Der schwarze Atem Gottes - Michael Siefener - E-Book

Der schwarze Atem Gottes E-Book

Michael Siefener

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Beschreibung

Nur weil die beiden jungen Mönche Martin und Suitbertus den Hexenschnüffler Pater Hilerius als neue Gesellen auf einer seiner Missionen begleiten, entgehen sie einem Überfall auf ihr Kloster, das dabei bis auf die Grundmauern niederbrennt. Doch schon kurz nach einer Gerichtsverhandlung und einer anschließenden Folterung des Angeklagten durch den Pater in der nahen Stadt hat die Räuberbande, die bei dem Überfall auf das Kloster auch alle Mönche auf bestialische Weise getötet hat, auch die drei gefunden und gestellt. Der geheimnisvolle und überaus brutale Anführer, der sich als Graf Albert von Heilingen vorstellt, scheint es vor allem auf den Pater abgesehen zu haben – der, so der Graf, eine wichtige Rolle in der bevorstehenden Apokalypse einnehme, die vom schwarzen Atem Gottes ausgehen werde … Für Martin, der für sich ein Leben im Kloster plante, bedeutet dies den Auftakt zu einer langen Reise, auf der er viele neue Freunde und Feinde trifft und die ihn bis in die Goldene Stadt führt – in das Prag Rudolph II., wo sich das Schicksal der Menschheit entscheidet. "Siefeners an klassischen Vorbildern geschulte unheimliche Geschichten gehören zum Besten, was die deutsche Phantastik bislang hervorgebracht hat." (Joachim Körber) "Auf dem Gebiet der Weird Fiction ist Michael Siefener stilistisch wie inhaltlich einer der besten, wenn nicht der beste deutschsprachige Autor der Gegenwart." (Carsten Kuhr)

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Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

Epilog

Weitere Atlantis-Titel

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg März 2022 Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild, Innengrafiken & Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Printausgabe: 978-3-86402-825-0 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-055-1 Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

Prolog

Der rasche und gewaltsame Untergang des fränkischen Benediktinerklosters Eberberg nahm seinen Anfang in den Abendstunden des 22. Mai im Jahre des Herrn 1599.

Abt Odilo von Braunfels saß auf seinem hochlehnigen, mit reichem Schnitzwerk verzierten Stuhl im Kapitelsaal. Er biss sich auf die Unterlippe und warf einen kurzen Blick durch das spitzbogige, klarverglaste Fenster hinaus auf die das Kloster im Osten umgebenden Felder und den dunklen Tannenwald, der sich in der Ferne anschloss und der auf den Abt wie eine Mauer wirkte, hinter der sich die Welt in Chaos und Verwirrung verlor. Die Sonne war bereits untergegangen; sanfte Abenddämmerung legte sich über die reglosen Felder und den finsteren Wald. Es wurde zunehmend schwieriger, nach draußen zu schauen, denn die vielen Fackeln, die in Halterungen an den Wänden des Kapitelsaals blakten, spiegelten sich in dem hohen Fenster; ihre Flammen zuckten über Wald und Tal und schufen so den Eindruck, als vergehe das Gebiet jenseits der Klostermauern in einem alles verzehrenden Weltenbrand.

Abt Odilo wandte den Blick von diesem beunruhigenden Bild ab und schaute ängstlich vor sich. Er war nicht allein in dem fast quadratischen Kapitelsaal. Auf den Steinbänken, die an den drei übrigen Wänden entlang verliefen, saß der gesamte Konvent, der wie gackernde Hühner hier zusammengetrieben worden war. Die Gesichter der Mönche waren rot vom Widerschein der Fackeln, der ihre Augen zu feurigen Spiegeln und ihre vor Furcht offen stehenden Münder zu Schlünden der Hölle machte. Sie alle starrten auf die einzelne, massive Säule, die sich in der Mitte des Saales erhob und das fein gearbeitete Kreuzrippengewölbe trug, das sich mit seiner Sternbemalung wie der Himmel selbst über dem Konvent erhob. Doch heute hatte dieser Himmel nichts Tröstliches an sich. Auch er stand in Flammen. In Schattenflammen.

Um die reich kannelierte Säule mit ihrem dicken Schaft hatten sich Gestalten versammelt, die nur ein Auswurf der Hölle sein konnten. Sie waren zerlumpt, und das Feuer in ihren Augen loderte im Wettstreit mit den vielen Fackeln an den Wänden. In den Händen hielten sie Messer, Dolche und Schwerter, deren Klingen im zuckenden Licht gleißten und glitzerten.

Unter diesen Dämonen stand aufrecht und mit in die Hüften gestemmten Fäusten ein Mann, der wie ein Diamant inmitten eines noch glimmenden Aschenhaufens wirkte. Er trug ein Wams aus glänzender roter Seide, das nach neuester Mode geschlitzt und mit schwarzem Samt unterlegt war, sodass es die Schatten und die Flammen aufnahm und den eleganten Mann wie ein Feuerwesen wirken ließ, wie einen der sagenhaften Salamander, denen keine noch so große Hitze etwas anhaben konnte.

Der Mann lächelte. Seine schwarzen Augen funkelten, und er kraulte sich den sorgfältig geschnittenen Vollbart. Er nickte kurz, wie um den Abt zum Reden aufzufordern; dabei wippte die ausladende Pfauenfeder an seinem pelzbesetzten Barett aufreizend hin und her.

»Nein, das kann ich nicht«, sagte Abt Odilo schließlich und griff mit seiner fleischigen Hand nach dem goldenen Kreuz, das ihm vor der Brust baumelte. Er spielte mit dem dünnen Querbalken, wie er es immer tat, wenn er eine Entscheidung treffen musste, die ihm zuwider war.

»Ich verstehe Euch nicht, ehrwürdiger Vater«, sagte der Mann und blickte geradezu erstaunt und enttäuscht aus seinen dunklen Augen, die jede Sekunde einen anderen Ausdruck anzunehmen schienen: einmal boshaft, dann wieder sanft, doch sofort darauf zornig, danach belustigt und manchmal all das zugleich. »Was habt Ihr denn davon, wenn Ihr es mir verheimlicht?«

»Ich rechte nicht mit dir, Satan«, erwiderte der Abt leise; es klang, als müsse er seine ganze Kraft und seinen ganzen Mut zusammennehmen, um überhaupt ein Wort sagen zu können. Jetzt hielt er das Kreuz auf seiner Brust so fest gepackt, dass die Knöchel seiner fetten Hand weiß aus dem rosigen Fleisch hervorstachen.

»Satan?« Der Mann lachte. Seine Bande fiel krächzend und rau in dieses Gelächter ein. So musste sich das Lachen der Hölle anhören. »Zu viel der Ehre.« Der Mann richtete sich noch etwas mehr auf. Er war größer als die meisten seiner Genossen, aber seine Dürre ließ ihn nicht sehr imposant erscheinen. Es war die reiche, vornehme Kleidung, die seine majestätische Wirkung ausmachte, nicht der in ihr verschwindende Körper. Er hob die Hand, und als hätte man den rauen Buben allesamt im selben Augenblick die Kehle durchgeschnitten, herrschte absolute Ruhe.

»Entspricht es Eurem Verständnis von christlicher Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft, einem armen Sünder den löblichsten Wunsch, den er in seinem verworfenen Leben je gehegt hat, abzulehnen und ihn im wahrsten Sinne des Wortes zum Teufel zu jagen? Was will ich denn mehr als eine Unterredung mit dem heiligmäßigen Pater Hilarius, auf dass er meine Seele auf den rechten Weg führe und die drängendsten Fragen, die mein elendes Dasein quälen, beantworte?«

Der Abt gab sich einen Ruck. »Der heiligmäßige Pater Hilarius ist in einer Mission unterwegs, die ihn frühestens in einer Woche zurück in unser geliebtes Kloster führt.« Seine Worte klangen nun fester und bestimmter. Er ließ das Kreuz vor seiner Brust los.

»So lange kann ich nicht warten.«

»Dann kann ich nichts für dich tun.«

»Oh doch, das könnt Ihr. Wenn Ihr mir sagt, wo ich Pater Hilarius finde, wäre uns allen geholfen.«

»Dir wäre geholfen, willst du damit wohl sagen.« Der Abt wollte sich ablenken und versuchte noch einmal, aus dem hohen Spitzbogenfenster zu schauen, doch draußen war es bereits so dunkel, dass er dort nichts mehr erkennen konnte. Er sah im Widerschein der Fackeln das Innere des Kapitelsaals und seine Mitbrüder, die noch immer reglos auf die Eindringlinge starrten und zu befürchten schienen, dass sie sogleich unter Blitz und Donner geradewegs in die Hölle entführt würden.

Der Mann ergriff wieder das Wort. »Ich sehe, dass wir uns im Kreis bewegen. Mir scheint, Ihr benötigt einen Ansporn, um Eure Zunge zu lösen. In Ermangelung eines guten Tropfens werden wir wohl auf ein anderes Mittelchen verfallen müssen. Hütlein!«

Einer der Verlotterten löste sich aus der Gruppe; es war ein mittelgroßer Kerl mit leeren Augen, braunem, verfilztem Haar, einem zerschlissenen Lederwams und einem riesigen Schwert, das beinahe so groß war wie er selbst. Er stürmte auf die ihm am nächsten gelegene Steinbank zu und packte wahllos einen der Mönche am Arm. Der Mönch quiekte auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wollte um sich schlagen, doch als der Bandit mit erstaunlicher Leichtigkeit sein Schwert hob, war der Geistliche sofort still. Widerstandslos ließ er sich neben den Anführer der Bande ziehen.

»Sehr schön«, sagte dieser. »Wen haben wir denn da?«

Der Mönch brachte keinen Laut hervor.

»Ich frage dich noch einmal, Bruder: Wie heißt du?«

»Das ist Pater Hieronymus«, antwortete der Abt schnell für seinen Mitbruder. Unwillkürlich kroch seine Hand erneut auf das große Goldkreuz über seinem Bauch zu.

»Falsch!«, zischte der Anführer. »Das war Bruder Hieronymus.«

Hütlein holte weit aus und schlug mit infernalischer Kraft auf den bedauernswerten Mönch ein. Der Hieb spaltete ihm den Schädel. Graue Hirnmasse spritzte aus den beiden auseinanderklaffenden Hälften hervor und platschte auf den Steinfußboden vor dem Stuhl des Abtes. Das Schwert blieb zwischen den Schulterblättern stecken. Hütlein zog es mit einem heftigen Ruck heraus. Die Mönche kreischten auf.

»Vielleicht haben wir jetzt eine bessere Grundlage für unser Gespräch gefunden«, sagte der Anführer mit eisiger Kälte in der Stimme. Er lächelte.

Der Abt wollte etwas sagen, doch mehr als ein atemloses Krächzen brachte er nicht hervor.

»Nun, gut, wie ich sehe, reicht Euch der Beweis meiner Entschlossenheit noch nicht aus. Hütlein!«

Und wieder stürmte der Mordgeselle auf dieselbe Bank zu, doch diesmal machte er sich nicht mehr die Mühe, einen der Mönche auf die Beine zu zerren. Er stach einfach mit seinem gewaltigen Schwert auf einen der Fratres ein. Der Getroffene sackte zusammen. Hütlein zog das blutige Schwert aus ihm hervor, drehte sich kurz nach seinem Herrn und Meister um und hieb dann dem unglücklichen Nachbarn des durchbohrten Mönchs den Kopf mit einem einzigen Streich von den Schultern. Das abgeschlagene Haupt, dessen Augen in ungläubigem Entsetzen aufgerissen waren, polterte mit einem abscheulich dumpfen Geräusch zu Boden.

»Halt ein!«, rief Odilo so laut er konnte. »Ich sage dir, wo Pater Hilarius ist.« Sollte sich dieser doch mit dem Dämonenhaufen herumschlagen; schließlich war er geübt darin. Der Abt wollte nur noch die versammelten Mitbrüder schützen – und sich selbst.

»Warum denn nicht gleich so?«, fragte der Anführer belustigt.

»Er ist mit den Brüdern Suitbertus und Martin nach Volkach gereist, wo er in seiner Eigenschaft als unfehlbarer Hexenschnüffler an einem Zaubereiprozess teilnimmt. Hüte dich vor ihm, wenn du auf ihn triffst. Ihn wirst du nicht so leicht besiegen. Möge die Hölle dich verschlingen.« Erst jetzt spürte Odilo den Schmerz in seiner rechten Hand und bemerkte, dass er die Querbalken seines Brustkreuzes zerbrochen hatte; sie hatten sich in das weiche Fleisch gebohrt und pressten große Blutrubine aus ihm hervor.

»Ich danke Euch für dieses aufschlussreiche und überaus angenehme Gespräch, ehrwürdiger Vater, und auch für Eure wohlgemeinte Warnung. Ich hoffe, dass Ihr nun begreift, wie dumm Eure anfängliche Weigerung war, deren Folgen Ihr Euch selbst zuzuschreiben habt. Da ich annehme, dass Ihr mit dieser Schmach und Sünde nicht mehr weiterleben wollt, werde ich Euch die Gefälligkeit erweisen, Euch und Eure erbarmungswürdigen Brüder vom Antlitz dieser Erde zu tilgen. Möge Euer schwacher Gott Euch aufnehmen – wenn er kann.« Er drehte sich um und verließ den Kapitelsaal.

Seine dämonischen Schergen machten sich mit Feuereifer an die blutige Arbeit. Danach legten sie an verschiedenen Stellen der Abtei Brände, die die Nacht zum Tag machten.

Nun verging das Kloster selbst in einem alles verzehrenden Weltenbrand.

1. Kapitel

»Was glaubt Ihr, Pater Hilarius«, fragte Bruder Martin, während er sich noch eine Scheibe von dem dicken Brotlaib abschnitt, der zwischen zwei zusammengerollten Würsten auf dem blank gescheuerten Holztisch lag, »wird der schändliche Zauberer sein gottloses Werk freiwillig gestehen?« Er kaute abwechselnd an dem Brot und dem Wurstzipfel, den er neben seinem Weinbecher zurechtgelegt hatte, und spülte mit dem leicht herben, verdünnten Wein nach.

»Dann könnte er vielleicht noch seine Seele retten«, mischte sich Bruder Suitbertus ein, der neben Martin saß und sich gleichermaßen dem Morgenschmaus ergeben hatte. Von seinen Fingern tropfte das Wurstfett, das er sich mit einer kleinen Brotkante abwischte. Danach verschlang er rasch das glänzende Brot.

»Diese verstockte Bande gesteht nie etwas«, erwiderte Pater Hilarius, der den beiden jungen Mönchen gegenübersaß und kaum etwas von dem Frühstück angerührt hatte. »Und ob sich Gott seiner armen, irregeleiteten Seele gnädig erweisen wird, kann niemand wissen. Ich für meinen Teil hoffe, dass dieser Ketzer und Hexer auf ewig in der Hölle schmoren wird.« In seinen Augen brannte ein seltsames Feuer.

Bruder Martin fragte sich nicht zum ersten Mal, warum der im Rufe der Heiligkeit stehende Pater Hilarius kaum je etwas aß und doch einen so gewaltigen Leibesumfang hatte. Sein langes Gesicht mit den großen Pferdezähnen war zwar in der Tat eingefallen und hager und erinnerte Martin an das eines Geiers, doch seine schwarze Kutte wölbte sich über einem beträchtlichen Bauch, der es seinem Träger kaum möglich machte, nahe genug an den Tisch heranzurücken, um bequem essen zu können.

Plötzlich rammte ihm Bruder Suitbertus den Ellbogen in die Seite und deutete mit einer weiteren Brotkrume in die Mitte des zu dieser Tageszeit noch beinahe leeren Schankraumes. Dort stand die junge Magd des Wirtes vor einem der Tische, wischte ihn mit einem dreckigen Lappen ab und beugte sich dabei so tief in die Richtung der Mönche, dass der Ausschnitt ihres einfachen, etwas zerknitterten Kleides Ausblicke preisgab, an die der arme Bruder Martin noch nicht gewöhnt war. Es war seine erste längere Abwesenheit aus dem Kloster Eberberg, und die neue Welt, in die er nun hineingeraten war, verwirrte ihn noch sehr.

»Ein hübsches Früchtchen«, zischte Suitbertus, der zwar ein Jahr jünger als Martin war, jedoch auf Botengängen bereits häufiger die Klostermauern hinter sich gelassen hatte.

»Aber mein Bruder«, flüsterte Martin atemlos zurück, »du hegst doch wohl nicht etwa unkeusche Gedanken?«

»Weißt du überhaupt, was unkeusche Gedanken sind?«, gab der andere grinsend zurück.

Die Magd richtete sich wieder auf und lächelte die Mönche an. Martin spürte, wie er rot im Gesicht wurde. Er richtete den Blick ganz fest auf Pater Hilarius und versuchte sich abzulenken. »Wird es gefährlich für uns sein?«, fragte er den Pater.

»Nicht, wenn ihr genau das tut, was ich euch sage«, gab er zur Antwort. »Ihr werdet einen Blick in den Abgrund der Hölle werfen, aber ich bin ja bei euch. Schluckt herunter; wir müssen gehen.«

Suitbertus steckte noch schnell ein Wurststück unter seine Kutte. »Wegzehrung«, flüsterte er.

Pater Hilarius stand langsam auf; sein enormer Bauch wippte hinter der Tischkante hervor und verblüffte Martin ein weiteres Mal. So ähnlich stellte er sich den heiligen Thomas von Aquin, den Doctor Angelicus vor, für den man damals sogar eine Ausbuchtung in den Refektoriumstisch geschnitten hatte, doch das Gesicht des Paters Hilarius wollte einfach nicht zum Rest seiner Erscheinung passen. Natürlich, der Pater hatte schon schreckliche Dinge gesehen und mehr als einmal mit den Mächten der Hölle gekämpft, was ihn beträchtlich älter aussehen ließ als die zweiundfünfzig Jahre, die er zählte, aber es war etwas an ihm, das Martin einfach nicht verstand. Als der Pater ihn vor Kurzem zu seinem Gesellen im wichtigen und gefährlichen Handwerk der Hexenschnüffelei bestimmt hatte, war ihm gar nicht wohl gewesen, auch wenn er den älteren Mönch fast wie einen Heiligen verehrte und der Umgang mit ihm eine hohe Auszeichnung war, um die ihn viele seiner Mitbrüder beneideten. Doch Martin konnte nicht verleugnen, dass er Angst hatte. Angst vor dem, was der heutige Tag bringen würde.

Und Angst vor Pater Hilarius.

Auf dem Weg zum Rathaus, in dem der Zauberer gefangen saß und verhört werden sollte, kamen die drei Mönche am Marktplatz des kleinen Städtchens vorbei. Noch nie hatte Martin ein solch buntes Treiben gesehen. All die Karren, Stände, Waren, das Geschrei der Verkäufer, die umhertollenden Kinder, die Gerüche von Obst, Gemüse und Fischen, die Laute der frei herumlaufenden Schweine, der eingepferchten Lämmer und der gackernden Hühner erfreuten und verwirrten ihn zugleich.

Als sie gestern in Volkach angekommen waren, hatte das Städtchen schon in tiefem Schlaf gelegen, und es war gar nicht einfach gewesen, durch das Tor hineingelassen zu werden. Alles hatte so ruhig gewirkt, so tot. Jetzt dagegen war das Leben mit all seinem Lärm, seiner Buntheit und seinen Aufregungen zurückgekehrt.

Zu lange hatte Martin hinter Klostermauern gesessen, zu lange hatte er die Welt nicht mehr gesehen. Schon als kleines Kind war er von seinen Eltern an der Pforte abgegeben worden, weil sie ihn nicht mehr hatten ernähren können; er hatte sie nie wiedergesehen. So war das Kloster ihm Vater und Mutter geworden, und über der Betrachtung Gottes hatte er die Betrachtung der Welt völlig vergessen. Daher war er froh, als sie endlich in den Laubengang des Rathauses traten und Hilarius gegen das schwere Portal pochte.

Es wurde von einem Büttel geöffnet, der die Geistlichen offenbar schon erwartet hatte. Mit einem tiefen Diener verbeugte er sich vor ihnen und ließ sie wortlos in die hohe Halle eintreten, die Martin an den Kapitelsaal seines Klosters erinnerte. Er bemerkte, dass er sich bereits heftig nach Eberberg zurücksehnte. Dort war die Welt so überschaubar und klar gefügt.

Der Büttel führte die drei Mönche über eine breite Treppe in einen großen Saal, an dessen Stirnwand ein langer Tisch stand. Vor ihm kauerte einsam und verloren wirkend ein einzelner Stuhl wie ein Büßer vor den Augen des Gerechten.

Martin sah sich kurz um. Die Decke bestand aus altersgeschwärzten Balken; an der dem Tisch gegenüberliegenden Wand befand sich ein gleichermaßen geschwärzter, riesiger Kamin, und in den Boden war ein verschlungenes, stark abgetretenes Intarsienmuster eingelassen.

»Der Richter und die Schöffen sowie der Notar werden bald eintreffen«, sagte der Büttel mit einer lächerlich hohen, näselnden Stimme, die beinahe unter der Wichtigkeit der Worte zerquetscht wurde. »Wenn Eure Ehrwürdigkeiten bitte hier Platz nehmen möchten …« Er wies ihnen die drei Außenplätze an der Fensterfront zu.

Zuerst setzte sich Pater Hilarius; er nahm den Stuhl, der sich der Mitte am nächsten befand; ihm folgte wie selbstverständlich Bruder Suitbertus, und für Martin blieb der Außenplatz übrig. Er ließ sich mit einem leisen Seufzer auf dem knarrenden, altersschwachen Stuhl nieder. Gern hätte er einen Blick aus den Fenstern geworfen, die dem Lärm nach zu urteilen auf den Marktplatz hinausgingen, aber ihre grünen Butzen waren so uneben, dass er kaum mehr als Schemen hinter ihnen erkennen konnte.

Jetzt trat das Hohe Gericht ein: ein Richter, der einen pelzbesetzten Umhang trug, welchen er auch im Raum nicht ablegte, vier Schöffen, die keineswegs den hehren Vorstellungen entsprachen, die sich Martin von einem Gericht gemacht hatte, und ein Notar mit einem staubigen Wams und fadenscheiniger Hose, deren Stoff an den Knien schon sehr dünn geworden war. Unter dem Arm trug er einen Stoß unbeschriebenes Papier sowie ein Aktenfaszikel, und in der rechten Hand hielt er einen Gänsekiel wie einen Dolch nach vorn auf einen unsichtbaren Feind gerichtet. Er sah niemanden an und steuerte sofort auf den äußersten Platz am rechten Ende des Tisches zu. Dort breitete er seine Schreibgeräte aus, schob die Akten in die Mitte des Tisches, spitzte dann geräuschvoll den Kiel und holte aus den Tiefen seines Umhangs ein kleines Tintenfass hervor, das er lautstark auf der Tischplatte abstellte.

Der Richter begrüßte die Mönche förmlich, aber nicht ohne Ehrerbietung; Martin bemerkte, dass die Motten viele kleine Löcher in dessen Umhang gefressen hatten. Die Schöffen hingegen nickten der Geistlichkeit nur kurz zu.

»Ungehobelte Tölpel«, zischte Bruder Suitbertus, »die niedrigsten ihrer Zunft. Und so etwas spricht Recht! Pah!« Er beugte sich ein wenig nach vorn, zog die aus dem Wirtshaus mitgebrachte Wurst unter seiner Kutte hervor und biss ein Stück ab. Sofort setzte sich ein Lächeln auf seinen kauenden Mund.

Dann wurde der Beschuldigte von zwei mit kurzen Lanzen bewaffneten Bütteln hereingeführt. Martin betrachtete ihn aufmerksam und ängstlich zugleich. Es war ein kleiner, dicklicher Mann mit einer Halbglatze, sodass er beinahe wie ein tonsurierter Mönch aussah. Er steckte in einer härenen, grauen Kutte, die ihm bis fast zu den Füßen reichte. Seine Hände waren hinter dem Rücken mit einem groben Strick zusammengebunden. Der Gefangene zuckte mit den Schultern, als wolle er seine Fesseln etwas lockern, damit sie ihm nicht so sehr ins Fleisch schnitten. Er wurde unsanft auf den Stuhl gesetzt, der unter ihm ächzte und knackte. In seinen Augen lag Angst.

Als Martin den besorgten Blick des Gefangenen auf sich ruhen spürte, sah er verlegen fort. War das etwa ein gefährlicher Zauberer, der den Heerscharen der Hölle gebieten konnte? Martin hatte sich ein völlig anderes Bild von ihm gemacht – ein dämonischeres.

Das Verhör begann. Zunächst wurde der Mann nach seinem Namen gefragt. Der Notar schrieb ihn eifrig nieder. Dann ging der Richter auf die Vorwürfe der Zauberei ein, die dem Angeklagten zur Last gelegt wurden:

»Gestehst du, dass du der Meierin die Kuh auf zauberische Weise leer gesaugt hast?«

»Ich gestehe nicht«, antwortete der vermeintliche Zauberer leise. Martin warf einen seitlichen Blick auf Pater Hilarius. Dieser starrte den kleinen Mann an, als wolle er ihn durch die Macht seines priesterlichen Blickes versengen.

»Gestehst du, dass du das Kind der Schmidtlin getötet hast, als du bei ihr warst und Brot von ihr gekauft hast?«

»Ich gestehe nicht.« Jetzt klang es schon fester.

»Gestehst du, dass …«

Martin hörte bereits nicht mehr zu. Sein Blick glitt wieder zu den grünen Butzenscheiben und den Schemen dahinter. So langweilig hatte er sich einen Zaubereiprozess nicht vorgestellt. Welche absurde Angst hatte er doch vor diesem Verfahren gehegt, aber wenn er ganz ehrlich zu sich war, so war diese Angst in gewisser Weise auch erregend gewesen. Nun aber schien alles auf einmal so durchschnittlich und unwichtig zu sein. Seine Gedanken schweiften ab. Wie gierig Bruder Suitbertus nach der drallen Magd in der Schänke gestarrt hatte … das war widerlich gewesen.

»… gestehe nicht.« Jetzt hörte es sich bereits beiläufig an.

Plötzlich sprang Pater Hilarius auf. Sein Bauch schaukelte über der Tischkante. »Es ist genug!«, donnerte er. Der Angeklagte fuhr zusammen. »Dieser Wicht wird hier nichts gestehen! Die Befragung ist unsinnig. Auf die Folter mit ihm! Wir wollen doch einmal sehen, ob die zupackenden Daumenschrauben seine Zunge nicht zu lösen vermögen! Und das Streckbrett! Und die Spanischen Stiefel!« Er stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab. Sein merkwürdig schmales, verhärmtes und faltiges Gesicht war hochrot geworden.

»Gemach, gemach«, wiegelte der Richter ab. »Wir müssen uns an die Regeln halten. Und das Gesetz schreibt vor, den Angeklagten zuerst mit seiner Anklage bekannt zu machen, wie Ihr sehr genau wisst. Wir sind noch nicht fertig.«

Pater Hilarius wandte sich dem Richter zu. »Glaubt Ihr etwa, dass er auch nur ein einziges Mal eine andere Antwort geben wird? Der böse Feind flüstert ihm immer nur diese drei Worte ein. Vertraut auf meine Erfahrungen; schließlich habt Ihr mich nach Eurem Gutdünken beigezogen.«

»Ich werde mich an Euch wenden, sobald ich Eurer Hilfe bedarf«, sagte der Richter. Eiseskälte schwang in seiner Stimme mit. Dann fuhr er mit dem Katalog der Beschuldigungen fort. Erst als der letzte Punkt verlesen war und der Angeklagte zum letzten Mal »Ich gestehe nicht« gesagt hatte, stand der Richter auf und verkündete: »Hiermit ordne ich die peinliche Befragung des Angeklagten an. Man bringe ihn in die Folterkammer.«

Die beiden Büttel ergriffen den kleinen Mann, zogen ihn vom Stuhl hoch und zerrten ihn mit sich aus dem dunklen Saal. Das Gericht erhob sich, und auch Pater Hilarius war bereits aufgestanden.

Martin sah ein letztes Mal zu den grünen Butzenfenstern hinüber. Er zuckte zusammen.

Ihm war, als habe er einen riesigen, schwarzen Schemen hinter ihnen gesehen. Und ihm war, als höre er ein fernes, böses Lachen.

Fackeln brannten an den Wänden des unterirdischen Gewölbes. Martin war noch nie in einem solch unheimlichen Raum gewesen. Natürlich gab es auch im Kloster finstere Keller, in deren Schatten es raschelte und huschte, doch hier herrschte eine völlig andere Atmosphäre. Hier waren es nicht die ungewissen Dinge, die Furcht erweckten, sondern die gewissen, die klar und deutlich zu sehenden: das Streckbrett, der Folterstuhl mit den unzähligen Nägeln auf der Sitzfläche, die unscheinbare Rolle an der Decke, über die das Seil gelegt war, an dem der Angeklagte nun mit noch immer auf den Rücken gebundenen Händen hochgezogen hing, sodass es ihm die Schultern auskugelte, die vielen Bein- und Daumenschrauben, die noch auf ihren Einsatz warteten, die säuberlich auf einem kleinen Tisch neben der Tür aufgereihten Mundbirnen in verschiedenen Größen und einige Instrumente, deren Gebrauch er nicht aus den Erklärungen erraten konnte, die ihm Pater Hilarius bereits im Kloster gegeben hatte.

Dem Angeklagten, an dessen Namen sich Martin schon nicht mehr erinnerte, waren die Marterinstrumente gezeigt worden, aber auch das hatte ihn nicht zum Reden gebracht. Daraufhin hatte Pater Hilarius angeordnet, dass er aufgezogen werden sollte. Man hatte ihm einen schweren Steinklotz an die Beine gebunden, und jetzt zerrten die beiden Büttel heftig an dem Seil, das dem Zauberer die Arme hinter dem Rücken hochriss. Der Nachrichter, dem die Folterung eigentlich oblag, stand stumm und mit finsterer Miene daneben. Er mochte es offensichtlich nicht, wenn man sich in seinen Aufgabenbereich einmischte.

Die Schreie des Zauberers waren markerschütternd.

»Gestehst du nun endlich deine Schandtaten?«, rief Pater Hilarius. Um ihn herum standen der Richter und die Schöffen. Der Notar hielt sich etwas abseits. Es gab kein Geständnis, das er hätte aufschreiben können. Außer den Schreien gab der Angeklagte nichts von sich. Pater Hilarius wandte sich Bruder Martin zu und murmelte: »Der Teufel hat ihn verstockt.«

»Man muss ihm nur noch ein paar Gewichte an die Beine hängen«, brummte der Nachrichter und überkreuzte die Arme vor dem ausladenden Brustkorb.

»Nehmt ihn ab«, befahl der Pater stattdessen. Der Nachrichter zog ein grimmiges Gesicht, machte aber keine Einwände.

Die Büttel ließen das Seil gleichzeitig los, sodass der Zauberer mit einem heftigen Schlag auf den Boden prallte. Sein Schreien ging in ein Röcheln über.

Pater Hilarius kniete sich neben ihn und sagte: »Du solltest jetzt besser gestehen, denn auf der nächsten Folter wirst du dich nach der vergangenen zurücksehnen wie nach einem lauen Sommerabend.« Martin sah, wie der gekrümmt am Boden liegende Mann den Kopf schüttelte.

Dann wurde er auf den Nagelstuhl gesetzt, und gleichzeitig legte man ihm Bein- und Daumenschrauben an. Blut quoll unter den Fingernägeln und aus den Schienbeinen hervor. Er schrie, wimmerte, heulte, aber er sagte noch immer nichts.

Erst als alle Schrauben ein weiteres Mal angezogen wurden, rief der Angeklagte: »Halt! Ich gestehe!«

Sofort befahl Pater Hilarius den Schergen, die Schrauben zu lösen und den Zauberer auf einen gewöhnlichen Stuhl zu setzen. Dann stellte er sich vor den Geschundenen und fragte: »Bist du nun bereit, deine schändlichen Taten zur höheren Ehre Gottes zu gestehen?«

»Du sagst es. Zur höheren Ehre Gottes«, keuchte der Mann. »Alles habe ich zur höheren Ehre Gottes getan.«

Pater Hilarius sprang auf. »Besudele nicht den Namen des Allmächtigen!«, schrie er außer sich vor Wut. »Willst du etwa behaupten, dass du mit deinen schändlichen Zaubereien Gott dienen wolltest? Das ist Blasphemie!«

»Nein«, stöhnte der Zauberer. »Ich gestehe, dass ich Zauberei getrieben und die Mächte der Finsternis angerufen habe. Doch es ist nur zu einem guten Zweck geschehen.« Er krümmte sich vor Schmerzen auf dem Stuhl zusammen.

»Weißt du nicht, dass es ein schreckliches Verbrechen ist, mit bösen Mitteln Gutes tun zu wollen?«, sagte Pater Hilarius, der seine Wut wieder unter Kontrolle gebracht hatte.

»Wenn der Himmel schweigt, muss man die Hölle befragen, um die Welt zu retten.«

»Um die Welt zu retten? Hat dir die Folter etwa auch das Hirn ausgerenkt?«

»Die Apokalypse …« Weiter kam der Zauberer nicht mehr. Er fiel von dem Stuhl herunter und geradewegs vor die Füße des Paters. Martin, der neben ihm stand, wollte einen Schritt zurückweichen, doch Hilarius packte ihn mit erschreckender Schnelligkeit am Arm und hielt ihn fest. »Schau genau hin«, zischte er seinem jungen Gehilfen zu. »So sieht ein Geschöpf der Finsternis aus.«

Die Büttel hoben den Mann auf und setzten ihn wieder auf den Stuhl. Hilarius kniete sich, wobei ihm sein Bauch beträchtliche Schwierigkeiten machte, und brachte sein langes, geierhaftes Gesicht nahe an das des Zauberers heran. »Was meinst du mit der Apokalypse?«, fragte er und packte den Mann bei den rundlichen Wangen.

Der Zauberer schaute Pater Hilarius an. In seinem Blick lagen Angst und Erschöpfung. »Der Untergang …«, sagte er leise.

»Genauer«, forderte der Geistliche.

Der Zauberer seufzte auf. »Der Untergang der Welt ist vor Gottes Augen eine beschlossene Sache. Die Engel wissen es und die Dämonen auch, doch die Engel sagen nichts. Also haben wir die Dämonen beschworen. Aber mit den lächerlichen Hexereien, die man mir vorwirft, habe ich nichts zu tun.«

»Wie bist du dann in den Geruch der Hexerei gekommen?«, fragte Pater Hilarius mit falscher Anteilnahme.

»Ich habe meine Experimente weitergeführt, seit ich in dieser Stadt bin. Ihr wisst doch, wie die Leute reden, wenn sie nicht verstehen, mit was man sich beschäftigt.«

»Ach, weiß ich das? Mir scheint eher, dass die Leute vollkommen recht mit ihren Beschuldigungen haben. Schließlich hast du zugegeben, Dämonen beschworen zu haben. Du weißt, dass das als Pakt mit dem Teufel anzusehen ist, und auf diesen steht – wie du sicherlich ebenfalls weißt – der Tod durch Verbrennen.« Pater Hilarius stand auf, trat einen Schritt von dem Zauberer zurück und sagte dann beiläufig: »Und wie heißt noch gleich dein Zaubergenosse? Ich fürchte, ich habe den Namen schon wieder vergessen.«

»Ich hatte ihn nicht genannt«, sagte der kleine Mann trotzig und verzog die ausgekugelten Schultern, wobei sich sein Gesicht zu einer grauenhaften Schmerzensmaske verzerrte. Martin wurde unwillkürlich an gewisse Darstellungen des Herrn am Kreuz erinnert. »Ich kann ihn nicht genannt haben, weil ich keinen Genossen habe.«

»Ach?« Hilarius zog die Augenbrauen in gespieltem Erstaunen hoch. »Ich erinnere mich aber genau, dass du vorhin gesagt hast, ihr habet die Dämonen beschworen. Habt ihr das nicht auch alle gehört?«, fragte er die anderen Anwesenden. Ein zustimmendes Gemurmel setzte ein.

Es lag etwas Gehetztes im Blick des Zauberers. »Da müsst Ihr Euch verhört haben«, sagte er schnell.

»Dann hoffe ich, dass sich der Nachrichter nicht auch verhören wird, wenn ich ihm sage, dass er dich auf dem Streckbrett nicht allzu heftig aufziehen soll«, meinte Pater Hilarius darauf mit einem hämischen Grinsen.

Einige Handgriffe genügten, um den Zauberer auf dem leicht geneigten Streckbrett anzubinden, und schon drehte der Nachrichter mit offensichtlicher Freude an der oberen Winde. Wieder schrillten die Schreie des Gefolterten durch das Gewölbe. Martin hielt sich die Ohren zu, aber Suitbertus warf ihm einen warnenden Blick zu. Ihm schien dieses grässliche Schauspiel nichts auszumachen, dabei war er nur ausnahmsweise als weiterer Gehilfe des Paters tätig. Seine eigentliche Aufgabe bestand darin, dem alten Mönch zusammen mit Martin Geleit zu gewähren und ihn vor Überfällen von Banditen zu schützen, die die Gegend in einem Umkreis von einigen Tagesritten um das Kloster seit einiger Zeit in Angst und Schrecken versetzten. Auf dem Ritt nach Volkach aber war kein Angriff erfolgt.

Der Gedanke daran, von nun an solche Folterschauspiele öfter sehen zu müssen, machte Martin regelrecht krank. Warum hatte Pater Hilarius nicht den robusteren Suitbertus zu seinem persönlichen Gehilfen bestimmt?

Jetzt konnte es der Zauberer offenbar nicht mehr ertragen. Er schrie etwas, das Martin nach einigen Wiederholungen als den Namen »Burgebrach« erkannte. Burgebrach war ein Städtchen, das einige Tagesritte weiter östlich lag. Dann kam ein weiterer Name über die Lippen des Geschundenen, den Martin als »Laurenz Hollmann« deutete.

Nun wies Pater Hilarius den Nachrichter an, die Winde loszulassen. Der Zauberer stöhnte auf. Martin sah, wie ihm ein dünner Blutfaden aus dem Mund troff. Er murmelte etwas. Hilarius beugte sich über seinen Mund, um die Worte verstehen zu können. Dann lief ein Zucken durch den Körper des Gefolterten, und er lag ganz still und regte sich nicht mehr.

Pater Hilarius richtete sich sehr langsam wieder auf. Er legte die Hände vorsichtig auf seinen vorstehenden Bauch und sah Bruder Martin an. Martin konnte den Blick der dunklen Augen nicht lange ertragen.

»Er ist tot; der Teufel hat ihm den Hals umgedreht«, sagte der Pater leise. In seiner Stimme lag nicht der geringste Triumph. Was hatte er von dem Sterbenden erfahren?

Seinem Blick nach zu urteilen, hatten ihm die letzten Worte des Zauberers die Pforten der Hölle aufgeschlossen.

2. Kapitel

Nun war der Schankraum brechend voll. Pater Hilarius saß zusammen mit seinen beiden Konfratres am selben Tisch, an dem sie am Morgen gemeinsam gefrühstückt haben. Er starrte schweigend in seinen großen Weinhumpen und rührte wieder einmal kaum das Essen an, das vor ihm stand. Bruder Suitbertus hingegen schien nichts zu erschüttern. Er säbelte mit einem großen Messer an dem Schweinebraten herum, den die Magd nahe an den Pater gestellt hatte, sodass sich Suitbertus jedes Mal weit vorbeugen musste, um an die begehrten Köstlichkeiten zu kommen. Er schmatzte vernehmlich und zufrieden.

Auch Martin war nicht nach Essen zumute. Noch immer gellten ihm die Schmerzensschreie des Zauberers in den Ohren. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass ein Mensch solche Laute ausstoßen konnte.

An den anderen Tischen johlten und grölten Zunftmitglieder, kleine Kaufleute, Bauern aus dem Umland, die ihr Vieh und ihr Gemüse auf dem Markt mehr oder weniger gewinnbringend verkauft hatten, und allerlei Gesindel, dem der Wein niemals schnell genug floss. Nur am Tisch der drei Mönche herrschte eisiges Schweigen. Martin sah, wie vereinzelte Blicke zu ihnen herübergeworfen wurden – dunkle Blicke, angewiderte Blicke. Natürlich hatte es sich bereits herumgesprochen, dass der Zauberer auf der Folter gestorben war. Zwar weinte ihm niemand eine Träne nach, aber einige Bürger fühlten sich offenbar in ihrer Geringschätzung des Klerus bestätigt.

Wenn doch nur Pater Hilarius dieses schreckliche Schweigen durchbrechen und etwas sagen würde!

Schließlich hielt Martin es nicht mehr aus. Während er nervös mit dem weißen Zingulum spielte, das seine Kutte über der Hüfte zusammenhielt, fragte er Pater Hilarius: »Habt Ihr dem schändlichen Zauberer wichtige Informationen entlocken können? Werden wir uns nun nach Burgebrach aufmachen, um auch seinen Spießgesellen zu verhören?« Insgeheim schauderte es ihn bei dem Gedanken, eine weitere Tortur erleben zu müssen.

Pater Hilarius schaute Martin offen an. Der junge Mönch zuckte zusammen. Teufel schienen in den geweiteten, finsteren Pupillen des Heiligmäßigen zu tanzen. Er sagte kein Wort.

Suitbertus schlürfte den letzten Tropfen aus seinem Humpen und rief lautstark nach der Magd, damit sie ihm Nachschub bringe. Sie kam schnell mit einem neuen Krug heran und stellte ihn mit einem unverbindlichen Lächeln vor den Mönch, der ihr bei dieser Gelegenheit rasch unter den langen Rock griff. Das Mädchen kreischte auf. Es klang gekünstelt. Auch wurde sie nicht rot. Aber sie entfernte sich schnell wieder vom Mönchstisch. Suitbertus nahm sofort einen großen Schluck; dann sagte er:

»Unsere Mission ist erledigt, nicht wahr, Pater Hilarius? Was gehen uns die Zauberer im Osten an, die nicht einmal mehr zur Hoheit unseres Klosters gehören. Sollen sich doch unsere eifrigen Brüder, die Dominikaner von Bamberg, darum kümmern. Ich für meinen Teil …«

Ein einziger Blick von Hilarius brachte ihn zum Schweigen.

Martin ging nicht aus dem Kopf, was der Zauberer auf der Folter gesagt hatte. »Was hat er mit dem Untergang der Welt gemeint?«, fragte er leise, eigentlich eher an sich selbst als an den Pater gerichtet.

Der Pater schaute wieder in seinen Humpen und faltete die Hände um den klobigen Steinkrug. Dann zuckten seine Mundwinkel wie in einem plötzlichen Schmerz. Er ließ den Krug los und fasste sich an den halb von der Tischplatte verborgenen Bauch. Es war Martin, als habe sich die Kutte des Paters wie von selbst bewegt. Sicherlich war es nur ein Luftzug gewesen, vielleicht auch ein widriger Wind.

Der Lärm in der Schankstube schwoll immer stärker an. Jemand hatte eine Fiedel hervorgekramt und entlockte ihr nun entsetzlich quietschende und klagende Töne. Martin sah, wie einer der Tische beiseitegeschoben wurde, wie einer der Männer aufsprang und sich die Magd schnappte. Sie ließ den Bierkrug, den sie gerade in der Hand hielt, fallen und drehte sich zusammen mit dem Mann in einem plumpen Tanz, dass ihre Röcke rauschten und wie toll wirbelten.

Es ist, als wollten sie sich in Lärm und Rausch versenken, dachte Martin. Es ist, als hätten sie alle die Schreie des sterbenden Zauberers gehört.

Und als hätten sie alle seine letzten Worte verstanden; jene Worte, die aus Pater Hilarius einen anderen Menschen gemacht hatten. Aber anstatt wie er zu schweigen, versuchten sie, die ganze Welt mit all ihren Farben, Lauten und Gerüchen in diese kleine Stube hineinzuzerren.

Doch mit einem Schlag war alles still – so still wie Pater Hilarius.

Die Stille war wie ein Schock.

In sie hinein fiel das leise Knirschen von Stiefelabsätzen. Es musste weiches, teures Leder sein, das diese Laute verursachte, und keine der harten, klappernden Kuhmaulschuhe, die die Bauern und kleinen Händler und Handwerker trugen.

Die Schritte waren hinter Martin; sie kamen auf ihn zu; irgendwo in seinem Rücken befand sich die Eingangstür der Schänke. Mit ihnen kam ein eisiger Hauch. Er sah, dass die beiden Tänzer mitten in ihrer Bewegung erfroren waren und mit großen Augen auf das glotzten, was sich Martin von hinten näherte.

Auch Pater Hilarius starrte an Martin vorbei. Er runzelte die Stirn.

Bruder Suitbertus bemerkte erst mit einiger Verzögerung, dass etwas nicht stimmte. Er legte langsam das fetttriefende Messer zur Seite und starrte in dieselbe Richtung wie der neben ihm sitzende Pater. Martin drehte sich endlich um.

Der Mann, der nun fast schon neben Martin stand, war keineswegs so beeindruckend, als dass seine bloße Erscheinung eine derart erstaunliche Wirkung auf die anderen Gäste hätte hervorrufen können. Er war groß und sehr hager, trug einen Vollbart, der ihm ein verwegenes Aussehen verlieh, und steckte in sündhaft teurer Kleidung. An seinem Pelzbarett hing eine grotesk lange, grün schillernde Pfauenfeder herab. Sein Wams war wie ein Feuer: grellrot mit schwarzen Schlitzen. Wenn man ihn von Weitem auf der Straße gesehen hätte, hätte man ihn zwar für einen reichen Mann gehalten, ihn aber nicht weiter beachtet. Doch hier, in der Beengtheit der billigen Schankstube, war seine Gegenwart so beherrschend und erdrückend, dass sie Martin fast den Atem nahm. Er hätte nicht sagen können, aus welchen Attributen des vornehmen Mannes dieses Gefühl herrührte, aber es war unleugbar da.

Langsam erhoben sich wieder die gewohnten Geräusche in der Stube. Die Fiedel setzte erneut ein, doch ihre Töne waren noch schriller und falscher als zuvor. Der Tanz ging weiter, aber ihm fehlte jegliche Freude; die beiden Tänzer waren wie Figuren in einer jener großen Domuhren, von denen Martin schon viel gehört hatte.

»Habe ich das Vergnügen, vor dem heiligmäßigen Pater Hilarius zu stehen?«, fragte der Fremde mit einer sanften Stimme, deren Klang bei Martin allerdings sofort eine Gänsehaut hervorrief. »Man versicherte mir, dass ich Euch hier finden kann, und ich freue mich, dass man mir die Wahrheit sagte.«

Der Pater starrte den eleganten Mann unverwandt an. Martin glaubte in seinem Blick sowohl Trotz und Überheblichkeit als auch Furcht zu erkennen.

»Wer will Pater Hilarius sprechen?«

»Mein Name ist …«, hier machte der Neuankömmling einen kurze Pause, als müsse er sich erst einen Namen überlegen, »… Graf Albert von Heilingen. Stets zu Euren Diensten, ehrwürdiger Vater.« Er machte eine übertriebene Verbeugung, die jeder wahren Höflichkeit frech spottete.

»Was wollt Ihr von mir?« Hilarius hatte die Hände wieder um den Weinhumpen gelegt. Er hatte so fest zugepackt, als wolle er Flüssigkeit aus dem Steingut pressen.

»Euer Ruf durchdringt die ganze zivilisierte Welt«, sagte der Graf und zog sich den einzigen freien Stuhl heran, der neben Martin gestanden hatte. Er setzte sich und beugte sich über den Tisch, um dem Pater noch näher zu sein. Martin bemerkte einen zwar schwachen, aber eindeutig unangenehmen Geruch an dem Grafen. War es der Unterricht bei Pater Hilarius gewesen, der ihn nun überall Teufel sehen – und riechen – ließ? Er rückte mit seinem Stuhl so weit wie möglich von dem Grafen fort.

Suitbertus hatte seinen Schweinebraten vollkommen vergessen, ja er hatte sogar vergessen, den Mund zu schließen. Wie ein Verzauberter saß er da und starrte den Grafen an.

»Ich frage Euch noch einmal: Was begehrt Ihr von mir?«, wollte Pater Hilarius wissen.

»Nur die Gunst einer Unterredung.«

»Und worüber wollt Ihr mit mir reden?«

»Über …« Der Graf unterbrach sich und blickte von Hilarius zu Suitbertus. Dann drehte er sich zu Martin um und sah ihm tief in die Augen. In diesem Moment hatte der junge Mönch den Eindruck, als sehe er zum zweiten Mal an diesem Tag einen abgrundtiefen Schatten. Er legte sich dicht und dick über den Tisch und den ganzen Schankraum. Die verzweifelt fröhlichen Zecher schienen es ebenfalls zu spüren. Mit einem schrecklichen Misston riss eine Saite der Fiedel. Der Tanz war vorüber. Das Johlen war in ein erschrockenes Murmeln übergegangen. Die Magd huschte aus dem Raum.

»Wenn Ihr mir nichts zu sagen habt, dann lasst mich in Ruhe und zieht Eures Weges«, sagte der Pater. Seine Stimme schwankte.

»Oh, ich habe Euch vieles zu sagen, aber ich möchte es unter vier Augen tun«, erwiderte der Edelmann.

»Das ist unnötig. Die beiden Konfratres haben mein volles Vertrauen.«

Das machte Martin mächtig stolz. Er war der Vertraute eines Heiligen! Er würde es noch weit bringen, wenn er sich nur an solch schreckliche Dinge wie Folterungen und Zaubereien gewöhnen konnte. Nun war er plötzlich sehr neugierig, was der Edelmann von Hilarius wollte.

»Ich achte Euer Vertrauen, doch Euch selbst achte ich noch viel höher«, gab der Graf zurück. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das, was ich Euch zu sagen habe, in anderen Ohren als den Euren möglicherweise einen seltsamen Klang haben wird. Einen sehr seltsamen Klang.«

»Wollt Ihr mir etwa drohen?«, schnappte Pater Hilarius. »Ihr sagt, Ihr kennt meinen Ruf. Dann wisst Ihr auch, dass es nichts gibt, mit dem Ihr mir drohen könnt.«

»Ach, wirklich nicht?« Der Graf lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Martin blickte ihn von der Seite an und sah, dass der vornehme Adlige den Mund zu einem ungeheuer breiten Grinsen verzogen hatte. Er sagte:

»Das, was ich Euch zu sagen habe, könnte Euch durchaus erhebliche Magenschmerzen bereiten. Magenschmerzen; versteht Ihr?«

Der Pater wurde blass. Martin begriff überhaupt nichts mehr. Suitbertus hatte inzwischen wenigstens den Mund zugeklappt, doch in seinem Blick lag nicht das geringste Fünkchen Verständnis.

Der Graf fuhr fort, während er sich den sorgfältig gestutzten Bart kraulte: »Wenn ich mich nicht gewaltig irre, habt Ihr heute Dinge gehört, die Euch sehr verwirrt haben. Ich sehe es in Eurem Blick. Gäbet Ihr denn gar nichts darum, zu erfahren, was es mit diesen Dingen auf sich hat?«

Allerdings, dachte Martin, kratzte sich verstohlen an der tonsurierten Stelle seines Schädels und stellte beiläufig fest, dass sein Haupthaar dort wieder in lustigen Stoppeln spross. Bald würde es erneut die unangenehme Bekanntschaft mit dem Messer machen müssen. Der Gedanke an das Barbiermesser aber brachte ihm die Erinnerung an all die Folterwerkzeuge in den Gewölben des Rathauses zurück.

»Ich glaube nicht, dass ich etwas darum gäbe«, sagte Pater Hilarius zögerlich, »aber ich sehe, dass es mir nicht gelingen will, Euch loszuwerden. Ich gewähre Euch ein paar Minuten – oben in meiner kleinen Kammer. Ich muss um Vergebung bitten, dass es in ihr recht ungemütlich ist.«

»Oh, Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, an welch ungemütlichen Orten ich bereits war«, entgegnete der Graf. »Verglichen mit ihnen wird Eure Kammer mir wie Abrahams Schoß erscheinen.« Er stand auf und nickte kurz. Es war der Befehl eines Herrn an seinen Hund.

Langsam erhob sich auch der Pater und verließ den Tisch. Der Graf folgte ihm. Bald waren sie zwischen den vielen Farben in der Schankstube verschwunden.

»O gütiger Herr im Himmel«, sagte nun Suitbertus, der wirkte, als sei er aus einem Albtraum aufgewacht. »Was war denn das für ein Fürst der Finsternis?«

»Meinst du das ernst?«, fragte Martin unsicher. Er hatte immer stärker das Gefühl, dass die Welt ein verwirrendes, undurchdringliches Labyrinth war, und er sehnte sich stärker denn je nach der engen und manchmal unbequemen Geborgenheit seines Klosters zurück.

Suitbertus schien seinen Mitbruder zunächst nicht zu verstehen, doch dann lachte er kurz auf. »Glaubst du wirklich, dass das der Teufel war?«, fragte er. »Der Teufel bist du selbst – und zwar ein armer. Mir kann der heiligmäßige Pater Hilarius nichts mehr vormachen. Ich zähle zwar gerade erst fünfundzwanzig Sommer, aber ich habe mindestens genauso viel von der Welt gesehen wie er und weiß, dass es keinen Teufel gibt.«

Bruder Martin war entsetzt. So hatte er Suitbertus noch nie reden gehört. »Wenn es, wie du sagst, keinen Teufel gibt, dann gibt es auch keinen Gott«, keuchte er und kam sich sofort unrein vor, weil er einen so blasphemischen Gedanken ausgesprochen hatte.

Bruder Suitbertus zuckte nur mit den Schultern, schnitt sich ein weiteres Stück Braten ab und stopfte es sich in den Mund. Dabei nuschelte er: »Aber mich würde trotzdem interessieren, was die beiden hohen Herren zu bereden haben.« Er schlang das Fleisch herunter und spülte mit Wein nach. »Es muss ja ganz schön wichtig sein. Das will ich wissen. Komm!« Er sprang plötzlich auf und lief durch den Schankraum, in den inzwischen wieder das übliche lärmende Treiben eingekehrt war. Martin wollte nicht allein hier unten bei den vielen Fremden bleiben. Also lief er Suitbertus nach, wobei er seine lange Kutte ein wenig raffte, um sich nicht in ihr zu verheddern.

»Schaut her! Ist er nicht kokett, der Kleine?«, rief grölend einer der Bauern und schlug sich auf die Schenkel. Martin lief rot an und sah starr vor Scham auf den Boden. Er war heilfroh, als er die Stiege nach oben zu den Zimmern erreicht hatte. Suitbertus hastete bereits die Stufen hoch.

Der Lärm der Schänke drang nur gedämpft nach hier oben in den engen, niedrigen Gang. Hinter der vorletzten Tür an der linken Seite lag die Kammer des Paters, während sich seine beiden Mitbrüder das Zimmer daneben teilen mussten.

Suitbertus legte das Ohr an Hilarius’ Zimmertür. Er lauschte angestrengt, wobei er den Mund so verzog, dass seine Zunge etwas heraushing. Martin überlegte kurz, ob er ebenfalls horchen sollte. Der Pater vertraute ihm; durfte er dieses Vertrauen so schändlich hintergehen? Aber die Neugier war stärker.

Martin hörte, dass im Zimmer gesprochen wurde, doch er konnte keines der Worte verstehen. Die Unterhaltung schien hektisch zu sein, aber die Redenden waren so sehr darauf bedacht, nicht gehört zu werden, dass es nur wie ein endloses Gemurmel klang.

Oder wie eine Beschwörung?, überkam es Martin. Er musste wieder an den Zauberer denken, der schließlich zugegeben hatte, dass er Dämonen beschworen hatte. Martin verspürte ein kribbelndes Gefühl im Bauch. Fast gegen seinen Willen bückte er sich, um durch das große Schlüsselloch zu spähen.

In diesem Augenblick wurde die Tür heftig nach innen gerissen. Martin verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf den Zimmerboden. Auch Suitbertus torkelte und drohte auf seinen Mitbruder zu stürzen; aus den Augenwinkeln heraus sah Martin jedoch, dass er sich fangen konnte.

Der Graf stand unverrückbar wie ein Baum vor dem am Boden liegenden Bruder. »Was bildet ihr euch ein, Gesindel!«, rief er. Martin rappelte sich sofort auf und taumelte zurück. Diese Stimme hatte nur noch wenig Menschliches an sich. Sie klang dumpf und schnarrend und tot. »Verschwindet!« Das Gesicht des Grafen war zu einer Maske des Hasses erstarrt.

Die beiden überrumpelten Mönche flohen in ihr eigenes Zimmer. Suitbertus verriegelte sofort die Tür hinter ihnen. Er zitterte am ganzen Leib, setzte sich auf seine Koje, vergrub die Hand in dem Stroh, das zur Auspolsterung diente, und zerkrümelte es geistesabwesend. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte. Immer noch drang von nebenan aufgeregtes Gemurmel.

Nun war es Martin, der einen zweiten Versuch wagte. Er kletterte neben seinen Mitbruder und horchte an der Wand. Doch hier war noch weniger zu hören als draußen an der Tür. Er gab es auf.

Gerade als er seufzend und mit noch immer reichlich wackligen Knien von dem Bett seines Mitbruders herunterkletterte, geschah es.

Martin sah Suitbertus mit schreckgeweiteten Augen an.

Suitbertus hielt den Atem an und glotzte zurück.

Aus dem Nachbarzimmer drang ein höllisches Getöse. Es war, als zische und pfeife eine Kanonenkugel wie eine unermesslich große, wild gewordene Hummel durch den angrenzenden Raum. Dann erhob sich ein Schrei, dunkel und verzweifelt zuerst, doch bald immer heller und wahnsinniger werdend, bis schließlich ein Knall ertönte, als sei dort drüben ein ganzes Bündel Blitze eingeschlagen.

Darauf wurde es still. So still wie auf einem Friedhof.

Martins Angst um den Pater war stärker als die Angst vor dem unheimlichen Grafen. Er stürzte auf den Gang hinaus.

Hier war alles ruhig. Martin winkte Suitbertus zu, er solle ihm folgen. Aber Suitbertus schüttelte nur völlig verängstigt den Kopf und kauerte sich auf seinem Bett so zusammen, dass Martin bald nichts mehr von ihm sehen konnte.

Er horchte an der Tür.

Nichts regte sich hinter ihr.

Vorsichtig legte er die Hand auf die Klinke und drückte sie ganz behutsam ein wenig nach unten. Sie quietschte etwas.

Martin hielt inne und horchte wieder.

Noch immer drang kein Laut heraus. Dann drückte er die Klinke ganz herunter und öffnete die Tür.

Zuerst wagte er kaum hinzuschauen; er hatte Angst, dass das Jüngste Gericht auf ihn herniederfahren würde. Doch als nichts geschah, riskierte er einen Blick.

Der Graf war nirgendwo mehr zu sehen. Nur sein seltsamer Geruch schwebte noch in dem engen, niedrigen Zimmer.

Pater Hilarius lag auf dem Boden.

Er gab kein Lebenszeichen mehr von sich.

3. Kapitel

Sie hatte Hunger. Seit sie gestern Morgen nach Volkach gekommen war, hatte sie nichts mehr gegessen. Das Einzige, was ihr den Magen gefüllt hatte, war das schal schmeckende Wasser aus dem Brunnen am Marktplatz gewesen. Es war Maria nicht einmal gelungen, eine Mohrrübe oder eine Gurke zu stehlen; die Händler passten auf ihre kümmerlichen Waren auf wie der Teufel auf seine gefangenen Seelen.

Auch der strahlende Sonnenschein vermochte Maria nicht aufzuheitern. Dieses Städtchen mit seinen verwinkelten Gassen und seiner unebenen Pflasterung, in deren Mulden stinkende Abfälle schwammen, war nicht nach ihrem Geschmack, aber sie hatte gehofft, hier wenigstens für einige Tage Proviant und vielleicht sogar eine wohlgefüllte Geldkatze zu finden. Doch stattdessen drohte sie inmitten der quiekenden Schweine, der blökenden Schafe, der gackernden Hühner und all der Köstlichkeiten des Feldes zu verhungern.

Sie saß auf den kalten Stufen des Brunnens und stützte den Kopf in die Hände. Wenn das Leben gerecht wäre, würde einer der Bauern, die auf dem Marktplatz lautstark ihre Waren anpriesen, sich ihrer erbarmen und ihr etwas zustecken. Doch selbst auf demütigste Fragen und Bitten hin hatten sie das junge Mädchen mit den hübschen braunen Locken und den genauso braunen Augen weggejagt wie einen räudigen Hund. Nein, das hier war kein guter Ort – weder für jemanden, der auf die Gunst anderer angewiesen war, noch für jemanden, der bereit war, sich diese Gunst zur Not auch unrechtmäßig zu verschaffen.

Doch da trat ein Licht in das Leben Marias.

Keine zehn Meter von ihr entfernt ging ein hochgewachsener, dürrer Herr in einem verschwenderisch bestickten Umhang über den Markt und warf nur rasche, beiläufige Blicke auf das reichhaltige Angebot. Maria amüsierte sich über seinen wunderlichen Kopfputz: eine riesige Pfauenfeder hing von seinem Barett herab und nickte wie aus eigener Kraft, ob der Herr nun den Kopf bewegte oder nicht.

Er roch nach Geld, ja er stank geradezu danach.

Sofort stand Maria auf. Ihre Gedanken überschlugen sich. Niemand grüßte den vornehmen Herrn, der von Zeit zu Zeit stehen blieb und in die Runde blickte, als suche er jemanden, wobei er jedes Mal geistesabwesend mit dünnen, langen Fingern durch seinen sauber geschnittenen Bart fuhr. Bestimmt war er kein Einheimischer. Wie konnte sie an ihn herankommen? Sie war sicher, dass er einen gut gefüllten Geldsack um den Bauch trug – einen Sack, von dessen Inhalt Maria monatelang leben könnte. Sie schritt die zwei Stufen der Brunneneinfassung herunter und tat so, als suche auch sie etwas, bis sie sah, dass der vornehme Herr sich wieder in Bewegung setzte.

Sie stürzte ihm so schnell nach, dass sie fast mit einem Bauern zusammengestoßen wäre, der ein laut grunzendes Schwein an der Leine führte. Maria schlug einen kleinen Haken, taumelte und musste sich an einem finster dreinblickenden Mann festhalten, der wie ein Scharfrichter aussah.

Als sie wieder nach vorn schaute, war der vornehme Herr verschwunden.

Maria stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus. Obwohl sie doch gar keinen Plan gehabt hatte, wie sie ihn berauben konnte, hatte sie sich schon im Besitz seines unanständig vielen Geldes gesehen. Wo mochte er nur abgeblieben sein?

Da sah sie ganz hinten, am anderen Ende des Marktes eine über allen Häuptern tanzende Feder. Das musste er sein. Wie schnell er doch war! Maria lief auf die wippende Feder zu. Als sie ihr Ziel schon beinahe erreicht hatte, kam ihr eine Idee.

Sie hielt sich ein wenig hinter dem hoch aufgeschossenen Mann, der nun den Marktplatz verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er bog in eine schmale Gasse ein, in der sich nur wenige Läden befanden. Das war der ideale Ort.

Maria war nun so nahe hinter ihm, dass sie ihn mit der ausgestreckten Hand hätte berühren können. Dann überholte sie ihn, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Plötzlich stieß sie einen hohen Schmerzenslaut aus und sackte zusammen. Der vornehme Herr blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Dann beugte er sich über sie, streckte die Hand nach ihr aus und sagte mit einer tiefen, vollen Stimme:

»Hast du dich verletzt, mein schönes Kind?«

»Ach, es ist nicht so schlimm, edler Herr«, gab Maria zurück und schaute hoch zu ihm. »Ich habe mir nur den Fuß verrenkt. Könntet Ihr mir bitte aufhelfen?«

Sie ergriff die ihr dargebotene Hand und hängte sich schwer daran. Der Mann zog sie wieder auf die Beine, doch sie knickte erneut ein und packte ihren Retter, um sich an ihm festzuhalten. Blitzschnell steckte sie eine Hand unter seinen Umhang. Sofort hatte sie die Geldkatze ertastet. Sie hing an einem Lederriemen von einem schweren Gürtel herab. Doch der Riemen war nicht mit dem Gürtel vernietet, sondern nur um ihn gebunden.

»Verzeiht mir, es tut so weh«, keuchte Maria.

»Oh, du ärmstes Kind«, sagte der Mann voller Mitleid. Vielleicht würde er ihr ja sogar freiwillig etwas geben, doch darauf wollte sie es nicht ankommen lassen. Jetzt hatten ihre schlanken, geschickten Finger die Schlaufe gelöst, und der kleine Beutel lag beruhigend schwer in ihrer Hand. Sie schloss die Finger darum und tat dann so, als befühle sie ihr rechtes Bein. Dabei zwängte sie den Beutel von unten unter ihren Rock.

»Kann ich etwas für dich tun, Perle des Nachmittags?«, fragte der dürre, elegante Herr galant. Sein Gesicht gefiel Maria nicht. Es hatte etwas Grausames an sich.

Du hast mir schon genug getan, vielen Dank, dachte sie und sagte: »Ihr seid zu gütig, mein edler Herr, aber ich bin bereits reich genug damit beschenkt, dass Ihr mir so uneigennützig geholfen habt.«

»Es wäre mir eine noch größere Freude, dir auch in anderer Weise zu helfen.«

Einen Augenblick lang glaubte Maria, dass dies die Aufforderung zu einem Liebesdienst der besonderen Art sein sollte, doch ein weiterer Blick in sein merkwürdiges Gesicht genügte, um sie davon zu überzeugen, dass ihm nichts ferner lag als ein solcher Gedanke.

Aber was war, wenn er ihr ein Geldstück schenken wollte? Dann würde der Diebstahl unweigerlich auffallen!

»Ich brauche nichts, vielen Dank, edler Herr; Ihr seid einfach zu gütig«, sagte sie rasch und schlug die Augen nieder. Sie versuchte zu erröten, aber es wollte ihr nicht recht gelingen.

Schon tastete der Herr an seinem Umhang herum. Es wurde höchste Zeit für Maria, sich von ihm zu verabschieden. Sie trat einen Schritt von ihm zurück, sagte schnell: »Seht Ihr, es geht schon wieder«, und lief zurück zum Markt. Bei den ersten Schritten gab sie noch vor, zu hinken, doch je weiter sie sich von ihm entfernte, desto ungehinderter lief sie. Sie warf einen kurzen Blick zurück und wollte ihm zum Gruß noch einmal zuwinken – aber er war verschwunden. Vielleicht war er in einen der zur Straße hin völlig offenen Läden gegangen. Was ging es sie an!

Sie spürte den erregenden Druck der Geldkatze gegen ihre Hüfte und konnte es gar nicht mehr erwarten, ihre Reichtümer in Augenschein zu nehmen. In einer winzigen Sackgasse, in der es nicht einmal einen Laden gab und die Giebelhäuser so eng standen, dass sie kaum den Sonnenschein hineinließen, lehnte sie sich gegen eine Häuserwand, griff unter ihr Mieder und zerrte ungeduldig den schwarzen Beutel hervor. Sie zog die kleine, lederne Schnur auf und schüttete den Inhalt auf ihre Handfläche.

Es waren menschliche Zähne und welke Blätter.

Maria wusste nicht, welche Regung in ihr stärker war: Enttäuschung oder Entsetzen. Der Beutel war viel zu schwer gewesen, als dass er nichts außer den Dingen enthalten konnte, die nun in ihrer Hand lagen. Sie hatte schon oft von den Goldstücken gehört, die der Teufel seinen Hexen auf dem Sabbat gab und die sich später als Blätter und allerlei wertloser Unrat entpuppten. War sie etwa an den Teufel geraten? Ihr schauderte.

Dann schüttelte sie den Kopf, wie um ihre Gedanken zu befreien. Wer glaubte denn noch an einen solchen Unsinn? Angewidert warf sie die Blätter und die Zähne fort und ging zurück auf den Marktplatz. Was sollte sie nun tun? Ihr Magen knurrte lauter denn je und verdrängte durch seine Begehrlichkeit alle befremdlichen Gedanken.

»So allein, schönes Kind?«

Sie fuhr zusammen. Wessen meckernde Stimme war das?

Neben ihr stand ein kleiner, schäbig gekleideter Mann, der beinahe genauso breit wie hoch war. Sein Wams glänzte vor Fettflecken und abgescheuerten Stellen, seine Hose schien im Bund fast zu platzen, seine bis über die Knie reichenden Strümpfe waren durchlöchert, und an seinen Kuhmaulschuhen fehlten die Schnallen. Alles in allem: ein Krämer. Und ein sabbernder dazu. In seinen Augen lag ein gieriges Glitzern.

»Ich wüsste nicht, was es Euch angeht, ob ich allein bin oder nicht«, gab Maria schnippisch zurück, doch sie hütete sich davor, allzu verletzend zu sein. Wie oft hatte sie schon erfahren müssen, dass gerade die widerwärtigsten Menschen ihr für einige Zeit das Überleben gesichert hatten.

»Oh, Ihr habt ganz recht, meine Schöne, es geht mich gar nichts an, doch ich habe Euch noch nie in unserer herrlichen Stadt gesehen.«

»Ich bin erst seit gestern hier.«

»Da seid Ihr sicherlich auf Besuch? Haben Euch Eure Gastgeber schon die Sehenswürdigkeiten unserer Stadt gezeigt? Das Rathaus? Die Kirche? Nein? Darf ich Euer Fremdenführer sein?«

Ein einziger Blick in seine Augen hatte Maria verraten, was er von ihr wollte. Sie konnte nicht gerade behaupten, dass ihr der Gedanke, dieses stinkende und schmuddelige Wesen aus nächster Nähe betrachten zu müssen, angenehm war, aber in der Not fraß der Teufel halt Fliegen. Ihr knurrender Magen duldete keine andere Entscheidung. Sie war schon einige Male in derselben Lage gewesen, und es hatte sich für sie immer ausgezahlt. Also beschloss sie, es kurz zu machen.

»Wie wäre es denn, wenn Ihr mir Eure Schlafkammer zeigt?«

Dem Männchen blieb der Atem weg. Mit einer solch dreisten Offenheit hatte er nicht gerechnet. Er fing sich jedoch schnell wieder und sagte, während er seinen grauen Stoppelbart betastete: »Du gehst aber ran, meine Kleine. Doch es soll dein Schaden nicht sein, das verspreche ich dir. Komm.«

Er führte sie durch zahlreiche gewundene Straßen, bis sie schließlich vor einem schmalen, heruntergekommenen Haus in einer der schmutzigsten Gassen standen, die Maria je gesehen hatte. Kot und Waschwasser schwammen in der Gosse, die keinen Ablauf hatte, und Mist und Heu war über ihre gesamte Länge verteilt. Einige Hühner fühlten sich hier sehr zu Hause, genauso wie zwei winzige, magere Schweine, die in den Abfällen nach etwas Essbarem suchten.

Plötzlich drückte der kleine Mann Maria zur Seite. Kurz nachdem sie ein Quietschen wie vom Öffnen eines Fensters gehört hatte, ergoss sich auch schon aus dem ersten Stock des Nachbarhauses der Inhalt eines Nachttopfes beinahe genau auf die Stelle, wo Maria und ihr zeitweiliger Beschützer eben noch gestanden hatten. Mit einem lauten Schlag wurde das Fenster wieder zugeworfen.

»Diese Schmidtlin!«, zeterte der Mann aufgeregt und schwenkte seine kleine, schorfige Faust dem stoischen Nachbarhaus entgegen. »Diese Hexe! Eines Tages wird sie brennen, das verspreche ich dir.«

»Versprich mir lieber etwas anderes«, sagte Maria, die es nicht mehr erwarten konnte, diese Gasse wieder zu verlassen.

Statt einer Antwort drückte der Mann die schiefe Tür auf, hinter der sich ein dunkler Raum mit einem Tisch darin befand, an dem ein schmächtiger, bleichgesichtiger Junge saß. »Das hier ist mein Kontor«, sagte der kugelige Mann und warf sich stolz in die Brust. »Ich kaufe und verkaufe Gewürze.« Er sackte wieder zusammen. »Leider gehen die Geschäfte im Augenblick nicht so gut. Aber meine Frau, das alte, gerissene Luder, ist zu ihren Verwandten nach Würzburg gereist und will dort neue Geschäftsbeziehungen für mich knüpfen. Stoffe, ha! Das ist doch Weiberkram. Das will ich nicht. Aber jetzt werden wir es uns erst einmal schön machen.« Er drängte Maria durch das finstere Kontor. Sie sah, wie der Junge ihr schmachtende Blicke nachwarf. Er wäre ihr lieber gewesen.

Die Schlafkammer war eng und stickig. Nur ein kleines Fenster ging auf die Straße hinaus, und das Fensterglas, das einmal in ihm gesteckt haben mochte, war inzwischen durch Ölpappe ersetzt worden. Offenbar gingen die Geschäfte wirklich schlecht.