Der schottische Prediger - Frank Phil Martin - E-Book

Der schottische Prediger E-Book

Frank Phil Martin

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Beschreibung

James erlebt wie sein Onkel, ein schottischer Geistlicher, durch seine charismatische Persönlichkeit und seine fesselnden Reden, einen kometenhaften Aufstieg erfährt und bald Modeprediger in London wird. Binnen kurzem begeistert sich dieser für apokalyptische Endzeitgedanken und unterstützt eine junge Bewegung, die spätere apostolisch-katholische Gemeinschaft, und verliert daraufhin seine Anstellung. Als in der Folge sogenannte Geistesgaben, wie Zungenreden und Krankenheilungen auftreten, wird der angehende Advokat immer kritischer, aber die Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten. Er versucht verzweifelt ihn davon abzubringen, bricht sogar mit der Kirche, muss aber mitansehen wie sein Onkel ins Unglück rennt.

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Frank Phil Martin

Der schottische Prediger

überarbeitete Auflage

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

Kapitel - Aufbruch

Kapitel - Ankunft in London

Kapitel - Die Prophetenschule

Kapitel - Vermählung

Kapitel - Annäherungen

Kapitel – Erweckung

Kapitel - Konferenzen

Kapitel - Reisen

Kapitel – Zungenreden

Kapitel – Anklage

Kapitel – Neuorientierung

Kapitel - Aufgerieben

Kapitel – Zukunft

GLOSSAR

Impressum neobooks

Inhalt

>>Der schottische Prediger<<

ROMAN von Frank Phil Martin

Buchklappentext

James, ein junger, angehender Advokat aus Schottland, kommt 1822 als Student nach London und findet bei seinem Onkel Edward Irving ein neues Zuhause. Dabei erlebt James, wie sein Onkel, ein schottischer Geistlicher, durch seine charismatische Persönlichkeit und seine fesselnden Reden einen kometenhaften Aufstieg erfährt und bald Modeprediger in London wird. Binnen kurzem jedoch begeistert sich Irving für apokalyptische Endzeitgedanken und unterstützt eine junge Erweckungsbewegung, die spätere katholisch-apostolische Gemeinschaft. James beobachtet dies mit Skepsis und wird zunehmend kritischer. Dabei gerät er immer öfter zwischen die Fronten und muss sich entscheiden. Als in der Folge sogenannte Geistesgaben wie Zungenreden und Krankenheilungen auftreten, ist die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Eine Entwicklung, die bis in unsere Zeit nachwirkt, und auf deren Ursprünge sich auch die heutige Neuapostolische Kirche beruft. Der Roman ist auf wahre Begebenheiten bezogen und auf Personen, die tatsächlich gelebt haben. Durch umfassende Recherchen gelingt es dem Autor, dieses Zeitgeschehen lebendig werden zu lassen, er beschreibt die unglaublichen Ereignisse dieser Zeit bis zum Tode Irvings, aus Sicht des heranwachsenden James.

Vorwort

Wir schreiben das Jahr um 1830 in London und dem südenglischen Landsitz Albury Park. Seit der Französischen Revolution von 1789 hat es in fast allen Staaten Europas viele Umbrüche gegeben, welche manche Folgeerscheinungen hinterlassen haben. Der Protest gegen Lehren und Leben traditioneller Kirchen, vor allem der anglikanischen Staatskirche und ihrer Erstarrung in äußeren Formen, die fortschreitende Industrialisierung sowie ein ökonomischer Umbruch innerhalb der Bevölkerung nahmen immer mehr zu. Es zeigte sich zunehmend, dass dieses damalige Ereignis, ein lange gesuchter Punkt welthistorischen Ausmaßes, auch die Gedanken an eine Apokalyptik beförderte. Zudem wuchs der Wunsch bei vielen, die ursprüngliche Form des Christentums und seine zeitgemäße Fortführung voranzutreiben. Als eine Reaktion auf diese gesellschaftliche und kirchliche Situation entstanden die Erweckungsbewegungen des frühen 19. Jahrhunderts. Eine Aufforderung an die Führer der Staaten, eine Reformbewegung innerhalb der Kirche zu unterstützen. Gleichzeitig ein Affront gegenüber den etablierten und gesetzten Würdenträgern, ihren bisher unantastbaren Machtoptionen, Versorgungen und Autoritäten. Unter Federführung des angesehenen Londoner Adligen und Parlamentsabgeordneten Henry Drummond und des bekannten Rechtsanwaltes John Bate Cardyle gelingt es, hochrangige Personen des öffentlichen Lebens, darunter Geistliche, Aristokraten, Lehrer, Politiker, Schriftsteller und höhere Beamte, für seine Reformbestrebungen zu gewinnen. Die schillerndste Figur ist Edward Irving, der als schottischer Geistlicher dieser Bewegung Glanz verleiht und dabei seine angesehene Position aufs Spiel setzt. Als die Bewegung Fahrt aufnimmt und sich zunehmend etabliert, geschieht etwas Unbegreifliches...

Kapitel - Aufbruch

Erste Szene - Überfall

Ich wühlte mich durch den Blätterwald der Times und suchte nach den religiösen Meldungen, um etwas über meinen Onkel zu erfahren. Vielleicht waren sie in einem Sonderteil abgedruckt? Es dauerte einige Zeit, bis ich die Artikel gefunden hatte und zu lesen begann, als plötzlich die Pferde wild aufwieherten und die Kutsche mit einem abrupten Ruck zum Stehen kam. Durch das unvermittelte Anhalten und den heftigen Stopp landete ich fast auf dem Schoß meiner Mutter, die entgegen der Fahrtrichtung mir gegenüber in der Kutsche saß. Die Blätter der Times flogen wie wild durch den Wagen. Meine Mutter, die sofort die Situation erfasste, packte mich unvermittelt an beide Schultern, schaute mich mit ernster Miene an und sprach in ruhigem und eindringlichem Ton, wie ich ihn selten erlebt habe:

„James, egal was passiert, du rührst dich nicht von der Stelle und bleibst in der Kutsche, ist das klar?!“

„Ja!“, stammelte ich, wobei ich dieses kleine Wort fast nicht herausbrachte. Meine Mutter stieg aus der Kutsche und sprach in deutlichen Worten:

„Was ist hier los, mit welchem Recht halten Sie uns an?“

Ich hörte eine unbekannte und seltsam rauchige Stimme:

„Recht? Nun, ich denke, es ist das Recht der Straße, Mam.“

Ich lehnte mich vorsichtig an die Fensterseite und konnte zwei Männer in äußerst abgewirtschafteter Kleidung ausmachen, der eine mit einem schwarzen Filzhut auf dem Kopf, der tief heruntergezogen war, sodass sein Gesicht nur halb zu Vorschein kam. In seinem Gürtel blitzte ein Revolver und seine beiden Daumen steckten salopp im Hosenbund, während er auf irgendetwas herumkaute. Der andere stand weiter weg und war aus meiner Perspektive schlechter einzusehen, jedenfalls hatte er eine Bockflinte und richtete diese geradewegs auf Harris, der wie versteinert auf seinem Kutschbock saß und die Arme halb emporhielt.

„Was wollen Sie?“, fauchte ihn meine Mutter an.

„Wer wird denn gleich so ungehalten sein, Mam, nun, nennen wir es Wegzoll, Mam.“

Ich sah in einiger Entfernung, dass die Räuber einen kleinen Baum gefällt hatten, der direkt vor die Kutsche gefallen war und sicher die Pferde erschreckt hatte, es war das Ende eines Waldstücks, bevor der Weg in eine weite Lichtung überging, ein idealer Platz für einen Überfall, dachte ich.

„Mit Verlaub, Mam, Sie sehen aus, als ob Sie viel hätten und wir haben wenig, wie wäre es mit einem, nun nennen wir es, kleinen Ausgleich?“

„Eine Unverschämtheit, unbescholtene Bürger auszurauben, gehen Sie gefälligst einer Arbeit nach, wie rechtschaffene Menschen auch.“

Meine Mutter war in Rage und ich bewunderte ihren Mut, derart unerschrocken mit diesen Ganoven ins Gericht zu gehen. Für einen Moment dachte ich, ob ich den kleinen Baum heimlich aus dem Weg schaffen sollte, damit Harris freie Fahrt hatte, um dann einfach davon zu preschen, aber zugleich mahnte mich das Geheiß meiner Mutter und zum anderen hätten die Gauner mich vermutlich bemerkt, immerhin waren sie mit Revolver und Bockflinte bewaffnet.

„Was haben Sie denn zwei armen, hungrigen Erdenbürgern anzubieten?“,

grummelte der Rädelsführer, der eine Hand aus seinem Hosenbund nahm, um damit seinen Hut zurechtzurücken und ihn dabei noch tiefer in sein Gesicht zog, während er langsam auf meine Mutter zuging.

„Sie haben Hunger?“

parierte ihn meine Mutter.

„Nun, wir haben ein Lunchpaket und könnten Ihnen davon etwas abgeben.“

„Abgeben? Hast du gehört Kumpel, abgeben, wie reizend. Wie wäre es mit, nennen wir es, schenken?“

Er baute sich stolz vor ihr auf und seine Körpersprache verriet, dass er deutlich ungehaltener wurde. Meine Mutter bemerkte in diesem Augenblick wohl, dass trotz ihres resoluten Auftretens wenige Chancen bestanden, die Männer von ihrem Beutezug abzubringen, so ging sie einige Schritte zurück an die Fensterseite der Kutsche und raunte mir zu:

„James, bitte reich mir den Korb von Mr. Troughton.“

Emsig klaubte ich die Sachen zusammen, denn auch der Inhalt des Korbes war durch das abrupte Anhalten heruntergefallen und ein Teil der Sachen lag etwas verstreut am Boden. Ich reichte ihr den Korb heraus, sie nahm ihn an sich und stellte ihn bedächtig auf die Erde.

„Hier, nehmen Sie, dann verschwinden Sie und lassen uns weiterfahren.“

„Danke, Mam, das ist ja schon mal ein Anfang.“

„Ein Anfang?“ schrie meine Mutter ihn an, „was wollen Sie denn noch?“

„Nun, Mam, der Korb ist bald so leer wie unsere Bäuche im Moment und wir brauchen noch etwas für, sagen wir, schlechte Zeiten.“

„Sie ungehobelter Klotz“, zischte meine Mutter, „wir haben keine weiteren Sachen dabei, die für Sie nützlich sein könnten.“

Das war freilich nicht ganz die Wahrheit, dachte ich, denn immerhin hatten wir eine stattliche Menge Bargeld von etwa siebzig bis einhundert Pfund mit dabei. Die eine Hand des Räubers, die vor kurzem noch den Hut zurechtgerückt hatte, wanderte nun unmissverständlich an den Schaft seines Revolvers, und um seine Geste zu untermauern, sagte der Mann mit leicht schneidendem Unterton:

„Bitte, Mam, ein paar Farthing, für die Armen, Gestrandeten und Benachteiligten.“

Farthing? Dass sind wohl eher bescheidene Diebe und im selben Atemzug erinnerte ich mich an unsere Wechselgeldbörse, in welcher tatsächlich nur das Kleingeld aufbewahrt wurde. Ich kramte die Börse heraus und öffnete sie umsichtig, es befanden sich nach kurzer Prüfung etwa zehn bis fünfzehn Pfund in Penny und Viertel Pennys in der Börse. Das war insofern eine stattliche Summe, dachte ich, wenn man bedenkt, dass die Gehälter einfacher Arbeiter oder Dienstboten, etwa der einer Haushaltsdame, siebzig Pfund im Jahr betrugen. Meine Mutter drehte sich, nun ein wenig eingeschüchtert von der Geste des bärbeißigen Mannes, zu mir um und ich hielt ihr die Wechselgeldbörse entgegen. Augenscheinlich verstand sie mein Ansinnen, so vom “großen Geld“ abzulenken, sie ergriff die Börse und fing elendig zu schimpfen und zu jammern an.

„Sie ausgepichter Tagedieb, dass Sie sich nicht schämen, uns um unser letztes Geld zu bringen, unser Angebinde scheint Ihnen ja nicht auszureichen, dann nehmen Sie es und werden glücklich damit!“

Schließlich warf sie es mit aller Entschlossenheit vor den abgetakelten Landstreicher auf den Boden. Dieser schien so verblüfft, dass er einen Schritt rückwärts machte, wobei ihm der Filzhut ein wenig verrutschte, dann hob er sorgfältig die Börse auf und erkundete deren Inhalt. Offensichtlich erfreut von den vielen Münzen, sah ich, wie er einen Mundwinkel abschätzend und wohlwollend zugleich nach oben zog.

„Hey Kumpel, komm für heute reicht`s.“

Er fasste sich mit der Hand fast schon vornehm an den Hut, die eben noch den Revolver berührt hatte, und entgegnete:

„Gute Reise und … nichts für ungut Mam.“

Sogleich stieg Mutter ein und nachdem wir ein raspelndes, scharrendes Geräusch hörten, vermutlich war es der kleine Baum, der bei Seite gezogen wurde, war der Weg frei, unvermittelt setzte Harris das Gespann mit einem zünftigen Peitschenknall in Bewegung. Wir saßen da und starrten einander an,… ich stammelte, immer noch aufgeregt von der Situation:

„Du warst … du warst großartig, Mutter, dein Mut, deine Entschlossenheit …!“

„James“, erwiderte Sie, „das Meisterstück hast du abgeliefert, auf die Idee mit dem Kleingeld wäre ich nie gekommen. Nur gut, dass die Gier auf eine schnelle Beute, den letzten Verstand bei den Herrschaften auch noch außer Kraft gesetzt hat.“

Wir fielen uns in die Arme und hielten uns lange fest, solange wie selten zuvor. Wir waren beide stolz aufeinander und froh zugleich, diesem Überfall auf glimpfliche Weise entgangen zu sein. Ich fühlte mich matt und ausgelaugt und das obwohl die weitere Reise ruhig verlief. Der Tag begann zu dämmern, während es zunehmend nach Regen roch. Ich versuchte, mich abzulenken, und während meine Gedanken drohten, sich zu verselbständigen, versuchte ich ein Wortspiel, bei dem ich überlegte, welche Worte mir alles für Geld einfallen und dann hing ich ein anderes mit dem gleichen Buchstaben für Unwetter hinten dran. So kamen Wörter heraus wie: Taler-Taifun oder Zaster-Zyklop, … Monetärer Monsun, … Banknoten-Blizzard, … am besten gefiel mir, Banknoten-Blizzard. So schmunzelte ich vergnügt in mich hinein und war froh, dass ich meine Gedanken wieder im Griff hatte. Die weitere Reise verlief ruhig und ohne weitere Zwischenfälle, als wir am Abend glücklich das Wayside Inn in Birmingham erreichten.

Zweite Szene - Gegensätze

Am Tag zuvor…

Der Ruf meiner Mutter, der zur Eile mahnte, drang gedämpft durch die Scheiben zu mir in das obere Stockwerk des Hauses, „James, beeil dich!“

Hier in Annan, etwa drei Fußstunden von der schottischen Stadt Dumfries entfernt, hatte ich siebzehn Jahre meines Lebens verbracht. Ich war das Älteste von drei Kindern und meine Kenntnisse von der Welt waren wohl eher spärlich. Das sollte sich nun ändern, denn jetzt, jetzt war es endlich soweit. Alles war aufregend, denn an diesem ersten April 1822, zu dieser für mich ersten großen Reise, ging es nach London, um ein Studium der Jurisprudenz am Sommerset Haus zu beginnen. Mein Onkel Edward hatte sich bereit erklärt, mich bei sich aufzunehmen, ein glücklicher Umstand, denn erst vor kurzem war er von Glasgow nach London umgezogen.

Das Rufen meiner Mutter wurde eindringlicher: „James!!“

„Ich komme!!“,rief ich zurück.

Sie war eine fleißige, resolute, starke, aber auch feinfühlige Frau, groß gewachsen, sportlich mit zartem, fein geschnittenem, freundlichem Gesicht, nicht eitel und doch von einer natürlichen Anmut. Unseren Vater, der vor zwei Jahren bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war, vermissten wir alle schmerzlich und ich bewunderte meine Mutter, wie sie mit Klugheit und viel Übersicht unsere Gerberei am Laufen hielt. Die Gerberei, mit etwa fünfzehn Arbeitern, lag etwas außerhalb der Stadt, mit einem direkten Zugang zum Fluss, denn für diese Tätigkeit waren große Mengen Wasser erforderlich. Ein glücklicher Umstand war, dass wir keine armen Leute waren, denn schon unsere Großeltern, Gavin und Mary, lebten und arbeiteten als Farmer und Gerber und brachten es, gepaart mit Fleiß und Geschick, zu einem auskömmlichen Wohlstand. Dieser ermöglichte es auch meinem Onkel Edward, schon früh von zu Hause auszuziehen, um auf der Universität in Edinburgh Theologie zu studieren. Offensichtlich war er derart begabt, weil er schon mit dreizehn Jahren von daheim fortging, um mit achtzehn Jahren seinen Abschluss zu machen, was für eine berufliche Entwicklung! Freilich mit seinem älteren Bruder John als Begleiter, der sich dem Studium der Medizin widmete. Aber dennoch, ich war mächtig stolz auf meinen Onkel, oder vielleicht ein wenig neidisch, weil er schon so früh selbstständig war? Ich glaube ich habe es genossen, noch einige Jahre länger in meinem behüteten Elternhaus zubringen zu dürfen. Da war zum einen mein guter Freund Edwin, mit dem ich die Gegend unsicher gemacht und so manche Streiche ausgeheckt hatte. Oder auch mein alter Lehrer Adam Hope, der zwar übermäßig apodiktisch war und, Gott ist mein Zeuge, gegenüber seinen Schülern häufig Gebrauch von seinem Riemen machte. Diesen hielt er immer präsent, indem er ihn, durch die Reihen der Schüler gehend, an seinem Daumen herabhängen ließ. Ach, und war er noch so streng, er würde mir fehlen. Auch Onkel Edward wurde schon von ihm unterrichtet und trotz seiner, damals schon, drakonischen Art sprach er heute in den höchsten Tönen von ihm. Vor drei Jahren bekam er endlich seine erste Anstellung, auf die er so sehnsüchtig gewartet hatte. Zum Glück ereilte ihn gerade noch rechtzeitig der Ruf des bekannten und hochangesehenen Theologen Dr. Thomas Chalmers, der es unter den Geistlichen in England zu einem bedeutenden Leumund gebracht hatte. Rechtzeitig deshalb, weil Onkel Edward beinahe, so hatte ich mitbekommen, vor Verzweiflung fast als Missionar nach Persien gegangen wäre. Trotz alledem ist es wohl immer eine schwere Sache, neben einem großen, berühmten Manne zu arbeiten. Man wird ihm nachstreben, aber auch wenn man versucht, ihn zu erreichen, wird sich das Gefühl aufdrängen, im Hintergrunde, ja im Schatten zu stehen. Vermutlich wusste mein Onkel darum, denn obgleich er mit großem Fleiß und Strebsamkeit diese neue Aufgabe ausführte, schien sie für ihn nur bedingt befriedigend zu sein. Als ihn letztes Jahr endlich der Ruf erreichte, Minister der nationalschottischen, sogenannten kaledonischen Gemeinde in London zu werden, schlug sein Herz wohl höher denn je. Und so wie ich ihn kenne, war es für ihn etwas Besonderes, fast schon wie ein göttlicher Ruf, nun nach London umwechseln zu können. Den Werdegang meines Onkels habe ich mit großer Nachdrücklichkeit und Interesse verfolgt und ich muss gestehen, dieser Lebenslauf hat mich nachhaltig beeindruckt und geprägt. Insofern stellte London für uns beide ein Neubeginn dar, für mich als Student freilich in bescheidenerer Angelegenheit. Denn meine Profession war die Theologie eher nicht, da ich fest überzeugt war, dass eine Beförderung der menschlichen Moral nicht nur mit theologischer Bildung beizukommen sei, sondern auch und vor allem mit Einhaltung von Recht und Gesetz. Wenngleich, das gebe ich zu, über das Strafmaß und angesetzte Urteile trefflich gestritten werden kann, ich wusste das aus einigen alten Gerichtsakten, die ich mir besorgt hatte.

Wieder hörte ich meine Mutter, diesmal in militärischem Ton: „James!!!“

„Ich komme!!!“

Ich stürmte, mein Tagebuch und Hut unter dem Arm, die Treppe hinunter, hinaus aus dem Haus, wo meine Mutter neben der geschlossenen Kutsche ungeduldig auf mich wartete. Sie war ganz mit einem braunen Kostüm bekleidet, ihre schwarzen, schulterlangen Locken wurden von einem pastellfarbenen Basthut bedeckt, der unter dem Kinn mit einer geschmackvollen Schleife befestigt war.

„James, hast du wieder deine herannahende Männlichkeit bewundert? Jetzt trödel nicht, du weißt doch, dass wir es heute bis nach Preston schaffen wollen, in deinem Tempo kommen wir nie an!“

Meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, mich bis nach London zu begleiten, als Hauptgrund gab sie vor, endlich einmal wieder ihren Bruder in die Arme schließen zu können. Meinerseits vermutete ich, die mütterliche Eskorte hatte wohl eher das Ansinnen, mich noch eine Zeitlang unter Aufsicht behalten zu können. Aber so sind die Mütter wohl und ich kann ihr nicht böse sein. Unsere Haushälterin Charlotte, meine Schwester Anne, wie immer mit unverwüstlich kindlich-fröhlichem Blick, selbst beim Verabschieden, und mein kleiner Bruder John, der wie eine kleinere Ausgabe von mir aussah, standen schon Spalier, fast schon wie bei herrschaftlichen Häusern, wenn eine offizielle Verabschiedung bevorstand, wo alle Bediensteten nach Rang und Stand sortiert Aufstellung nahmen. Wir stellten uns in einen Kreis, so wie es zu Verabschiedungen bei uns Sitte war, reichten uns die Hände, schlossen alle beinahe gleichzeitig die Augen, senkten etwas die Köpfe und Mutter sprach ein Gebet:

„Herr im Himmel, wir danken dir für deine Gnade, wir bitten dich um den Reiseschutz, behüte das Haus und schenke uns zur Zeit und Stunde ein frohes und unversehrtes Wiedersehen - Amen.“

Alle: „Amen.“

Die wenigen Worte meiner Mutter überraschten mich, so wie es aussah, wollte Sie wirklich keine Zeit verlieren. Normalerweise folgten in solchen Momenten ausführliche Anweisungen über ein sittsames, gottesfürchtiges Verhalten, wie das tägliche Morgen- und Abendgebet, stattdessen sagte sie profan:

„Charlotte, wir haben ja alles besprochen, Kinder, bitte seid folgsam.“

Ich wünschte, mein Vater könnte in diesem Augenblick anwesend sein, ich glaube, er hätte sich für mich gefreut und wäre vielleicht auch ein wenig stolz auf mich gewesen. Ist das wirklich so, dachte ich, dass die Söhne nichts mehr ersehnen, als dass ihre Väter stolz auf sie sein können? Vielleicht auch nur deshalb, weil der elterliche Wunsch besteht, dass sich all das Bemühen einer guten Erziehung, alle Worte und Schelten, alle Gebote, Hoffnungen und Wünsche am Ende in einem guten Fortgang vereinigen mögen. Die beiden Pferde, die unserer Kutsche vorgespannt waren, wurden ein wenig unruhig und nach einer kurzen, aber herzlichen Umarmung meiner Geschwister stiegen meine Mutter und ich in die Kutsche ein, die sich ruckelnd, ausgelöst durch Harris Peitschenknall, in Bewegung setzte. Harris war ein kleiner, kräftiger Mann mit buschigen Augenbrauen, der erfahrenste Arbeiter auf unserer Farm und er war der gutmütigste Kerl, den ich kannte. Ein massiger Schädel thronte auf seinem kräftigen Körper und seine wuchtigen Oberarme konnten alles stemmen und heben, was man sich vorstellen kann. Am liebsten wäre mir gewesen, ich hätte bei Harris vorne auf dem Kutschbock sitzen können. Meine Mutter Sophie, besorgt wie Sie nun einmal war, verbot dies jedoch mit der Begründung, es wäre noch viel zu kalt am Morgen und wir wollten ja nicht gleich die Schwindsucht heraufbeschwören. Im Laufe des Tages, je nach Witterung, so versprach sie, würde sie erneut entscheiden. Unser Weg führte zunächst nach Carlisle über Penrith an Kendal vorbei, weiter nach Lancaster, wo wir am frühen Nachmittag eintrafen. Wir fuhren über die Skerton Bridge bis zum St. George Quai und hielten am Gasthof Wagon & Hourses. Harris wollte hier zunächst die Pferde wechseln, denn er hatte in diesem Hause wohl einen Vetter und wir konnten, außer einer Mahlzeit einzunehmen, uns etwas die Beine vertreten. Der bekannteste Sohn dieser Stadt war ohne Frage Henry Cort, es war eine Revolution dieses Puddelverfahren zur Herstellung von Stahl und ich dachte mir, der herannahende technische Fortschritt, dem ich durchaus aufgeschlossen gegenüberstand und auf den ich sowieso gespannt war, hatte auch etwas Beängstigendes. Würde man all diese Maschinen, die so viele Vorteile brächten, auch beherrschen können? Andererseits war dieser Fortschritt nicht mehr aufzuhalten, denn wenn alles in diesem rasanten Tempo so weitergeht, könnte man irgendwann mit der Eisenbahn von Edinburgh nach London fahren. Dann würden all diese Reisestrapazen mit der Droschke wegfallen. Im Augenblick jedoch steckte die Dampftechnik noch in den Kinderschuhen. Nach einer Weile fuhr Harris mit der neu bespannten Kutsche vor und da ich meine Mutter die Fahrt über immer wieder bedrängt hatte, erteilte sie mir endlich die Erlaubnis, vorne auf dem Kutschbock, unter Einhaltung aller möglicher Schutzmaßnahmen - in Decken gehüllt, doch noch eine Stunde auf dem Bock neben Harris Platz zunehmen. Bis nach Preston hatten wir noch fünfundzwanzig Meilen vor uns, unsere Ankunft im Bartl Hall Hotel war bereits durch eine Nachricht bekanntgemacht worden. Wir erreichten unseren Zielort bei Einbruch der Dämmerung und zu meinem Erstaunen durfte ich doch bis hierher neben Harris sitzen bleiben, ich vermute, meine Mutter war inzwischen eingenickt oder einfach nur zu müde, um ihre angekündigte Maßgabe durchzusetzen.

Dritte Szene - Beziehungen

Das Hotel, früher ein Herrenhaus, war von seinem neuen Besitzer John Troughton, einem Gerichtsvollzieher, vor zwei Jahren gekauft und neu renoviert worden. Die Parkanlage erschien mir sehr weitläufig und wurde, wie es aussah, gerade umgestaltet, die neu gepflanzten Bäume ließen darauf schließen. Das Haus selbst machte auf mich einen vornehmen, sehr gepflegten Eindruck, ohne überladen oder pompös zu wirken. Harris sprang mit ungewohnt sportlichem Schwung vom Kutschbock, klappte die Behelfsstufe aus und öffnete die Tür der Kutsche. Meine Mutter, sichtlich mitgenommen von der Reise, kletterte etwas unbeholfen aus der Droschke, drapierte notdürftig die Frisur und während sie noch an ihrem leicht verrutschten Hut nestelte, wurde sie sogleich von Mr. Troughton, einem stattlichen Herrn in den mittleren Jahren und vornehmer Gestalt, galant begrüßt. Durch seinen hohen Haaransatz wirkte er zusammen mit seinem Zwicker sehr intelligent und belesen. Sein geschwungener und gepflegter Schnauzbart floss an den Rändern in einen Kinnbart über, überdies konnte ich ein leichtes Lächeln erkennen, was ihm besonders gut zu Gesicht stand. Er trug eine helle Hose mit dunkler Weste, aus welcher die Kette einer Taschenuhr heraushing, eine gleichfarbige Jacke mit hellem Hemd, das oben zu einem Stehkragen aufgestellt war. Mr. Troughton wirkte ein wenig nervös, als er uns freundlich empfing:

„Herzlich willkommen in Preston, Madame Irving, ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise, wir freuen uns, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Wir erlauben uns, in einer Stunde das Abendessen zu servieren „Sie müssen mir unbedingt von Ihrem Bruder erzählen, ich brenne darauf, alle Neuigkeiten von Ihnen zu erfahren, was da alles in der Times über ihn berichtet wird …“

„Sehr gerne, Mr. Troughton“, erwiderte meine Mutter.

„Darf ich Ihnen meinen Sohn James vorstellen?“

„Oh, unser junger Advokat in spe, ganz nach dem Bilde seines Vaters, groß gewachsen, schwarzes Haar mit blauen Augen, die lebensfroh und voller Erwartung in die Welt blicken, ein wenig schmal vielleicht, ich vermute, Sie brennen darauf, das Leben in London endlich kennen zu lernen?“, fabulierte Mr. Troughton.

Wie recht er damit hatte. Nach der offiziellen Begrüßung wurden wir auf unser Zimmer begleitet, es bestand aus zwei getrennten Schlafräumen mit einer Badestube, in welcher außer einer Toilette, fließendes kaltes und warmes Wasser zur Verfügung stand. Dieses konnte wahlweise in ein Waschbehälter oder in einen fest installierten Zuber eingelassen werden, so etwas hatte ich bisher noch nicht gesehen, es war ein hoher Komfort, der mich begeisterte. Nach dem Abendessen konnte ich nur noch an eines denken und so bat ich um die Erlaubnis, mich auf mein Zimmer zurückziehen zu dürfen, um mit dem ersten Eintrag in mein Tagebuch zu beginnen, immerhin hatte die Reise schon recht dramatisch begonnen. Ich hatte es noch nie geöffnet und nahm es daher mit einer gewissen Würde aus meinem Reisebehälter, legte es auf den Sekretär, öffnete bedächtig die Nietenbänder, schlug die erste Seite auf und war bass erstaunt, denn dort sprang mir eine Eintragung meines Vaters entgegen:

„Mein lieber James, tue Gutes und übe Recht gegen jedermann!“ In Liebe, Dein Vater William, 1. Thess.5, 1-28

Ein Vermächtnis meines Vaters, an mich? Ich holte die Hausbibel hervor, schlug die Textstelle auf und las gespannt die Zeilen. Was hier beschrieben wurde, las sich wie eine Art Anleitung zu einem gottesfürchtigen Leben, verbunden mit Hinweisen zu einem sittlichen Verhalten. Aber der Hinweis: „tue recht gegen jedermann“… mein Vater konnte damals unmöglich wissen, dass ich einmal ein Rechtsgelehrter werden würde. Ich vermisste meinen Vater, ach könnte ich ihn doch jetzt in meinen Armen halten.

Es war spät geworden gestern Abend und ich schleppte mich, müde von der Reise und vom Schreiben, in das warme und frisch riechende Bett, aus dem mich meine sichtlich beschwingte Mutter am Morgen aus meinen Träumen weckte.

„James, du kannst nun das Waschzimmer benutzen, es ist jetzt viertel vor sieben, Mr. Troughton erwartet uns um halb acht im Frühstücksraum und Harris steht um acht Uhr zur Abfahrt bereit, bitte sei pünktlich.“

Ich schlüpfte aus meinem Schlafgemach, dem noch immer ein wohliger Geruch aus Frühlingswind und einem Hauch Rosenduft anhaftete! Das Wetter hatte umgeschlagen, der Himmel war bedeckt und ich bemerkte wie ein paar verirrte Schneeflocken durch die Parkanlage tanzten, die Gärtner hatten bereits wieder mit Pflanzarbeiten begonnen. Nachdem ich meine Morgentoilette verrichtet und meine Utensilien verstaut hatte, schlenderte ich leichtfüßig die geschwungene Treppe hinunter, die im Foyer endete, und weiter in einen Glaspavillon, der mit seinen ringsherum angeordneten Fenstern einen freien Blick auf die Parkanlage gestattete. Ich platzte pünktlich in die bereits angeregte Unterhaltung zwischen Mr. Troughton und meiner Mutter. Beide wirkten sehr vertraut miteinander, bahnte sich hier etwas an?

„Guten Morgen, Sir, Mutter.“

„Guten Morgen, junger Mann, bitte setzen Sie sich, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, greifen Sie tüchtig zu, Reisen macht hungrig und obendrein können Sie es gebrauchen“, attestierte mir Mr. Troughton und spielte dabei erneut auf meine schlanke Figur an.

„Ja danke, das habe ich, sehr freundlich, Sir“, erwiderte ich noch etwas holprig und zerstreut. Es war reichlich gedeckt, Toast, Butter, gebratener Speck … ich hatte einen Bärenhunger, musste mich aber im Tempo beim Essen zurückhalten, um nicht zu gierig zu wirken.

„Wo waren wir?“, fragte Mr. Troughton und wandte sich wieder meiner Mutter zu, „ach richtig, was glaubst du, Sophie, was war der Grund Ihres Bruders nach London zu wechseln, immerhin ist Dr. Chalmers einer der bedeutendsten Prediger unserer Tage?“

„Weißt du, John …“

John? Mir blieb das Toast mit dem Ei fast im Halse stecken, Sophie und John, waren sie jetzt schon bei solch einer intimen Anrede angelangt? Ich verschluckte mich, bekam einen hochroten Kopf und versuchte, ein Hustenanfall zu unterdrücken.

„Alles in Ordnung?“, wandte sich meine Mutter zu mir und ich stotterte:

„Ja, … es geht schon!“

Und spülte den restlichen Bissen mit einem großen Schluck Tee herunter.

„Sehen Sie, James, ich darf doch James sagen?“

Mr. Troughton legte fürsorglich seine Hand auf die meine.

„Sehen Sie, Ihre Mutter und ich sind uns schon ein wenig näher gekommen, es darf Sie bitte nicht erschrecken, ich hege die allerbesten Absichten für Ihre Frau Mutter.“

In diesem Augenblick drehte er sich unvermittelt um und schnippte zweimal mit den Fingern, woraufhin unverzüglich eine Bedienstete zu unserem Tisch herangelaufen kam. Mr. Troughton flüsterte der jungen Dame etwas ins Ohr und kurz darauf erschien sie mit einem kleinen Stapel Zeitungen.

„Hier, schauen Sie“, sagte Mr. Troughton stolz, „das sind die letzten Ausgaben der Times, ich habe alle gesammelt, in denen etwas über Ihren Onkel berichtet wird, machen Sie sich ein Bild und lesen Sie es, je genauer Sie vorbereitet sind, desto besser. Aber glauben Sie nicht alles, was dort geschrieben steht, es soll nur Ihrer Information dienen, in London haben Sie nicht nur Freunde. Und James, was ich jetzt sage, meine ich sehr ernst, wenn Sie einmal Hilfe brauchen, dann melden Sie sich und scheuen sich nicht, mich zu benachrichtigen, ich werde unverzüglich kommen.“

Etwas überrascht von dieser Offerte entgegnete ich:

„Danke, Sir.“

„Versprechen Sie es mir, James!“

Ich konnte nicht anders, als zu versichern, dass ich das Angebot gerne annahm, obwohl mir in diesem Moment kein Grund einfiel weshalb dieser Fall eintreten sollte? Mr. Troughton überreichte uns einen Korb mit Vikturalien für die Fahrt und verabschiedete sich mit ausgesuchter Höflichkeit:

„… Sophie, versuchen Sie ihn davon abzubringen … wir sehen uns in zwölf Tagen, passt auf Euch auf, es heißt, in dieser Gegend seien Wegelagerer unterwegs und Grüße Deinen Bruder unbekannter Weise von mir, Gott und alle Engel mit Euch, bis bald!“ Versuchen Sie, ihn davon abzubringen? Da ich nur diesen Halbsatz aufgeschnappt hatte, war mir nicht klar, was Mr. Troughton damit meinte?

Vierte Szene - Verwunderung

Zur verabredeten Zeit stand Harris zum Abfahren bereit und ich machte mich, diesmal freiwillig, im Inneren der Kutsche über die Times her, welche mir Mr. Troughton freundlicherweise überlassen hatte. Meine Mutter winkte Mr. Troughton noch lange und aufgeregt nach, obwohl er schon außer Blickweite schien.Ich wusste, dass mein Onkel auch literarisch tätig war, bereits nach einem Jahr in London schrieb er an seinem ersten schriftliches Werk, es nannte sich: „Für die Orakel Gottes: Vier Reden für das Kommen des Gerichts. Ein Nachweis in neun Teilen“. So wie er in einem Brief berichtete, sollte es ein überzeugender Appell werden, an die außerhalb der Kirche Stehenden und nach innen gegen das bisherige Kirchentum und seine verbrauchte Weise, das Evangelium zu verkünden. Und was neu war, es richtete sich nicht nur an einfache Leute, wie Bergarbeiter, Bootfahrer oder gar Zigeuner, sondern in erster Linie an Erfinder, Politiker, Juristen und Männer der Wissenschaft, Entscheidungsträger, Verantwortliche und Mächtige, eben solche, die die Welt in ihren Händen halten. Das Lesen in der Kutsche machte mir durch anhaltendes Rumpeln mehr Mühe, als ich dachte und ich beschloss, zunächst nur einige markante Stellen herauszusuchen, die fett gedruckt waren, als mein erster Blick auf die Titelseiten der letzten drei Tage fiel: „Manchester: Komitee fordert Einsatz von Luftinspektoren zur Überwachung von Industrieanlagen. Kriminalität in den Städten steigt rasant, Ordnungshüter überfordert. Der zunehmende Einsatz von offiziellen Polizisten wird gefordert. Erste Lokomotiven Fabrik kurz vor der Gründung. Elektromotoren oder Dampfmaschine, eine Gegenüberstellung“. Es waren hochbedeutende Themen, die auch den meisten Raum in den Tagesgesprächen einnahmen. Ich ließ die Zeitungen sinken und blickte in die Landschaft und sinnierte nach, Gedanken schwebten von Kriminalgeschichten über Elend und Armut weiter bis hin zur ersten Eisenbahn, wie würde sie wohl aussehen, wie schnell würde sie fahren …? Und die Verschmutzung durch Chemikalien, welche durch die fortschreitende Technisierung immer mehr zum Thema wurde ... ?

Wir hatten die Reiseroute so geplant, dass wir am Gründonnerstag, den vierten April, in London sein wollten, um mit Onkel Edward das Osterfest zu feiern und so wie es aussah, konnten wir den Zeitplan einhalten. Von der ruppigen Kutschfahrt wieder einmal durchgeschüttelt, ich hatte die durcheinandergewirbelten Zeitungen sorgfältig sortiert, machte ich mich über die Texte von verschiedenen Autoren der christlichen Teile her. Meine Neugier war entfacht, als ich die Kommentare las und ich staunte nicht schlecht, wie verschiedenartig die Auslassungen waren:

Edward Irving, eine Neue Stimme der Zumutung

von W. Scott

Trotz des anhaltenden Zustroms von Gläubigen zu dem presbyterianischen Geistlichen Edward Irving in seiner Londoner Gemeinde erscheinen die Reden des inzwischen zum Modeprediger Hochstilisierten zunehmend unerträglich. Seine Auslegungen zu den alttestamentarischen Schriften der Propheten, zu brennenden Fragen des öffentlichen Lebens und deren Geißelung, wie die Frivolität der guten Gesellschaft, die Hohlheit ihrer Geselligkeit, ihren Mammonsdienst sowie der guten Sitten in Haus und Familie sind als eigenartig zu bewerten. Seine von Pathos gefüllte Redensweise, unterstützt von übermütig ausgeführten Gesten, scheint auf die Gläubigen trotz unhaltbarer Anklagen einen gewissen Reiz auszuüben. Auf mich selbst wirkten sie eher abschreckend. Der moralische Anspruch, den seine Reden beinhalten, wird durch seine selbstgefällige Art, die eine gewisse Keuschheit und Standhaftigkeit im Charakter vermissen lassen, konterkariert. Die Frage wird sein, ob die ekstatisch und hochfliegend vorgetragenen Ansprüche des Herrn Irving, der selbst viel Wert auf einen eleganten Ausdruck legt, der Wahrhaftigkeit, die er selbst vermissen lässt, in der Zukunft gerecht werden. Viele fühlen sich beschämt und fangen an, am eigenen Urteil irre zu werden, wenn wir bemerken, einen Gedanken mit diesem seichten und schwülstigen Deklamator gemeinsam zu haben. Sicher, sicher, es kann nicht lange dauern, bis diese Wasserblase einmal platzt.

London den 12.März 1822

Gespannt las ich einen zweiten Artikel:

Vielbeachtete Worte von der Kanzel

von G. Jones

Seine mit Kraft und Wucht vorgetragenen Predigten zeugen unleugbar von einer mächtigen Begabung, welche mit der häufig vermissten Autorität und zufriedener Überlegenheit gleichgültiger Prediger nichts gemeinsam zu haben scheinen. Seine kühnen Worte und bildhaften Gleichnisse reißen den Zuhörer sogleich in seinen Bann, wenn er von einem abgebrochenen Kreislauf der Pflicht referiert, bei dem es versäumt wurde, die Welt unter die Autorität Christi zu bringen. Man muss diesem Manne recht geben, dass solche Anstrengung eine erhabene Höhe und heilige Gesinnung bedarf, all diese beklagenswerten Hindernisse, welche den Lauf der Kirche hemmen, zu überwinden. Mit all seinen Ausführungen, bei denen er sich selbst in die Pflicht nimmt, vermittelt Irving in wuchtig heroischem Stile und dennoch, wie es scheint, in ehrlicher Absicht eine Hoffnung, etliche Unwahrheiten in der Religion zu benennen. Auffallend ist hierbei auch, dass Irving nicht nur das Fortschreiten der göttlichen Wahrheit dem bisherigen Kirchenvolk nahezubringen ersucht, sondern und vor allem richten sich seine Belehrungen auch an die Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Adel. Der seit einem Jahr in London wirkende Geistliche sorgt mit seiner unkonventionellen Art zu predigen für Aufsehen und spricht mit seinen Bemerkungen zur Einhaltung von Sitte und Anstand unbequeme Wahrheiten an. Endlich eine Stimme, die auch in der Lage ist, festgefahrene Strukturen innerhalb der Gelehrten zu befördern und einen längst überfälligen Diskurs anzustoßen.

London den 23. Februar 1822

Schon aus diesen zwei Darlegungen, die sich im Grunde in ähnlicher Form wiederholten, konnte ich herauslesen, wie gegensätzlich mittlerweile die öffentlichen Meinungen über die Tätigkeit meines Onkels innerhalb kürzester Zeit vorangeschritten waren. Er polarisierte, stellte unbequeme Fragen, ja, er brachte etwas in Bewegung und trat dabei offensichtlich einigen auf die Füße. Aber eines war mir auch klar, menschliche Ziele lassen sich mit menschlichen Mitteln erreichen, aber göttliche Ziele lassen sich wohl nur mit göttlichen Mitteln erreichen. Und Onkel Edward, da war ich fest überzeugt, muss göttlich inspiriert sein. Aber was war mit der Kirche los? Hatte sie ihre göttliche Kraft verloren oder war sie wirklich zu einer reinen Institution verkommen, nur noch auf die Machtbedürfnisse der Geistlichkeit bedacht, ist der göttliche Funke, der die Gläubigen erreichen, belehren und befruchten soll, bereits erloschen? Unwahrheiten – Wahrheiten, diese Unterscheidung wird mir sicher auch in meinem Beruf immer wieder begegnen, dabei vermute ich eine weit weniger schwierige Auslegung denn, Gesetze sind vom Menschen gemacht, aber die Heilige Schrift ist eben göttlicher Herkunft. Muss daher nicht umso mehr über die vollkommene Auslegung, Interpretation und Bewertung gefochten, gestritten und gerungen werden?

Am Abend zuvor, es war schon spät, hatte meine Mutter über den Hotelportier eine Zusammenkunft mit einem sogenannten Ordnungshüter organisiert. Dieser nahm den Schaden des Überfalls und eine genaue Beschreibung der Täter auf. Ein großer Teil jedoch dieser im Grunde bedauernswerten Personen, wurde nie gefasst. Häufig wurden Diebstähle und andere Verbrechen sogar aus weit niedrigeren Beweggründen begangen, oft nur um das eigene Überleben zu retten. Harris wählte die Route von Birmingham nach Coventry über Northampton und Milton Keynes nach London. Er meinte, die wäre sicherer, da sie stärker befahren war. Mutter sah etwas blass aus an diesem Morgen, so als würden sich besondere Ereignisse erst am nächsten Tag spürbar auswirken, wo alles längst “vergessen und abgehakt“ erscheint. Vielleicht ist ja der Kopf bei so etwas immer schneller fertig als der Rest unseres Körpers? Mutter blickte mich an und es kam mir vor, als würden ihre stahlblauen Augen bis auf den Grund meiner Seele schauen.

„James“, fragte sie, „hast du in der Times etwas über Onkel Edward gefunden?“

Ich bejahte und las ihr die beiden ausgesuchten Artikel vor. Sie schwieg und machte einen tiefen Seufzer.

„Weißt du“, fuhr sie fort, „sicher glaubst du, dass ich deinetwegen nach London mitgekommen bin, das stimmt natürlich, aber es nur die halbe Wahrheit. Hauptsächlich geht es um Onkel Edward.“ Sie seufzte zum zweiten Mal.

„Er ist nach meinem Dafürhalten im Begriff, eine große Dummheit zu begehen. Schau, er ist schon seit Kindertagen in eine gewisse Jane Welsh verliebt und sie in ihn, aber“…, sie zögerte, „es ist, es ist nicht so einfach … und die Umstände, … es kann nicht gutgehen, Sie schüttelte den Kopf … „es ist“…

„Mutter“, erwiderte ich entschlossen, „sag, wie es ist!“

Dabei erschrak ich fast vor meiner Selbstsicherheit.

Sie seufzte zum dritten Mal und sagte schließlich:

„Onkel Edward kann sich diese Frau nicht leisten, sie brächte zwar Mitgift in die Beziehung mit, aber ihre Ansprüche sind, nach allem was ich weiß, alles andere als bescheiden, ich bin mitgekommen, um ihn von dieser Liaison abzubringen.“

Daher weht also der Wind, dachte ich, und somit war, wie von selbst, der gestern aufgeschnappte Halbsatz von Mr. Troughton beantwortet. Im Laufe der Fahrt spielte die Romanze von Onkel Edward allerdings keine Rolle mehr, denn Mutter gab mir noch einige Hinweise und Empfehlungen über das Leben in der Stadt, wie beispielsweise jeden Abend das Bett gründlich nach Bettwanzen abzusuchen. Solche Scheußlichkeiten sind in den Stätten wohl häufig anzutreffen, zumal deren Bisse wohl äußerst unangenehm sein sollen. Außerdem, so teilte mir meine Mutter mit, sollte ich im Haushalt mithelfen, denn Onkel Edward hatte gegenwärtig nur eine Hausangestellte, die sicher froh und dankbar ist, wenn noch ein starker junger Mann für beschwerlichere Arbeiten bereitstünde. Wir trafen sicher und wohlbehalten gegen Abend in London ein. Harris steuerte die Kutsche zielsicher am Regent`s Park links in die Paddington Street, rechts in die Grays Lane entlang bis kurz vor Hatton`s Garden in die Ray Street, wo Onkel Edward neben dem Kirchengebäude wohnte. Die Gaslaternen brannten, es hatte seit längerem angefangen zu regnen. Aus dem Fenster der Kutsche konnte ich beobachten, und beneidete Harris wahrlich nicht, als er sich vollkommen durchnässt vom Kutschbock quälte, zur Tür ging, um einen aus Messing beschlagenen Türklopfer, in Form eines Löwenkopfes, mit voller Wucht dreimal an die Eichentür zu schlagen. Ich war ich gespannt und mein Herz pochte – als die Tür sich langsam öffnete und ein Lichtschein auf den Gehweg fiel.

Kapitel - Ankunft in London

Erste Szene - Hunger

Es war ein herzlicher, ja überschwänglicher Empfang am gestrigen Donnerstagabend. Nachdem uns Maria, Onkel Edwards Haushälterin, die Tür geöffnet hatte und wir in den geräumigen Flur eintraten, nahm ich den Geruch von eingelagerten Äpfeln wahr, der sich mit dem von kaltem Rauch vermischte. Am Ende des Flures bemerkte ich eine Kellertür, die leicht offen stand und rechter Hand verlief eine steile Eichentreppe, die in den ersten Stock führte. Die Räume wirkten düster und wurden nur durch einige Kerzen, die seitlich an den Wänden in Glaslampen angebracht waren, erhellt. In diesem Augenblick brauste Onkel Edward die Treppe vom Eingangsflur hinunter, wobei die Absätze bei jedem Tritt erbarmungslos knarrten und seine Arme mit jeder Stufe weiter auseinanderflogen, um unten angekommen in die Arme meiner Mutter zu fallen. Seine Erscheinung faszinierte mich jedes Mal, er war ungewöhnlich groß und seine kohlschwarzen Locken fielen fast bis auf seine breiten Schultern herab. Sein Gesicht wirkte etwas blass, aber das Ungewöhnlichste seiner Merkmale war wohl sein eigenartiges Schielen auf dem rechten Auge. Sein Habitus hatte etwas von einem Zigeunerbaron oder sogar, das eines Räuberhauptmanns. Diese imposante Erscheinung und sein Auftreten zogen jeden sofort in seinen Bann. Reichlich geküsst und geherzt führte uns Onkel Edward zunächst durch die Räumlichkeiten. Die Wohnung und Ausstattung des Hauses war eher spärlich und bescheiden. In der unteren Etage waren Empfangs- beziehungsweise das Speisezimmer, eine Badestube, der Flur und die Küche. Im ersten Stock befanden sich das Arbeitszimmer von Onkel Edward, sein Schlafzimmer und ein Gästezimmer. Im zweiten Stock, dem Dachgeschoss, waren mein Zimmer und ein Raum, der derzeit nicht benutzt wurde. Ich selbst wurde in die obere Etage einquartiert, ein Raum der zumindest nicht allzu beengt schien, ein kleiner Sekretär, eine Bettstatt und ein Schrank waren die einzigen Möbel, die mich hier fortan umgeben sollten. Immerhin hatte das Zimmer einen kleinen Kamin, sodass die Kälte, wenn sie denn im Hause herrschte, vertrieben werden konnte. Dennoch, ich war erschrocken und, Gott möge mir verzeihen, auch enttäuscht von der Spärlichkeit und Schlichtheit dieser Behausung. Onkel Edward führte uns in das Speisezimmer, das, wie sich später herausstellte, für alle ankommenden Besucher die erste Anlaufstation war. Nachdem wir unsere Grüße bestellt und einen ausführlichen Reisebericht abgeliefert hatten, stellte uns Maria eine dampfende Suppe auf den Tisch. Nach einem nicht enden wollenden Tischgebet von Onkel Edward - ich ertappte mich bei dem Gedanken, die Suppe könnte kalt werden - nahmen wir die leicht wässrige Mahlzeit, die den vermuteten und erhofften Inhalt jedoch vermissen ließ, dennoch als willkommene Wärme mit einigen Brotscheiben in uns auf. Onkel Edward meinte, dass diese Mahlzeit am Vorabend des Karfreitags angemessen sei, zum Gedenken und in Respekt an unseren Herrn Jesu Christi, von dem jedenfalls nicht bekannt ist, in üppigen Verhältnissen gelebt zu haben. Nach Onkel Edwards Aussage von vorhin hätte sich wohl auch Jesus selbst bei uns wohlgefühlt. Aber ich fragte mich, was hatte ich mir vorgestellt, ein Schloss, ein prunkvolles Herrenhaus mit einer Armada von Dienern, die nur damit beschäftigt waren, einem jeden Wunsch von den Augen abzulesen, um ihn sogleich zu erfüllen?

Nein - dies hier war eher das Gegenteil und ich hoffte insgeheim, dass die neue Anstellung meines Onkels auch ein komfortableres Auskommen mit sich bringen würde. Im Augenblick konnte die kleine Gemeinde, die etwa fünfzig Gläubige schottischer Herkunft umfasste, das Salär für Onkel Edward gerade so aufbringen. Aber war das überhaupt ein realistischer Wunsch? Eingedenk der Tatsache, dass mein Onkel in all seinem Wesen und seinen Ansprüchen eher ein bescheidener Mensch war und bedacht, dies auch nach außen durch sein stetes Vorbild zu vermitteln. Ich sollte mir nichts vormachen, es stand mir wohl eine armselige Zeit bevor, deren Umstände ich selber, und da musste ich ehrlich sein, nur bedingt beeinflussen konnte. Auch mein Ausbildungsgeld wurde noch für ein knappes Jahr unter die Hoheit meines Onkels gestellt, sodass ich auch aus diesem Fundus, nach meiner Einschätzung, nicht viel erwarten konnte. War ich verwöhnt, besaß ich zu hohe Ansprüche? Nein, ich denke nicht, aber was hatte ich für Alternativen, sollte ich mich ganz und gar darauf einlassen? Auch das gefiel mir nicht. Vielleicht konnte ich zunächst Maria als meine geheime Verbündete gewinnen? Sie würde sicher für meine unvermittelten Hungerattacken Verständnis aufbringen, ich beschloss, mich an Sie zu halten, wenn es wieder mal nur Londoner-Suppe gab.

Zweite Szene - Verstörend

Nach einer etwas unruhigen Nacht, obwohl mir keine Bettwanzen untergekommen waren, es war wohl der neuen Umgebung und der ganzen Umstellung geschuldet, schlüpfte ich in meine Festtagsgarderobe. Im Speisezimmer, wo bereits meine Mutter und Onkel Edward zugegen waren, gab es zum Frühstück dünnen Kaffee und Toast mit etwas Aufstrich. Immerhin so viel davon, wie es brauchte, jedenfalls war meine heimliche Befürchtung, durch zu wenig Nahrung im Wachstum gehemmt zu werden, vorerst beruhigt. Ansonsten waren das Verhalten meiner Mutter und meines Onkels und der ganze Karfreitagmorgen selbst von einer geschäftigen Betriebsamkeit geprägt, die einzig und allein dem Gottesdienste und deren Vorbereitungen gewidmet war. Während Onkel Edward, leise vor sich hin murmelnd, seine Predigt überflog, nestelte Mutter minutenlang an ihrer Festtagskleidung herum. Ich blickte aus dem Fenster, es waren Unmengen von Menschen unterwegs, wollten sie alle in das kleine Kirchengebäude, ich vermutete jedenfalls, dass es nicht allzu groß war? Sie strömten geradezu aus jeder erdenklichen Richtung, die Straßen waren von den ankommenden Menschenmengen fast verstopft. Onkel Edwards Wohnung lag, welch ein glücklicher Umstand, direkt neben dem Kirchenlokal von Hatton’s Garden. Durch eine kleine, unscheinbare Verbindungstür, die sich unterhalb der Eingangstreppe befand, führte ein direkter Zugang zur Sakristei, den wir benutzten konnten. Onkel Edward blieb dort, um sich vorzubereiten, nicht ohne uns mitzuteilen, dass er bereits drei Plätze, auch für Maria, freigehalten hatte. Wir gingen durch die Seitentür in das Kirchenschiff. Als wir eintrafen, war das Kirchenlokal bereits voll besetzt. Ich vermute, es waren, nach einer kurzen Schätzung an die zweihundert Gläubige, vielleicht sogar mehr, die dicht gedrängt in den Reihen saßen und versuchten, sich sogar seitlich am Kirchenraum einen Platz zu beschaffen.

Nach einiger Zeit sammelte sich die Gemeinde und es wurde zunehmend ruhiger, bis hin zu einem vollständigen, minutenlangen Schweigen, das wie auf Absprache entstand. Dann begann der Gottesdienst und lief nach der üblichen presbyterianischen Liturgie ab. Nach dem Eingangslied der Gemeinde, „Oh Haupt voll Blut und Wunden“, bestieg Onkel Edward, oder sollte ich in diesem Fall besser sagen Reverent Irving, die Kanzel und schaute wohlwollend und achtsam, lange schweigend in die Gemeinde, bevor er bedächtig zu Reden begann:

„Geliebte Brüder und Schwestern in dem Herrn, liebe Gemeinde“, erhob er zunächst leise die Stimme, es war so still, dass man glaubte, die Kerzen brennen zu hören.

„Das letzte Abendmahl, die letzte Begegnung Jesu mit seinen Jüngern, der letzte Ruf des Herrn im Garten Gethsemane, als er zu Gott seinem Vater flehte: „Vater, Vater, ist´s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“. Wie oft flehen und beten wir, was wünschen wir uns? Dass all dies was uns abverlangt wird, an dem wir scheinbar zerbrechen, all unsere Trauer, unsere Bitternis, ja unsere Leiden, an welchen wir manchmal verzweifeln könnten, genommen werden? Was aber hat der Herr getan? Er konnte alles in Gottes Hand geben, als er sagte: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände, aber nicht mein sondern Dein Wille geschehe.“

Seine Stimme schwoll langsam etwas an und wurde eindringlicher:

„Was tun wir, können wir das auch, sind wir bereit Gott, unserem himmlischen Vater, die Regentschaft zu überlassen oder schreiben wir dem Herrn vor, was er für uns tun soll und wissen vielleicht am Ende selbst am besten, was für uns gut und richtig ist? Was war passiert, war das Leiden am Kreuz, dieses unfassbare, grausame und unmenschliche Geschehen das Ende? Hatte Jesus kapituliert, war seine Mission gescheitert? Glauben wir wirklich, dass jemand Gott den Schöpfer des Himmels und der Erden, den Herrn aller Herren, hindern kann, etwas Gutes, etwas Neues entstehen zu lassen? Ich sage Euch, kein Leid bleibt ungesehen, kein Schmerz ungeteilt, keine Trübsal unbemerkt. Und wenn wir meinen, innerlich zu zerbrechen, dann ist Gott auch da, führt uns aus dem Tal heraus und er wird abwischen alle Tränen.“

Das war freilich nur ein kurzer Prolog und wie könnte ich mir in solch einem Maße selbst Ehre zutragen, wenn ich behaupten würde, die gesamte Predigt von einer Stunde wiedergeben zu können. In diesem Moment kamen mir die beiden Zeitungsartikel in den Sinn und ich erlaubte mir, auch ein kritisches Ohr hinzuzufügen. So wie er angefangen hatte, blieb es nicht, es wurde pathetischer, nach meinem Eindruck auch etwas schwülstiger und mitunter sogar dramatisch, begleitet von heftigen und zuweilen ungraziösen Gestikulationen, aber, wie ich fand, nicht unbedingt tiefgründiger. Was mir nicht unangenehm war, denn jeder soll sich ja selbst Gedanke machen und aus einer Predigt eigene Schlüsse ziehen. Es ging unaufhaltsam weiter:

„Es ist notwendig, die Welt unter die Autorität Christi zu bringen, was sind wir, wer sind wir, Statisten, die eine ausgeleierte Form der Frömmigkeit hervorbringen? Geben wir uns mit dem Anspruch zufrieden, den Kreislauf der Pflicht zu erfüllen und die hervorgebrachte Form des Dienstes aufrecht zu erhalten?! Ich sage Euch, es bedarf waghalsigerer Abenteurer, solche von einer erhabenen Größe, einer heiligen himmlischen Gesinnung, die all den Jammer ins Auge fassen, der auf der Religion lastet, all die Hindernisse, welche ihren Lauf hemmen, um dann herabzusteigen mit der Selbstverleugnung und dem Glauben eines Apostels, um gegen alles den Kampf zu eröffnen.“

Das waren für mich allerdings neuartige und sehr direkte, fast schon kühn anmutende Worte, die ich bislang in dieser Form noch nicht gehört hatte – ausgeleierte Frömmigkeit, Kreislauf der Pflicht oder eine Form des Dienstes. Darf man so zu Gläubigen sprechen? Es war mir vieles unklar und völlig anders, als mir bislang vertraut war. Er zog mich in seinen Bann – ich konnte nicht innehalten, nicht weiter nachdenken, da sofort weitere Ausführungen folgten. Man wurde aufgerüttelt, innerlich hin und her geworfen und blieb mit etlichen Fragen allein zurück. Trotzdem bemerkte ich, wie einige Anwesende bereits schluchzten und ihren Tränen freien Lauf ließen. Er vermittelte auch ein Gefühl von Vertrauen, hier hat Gott jemanden hingestellt, der nicht nur Fragen aufdeckt und stellt, sondern selbst um Antworten ringt, auch wenn er im Augenblick wenig davon beantwortet. Proklamator oder Deklamator, die schmähenden Worte von Mr. Scott kamen mir erneut in den Sinn, aber waren sie wichtig? Nein - ich glaube nicht, ich erlebte eine Stimme mit solcher Wucht und Kraft, dass alle Gläubigen, wie es schien, nach Abendmahl und Segnungen ergriffen und vor allem gestärkt waren! Nach diesen ersten Eindrücken konnte ich die verschiedenartige Berichterstattung in den Zeitungen besser verstehen. Nach knapp zwei Stunden löste sich die Gemeinschaft, begleitet von manchen Wortwechseln, deren Inhalte ich nur bruchstückhaft aufschnappen konnte, langsam und friedlich auf.

Dritte Szene - Grubenunglück

Der Abend nahte heran und London war immer noch geplagt von einem nicht enden wollenden Regen, sodass nun doch beschlossen wurde, die Kamine im Hause zu befeuern. Ich glaubte, der eigentliche Grund für diese Entscheidung war Mrs. Welsh, die sich für den kommenden Ostersonntag angekündigt hatte. Am Abend, nach einem bescheidenen Abendbrot entlassen, versuchte ich, meine Kammer etwas gemütlicher und wohnlicher zu gestalten. Ich stellte Kerzen an verschiedenen Orten auf und allein durch ihr Strahlen entstand eine behagliche Atmosphäre, nachdem ich das Bett nach Wanzen abgesucht hatte und erleichtert war, keine gefunden zu haben, schrieb ich in mein Tagebuch, während der Kamin flackerte und der Regen an das Fenster klopfte. Im Anschluss, nun bereits im Bett, las ich noch etwas in einer weiteren, neueren Ausgabe der Times und stieß auf gleichlautende Meldung:

Grubenunglück in der Kohlegrube zu Lettleton

Von Jones Stone

Eine der schwersten Bergwerk-Katastrophen der jüngsten Geschichte ereignete sich in der Kohlegrube zu Littleton nahe London. Bei einer heftigen Schlagwetter-Explosion starben mindestens 120 Bergleute, viele weitere wurden verletzt. Der Grubenwehr bot sich ein Bild des Schreckens. Die Ursache des Unglücks war zunächst unklar.

Am Abend des vierten April ertönte im Schacht der Zeche zu Littleton ein dumpfer Knall. Kurz darauf heulten die Alarmsirenen, innerhalb kurzer Zeit verbreitete sich die grausame Nachricht in der ganzen Umgebung: Schlagwetter-Explosion in der Grube. Besorgte Angehörige und Bergleute aus der Mittagsschicht drängten zu den Zechentoren. Zunächst gab es keine Auskunft der Zechenleitung, was die Besorgnis über das Schicksal der Angehörigen zusätzlich verstärkte. Die Familien der Bergleute erlebten angstvolle Stunden der Ungewissheit angesichts der ungeklärten Umstände des Unglücks. Wie später die Grubenleitung verlauten ließ, handelte es sich um eine Verkettung von unglücklichen Umständen, umherfliegende, glühende Teile der Sprengkapsel und eine erhöhte Grubengas-Konzentration hatten, so die ersten Vermutungen, die verheerende Explosion ausgelöst. Dies ist nun schon das dritte Unglück innerhalb von zwei Jahren in den Gruben um den Großraum London. Forderungen der Arbeiter über Verbesserungen der Sicherheitsstandards verhallten in den Ohren der Grubenbetreiber bislang jedoch ungehört. Im Hinblick auf die fortschreitende Industrialisierung und den wachsenden Bedarf an Rohstoffen stellt sich jedoch die Frage, ob ein Festhalten an ungenügenden Standards, geringer Bezahlung und mangelhaften Bedingungen nicht die Moral der Bergleute untergräbt, die schlussendlich für den Profit der Unternehmen einstehen.

London den 28.März 1822

Die armen Leute, dachte ich, das ist ja schrecklich! Nach weiterem Stöbern legte ich die Zeitung beiseite und schlief nach einem kurzen Abendgebet ein.

Vierte Szene - Sterbender

Obwohl ich es nicht wahrhaben wollte, fühlte ich mich an diesem Sonnabend ein wenig mitgenommen von der Reise und den Eindrücken der letzten Tage, vielleicht auch, weil es außer dem gleichartigen Frühstück wie am Tag zuvor, so gut wie nichts “Offizielles“ zu essen gab. So versuchte ich, meinen Hunger den Tag über zu unterdrücken. Um nicht vollends zu verzweifeln, stattete ich Maria in der Küche hin und wieder einen Besuch ab. Streng, aber doch verständnisvoll, wie ich gehofft hatte, gegenüber einem Heranwachsenden, erlaubte sie mir augenzwinkernd den einen oder anderen Griff nach etwas Essbarem. Im Gegenzug holte ich ihr einige schwere Sachen, wie Kohlen und Kartoffeln, aus dem Keller. Der Tag verlief ruhig, als plötzlich die Stille von einem vehementen Klopfen an der Haustür unterbrochen wurde. Aufgeschreckt von dem lauten Geräusch eilte ich aus dem Arbeitszimmer meines Onkels, wo wir gerade dabei waren, die Osterpredigt auszuarbeiten und ich ihm, so gut ich konnte, beim Heraussuchen einiger Bibelstellen assistierte, an das Treppengeländer der ersten Etage und sah wie Maria unvermittelt zur Türe stürmte, vor welcher ein Bote stand, der aufgeregt und unüberhörbar verlauten ließ:

„Mr. Irving möchte sofort kommen, ein Sterbender, bitte holen Sie ihn sofort, es ist dringend - schnell!“ Maria hielt vor Schreck die Hände vor ihr Gesicht, raffte sich mit beiden Händen ihre Röcke, eilte die Treppe zum Arbeitszimmer hinauf und vermeldete aufgeregt:

„Reverent Irving, Sir, im Hospital liegt ein Sterbender, Sie sollen schnell kommen, es eilt!“

Onkel Edward gab mir einen Ruck und sagte:

„James, bitte sei doch so gut und begleite mich, das Hospital ist im Häuserblock gleich nebenan, es ist mit der Kapelle verbunden und vornehmlich für unsere schottischen Patienten vorgesehen.“

Onkel Edward griff nach seinem Talar, der Hausbibel, den Utensilien für das Abendmahl und drängte die Treppe hinunter, ich hatte Mühe hinterherzukommen.

Fünfte Szene - Anteilnahme

Als wir im Seitenflügel des Gebäudes, der Krankenstation, eintrafen, empfing uns eine der zuständigen Schwestern. Es war ein großer Raum, die Wände weiß gekalkt, mit dunkel lackiertem Holzboden, zu beiden Seiten standen in sorgfältigen Abständen etwa fünf Krankenbetten, in denen die Patienten in weißen Bezügen lagen. Der Raum hatte zur linken Seite drei große Fenster, die vom Boden bis zur Decke ragten und mit jeweils hellem, halb durchsichtigem Stoff bespannt waren. Am Ende des Raumes stand ein Tisch mit einem österlichen Blumenschmuck, darüber hing ein einfaches Holzkreuz mit einer Figur unseres Herrn Jesu Christi. Der Raum war schlicht möbliert und machte auf mich einen sehr sauberen und gepflegten Eindruck.

„Mr. Irving, gut dass Sie kommen“, sprach die Schwester etwas aufgeregt, „es handelt sich um Mr. Bolt, wir haben Sie rufen lassen, die Schwindsucht wissen Sie, wir können nichts mehr für ihn tun.“

„Schon gut, schon gut“, beruhigte sie mein Onkel, „gut, dass Sie uns gerufen haben, wo liegt denn Bruder Bolt?“

„Im zweiten Bett auf der rechten Seite, Reverent“.

„Wäre es möglich, dass Sie zu beiden Seiten einen Wandschirm aufstellen, damit wir ungestört den Besuch und das Abendmahl abhalten können?“

„Ja selbstverständlich, Reverent“, antwortete die Schwester und eilte fort.