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Man nehme: etwas Ruhrgebietsflair, etwas Science Fiction, etwas Horror, etwas historische Heimatkunde, viel Witz und ganz viel H.P. Lovecraft. Das Ganze werde kräftig umgerührt und man erhält das vorliegende Buch. Was geht da vor in den Tiefen der stillgelegten Zechenanlagen? Was hat es mit den merkwürdigen Fossilien aus der Steinkohlezeit auf sich? Wo kommen die vielen Frösche her? Was ist der Grund für die vielen mysteriösen Todesfälle? Was verbindet eine unterirdische Gasexplosion mit den archäologischen Ausgrabungen im Nahen Osten und einem Flug zur Venus? Und was haben die Nazis damit zu tun? Ein cthuloider Ruhrgebiets-Roman. Eine augenzwinkernde Verbeugung vor dem Meister des Horrors.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Michael Völkel
Originalausgabe Juli 2019
Coverillustration: Metin Irfan Temel
Cover designed by Michael Frädrich
© Copyright Edition Paashaas Verlag
www.verlag-epv.de
Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-043-7
Alle Personen und die Handlung sind frei erfunden.
Sollte jemand der Charaktere Ähnlichkeit mit einer real
existierenden Person haben, ist dies reiner Zufall und nicht
beabsichtigt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der Schrecken im Flöz
„Gähn ... muss das denn sein? Kann ich nicht einfach mit der Story loslegen, ohne mir das Gewäsch des Autors vorher antun zu müssen?“
Klare Frage, klare Antwort:
Natürlich können Sie sofort mit der Story loslegen. Das ist ein freies Land, wer will es verbieten? Sie können das Vorwort vorher lesen oder nachher oder gar nicht. Die meisten entscheiden sich für gar nicht, schon klar. Ich bin nicht dumm genug, dies nicht zu wissen. Aber von jemandem, der das Vorwort nicht gelesen hat, will ich auch hinterher kein Gemecker und keine nerdigen Klugscheißereien hören.
Einer Geschichte wie der folgenden tun ein paar erklärende Worte gut, damit Sie, lieber Leser, mehr Spaß an der Lektüre des vorliegenden Werkes haben.
Fangen wir vorne an und zwar mit H.P. Lovecraft, der von Fans, Fachpublikum und Autorenkollegen gleichermaßen auf den Sockel des größten Horrorautors des 20. Jahrhunderts gehoben wurde. Seine Geschöpfe (allen voran der große Cthulhu), sein grauenerfülltes multidimensionales Universum, seine Ideen ... dies alles findet sich mehr oder weniger deutlich wieder in den Produkten vieler anderer Künstler: Stephen King, Clive Barker, Mike Mignola (was wäre Hellboy ohne seine cthuloiden Einflüsse?), Wolfgang Hohlbein, August Derleth, Robert Bloch, H.R. Giger, Richard Corben, Alan Moore, Philippe Druillet, Metallica ... die Liste ließe sich endlos fortführen.
Meine erste persönliche und prägende Begegnung mit Lovecrafts Cthulhu-Mythos hatte ich übrigens nicht über den Meister selbst, sondern über Brian Lumley, der eine beeindruckende Kurzgeschichte Namens Haggopian schrieb. Später lieferte er mit seiner Necroscope-Saga ein gutes Beispiel dafür, dass es noch immer möglich ist, geistreiche und spannende Vampirgeschichten weitab von Dracula, Twilight oder Blade zu verfassen.
Die Liebe zum Werk Lovecrafts hat mich nie verlassen und so erwachte zwangsläufig irgendwann ein Gedanke: Wenn es sich bei Cthulhu und Konsorten doch um eine Bedrohung für das ganze Universum handelt, warum muss immer Neuengland als Schauplatz für die Geschichten dienen? Warum nicht auch mal das Ruhrgebiet? Was ist besser am Fluss Miskatonic als am Rhein-Herne-Kanal?
Schon klar, auf so eine merkwürdige Idee kann nur ein eingefleischter Ruhri kommen.
Die Idee war geboren, und jetzt galt es nur noch, sie umzusetzen. Das Ergebnis halten Sie in Ihren Händen.
So ein Projekt darf man natürlich nicht akademisch ernst nehmen. Es ist eine Karikatur, eine Persiflage auf Lovecraft und viele andere Bezugsquellen, an der man keinen Spaß haben wird, wenn man nicht bereit ist, mit Augenzwinkern dranzugehen. Es braucht wiedererkennbare Elemente, die dann halt etwas humorvoll interpretiert werden. Wer sich also thematisch an Lovecrafts Ruf des Cthulhu, Schatten über Innsmouth, Berge des Wahnsinns, Der Fall Charles Dexter Ward, Träume im Hexenhaus, Die Ratten im Gemäuer oder Das Fest erinnert fühlt, dem sei gesagt: Recht hast du. Stimmt. Teilweise habe ich sogar in meinen Lovecraft-Ausgaben nachgeschlagen, um nach Formulierungshilfen zu suchen oder komplette Sätze mit nur marginalen Änderungen in dieses Buch zu übertragen. Das muss erlaubt sein. Ist ja keine Doktorarbeit.
Das Ganze wurde dann kräftig durchmischt mit realer Historie, Verschwörungstheorien, Präastronautik, Heimatkunde und zahlreichen Bezügen zu Film, Comic und Literatur – von Erich von Däniken über ‚Ancient Aliens‘ bis hin zu ‚Terra X‘, archäologischer Fachliteratur, esoterischen Büchern, Okkultismus oder der Bibel.
Wer mag, kann dieses Buch auch als kleines Ratespiel im Sinne der TV-Serie ‚X-Factor‘ mit Jonathan Frakes verstehen. Was ist echt, was ist ausgedacht, was ist überliefert und was ist pure Fiktion? Im Internet finden Sie sicher einige Quellenangaben, die Antworten auf diese drängenden Fragen versprechen.
Ich wünsche allen Lesern, Lovecraft-Fans und Freunden des schönen Ruhrgebiets gute Unterhaltung mit diesem Buch.
Möge es auch als Einstieg dienen in die Welt des Lovecraft'schen Horrors, die so viel Spaß macht, dass man sie nicht wieder verlassen möchte.
Michael Völkel
Das Böse braucht nicht viel Platz.
Nur wenig Raum ist nötig, es zu bewahren. Ein verschlossener Tonkrug, ein versiegelter Umschlag, ein winziger Hohlraum in einem Felsmassiv ...
Doch wehe, wenn es freigelassen wird! Dann wird es wachsen und sein elendiges Übel verbreiten weit auf der ganzen Erde. Und das ganze Universum wird erschüttern und erbeben vor dieser unbändigen Kraft.
Frater Anglesias, Theologe des 17. Jahrhunderts
Als echter Glücksfall zu werten ist die Tatsache, dass der Mensch unwissend ist. Er hat sicher viele Fakten sammeln können, doch stehen diese lose nebeneinander, und nur wenige Wagemutige bringen den Willen auf, die Fakten zu verbinden und zu einem großen Ganzen zu machen – darunter Mystiker, Physiker und all jene, die sich dem Blick über den Tellerrand verschrieben haben.
Und sollte es tatsächlich gelingen, dieser Forschung handfeste Erkenntnisse abzuringen, so sind diese von so erschütternder Natur, dass es die Entdecker in die Verzweiflung, den Wahnsinn, zumindest aber ins soziale Abseits treibt.
Denn lieber erklärt der normale Mensch den Boten des Unheils zum Scharlatan, als solch kosmischem Grauen einen Wahrheitsgehalt einzuräumen.
Mir selbst wurde so ein Blick hinter die entsetzlichen Vorhänge der Wirklichkeit zuteil. Seitdem ist mein Leben geprägt von Schlaflosigkeit, Unruhe und wiederkehrenden Angstzuständen. Und eine Chance auf Erlösung zeichnet sich nicht ab, denn selbst mein Therapeut hält mich für bekloppt.
1972 kam es zu einem Grubenunglück in der Zeche ‚Oller Fritz‘ im Ruhrgebiet. Die Ursache konnte nie genau ermittelt werden, doch wurde menschliches Versagen als die wahrscheinlichste angesehen. Einer der wenigen überlebenden Augenzeugen beschrieb Jahre später die Panikattacke eines türkischen Kollegen als Auslöser. Jener stürmte plötzlich laut schreiend aus einem der Stollen und sah aus, als sei er wahnsinnig vor Angst. Er hielt dabei ein Stück Kohle in der Hand und plapperte hastige Sätze auf Türkisch. Der Überlebende, ein siebenunddreißig Jahre alter Steiger mit dem Namen Jupp Gumulski, konnte natürlich nicht verstehen, was sein ängstlicher Kollege da schrie, doch bemerkte er zwei Dinge: einen merkwürdigen Ausruf, der sich immer wiederholte, und dass die Landsmänner des Kollegen in ähnliche Panik verfielen wie der Flüchtende und ihm eilig hinterherrannten.
Dieser Ausruf, der jetzt auch von den anderen türkischen Bergarbeitern ausgestoßen wurde, schien einer Sprache zu entstammen, die nicht für die menschliche Stimme bestimmt ist. Türkisch war es auf jeden Fall nicht.
Auf wiederholtes Nachfragen mühte sich Gumulski, diese Laute zu wiederholen, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Also nahm er sich einen Schreibblock und einen Stift und versuchte, die Worte in Lautschrift zu Papier zu bringen. Gumulski wirkte nicht zufrieden mit seinem Ergebnis, reichte aber den Block dennoch an seinen Gesprächspartner weiter. Besser ging es eben nicht.
Der Mann, der die Notiz entgegennahm, war mein Onkel Klaus, der in der gleichen Zeche arbeitete wie Gumulski, am Tag des Unglücks aber einer anderen Schicht zugeteilt gewesen war. Was er las, war befremdlich. Unbewusst bewegte er die Lippen mit – eine Angewohnheit, die er schon in der Schule gehabt und als Erwachsener niemals hatte ablegen können. Ein kalter Schauer lief ihm dabei über den Rücken und die schlecht fassbare, unwirkliche Vision eines namenlosen, gigantischen Grauens stieg in ihm auf.
„Kutulu Rillyeh!“
Mein Onkel sprach die Worte laut aus und eine unnatürliche Kälte machte sich im Zimmer breit, die auch Gumulski zu spüren schien. Der Steiger schauderte unübersehbar.
Kurz nach der panischen Flucht der türkischen Gastarbeiter seien Geräusche aus dem Stollen gekommen. Ein tiefes Brummen, gepaart mit Obertönen, die jeglichen akustischen Gesetzmäßigkeiten zu widersprechen schienen. Doch dies sei nicht das Schlimmste gewesen. Gumulski erschien es, als würde auf diese entsetzlichen Laute GEANTWORTET. Aus den Tiefen der siebten Sohle drangen vergleichbare Klänge – so, als würde das ganze Bergwerk davon erfüllt.
„Dat war so, als würden diese Stimmen miteinander kommeniziern“, beschrieb der Steiger.
Dann explodierte irgendetwas in dem besagten Stollen. Ein unirdisches grünes Leuchten erhellte die Stollenwände und das Brummen verwandelte sich in eine Art Schmerzensschrei, den Gumulski, wie er mit unbehaglichem Gesichtsausdruck freimütig zugab, niemals würde vergessen können. Zugleich erstarben auch die umgebenden Stimmen und eine unnatürliche Ruhe kehrte ein. Gumulski wollte kein Risiko eingehen, betätigte die Alarmsirene und sah zu, dass er zügig ans Tageslicht kam. Oben angelangt, sah er auch seinen türkischen Kollegen, der noch immer das besagte Stück Kohle in der Hand hielt. Die Verständigung war schwierig, denn in der ersten Generation waren die Deutschkenntnisse der ausländischen Arbeiter noch nicht so doll und der Steiger konnte seinerseits kein Türkisch. Dennoch gelang es ihm, seinen Kollegen davon zu überzeugen, ihm den Brocken zu überlassen.
„Dat war ein Fossil“, erklärte Jupp meinem Onkel. „Aber so wat hab ich echt noch nie geseh'n und später auch nie wieder. Wenn ich et nicht besser wüsste, Klaus, ich sach et dir, da war ein Gewinde. Also nicht nur, da war so ein komisches sternförmiges Ding mit jede Menge so Stippsen dran. Wie so Härchen am Rand. Aber daneben war so ein Teil, ich schwör dir, dat war ein Fünf-Millimeter-Gewinde. So eine Stange mit Gewinde dran, aber als Fossil, verstehste? Als ob da eins von diese Urtiere ein Fünf-Millimeter-Gewinde in irgendwat reingeschnitten hätte. Ich mein, dat is doch ein paar Millionen Jahre her, da gab et noch keine Menschen, wo soll da so ein Gewinde herkommen? Ich hab dat Dingen dann ein' von die Vermessungsingenieure gezeigt, und der hat dat Teil dann mitgenommen, weil er dat sei'm Kumpel zeigen wollte. Da, die Flitzpiepe mit die blonden Haare, der Geologe, den se immer vorbeigeschickt ham, wenn et da irgendwo gerappelt hat im Karton. Ich hab dat Teil dann nie wiedergesehen. Wer weiß, wo dat gelandet is? Ich hab dann auch immer wieder gedacht: ‚Jupp‘, hab ich gedacht, ‚vielleicht hasse dich ja auch bloß vertan und dat war nur ein von diese Stachelhalme.‘ ... Nee ... Schachtelhalme heißen die ... Auf alle Fälle, dat dat irgnsoein Pflanzendingens war, dat nur so komisch aussah, datte denks, dat wär ein Gewinde. Aber dann denk ich, ich bin doch nich bekloppt. Ich weiß doch, wat ich da gesehen hab, und ich schwör dich dat: Dat war ein Fünf-Millimeter-Gewinde.“
Mein Onkel Klaus erzählte mir viele Jahre später, dass er sehr skeptisch gegenüber der Geschichte seines Kumpels Gumulski war, aber es an diesem Tag einfach dabei beließ, denn: „Weißt ja, wie dat ist. Der eine sacht so, der annere sacht so. Da kannze nich sagen, watta stimmt und watta nich stimmt. Und der war da so watt von voll dabei, der Jupp, dat ich gedacht hab, ich halt lieber die Schnauze, da kommt ja jetz eh nix bei rum, wennze mit Diskutieren anfängst.“
Ein paar Monate später habe er jedoch seine Meinung ändern müssen, denn er hatte auf einer Betriebsfeier den Geologen getroffen und ihn auf das Fossil angesprochen. Der allgemein als Flitzpiepe bekannte Mann hieß im wirklichen Leben Stefan Krug und stand zu jener Zeit kurz vor dem Abschluss seiner Doktorarbeit. Er konnte sich sehr gut an das seltsame Artefakt erinnern und schloss sich der Meinung von Steiger Gumulski an: „Das sah tatsächlich überhaupt nicht wie eine Pflanze aus. Da war keinerlei Krümmung. Dieser Stab war schnurgerade, wie industriell gefertigt. Ich weiß, das ist unmöglich, und konnte mir nicht erklären, was ich da in den Händen hielt. Erst dachte ich, da wollte sich jemand einen blöden Scherz mit mir erlauben – wie damals, als die mir meine Thermoskanne mit Sekundenkleber zugepappt hatten. Aber ich bekam sehr schnell heraus, dass es wirklich Kohle war. Circa dreihundert Millionen Jahre alt. Und auch der Stern ... Er sah aus, als hätte er eine Art Fell oder Haare. Kam mir gänzlich unbekannt vor.“
Zeigen könne er das Artefakt nicht, erklärte er meinem Onkel, denn schließlich sei er (also der Geologe) Wissenschaftler und wolle da nichts falsch machen. Er habe das Teil erst seinem Doktorvater gezeigt. Schließlich sei man übereingekommen, es einem kompetenten Paläontologen zu überlassen, der sich mit urzeitlichen Tieren und Pflanzen besser auskennen würde als ein Geologe. Das Untersuchungsergebnis stünde noch aus.
Das Unglück 1972 hatte drei Menschen das Leben gekostet. Sechsundzwanzig weitere Arbeiter waren verletzt worden. Als Unfallursache einigte man sich in Ermangelung einer überzeugenden Erklärung auf menschliches Versagen. Jemand habe die Grubengaswarnung nicht bemerkt und versehentlich eine Explosion ausgelöst.
Onkel Klaus hatte in den Jahren vor seinem Ruhestand immer wieder nach vergleichbaren Artefakten gesucht, war aber nie so recht fündig geworden. Hin und wieder gab es kleine Fragmente, die zu einem der beschriebenen Sterne hätten gehören können, die aber nicht deutlich genug zu erkennen waren, um eine eindeutige Identifizierung zu ermöglichen.
„Ich war da ja auch zum Malochen und nich um da in den Schotter rumzukrabbeln. Die hätten mich doch für bekloppt erklärt und Ärger hätt ich auch gekriegt.“ Irgendwann sei dann ein besonders hohes Tier vom Bergwerkskonzern gekommen und habe das komplette Flöz gesperrt. Die Zugänge wurden zugemauert und mit einer Panzertür versehen. „Wir ham da nie jemand reingehen sehen“, erzählte mir Onkel Klaus, „aber da muss immer wieder mal jemand drin gewesen sein. Auf dem Boden konnte man so Kratzspuren sehen, wie so ein Tortenstück. Wenn die die Tür aufgemacht haben, ist die unten immer so über den Boden gekratzt, und das hat dann so wie mit dem Zirkel so ... na ja ... Kratzer hinterlassen ebend.“
Mein Onkel erzählte mir diese Geschichte irgendwann in den Achtzigern auf dem Geburtstag von Tante Herta aus Röhlinghausen. Fand ich damals spannend, hatte mich aber nicht geschockt. Das kam später in den Neunzigern. Bis dahin dachte ich halt, das wär so eine Art Bergarbeiterlatein von Kumpels, die mal ein bisschen auf die Kacke hauen wollen. Klaus hat auch nie wieder von diesen Ereignissen gesprochen. An diesem Abend bei Tante Herta hatte er schon das eine oder andere Bier getrunken, was seine Zunge vermutlich etwas mehr lockerte, als er es später im nüchternen Zustand wahrhaben wollte.
Die merkwürdige Geschichte von Onkel Klaus dümpelte ein paar Jahre in meinem Kopf vor sich hin. Sie blitzte gelegentlich mal auf, aber darüber hinaus war sie nicht von Bedeutung für mich. Das endete, als Mitte der Neunziger in Süd-Anatolien diese Ausgrabungen begannen. Eine Steinzeitanlage in der Nähe der Provinzhauptstadt Sanliurfa. Der Name kam mir bekannt vor, doch hatte ich Schwierigkeiten, mich an Genaueres zu erinnern. Nach längerem, mehr oder minder intensivem Grübeln spukte eine Frage durch den Kopf: Kamen nicht einige der Arbeiter, die in der Zeche, in der damals '72 dieses Unglück stattgefunden hatte, aus dieser Gegend? Ich wusste es einfach nicht mehr genau.
Göbekli Tepe hieß diese Ausgrabungsstätte, bei der die Archäologen heute noch Freudentänzchen machen. Was die da finden in den Tiefen des ‚bauchigen Hügels‘, soll wohl die Menschheitsgeschichte neu definieren, und alles wäre ganz sensationell und so.
Das fand ich alles noch nicht so richtig spannend, aber dann wurden erste Fotos veröffentlicht. Pfeiler mit Tierdarstellungen in einer Präzision, welche die Steinzeitmenschen noch gar nicht bringen konnten. Die Motive waren auch nicht in den Stein gehauen worden, sondern aus dem Stein heraus. Man hatte drum herum alles weggehauen und bündig abgeschliffen, bis nur die Figur übrig geblieben war. Das nennt man Relief. Da waren jede Menge abgefahrene Wesen dabei: Schlangen, Skorpione, Stiere, Echsen ... Sogar eine menschliche Figur mit einem Riesenpenis, aber ohne Kopf.
„Wenn die Kerle damals schon so drauf waren wie jetzt, wurde dat Dingen bestimmt von 'ner Frau in die Säule gekloppt“, sagte meine liebe Frau seinerzeit. „Die Kerle hatten damals schon kein Kopp mehr, wenn der Schwanz ins Spiel kommt.“
Erst auf den zweiten Blick fiel mir etwas auf. Fast hätte ich es in der Zeitung überblättert. Auf einer der Säulen war ein Stern abgebildet. Fünf Zacken mit Haaren drum herum. Da hat mich glatt der Schlag getroffen. Das war doch genau das, was Onkel Klaus damals auf dem Geburtstag von Tante Herta erzählt hatte. Unter diesem Stern waren ein paar Schriftzeichen aus dem Pfeiler herausgemeißelt worden, die in dieser Form noch gänzlich unbekannt waren und die ich optisch sehr gruselig fand. Onkel Klaus weilte inzwischen nicht mehr unter den Lebenden und – soweit ich wusste – Steiger Gumulski auch nicht. Ich riss die Seite aus der Zeitung heraus, um der Sache selbst nachzugehen. Meine Frau beklagte sich dabei, ich solle die Zeitung nicht zerfetzen, sie habe sie noch nicht gelesen.
Aber wie stellt man Nachforschungen an? Ich bin kein Detektiv und kein Forscher und von wissenschaftlichen Texten verstehe ich gar nichts. Die Berichterstattung der Revolverblätter oder den möchtegern-seriösen Nachrichtenmagazinen würde mir sicher nicht weiterhelfen. Und in die Zeche kam ich nicht rein, denn ich arbeitete über Tage. Also beschloss ich, in der Kneipe um die Ecke bei fünfzehn Glas Bier mal in Ruhe darüber nachzudenken. Die Seite aus der Zeitung kam in einen Schnellhefter und meine Nachttischschublade.
Ein paar Wochen später kam etwas über Göbekli Tepe im Fernsehen. Erst mal das übliche Gewäsch: „Die Menschheitsgeschichte müsse neu definiert werden ... Das seien alles sensationelle Entwicklungen und Entdeckungen ... So was hat man noch nie gesehen ... Die Steinzeit in neuem Licht ...“
Laber, laber und so weiter und so fort. Ich wollte fast schon wegzappen, als ein Linguist zu Wort kam. Man habe jetzt also in aufwendigen Versuchen diese gruseligen Schriftzeichen mit real existierenden Schriften verglichen und die Klänge mit den heutigen Sprachen abgeglichen, sodass man jetzt zwar noch nicht wüsste, was die Zeichen bedeuten, aber so ungefähr, wie sie sich anhören. Da war ich perplex. Ich hätte nicht gedacht, dass man das kann, aber die Wissenschaftler haben ja schon so das ein oder andere drauf. Der Talkmaster wollte natürlich wissen, wie sich diese Sprache anhört. Da druckste der Linguist erst ein bisschen rum, aber dann ließ er sich doch überreden: „Kutulu Rillyeh!“
„Watt zuckst du denn da rum wie so'n Bekloppten?“, wollte meine liebe Frau wissen, als ich aus dem Sessel hochschreckte. „Hat dich da jetz irgendwas im Arsch gestochen oder wat is los?“
Der Rhein-Herne-Kanal verläuft an der Nordgrenze von Herne, die Emscher – ein Nebenfluss des Rheins – nördlich davon. Der Kanal geht ja noch, aber die Ufer der Emscher sind alles andere als ein Erholungsgebiet. Zumindest war das bis in die späten Achtziger so. Davor war die Emscher einfach nur die Industrie-Köttelbecke. Umweltschutz kannte man ja so noch gar nicht, das kam alles später. Auf alle Fälle mussten die industriellen Abwässer irgendwo hin und da standen jetzt die Ruhr, die Emscher und die Lippe zur Auswahl. Damals hatten die Bosse entschieden, die Ruhr und die Lippe in Frieden zu lassen und die Emscher zum Stinkbach des Ruhrgebiets zu machen. Heute würde das sicher alles ganz anders geregelt, aber seinerzeit war das schon recht weit gedacht, dass man lieber einen Fluss ganz platt macht, als drei Flüsse ein bisschen.
Ich hatte mich in der Zwischenzeit tatsächlich etwas schlau machen können, was diese Geschichte mit dem Unglück, dem Gewinde und dem Stern angeht. Das Flöz, in dem 1972 dieser ‚Vorfall‘ stattgefunden hatte (ich wollte die Sache nicht mehr als Unfall bezeichnen), verlief von Herne so halbschräg in Richtung Dortmund und schnitt im Verlauf immer wieder die Bahn des Rhein-Herne-Kanals und der Emscher. Ziemlich im Osten von Herne wurde zu dieser Zeit ein umfangreiches ‚Emscher-Renaturierungsprogramm‘ durchgezogen – mit vielen Baggern und Erdbewegungen ohne Ende. Es wurde hier was abgetragen, da was aufgehäuft, hier ein Wald angepflanzt und da ein Weg angelegt. So viel Action lockt die Neugierigen – und ich war einer davon.