hinauf immer im Wechsel, vielleicht schloß er die Augen dabei, um dem Anblick des allzu Vertrauten zu entgehen oder um es innerlich zu sehen und es dann zu verdrängen, um Geister zu bannen. Wahrscheinlich aber sah er schon mit dem Gehör, jeder Ruck während der Fahrt mußte ihm bekannt sein.

Christian nahm seine Tasche, suchte einen Groschen hervor und vertrieb sich die bleibenden Augenblicke mit der Betrachtung des Geldstücks: das Eichenlaub neben der plump geschnittenen Zehn, die winzige, abgegriffene Jahreszahl mit dem A darunter, die Rückseite mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, und dachte daran, wie oft sie, die Heinrichstraßen- und Wolfsleitenkinder, die Prägung solcher Geldstücke mit Bleistift auf einem Blatt nachgerieben hatten – Ezzo und Ina waren darin geschickter, auch eifriger gewesen als er, damals, in der Zeit ihrer Träume vom großen Fälscher-, Räuber- und Abenteurerdasein, wie es die Helden der Filme führten, die in den Tannhäuser-Lichtspielen liefen, oder der Bücher von Karl May und Jules Verne. Die Bahn kam, weich bremsend, zum Stehen. Die in der Höhe gestuften und abgeschrägten Türen ließen die Fahrgäste ins Freie. Der Schaffner stieg aus, öffnete das Gatter und, für die Aufwärtsfahrenden, einen schmalen Durchgang daneben. Dort war ein Münzkasten angebracht, Christian warf das Fahrgeld hinein und zog den an der Seite befindlichen Hebel herab; das Zehnpfennigstück rutschte aus der Drehscheibe und fiel zu den anderen auf den Boden. Manchmal warfen die Kinder des Viertels statt des Groschens flache, von der Elbe glattgeschliffene Kiesel, die sie »Butterbemmen« nannten, oder Knöpfe ein – sehr zum Verdruß ihrer Mütter, denen es leid um die Knöpfe tat, denn die kleinen Münzen aus Aluminium bekam man leicht, Knöpfe dagegen schwer. Die Wagentüren waren geschlossen, man mußte sie winters, wollte man ins Abteil, gegen einen Seilzug öffnen; sie schlossen sich sofort, sobald man losließ. Der Schaffner war in das Häuschen gegangen, goß sich einen Kaffee ein und beobachtete die davoneilenden Fahrgäste, die wie Schatten verschwanden, vorn um die Ecken bogen, zum Körnerplatz oder zur Pillnitzer Landstraße.

Nach ein paar Minuten ertönte aus dem Lautsprecher über den Anzeigentafeln eine müde klingende Stimme, sächselte etwas, was Christian nicht verstand; aber der Schaffner erhob sich und schloß bedächtig die Tür des Häuschens. Langsam, die runde, lederne Münzwechseltasche schlenkerte auf der abgewetzten Uniform, ging er vor zur Fahrerkabine mit dem Bedienpult, dessen viele Knöpfe Christian sinnlos erschienen, denn gelenkt wurde die Standseilbahn von Seil und Rollen, gebremst im Fall, daß das Seil einmal reißen sollte, automatisch über einen ausgeklügelten Zangenmechanismus. Vielleicht hatte es mit den Knöpfen eine andere Bewandtnis, vielleicht dienten sie der Verständigung oder der Psychologie: Knöpfe, die vorhanden waren, mußten auch etwas zu bedeuten haben, eine Funktion erfüllen, erforderten Kenntnis, beugten der Eintönigkeit und Dienstmüdigkeit vor; außerdem gab es das Ausweichmanöver auf halber Strecke. Krachend fiel die Kabinentür, die mit einem Vierkantschlüssel zu öffnen war und nicht über den Seilzug der übrigen Türen lief, hinter dem Schaffner ins Schloß.

»Ab-fahrt«, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher. Der Wagen blieb noch einen Moment reglos am Ort, setzte sich dann ruhig in Bewegung, glitt aus der Haltebucht heraus und empor. Christian wandte sich um und sah, wie sich Weg und Wartehof perspektivisch verkleinerten, bis nur noch das Oval übrigblieb, das die Tunnelhöhlung gegen den feuersteingrünen Himmel ließ; allmählich wurde es ebenfalls kleiner, eine Kulisse Dunkelheit schob sich langsam von der Seite vor, und für kurze Zeit, bevor der Ausgang in Sicht kam, spendeten nur die Tunnellampen und die Scheinwerfer spärliches Licht. Christian nahm ein Buch aus der Tasche, das ihm sein Onkel Meno geschenkt hatte. In der vergangenen Woche war er kaum dazu gekommen, darin zu lesen: zwar hatte sich in Waldbrunn vorweihnachtliche Stimmung bemerkbar gemacht, der Unterricht wurde nicht mehr so straff wie sonst geführt, aber die Vorbereitungen auf die Geburtstagsfeier und die täglich unternommenen Busfahrten nach Hause, um mit den anderen das italienische Stück üben zu können, hatten Zeit gekostet. Christian wollte das Buch gründlicher in den Weihnachtsferien lesen. Es war ein ziemlich dickes, auf faseriges Papier gedrucktes und in grobes Leinen gebundenes Werk; das Umschlagbildnis kannte er aus einer Faksimile-Ausgabe der Manessischen Handschrift, die er in der Bibliothek seines Onkels, aber auch bei Tietzes gesehen hatte, dort in einem besonders schönen und wohlerhaltenen Exemplar; Niklas, Ezzos und Reglindes Vater, las oft darin. Das Bildnis zeigte die Sagengestalt des Tannhäuser, einen rotlockigen Mann im blauen Gewand mit weißem Überwurf, ein schwarzes Kreuz auf der Brust, das schwarzgelb geteilte Wappen neben einem Flügelhelm über stilisierten Rankenpflanzen; die Linke hatte der »Tanhuser«, wie sein Name über der Tafel geschrieben stand, abwehrend oder vielleicht auch vorsichtig grüßend erhoben; die Rechte schürzte den Überwurf. Christian öffnete den Band. »Alte deutsche Dichtungen, in Auswahl herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Meno Rohde«, las er, dann schlug er die Sage wieder auf, in der er auf der Fahrt von Waldbrunn nach Dresden schon gelesen hatte. Die über ihm an der Wagendecke angebrachte Lampe begann zu raspeln, die aufgeschlagene Seite bekam ein körniges, fahles Aussehen, und im sachten Vibrieren der Fahrt verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen. Er fand keine Konzentration für die Geschichte des Goldsporenritters, der mit zweiundsiebzig Schiffen ausgezogen war, um Königin Bride zu freien. Die Lampe erlosch. Er steckte das Buch in die Tasche zurück und tastete dabei nach dem Barometer, ein Geschenk für den Vater, das er aus dem ehemaligen Vereinshaus der Elbeschiffer abgeholt hatte. Wohlverpackt und gepolstert lag es im Ballen gebrauchter Wäsche, der seine Tasche füllte.

Die Bahn erreichte, im langsamen, aber steten Aufwärtssteigen hin und wieder von Unebenheiten in den Rollenwechseln ruckend erschüttert, die Höhe des neben der Fahrtstrecke laufenden Buchensteigs und ging eine Weile, wenige Meter über dem Boden, zum Weg parallel. Man konnte in erhellte Fenster sehen; eine ausgestreckte Hand hätte den Wagen ohne große Mühe berühren können. Oben, neben dem zweiten Tunnel der Standseilbahn, kam das schon vor mehreren Jahren geschlossene Restaurant Sibyllenhof in Sicht, dessen Terrassen wie von Riesenkindern vergessene Schul-Schiefertafeln vorragten; die Bahn würde darauf zufahren und erst kurz vor der untersten Terrasse in die Tunneleinfahrt zur Bergstation schwenken. Auf mancher Fahrt hatte Christian von verflossenen Festen in den dunkel und abweisend liegenden Sälen geträumt, von abendlichen, gepflegt konversierenden Herren, die Stärkhemden mit Jettknöpfen trugen und Uhrenketten über Seitentaschen des Fracks; von Blumenverkäufern in Pagenuniform, mit einem nur angedeuteten Fingerschnipp an die Tische gerufen, um Damen, an denen viel Schmuck unter den Urnen der Kristallüster zündelte, eine Rose zu schenken; von Tänzen, zu denen die Kapelle, ein blasser Geiger mit Pomadehaar und einer Chrysantheme im Knopfloch, aufspielte … Über die Dächer der tieferliegenden Häuser, die zur Grundstraße hin stark abfielen, glitt der Schein des Eismonds, ließ die Firste erglänzen und gab den verschneiten Gärten pudrige Aufhellungen, die an den Grenzen, weiß erhöht hier und da von einzeln stehenden, schneebedeckten Holzstapeln oder Schuppen, mit den Schatten verschmolzen, die Sträucher und Bäume warfen.

Christian bemerkte, daß sie sich über Vogelstroms Haus befanden, des Malers und Illustrators grauer Burg, die Meno »das Spinnwebhaus« nannte, eine Vorstellung, die für Christian, wie er nun aus dem Fenster blickte, das Gesicht nahe an der kalten Scheibe, hinter der Tagesnüchternheit aus unnahbar wirkenden Fenstern und hohen Bäumen spielte. In der aufruhenden Masse der Loschwitzhänge jenseits der Grundstraße, die nun, teilweise sichtbar, als blasses Band in der Tiefe schwang, verlor sich das Mondlicht, nadelte aus vor den Wachtürmen Ostroms, blich ab an der Brücke, über die Soldaten dem Kontrollpunkt am Oberen Plan zustrebten. Der Garten des Spinnwebhauses lag finster, geschützt vor Ereignissen und Blicken; kaum, daß Christian die schneeüberstäubten Birnbaum- und Buchenkronen erkennen konnte, deren feines Geäst rauchgespinsthaft über der Tiefe hing; floß in die Konturen, die schmale Kluft zwischen Buchensteig und Dachzinnen, wie Helligkeit in die Schraffur auf alten, unvollendeten Zeichnungen. Er sah den Brunnen vor sich, die fast gänzlich zugewachsene Auffahrt, die vor dem verwitterten, steinernen Brunnenwels einen Bogen beschrieb und über moosige Stufen nach oben führte; der Anfang eines Gedichts war in die Tafel über dem Brunnenwels gemeißelt; verwaschen waren die Buchstaben, halb schon gelöscht. Christian konnte sich auf den Wortlaut nicht besinnen, sosehr er sich auch mühte, dagegen sah er die abgebrochenen Barten des Welses deutlich vor sich, die erblindeten Augen und das dunkle Mooskleid; erinnerte sich an seine abergläubische Furcht vor dem Tier und auch vor dem lang schon verstummten, Gruftkälte atmenden Brunnen, wenn Meno und er Vogelstrom besucht hatten; seine fast schon kindliche Furcht, genährt dann auch von den sonderbaren Gesprächen, die Meno und der hagere Maler im Spinnwebhaus geführt hatten. Dabei waren ihm weniger die Worte und Themen selbst sonderbar erschienen als die Atmosphäre des Hauses; mit kindlichem Un-, allenfalls Halb- oder Dreiviertelverstand hatte er das Wenige, was zu verstehen gewesen war, für richtig und der Erwachsenenwelt angemessen befunden, die sich von ihren Höhen zu ihm, dem Jungen von elf oder zwölf Jahren, herabbeugte. An Worte wie »Merigarto« oder »Magelone« konnte er sich erinnern, Beschwörungen eher als Begriffe, die in der wirklichen Welt etwas zu bedeuten hatten, wie es ihm, in erwachenden Ahnungen, erschienen war; Worte, die ihn eigentümlich berührten und die er nie wieder vergessen hatte, obwohl sie ihm weniger geheimnisvoll erschienen waren als die Gemälde im düsteren vogelstromschen Hausflur: idyllische Landschaften, in hellblauem Licht sich verlierende Gartenszenerien mit flötespielenden Faunen und Quellnymphen, eine niederländerbraune Ahnenreihe, ernst blickende Frauen und Männer darauf mit einer Blume, einer Nessel oder, dies hatte er lange und staunend betrachtet, einer goldenen Schnecke in der Hand. Mit diesen im Flur dahindämmernden Bildern, auf die Vogelstrom und auch Meno nur selten einen Blick warfen, wenn sie daran vorübergingen, schienen die beiden Worte viel eher zu tun zu haben: das für die Insel und der Name eines den Zeitentiefen entstiegenen und wieder darin entschwundenen Mädchens; er hatte sie sich gemerkt und ihren verschollenen Wohlklang immer wieder in murmelnden Selbstgesprächen gekostet. Klang war es auch, was ihm von den Gesprächen haftengeblieben war, eine Art von Flußgeraun aus Vogelstroms Atelier, das im Winter so kalt war, daß Frostblumen nach den Staffeleien und der mit Rautenmustern bedruckten Tapete griffen und die beiden Männer mit rauchendem Atem, Meno mit Vogelstroms Mantel über den Schultern, Vogelstrom selbst in mehreren Pullovern und Hemden, durch den Raum liefen; kaum unterscheidbare Stimmen, wenn sie in der Bibliothek gewesen waren und Christian vom Flur lauschte, eines der Ahnengesichter betrachtend; hin und wieder erklang vorsichtiges Lachen, wurde Tadel oder Lob des jeweiligen Tabaks laut. Manchmal rief Meno und zeigte ihm, der Maler blätterte vorsichtig um, Stahl- oder Kupferstiche in muffig riechenden Folianten, und dann mochte es wohl sein, daß Worte fielen, die als etwas Sonderbares, noch nie Gehörtes im Ohr blieben, Worte wie jene beiden zauberischen Namen. – Das Licht über ihm zitterte wieder auf. Von oben, aus der Dunkelheit unterhalb des Tunnels und des Sibyllenhofs, kroch die Gegenbahn auf sie zu und erreichte zum selben Zeitpunkt wie sie die Schleife, wo die Fahrspur sich teilte und eine Bahn der anderen ausweichen konnte. Man sah den Fahrer als reglosen Schemen in der vorübergleitenden Kapsel sitzen, in der niemand sonst war, und den Gruß des graubärtigen Schaffners mit einem knappen Kopfnicken erwidern, dann sank der Wagen hinab und entschwand dem Blick.

Christian erinnerte sich, im Spinnwebhaus zum ersten Mal etwas von Poe gehört zu haben; Meno und Vogelstrom hatten Illustrationen zu einer Erzählung betrachtet; besonders erinnerte er sich an ein Blatt, auf dem Vogelstroms kunstvolle Radiernadel eine Festung dargestellt hatte, die ins nachtfinstere Land stieg; dann Fürst Prospero mit seiner Gefolgschaft von tausend Damen und Rittern in der Burg mit den zugeschmiedeten Schlössern; wieder war es ihm, als ob er sie, wie damals unter Vogelstroms mager-feingliedriger Hand, wandeln und miteinander plaudern sähe, als ob die Gesellschaft lebendig ihre heiteren Spiele spielte, während draußen die Seuche herrschte und das Land verwüstete; als ob Prospero durch die Säle im Rausch eines großen Festes ginge; Melodien wehten, der Schlag der Ebenholzuhr, die im Saal der Bilder stand, verhallte in den Weiten des Schlosses, und in den sieben Sälen davor tanzten die Menschen, denn Fürst Prospero duldete keine Traurigkeit, und in der Musik, im Gelächter und Gesang war das Gebell der Hunde draußen vor den Toren, waren die Schreie der Unglücklichen nicht mehr zu hören.

Die Bahn wurde langsamer, rollte die letzten Meter aus. Christian, in seine Erinnerungen und Gedanken versunken, hatte kaum bemerkt, wie der Wagen in den oberen Tunnel eingefahren war, der durch die weißgekalkten Wände heller als der untere wirkte, hatte nur einen gewohnheitsmäßigen, aber nicht eigentlich wahrnehmenden Blick auf das freundlich hellgetünchte Kabinenhaus mit dem anmutig geschwungenen Dach geworfen, an das sich der Backsteinbau mit der Leuchtröhrenaufschrift »Standseilbahn«, dem Maschinenraum und dem Vestibül anschloß, wo man warten und Fotografien, frühere Modelle und technische Einzelheiten darstellend, in einer Vitrine betrachten konnte. Leicht nachfedernd kam der Wagen zum Stehen. Schnarrend öffneten sich die Türen. Christian schulterte seine Tasche und ging, immer noch gedankenversunken, über die flachen Stufen der Haltebucht auf das Gattertor des Ausgangs zu. Der Schaffner schlurfte in Richtung Vestibül, griff nach einem am Gemäuer verborgenen Knopf, das Türschloß summte, und Christian trat nach draußen. Er war zu Hause, im Turm.

2.Mutabor

»Schön, daß ich dich gleich abgepaßt habe, ich dachte schon, ich müßte noch mal wiederkommen.«

»Meno! Du holst mich ab?«

»Anne hat Robert und dich nun doch für heute ausquartieren müssen. Du schläfst bei mir.«

»So viele Gäste?« Christian hatte nur gefragt, um durch eine beiläufig klingende Erkundigung seine Freude zu verbergen. Er wußte es ja selbst. Schon die Menge der in den letzten Wochen herangeschafften Backzutaten, die sich in der Speisekammer in der Karavelle stapelten, hatte von der zu erwartenden Zahl an Geburtstagsgästen gesprochen. Die vollen Speisekammerregale hatten ihn davon überzeugt, daß es unklug sein würde, außer zum Üben, das jedoch hauptsächlich bei Tietzes stattgefunden hatte, nach Hause in die Karavelle zu kommen, wollte man nicht die nervöse Anne durch scheinbares Herumstehen reizen und, von ihr so lange mißtrauisch beäugt, bis keine Ausrede mehr half, mit Einkaufszetteln bespickt in den Konsum oder den Holfix gescheucht werden, oder in der Küche vor immer wieder nachwachsenden Abwaschstapeln enden.

»Zum Kaffeetrinken heute nachmittag waren wir bestimmt zu dreißig. Und nachher erst wird es offiziell, da werden schon noch einige Leute kommen.«

Sie liefen die Sibyllenleite entlang.

»Und wo schläft Robert?«

»Bei Tietzes.«

Der Bruder würde also im Haus Abendstern übernachten. Christian zog die Fäustlinge wieder an und dachte an das Tausendaugenhaus, das ihn heute nacht aufnehmen würde, in so ganz anderer Luft und Atmosphäre als daheim in der Karavelle.

»Ich wollte dich gleich abholen, damit du nicht erst nach Hause gehst. Anne hat das Cello schon mit in die Felsenburg genommen.«

Christian nickte und sah seinen Onkel an, der seinen Hut abgenommen und mit ein paar Strichen von Schneeflocken befreit hatte. »Seit wann trägst du den eigentlich?«

»Hat mir Anne aus dem ›Exquisit‹ mitgebracht. Müßte mir stehen, meinte sie. Gutes Modell übrigens.« Meno betrachtete die Aufschrift auf dem Band an der Innenseite. »Jugoslawische Lieferung. Anne sagte, die Leute hätten bis vor in die Thälmannstraße gestanden, bestimmt fünfzig Meter. Für deinen Vater hatten sie keinen.« Er setzte den Hut wieder auf. »Hat alles geklappt mit dem Barometer?«

»Wie vereinbart. Zweihundertfünfzig Mark. Lange hat es sogar noch einmal gereinigt und aufpoliert.«

»Gut. Sag, soll ich die Tasche nehmen?«

»Ach, die ist nicht weiter schwer, danke, Meno. Es ist sonst nur Wäsche drin.«

Sie erreichten die Turmstraße, die Hauptachse des Viertels. Meno schritt bedächtiger aus als Christian, er hatte eine Bruyèrepfeife mit gebogenem Mundstück und kugelförmigem Kopf hervorgezogen und stopfte sie aus einem Lederbeutel. Christian hob witternd die Nase, sog den würzigen, mit Feigen- und Zedernholzarom gemischten Vanilleduft ein. Alois Lange, der ehemalige Schiffsarzt, Menos Nachbar im Tausendaugenhaus, bekam alljährlich vom Stellvertretenden Vorsitzenden der Kopenhagener Nautischen Akademie eine Kiste geschickt, von der er Meno die Hälfte gab – der Schiffsarzt hatte dem Stellvertretenden Vorsitzenden einmal das Leben gerettet, und so ging, zum Verdruß von Libussa, Langes Frau, der Tabak im Tausendaugenhaus nie zur Neige. Ein Streichholz flammte auf und beleuchtete Menos magere, bleiche Züge mit dem bläulichen Bartschatten; der Widerschein spielte in den braunen, von einzelnen grünen Funken durchwärmten Augen, den Augen Annes und ihres zweiten Bruders, Ulrich, den Augen der Rohdes; auch Christian hatte sie geerbt.

»Bist du gut durchgekommen? Die Elf ist heute früh ausgefallen. Eine Stunde hat’s gedauert, bis der Schienenersatzverkehr kam. Das wäre was«, Meno schmauchte die Pfeife an, »– für Horch und Guck gewesen, die Flüche an der Haltestelle. Und die Sechs ist umgeleitet worden.« Die Pfeife brannte noch nicht, er zündete ein neues Streichholz an.

»Hab’ ich gemerkt.«

»Anne wollte dich anrufen, aber die Telefonleitungen scheinen nicht zu funktionieren, oder was weiß ich, was da wieder mal kaputt ist – sie ist überhaupt nicht durchgekommen.« Die Pfeife brannte, Meno gab Rauch zu Rauch.

»Gestern hat es oben wie verrückt geschneit, in Zinnwald und Altenberg liegt über ein Meter Schnee, ich hatte schon Angst, daß der Bus nicht fährt. Bei Karsdorf mußten wir aussteigen und dem Fahrer schippen helfen. Die Faschinen auf den Feldern waren umgekippt, den ganzen Neuschnee hat’s auf die Straße geweht.«

Meno nickte und warf seinem Neffen, der schon fast so groß war wie er und etwas vor ihm durch den Pulverschnee stapfte, einen nachdenklichen Blick zu. »Wie geht’s in der Schule? Kommst du klar?«

»Bis jetzt ganz gut. Ich werde ein bißchen angestaunt, weil ich aus Dresden komme. Staatsbürgerkunde ist wie üblich.«

»Und der Lehrer? Gefährlich?«

»Schwer zu sagen. Er ist gleichzeitig unser Direktor. Wenn man brav nachbetet, was er vorbetet, hat man seine Ruhe. Der Russischlehrer ist ziemlich undurchsichtig. So ein Leiser, scharf Beobachtender, Hundertfünfzigprozentiger. Hat was Katzenhaftes, schleicht durch die Flure und kontrolliert uns im Internat. Heute ist er mit weißen Handschuhen gekommen, hat in die Ecken gegriffen, ob es dort auch wirklich sauber ist. Im Nachbarzimmer haben sie bestimmt alle ihren Bus verpaßt, er hat einen Griebs unterm Spind entdeckt, sie durften noch mal saubermachen.«

»Provoziert er?«

»Allerdings.«

»Sei vorsichtig. Das sind die schlimmsten. Ich kenne den Typ. Man hat immer das Gefühl, daß sie einen durchschauen, man hält den Blick nicht aus, wird nervös, macht Fehler. Und das ist der Fehler.«

»Das stimmt, das mit dem Durchschauen. Er hat so einen stechenden Blick, ich glaube immer, wenn er mich ansieht, daß er meine Gedanken lesen kann.«

»Kann er aber nicht. Laß dich nicht nervös machen von solchen Tricks.«

»›Ein weiser Mann geht mit gesenktem Kopf, fast unsichtbar, wie Staub.‹«

Meno sah Christian überrascht an.

»Hab’s mir gut gemerkt, Meno.«

Der Schnee, durchzogen von Schlittenspuren, half dem spärlichen Laternenlicht; in dicken Hauben bedeckte er Gartenmauern und die Dächer der wenigen Autos am Rand der Bürgersteige. Zur Linken tauchten die Häuser der Holländischen Leite auf, fast alle gehörten zum Institut des Barons, wie er wegen seines Erbtitels im Viertel allgemein genannt wurde, Baron Ludwig von Arbogast, von dessen riesigem Anwesen am Unteren Plan, in den die Holländische Leite mündete, und Institut halb mit Bewunderung, halb mit Mißtrauen gesprochen wurde. Der Baron war der Pate der Schule, in die Christian bis zum Sommer gegangen war, und immer, wenn er den Baron gesehen hatte, war ihm ein Gespräch zwischen Meno und dem Vater eingefallen: Wie Arbogasts gepflegt-elegante Erscheinung – er trug maßgeschneiderte Anzüge, dazu ein Stöckchen mit silberner Krücke – mit jenem zwar wettergrau gewordenen, aber noch immer gut lesbaren Schriftzug über dem Hauptgebäude des Instituts: FÜR SOZIALISMUS UND FRIEDEN in Übereinstimmung zu bringen war; der Titel »Baron«, das auch auf den Tafeln und Wegweisern im Institutsgarten deutlich angegebene Adelsprädikat mit der Arbeiter- und Bauernmacht: Gern hätte Christian einmal seinem Staatsbürgerkundelehrer diese Frage gestellt.

In den Institutsgebäuden an der Turmstraße brannte noch Licht. Überschirmt von einem Eßkastanienbaum, der seine Zweige bis weit über den Fußweg auslud, stand die kleine Arbogastsche Sternwarte, die schon lange nicht mehr in öffentlichem Gebrauch war, obwohl eine davor aufgestellte Tafel »Volkssternwarte« versprach. Stab und Ziffernblatt einer Sonnenuhr rosteten im Efeubewuchs des zerfressenen Verputzes. Meno traute man am ehesten zu, schon einmal hinter die Tür an der Rückseite des Observatoriums geblickt zu haben; Christian hatte ihn oft beobachtet, wenn Gespräche über Astronomie und Sterndeutung aufgekommen waren. Dann hatte der Onkel eine Haltung zwischen hintergründiger Amüsiertheit und getarntem Interesse eingenommen und die von den Gästen mitgebrachten Zeitungsausschnitte und Broschüren gemustert, still in eine Ecke gelehnt, die Kugelpfeife im Mund, seinem Bruder Ulrich zuhörend, der angeregt von der Sternenwissenschaft im alten Orient erzählte.

»Ich habe vorhin in deinem Buch gelesen.«

Rauch stieg in dichten Bäuschen aus dem Pfeifenkopf. »Sonderbare alte Sachen«, murmelte Meno an der Kreuzung zwischen Turmstraße und Wolfsleite. »Kaum noch jemand kennt sie. Die Zensoren wahrscheinlich und der Alte vom Berge. Das Buch hat mir einen gewichtigen Brief von ihm eingetragen, von Ostrom nach Westrom gewissermaßen. Hat drei Tage gedauert, bis er ankam, und dabei hätte der Alte nur über die Brücke zu gehen brauchen. Aber er soll krank sein, sagt man. – Sonst bin ich ziemlich schräg angesehen worden dafür.«

»Das Buch gibt keine Antwort auf die Frage, wie der Stahl gehärtet wurde.«

»Eisenhüttenstadt kommt darin nicht vor.« Meno beschrieb einen Schlenker mit der Pfeife. »Auch vertritt Parzival keinen eindeutig proletarisch-revolutionären Standpunkt, und überhaupt läßt das Klassenbewußtsein der Ritter zu wünschen übrig.«

»Und die Merseburger Zaubersprüche sind viel zu formalistisch?«

»Ganz so schlimm steht’s nicht mehr.«

»Das Hildebrandslied, den Anfang?« Christian sah seinen Onkel bittend an. Meno sog noch einmal an der Pfeife und begann zu rezitieren. Fasziniert wie noch jedesmal lauschte Christian der angenehm timbrierten Stimme, der Theater-Sprechweise; eigentümlich berührt von der uralten Sprache und Wortmagie dieses Liedes, besonders von dem »Ik gihorta dat seggen / dat sih urhettun / aenon muotin« des Beginns und von dem »sunufatarungo« des vierten Verses. Meno sprach über den Anfang hinaus weiter, war schon beim dreizehnten Vers, dem »kund ist mir die Gotteswelt«; im langsamen Fortgehen, mit Kopfnicken die Versmelodie skandierend, sprach er von des Otaker Grimm, von Dietrich und vom Kaiser-Goldwerk, das der König gab, der Hunnenvogt, von des Hadubrands Rede gegen den Vater und vom »ostarliuto«, dem »Fahrer von Osten«, und wie Vater und Sohn kämpften, »bis die Lindenbohlen lützel wurden / zerwirkt von den Waffen …« Leichter Wind war aufgekommen, die Bäume zu beiden Straßenseiten regten sich; Schnee stäubte von den Ästen. An der Wolfsleite, die sie nun erreichten, lag das breit und massig gebaute Haus Wolfsstein wie ein Schiff unter vollen Lichtern; im Fagott, wie der achteckige Anbau genannt wurde, blakte die »Geschichten-Lampe«: Sie sind also beim Erzählen, dachte Christian, und sah seinen Onkel Hans Hoffmann, den Toxikologen, vor sich, wie er Fabian und Muriel den Blauen Eisenhut und den Bittersüßen Nachtschatten erklärte, die er im Fagott selbst zog; dachte an Malivor Marroquin, den weißhaarigen Chilenen, der den Kostümverleih El Sueño und daneben ein Fotoatelier betrieb – als Christian vierzehn Jahre alt geworden war, hatte er sich für den Personalausweis von Marroquin fotografieren lassen müssen; an den Wänden der Stiege, die hinauf zur schweren Ernemann-Plattenkamera führte, standen Zitate aus Leninschriften, stumm durchmustert von der Warteschlange frisch frisierter Mädchen und Jungen; oben schrie der Chilene »Bitte kuk-kähn auf die kleine Stie-klitz, bitte kuk-kähn jäzz!«, worauf man seine Augen auf ein rotes, mit einer Wäscheklammer am Rand eines Lichtschirms befestigtes Vögelchen zu richten hatte.

»Morgen ist Soirée«, sagte Meno und wies auf das zart und leichtgebaut erscheinende Haus Delphinenort gegenüber vom Wolfsstein, den Oberlippenschwung des Dachs und die große Volute über einer Mauerkehlung; und »Soirée« bedeutete (früher hatte sich Christian darunter ein gehobenes Wort für Sauerei vorgestellt), daß Frau von Stern eingeladen hatte in Sütterlinschrift auf Kärtchen aus Königsteiner Bütten, eingeladen zu Erinnerungen an das Winterpalais und das Dresdner Schloß, denn sie war Hofdame gewesen.

Ebenfalls an der Wolfsleite lag das Italienische Haus, in dem Christians zweiter Rohde-Onkel, Ulrich, und seine Familie lebten. Ulrich war Direktor in einem Volkseigenen Betrieb, seine Frau Barbara arbeitete als Kürschnerin und Damenschneiderin in der »Harmonie« an der Rißleite. Manchmal hatte Christian die Rohdes unter einem mehr oder minder stichhaltigen Vorwand besucht, um den Treppenflur und die Jugendstildetails ihrer Wohnung ausführlich betrachten zu können. Keine Seite des Hauses glich der anderen. Der Flur ragte bugartig nach vorn, in vier Fenster ausgewölbt, wobei eines für sich oben und drei etwas weiter unten, wie bei einem Rundgang, ins Mauerwerk gelassen waren. Das einzelne Fenster oben, über dem das Dach einen langgestreckten Bogen beschrieb, glich einem überdimensionalen Schlüsselloch. Christian stellte die Tasche ab und ging durch das Tor mit den Gondelschnabel-Flügeln ins Haus, um das Licht anzuschalten. Das Tür-Vorhäuschen, ein ins Mauerwerk gelassener, morgenländisch anmutender Pavillon, war nun von den Flurfenstern erhellt, in die, wie beim Haus Delphinenort, Blumen- und Pflanzenornamente eingearbeitet waren. Nachtviolen rankten sich durch die Etagen bis zum Schlüsselloch-Fenster, unterbrochen von einem Mittelstein zwischen den Stockwerken, den zwei gegenläufige Sandstein-Schneckenwendel verzierten. Und links, auf der vom vorragenden Treppenhausbug in Richtung Turmstraße gelegenen Seite, hockte ein schadhafter Altan auf dem Sockel; er gehörte zur Rohdeschen Wohnung, der Putz ließ an vielen Stellen das von der Zeit und vom Regen zerfressene Ziegelwerk sehen.

»Wollen wir klingeln? − Nicht«, murmelte Meno. »Komm.« Sie gingen weiter, Meno mit gesenktem Kopf, die Hände in die Taschen seines Mantels geschoben, den Hut tief ins Gesicht gezogen.

Auf der Mondleite streckten Ulmen ihr Totengeäst in den Himmel. Es begann zu schneien. Die Flocken stoben und wehten über den Weg, der kaum genügend Platz für die Ladas, Trabants und Wartburgs ließ, die sich an den äußersten Straßenrand drängten, hier und dort die verwitterten, lückenhaften, von Hagebutten- und Brombeergerank überwucherten Zäune schiefschoben. Die Lichtröcke der noch funktionierenden Laternen begannen zu tanzen, Christian mußte an die Eindrücke so manches Abendspaziergangs denken, wenn ihm Kutschen vor den schweigenden, in Vergangenheit zurückgezogenen Häusern erschienen waren, sich aus der nächtlichen Unschärfe der Mond- und Wolfsleite gelöst hatten, an Winterabenden wie diesem unhörbar im Schnee davongerollt oder angekommen waren: Damen mit Hermelinmuffs stiegen aus, nachdem ein Diener beflissen den Schlag geöffnet hatte, die Pferde schnaubten und tänzelten im Geschirr, witterten Hafer und Zucker, den heimatlichen Stall, und dann öffnete sich das Tor mit den beiden sandsteinernen Kugeln auf den Pfeilern und der bizarren Schraubenblüte auf dem Bogen, Rufe ertönten, eine Kammerzofe lief eilends die Treppe hinab, um das Gepäck entgegenzunehmen … Christian schrak zusammen, als er ein Käuzchen klagen hörte. Meno wies auf die Eichen neben dem Tausendaugenhaus, das nun in Sicht gekommen war, halb verborgen hinter dem Tor und der mächtigen Blutbuche. Es lag am Rand eines Straßensacks, in den die Mondleite mündete, er bildete dort, wo die Eichen standen, zugleich ein Knie zwischen Mondleite und Planetenweg. Meno nahm den Schlüssel; aber noch erschien Christian das Haus fern, unzugänglich, in das Buchengeäst wie in eine große Nachtkoralle gewebt. Das »Kiwitt« des Käuzchens drang nun vom Park herüber, der neben der Mondleite steil abfiel und an den Garten des Tausendaugenhauses mit einem Saum von Tränenkiefern grenzte, die ihren harzigen Duft in den metallischen der Schneeluft mischten. »Hier sind wir.«

Und Christian dachte: Ja. Hier sind wir. Hier bist du zu Haus. Und wenn ich hineingehe, die Türschwelle überschreite, werde ich verwandelt werden. Gegenüber, bei Teerwagens, schien man zu feiern, Gelächter schepperte aus der Wohnung des Physikers im massigen, dennoch elegant angelegten und an der Straßenfront, an der Ecke mit den austernhaften Balkonen, wogig gerundeten Bau des »Elefanten«, wie Christian und Meno das Haus nannten, auf dessen Jugendstilzaun verrostete Blüten saßen wie großflügelige, schwermütige Nachtmotten. Inzwischen hatte Meno die Pfeife ausgekratzt, einige Mintkissen gekaut und war über den mit geborstenen Sandsteinplatten bedeckten, von Weinrosenhecken gesäumten Weg vorgegangen. Mit seinem verschnörkelten, von Reparatur-Messing gefleckten Schlüssel öffnete er die Tür. Christian sah diesen Schlüssel oft vor sich, wenn er in Waldbrunn in seinem Internatszimmer im Bett lag und dachte: Tausendaugenhaus. Während er die Reisetasche auf der Schulter zurechtrückte, wärmte er sich an diesem »Hier« Menos, das für das ganze Viertel galt, die in der Dunkelheit und dem Schnee schlafenden Villen ringsum, die Gärten und das in den Lufttiefen des Parks noch immer rufende Käuzchen, die Blutbuche, die Namen. Meno schaltete das Flurlicht ein; das Haus schien Augen aufzuschlagen. Christian berührte den Sandstein des Torbogens, berührte auch, ein spitzfindiger, nicht mehr in den Grund zurückzuverfolgender Aberglaube, die schmiedeeiserne Blume auf dem Tor – ein seltsam gestalteter Schmuck, hier oben häufig anzutreffen: aufgebogene und schneckenartig gerollte Blütenblätter um eine Rispenzunge, die wiederum kunstfertig von einem mehrfach geschlungenen Wendel umgeben war; ein Gewächs, das Christian wegen der aus Schönheit und Gefährlichkeit gemischten Aura schon als kleinen Jungen fasziniert hatte; manchmal waren halbe Stunden in der Betrachtung der Bienenlilie vergangen. Die Bezeichnung stammte von Meno. Christian folgte seinem Onkel ins Haus hinein.

3.Das Tausendaugenhaus

Die oben abgerundete, mit schmiedeeisernen Angeln versehene Tür fiel ins Schloß. Meno legte nicht ab. In einer Vase auf der Konsole des Flurspiegels stand ein Rosenstrauß; Meno schlug ihn vorsichtig in bereitliegendes Papier ein. »Aus dem Wintergarten, von Libussa«, sagte er stolz. »Versuch mal, in dieser Jahreszeit in Dresden so etwas zu bekommen. Wollen sehen, was die anderen zu bieten haben. Bei Centraflor gibt’s nämlich nur Trauerkränze, Weihnachtssterne und Alpenveilchen.« Meno nahm ein flaches Paket, das neben der Vase lag.

»Anne hat dir ein paar Sachen hergebracht, oben in der Kajüte. Wie machen wir’s mit dem Barometer? Hab’ Anne versprochen, etwas eher da zu sein.«

»Hast du Geschenkpapier?«

»In der Küche.«

»Also bring’ ich eingepacktes Wetter mit.«

»Bon mot, mein Lieber. Bevor du gehst, schaust du bitte noch mal nach dem Ofen? Handtücher sind oben. Du kannst duschen, wenn du willst, der Badeofen ist geheizt.«

»Hab’ ich schon, im Internat.«

»Ich laß dir den Schlüssel da. Hab’ für alle Fälle auch Libussa Bescheid gesagt, falls was sein sollte.« Meno verschwand in der Stube. Bald darauf hörte Christian, der inzwischen Schuhe und Parka ausgezogen hatte, die Ofentür klappern und Briketts poltern. Die Kohlenzange klirrte auf das Ofenblech, Meno kam zurück, Wasser rauschte in der Küche. »Und laß dich nicht von Baba anbetteln, hat genug bekommen, das dicke Tier. Laß ihn in den Flur, die Wärme ist futsch, wenn die Stube offenbleibt, und so eine Ferkelei wie vorgestern möchte ich nicht noch mal erleben.«

»Was hat er gemacht?«

»Sich skrupellos hinter die Zehnminutenuhr gehockt! Und ich bin keine Stunde weggewesen.«

Christian lachte. Meno, der im Spiegel sein Aussehen prüfte und an der Krawatte rückte, knurrte: »So ein Faultier! Mir war nicht zum Lachen zumute, das kann ich dir sagen. Und gestunken hat das … Na ja. Denk also bitte daran.«

»Wie geht’s in der Edition?«

»Später«, sagte Meno an der Tür, das flache Paket und die Blumen, die er in einem Beutel verstaut hatte, in der Hand, und tippte an den Hut.

Christian nahm ein Paar Filzpantoffeln aus dem Schuhschränkchen neben der Tür, zuckte zusammen und wandte sich hastig um. Er hatte ein Knacken gehört, vielleicht war es aus der Küche gekommen, vielleicht von oben, vom Flur, in dem die Kajüte lag, wie die Kammer, in der Christian übernachten würde, von Meno und dem Schiffsarzt genannt wurde. Vielleicht auch arbeitete das Parkett unter dem ausgetretenen Flurläufer. Christian verharrte, aber es war nichts mehr zu hören. Sein Blick wanderte langsam über die vertrauten und ihn doch immer wieder verwundernden Dinge: die gründunkle, etwas verschossene Stofftapete des Flurs mit den Pflanzen- und Salamandermotiven, den ovalen Spiegel, dessen Versilberung an einigen Stellen blind geworden war und eine bleiige Tönung angenommen hatte, den aus rohem Kiefernholz gefügten Kleiderschrank neben der Treppe, in dem er sich als Kind manchmal zwischen Kartons mit Ersatzglühbirnen und Arbeitskleidung vor Robert und Ezzo versteckt hatte, wenn sie »Räuber und Gendarm« gespielt hatten; über den Flurleuchter mit dem grünen Tukan aus Ton daran, der reglos an einem Bindfaden hing und mit seinen traurig wirkenden, aufgemalten Knopfaugen nach Peru sehen mochte. Von dort hatten ihn vor einigen Jahren Alice und Sandor mitgebracht, »Tante« Alice und »Onkel« Sandor, wie Christian und Robert sagten, obwohl die Bezeichnung nicht ganz zutraf: Sandor war der Cousin ihres Vaters, Richard Hoffmanns. Christian fiel ein, daß er die beiden nachher wiedersehen würde, sie waren zu Besuch gekommen aus Südamerika, wo sie lebten, in Quito, der Hauptstadt des Andenstaates Ecuador; er freute sich darauf; er mochte die beiden. Leise, wie um etwas nicht zu stören, was er nicht anders als den »Geist des Hauses« zu benennen wußte, jenen Dschinn mit tausend Augen, von denen niemals alle schliefen, setzte Christian die Pantoffeln vor sich auf den Boden, schlüpfte hinein und ging in die Stube.

Soweit er mit wenigen Blicken erkennen konnte, hatte sich seit seinem letzten Besuch nichts verändert. Selbst der dicke, zimtfarbene Kater Chakamankabudibaba empfing ihn wie an dem Abend vor zwei Wochen: blinzelnd mit einem Auge, dann gähnend und sich unter Krallenzeigen reckend, als hätte ihn das plötzlich aufspringende Licht aus Mörderträumen gestört. Der Kater beschnüffelte Christians Hand, fand nichts Freßbares darin und wälzte sich träge auf die Seite, um sich kraulen zu lassen. Christian murmelte den vollen Namen des Tiers, wozu es keckernde Laute von sich gab. Der Name, den Meno einem der Hauffschen Märchen entnommen hatte, war nicht dazu angetan, den Kater in Abend- oder Morgenstunden lange und ausdauernd rufen zu können. Aber da der würdevolle Chakamankabudibaba ohnehin tat, was ihm beliebte, brauchte es auch keinen Namen, der kurz und prägnant war und sich in vielen Wiederholungen ohne Anstrengung rufen ließ: es war zwecklos – hatte Chakamankabudibaba Hunger oder wollte, wie jetzt im Winter, in der Wärme schlafen, so kam er, hatte er keinen Hunger, kam er nicht. Als Christian ihn auf den Rücken drehte, um seinen breiten Bauch zu kraulen, grunzte der Kater erschüttert, schnatterte unwillig, war aber viel zu schlaff, um etwas zu unternehmen. Die vier Pfoten blieben wie bei einer gebackenen Weihnachtsgans in der Luft stehen, der Kater reckte gnädig den Hals, schon wurden die Augen trübe, und er wäre wohl in dieser pharaonischen Haltung eingeschlafen, hätte Christian ihm nicht einen kleinen Stups versetzt, so daß er in die vorherige Stellung zurücksank.

Vor der Spitzbogentür war der gelbe Vorhang zugezogen. Sie führte zu einem Balkon, der sommers über dem ausgedehnten Garten des Tausendaugenhauses zu träumen schien wie eine Frucht an einer hohen, mütterlich über das Blühen ringsum geneigten Pflanze; dann waren Türen und Fenster des Raums bis in die Nacht geöffnet, um Licht und Gartenströmungen einzulassen. Christian sah nach der Uhr: sechzehn Uhr sechsundvierzig, bald würde sie schlagen, fünf klangvolle Gongtöne würden durch Zimmer und Haus schweben. Die seltsame Konstruktion der Uhr hatte Christian schon als Kind gebannt, oft hatte er davorgestanden und sich von Meno den Mechanismus des Perpendikels und des Gangwerks erklären lassen: Alle zehn Minuten schlug die Uhr, war es zehn Minuten nach, dann einmal, zweimal bei zwanzig, dreimal bei dreißig und so fort; sechsmal für die volle Stunde, die nach einer Pause ihren Wert geschlagen bekam; war es Mitternacht oder zwölf Uhr, ertönten achtzehn Gongschläge. Was Christian aber am meisten beeindruckte, war die zweite Uhrenscheibe unter dem Ziffernblatt, ein fleckig nachgedunkelter Messingkreis, an dessen Rand der Zodiakus eingraviert war; ein breiter Rahmenzeiger, im Zentrum das Sonnenzeichen, wies die Sternenzeit. In die Kreisfläche waren Sternbilder eingepunzt, die Hauptsterne hatte der Graveur etwas größer als die übrigen markiert und durch Nadelrißlinien miteinander verbunden. Schlangenträger, Haar der Berenike, Nördliche Krone, Walfisch – Christian erinnerte sich an die Bezauberung, die diese Worte und dann die lateinischen Übersetzungen in ihm bewirkt hatten, wenn Meno sie halblaut und beinahe wehmütig gesprochen hatte vor der Uhr, dabei auf die Gravuren weisend – das erste Mal an einem Abend vor etwa zehn Jahren, als sie ihm, dem siebenjährigen Christian, wie eine unbestimmbare, aber angenehm wirkende Substanz ins Ohr geträufelt waren und ihm die Ahnung vermittelt hatten, daß es in der Erwachsenenwelt, die ja auch die Welt des unbegreiflichen und in so anderen Regionen lebenden Riesen neben ihm gewesen war, zu dem seine Mutter Bruderherz oder Mo sagte, – daß es in dieser Welt sehr interessante und besondere Dinge gab; Geheimnisse; und dort, in seinem Kindessinn, mußte etwas geschehen sein oder im Verborgenen gewachsen und nun auf einmal aufgebrochen: Christian hatte die Worte, ihren fremden, eigentümlichen Klang, nicht wieder vergessen. Ophiuchus. Coma Berenices. Corona Borealis. Cetus. Er sprach die Worte leise nach. Die Uhr schlug sechzehn Uhr fünfzig. Ich bin in ein paar Minuten vorn, dachte Christian, es ist noch genügend Zeit, die Feier beginnt ja erst um sechs, keine Hektik. – Aber daß es Lateinisch war, was Meno ihm da sagte, erfuhr er erst viel später, von Ulrich, glaubte er, oder von Niklas, an jenem Abend, an dem sie über Sagen sprachen, bei Tietzes.

Er ging zum Tisch neben dem vollgestopften Bücherregal, das sein Vater aus rohen Kiefernbrettern gezimmert hatte, musterte die stapelweise übereinanderliegenden Bücher und Zeitschriften. Selbst hier hatte es im Vergleich zu seinem letzten Besuch kaum Veränderungen gegeben: noch immer lag die mit einem Schutzumschlag aus Zeitungspapier versehene Nummer der »Nature« neben einigen Biologie-Fachzeitschriften, alle schon mit einer leichten Staubschicht bedeckt, und einigen Exemplaren der »Weimarer Beiträge«, die ziemlich zerlesen waren. Daneben die heutige Ausgabe der »Union« ordentlich zusammengefaltet, das maserige Papier roch nach Druckerschwärze. Neugierig berührte Christian ein in Leder gebundenes Buch, schlug es auf und las den Titel: »Die Weltalter«, F. W. J. Schelling; auf dem Buch daneben, das denselben Verfassernamen trug und ebenfalls in Leder gebunden war, »Bruno oder Über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge«. Christian nahm es zur Hand, es war ein Band im Quartformat, Staub wolkte vom marmorierten Buchblock, als er darüberblies. Der Rand war noch nicht sauber; Christian zog sein Taschentuch, versuchte die beiden Buchdeckel zu halten, aber die Blätter fächerten plötzlich auf, einige Papiere fielen heraus, beim Bücken rutschte ihm das Buch zu Boden. Chakamankabudibaba war wie elektrisiert emporgefahren und sah ihn mit grünen Augen an. Christian sammelte die verstreuten Blätter hastig auf, steckte sie in das Buch zurück. Da jetzt alles falsch liegen mochte, legte er den Band wieder auf den Tisch und versuchte sein Mißgeschick in Ordnung zu bringen, indem er das geschlossene Buch aufs Geratewohl öffnete: Oft schlugen sich so die vielbenutzten Seiten auf. Diesmal schien es nicht so zu sein: jungfräuliches Papier, neben den tiefschwarzen Zeilen keine Anstreichungen oder Randkommentare, mit denen Meno gewöhnlich arbeitete. Dennoch legte Christian eins der Papiere ein, wiederholte die Prozedur, wobei er mehrmals gerade die Seiten aufschlug, zwischen die er das erste Papier gesteckt hatte; aber schließlich waren alle Zettel untergebracht. Beklommen ordnete er die Bücher in ihre ursprüngliche Lage.

Der Kater hatte die Augen wieder geschlossen und den Kopf auf die Pfoten gelegt, nur die Schwanzspitze krümmte sich langsam hin und her, als gäbe es in dem sichtbaren, zimtfarbenen Chakamankabudibaba noch einen zweiten, der nicht schlief und den ängstlich lauschenden jungen Mann dort beim Tisch angespannt und aufmerksam beobachtete. Die zapfenförmige Lampe mit ihrem Stern aus sechs Glühbirnen schob eine Glocke diffuser Helligkeit über den Kater in seinem Sessel, den Schreibtisch. Die Bücher in den bis unter die Decke reichenden Schäften, die Pflanzen in der Ofenecke schienen Christian anzublicken, entfernt und dämmerig, als hätte sie ein Ruf so spät noch aus einem Anderreich heraufbeschworen, und als hätte der Rufer vergessen, das Wort zu sprechen, das ihnen die Rückkehr erlaubte. Auch die Uhr schien ihn anzusehen mit ihren beiden Zeitkreisen. Außer dem gleichmäßigen Ticktack, dem Rütteln der Fensterläden, wenn der Wind daruntergriff, und dem Ziehen des Ofens war nichts zu hören. Christian ging in die Küche und nahm aus dem Kohlenkasten unter dem Herd ein Paar Arbeitshandschuhe, prüfte dann, ob die Riegel der Feuer- und der Ascheklappe fest verschlossen waren, zog die Riegelschrauben etwas nach. Sogar durch den derben Handschuhstoff hindurch war die Hitze des Metalls zu spüren; die Kacheln in Höhe des Feuerlochs konnte er mit bloßen Händen nicht anfassen, ohne zurückzuzucken. Dennoch war es in der Stube nur mäßig warm – das Tausendaugenhaus war alt, die Fenster waren schlecht verfugt, das Holz hatte Risse; durch die Nachbarschaft des Korridors ging Wärme verloren.

Den Schreibtisch hatte sein Vater geschreinert, als Hochzeitsgeschenk für Meno, mit aller Akribie und Freude am Detail, die er für handwerkliche Dinge aufbrachte. Noch immer schien Waldgeruch im Holz zu sein, obwohl der Tisch schon über sieben Jahre unter dem großen Stubenfenster stand und Pfeifenknaster-Arom angenommen hatte. Richard hatte den Schreibtisch über Eck gebaut; die Platte maß mehr als drei Meter in der Länge. Es war ihm gelungen, das Möbelstück genau den beengten Verhältnissen der Stube und dem Platz beim Fenster anzupassen – rechts davon führte die Spitzbogentür hinaus auf den Balkon, links stand ein massiver Lärchenholzschrank, der Meno von den früheren Mietern überlassen worden, weil schlicht unverrückbar war: er paßte nicht durch die Tür und hatte einst mit einem Kran durch das Fenster eingelassen werden müssen. Meno hatte sich zwei Arbeitsplätze auf dem Tisch eingerichtet: einen für Präparate, Sezierbesteck, Fachzeitschriften und Mikroskop; den anderen für Schreibmaschine und Manuskriptmappen. Christian schaltete die Lampe an, berührte aber nichts und achtete darauf, nicht zu nahe an den Tisch, Menos Heiligtum, heranzukommen. Er betrachtete die Fotos: die drei Geschwister Rohde in der Stube des Elternhauses in Bad Schandau; Meno beim Präparieren im Zoologischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig; als Junge von elf oder zwölf Jahren, schon damals trug er das schwarze Haar gescheitelt, mit seinem Vater Kurt Rohde, dem Völkerkundler, in der Umgebung von Rathen beim Botanisieren; ein Foto auch von Hanna, Menos geschiedener Frau. Daneben Briefstapel, Zeitungsausschnitte, Manuskriptpapiere, bedeckt mit Menos feiner und fließender, gleichwohl nur schwer leserlicher Schrift – er schrieb viele Buchstaben noch in deutscher Kurrent, die schon lange nicht mehr gelehrt und allgemein verwendet wurde. Christian sah einige Bücher der Dresdner Edition, in der Meno arbeitete. Sie gehörte als Lektorat VII zum Berliner Hermes-Verlag und veröffentlichte Bücher, die ihresgleichen im Angebot der Buchhandlungen, die Christian kannte, nicht hatten: leinengebundene, auf bestes Papier handgedruckte Luxusausgaben von Werken wie der »Göttlichen Komödie«, »Faust« und anderer Klassiker, meist mit Grafiken versehen. Der größte Teil war für den Export ins »nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet« bestimmt. Die wenigen verbleibenden Exemplare gingen meist an Bekannte und Freunde des Verlagsdirektors oder an Bibliophile in hohen Parteikreisen; noch nie hatte Christian diese Bücher frei verkäuflich in einer Dresdener Buchhandlung gesehen. Aber auch wenn dieser exotische Fall eingetreten wäre, so hätte es doch seine Mittel bei weitem überstiegen – die »Göttliche Komödie«, die Meno besaß, kostete das durchschnittliche Monatsgehalt eines Arztes.

Eine ganze Weile stand Christian am Schreibtisch und betrachtete die Dinge, die darauf lagen und sich für ihn unwillkürlich mit dem Tausendaugenhaus und Meno verbanden, wenn er aus der Ferne, während einer der langen Busfahrten von und nach Waldbrunn, oder in der Schule, an ihn dachte.

Er schaltete die Lampe wieder aus, stand noch ein paar Minuten lauschend im Halbdämmer und nahm dann Chakamankabudibaba, der wieder eingeschlafen war, mit in die Küche, legte ihn auf die Küchenbank – was dem Kater Verdruß bereitete, denn hier war es nicht so gemütlich wie nebenan in der Stube. Chakamankabudibaba machte einen Buckel und maunzte, sprang von der Bank herunter zu den Freßnäpfen. Die Milch im Schälchen neben dem Futternapf war vergoren, ein Fleischstück schwamm darin. Christian schüttete alles in die Toilette, wusch das Schälchen aus, füllte es neu auf. Dann holte er das Barometer und wickelte es in das Geschenkpapier ein.

Als er nach oben ging, die Tasche geschultert, waren plötzlich Stimmen zu hören. Vielleicht hatte Libussa, Langes aus Prag stammende Frau, Besuch; aber dann erkannte er die Stimmen Annemarie Brodhagens und Professor Dathes, des berühmten Ostberliner Zoodirektors – Libussa hatte den Fernseher eingeschaltet und sah »Zoobummel international«. Für einen Augenblick überkam Christian ein Gefühl von Neid, denn beim Gedanken an die Fernsehsendung mit dem klar akzentuierenden, populären Professor war ihm eingefallen, daß heute abend ja die letzte Folge von »Oh, diese Mieter« lief, der dänischen Serie, in der viele Schauspieler der »Olsenbande« auftraten, die er liebte und mit der er aufgewachsen war. Er runzelte die Stirn, als er die Treppenlampe anschaltete – eine Bronzeblume mit Glühbirne darin, die Blütenblätter waren verbogen.

Er mochte große Feiern nicht, wie die heute abend, zum fünfzigsten Geburtstag seines Vaters, aller Voraussicht nach eine sein würde, und war lieber allein als in großer Gesellschaft. Er war keineswegs menschenscheu. Die Abneigung gegen Gesellschaft hing mit seinem Äußeren zusammen. Wenn es etwas gab, wofür Christian sich schämte, so war es sein Gesicht, gerade das, wohin Menschen eben immer sahen, wenn sie einen ansahen. Sein eigentlich anziehendes und ausdrucksvolles Gesicht war von Pubertätspickeln übersät, und er empfand gräßliche Scham bei dem Gedanken an all die Augenpaare, die ihn forschend, vielleicht auch spöttisch oder angeekelt anstarren würden. Gerade vor diesem Ausdruck des Ekels fürchtete er sich, das kannte er zur Genüge. Jemand drehte sich um, sah ihn an, konnte seine Bestürzung oder sogar Abscheu nicht verbergen und zeigte die Empfindung für den Bruchteil einer Sekunde ganz nackt. Dann bekam er sich in die Gewalt, bedachte, daß es Christian wohl verletzen müsse, wenn er ihn so erschrocken angaffte, und griff sich schnell ein anderes, ein möglichst unbeteiligt wirkendes Gesicht aus dem Vorrat an Gesichtern heraus, den die meisten Menschen benutzten, wenn sie anderen Menschen begegneten, die sie nicht näher kannten. Aber gerade dieses unbeteiligt wirkende Gesicht war es, was Christian um so mehr verletzte, denn es war für ihn erst das Eingeständnis, seine, Christians, Entstellung bemerkt zu haben und sie nun durch Nichtbeachtung zu übergehen. Christian empfand das meist so stark, daß er innerlich vor Abscheu über sein unreines Gesicht brannte. Er versuchte sich beim langsamen Hinaufsteigen abzulenken, aber nun erfaßte ihn desto stärkere Unruhe, je näher er der Kajüte kam, wo sein dunkler Anzug und gewiß sein gutes englisches Hemd liegen würden. Alle die mehr oder minder unbeteiligten Fragen nach dem Gang der schulischen Angelegenheiten, seinem Berufswunsch, die unweigerlich folgenden, wohlmeinenden Ratschläge, vor allem aber der Auftritt, das Cellospiel: Obwohl er seinen Part gut beherrschte, überfiel ihn doch, beim bloßen Gedanken daran, im Rampenlicht zu stehen, wiederum Unruhe. Das Licht, das die Lampe gab, streute fahl über die ausgetretenen Stufen hinab und erreichte kaum die untersten. Die unangenehmen Fragen und die Aufmerksamkeit waren das eine, überlegte er, während er über das Treppengeländer tastete, die ihm seit der Kindheit vertrauten Unregelmäßigkeiten und Maserungen. Das andere waren die Leckereien, auf die er sich nicht erst seit dem Internats-Frühstück heute morgen gefreut hatte – ewig das gleiche, stopfende Graubrot aus dem Waldbrunner Konsum, dazu Vierfrucht-Marmelade von »Elbperle«, Kunsthonig oder Blutwurst –, sondern bereits, seitdem feststand, daß die Feier in der »Felsenburg« stattfinden konnte, die nach der kleinen Gaststätte »Erholung« die beste Küche weit und breit führte. Es war nicht leicht, in der »Felsenburg« einen Platz zu bekommen, geschweige denn für eine größere Geburtstagsrunde eine Reservierung – wie so oft hatte es nur durch Beziehungen geklappt: der Koch war vor nicht allzulanger Zeit Patient von Christians Vater gewesen.

Die Zehnminutenuhr schlug siebzehn Uhr zwanzig. Professor Dathes Stimme war nun zu Gebrummel herabgesunken, vielleicht hatte Libussa vorhin die Wohnzimmertür geöffnet, um ins Haus zu lauschen, wer gekommen sei, oder hatte etwas aus der Küche geholt. Seitdem in der Wohnung unter dem Dach wieder Mieter wohnten, war das »Alois?« oder »Herr Rohde?« nicht mehr zu hören, das sie sonst, wenn sie da war, unfehlbar nach unten gerufen hatte, und schloß man noch so leise auf. Christian, der in der Treppenmitte stehengeblieben war, klang die helle, etwas brüchige Stimme Libussas im Ohr, das gerollte »R« beim Nachnamen seines Onkels, die leicht gaumigen »O«s, die bei den meisten Besuchern, die Libussa nicht kannten, zu Fragen nach ihrer Herkunft führten. Soweit er wußte, hatte sie als Sekretärin beim VEB Deutfracht/Seereederei gearbeitet und war vor vielen Jahren mit ihrem Mann nach Dresden gezogen. Auf einigen Fotografien an den Wänden der Treppenstiege sah man die beiden gemeinsam: eine hochgewachsene, knochig gebaute Frau mit halblangem Haar und dunklen, zerbrechlich wirkenden Augen, die zu groß geraten zu sein schienen für Libussas schmal-herzförmiges Gesicht und den Betrachter mit einem Ausdruck zwischen Irritation und Müdigkeit ansahen; der hagere, prüfend blickende Mann in weißer Uniform, lässig die Hände in die Taschen gesteckt und etwas abgewandt, so daß das scharfe Licht eines Sommertages im Rostocker Hafen, irgendwann in den Fünfzigern oder Sechzigern, einen überhellen Fleck auf der Schulter des Schiffsarztes hinterließ und sie mit dem Hintergrund verschmolz. Auf diesem Bild wirkten sie, fand Christian, wie ein ertapptes Liebespaar, vielleicht aber standen die beiden nur deshalb so stocksteif, weil sie sich bemühten, den Vorstellungen des Fotografen, wie ein Schnappschuß für das Brigadetagebuch oder den Lokalteil der »Ostsee-Zeitung« auszusehen habe, zu entsprechen. Auf dem Bild daneben lachten sie, beide hatten Rucksäcke überquer und schon graues Haar, Libussa wies mit einem Wanderstock in unbestimmte Ferne: Nach Spindelmühle