Der sechste Passagier - Theodor Kallifatides - E-Book

Der sechste Passagier E-Book

Theodor Kallifatides

4,3

  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Dieser Fall gibt der frisch geschiedenen Kommissarin Kristina Vendel Rätsel auf: Eines Abends im August stürzt ein kleines Passagierflugzeug in den schwedischen Getarsee. Schnell gibt es Unstimmigkeiten auf der Passagierliste, denn statt der fünf angegebenen Mitarbeiter der Forma "Eternal Youth" saßen sechs Menschen in der Maschine: Der Pilot, der Direktor einer Internetfirma, ein Richter, ein Tennisprofi, ein Restaurantbesitzer, eine Popsängerin und ein namenloser, dunkelhäutiger Junge. Kristina Vendel stürzt sich in die Ermittlungen, obwohl man ihr schnell rät, die Ermittlungen einzustellen. Sie ermittelt auf eigene Faust weiter und muss bald erkennen, dass sie es mit einem unheimlichen und gefährlichen Gegner zu tun hat, der es offenbar auch auf ihr Privatleben abgesehen hat und ihr stets dicht auf den Fersen ist. Schon bald muss sie auch um ihr eigenes Leben fürchten... REZENSION"Kallifatides legt seine Charaktere schonungslos offen.Es geht um Liebe, Freundschaft, Einsamkeit und die Sehnsucht nach körperlicher Nähe. Es geht um das lebenswerte Leben und den menschenwürdigen Tod." – Peter Kümmel/www.krimicouch.de AUTORENPORTRÄTTheodor Kallifatides (*1938) ist gebürtiger Grieche, lebt aber bereits seit bald 40 Jahren als preisgekrönter Autor und Journalist in Schweden. Heute gehört er zur ersten Garde schwedischer Schriftsteller - er erhielt mehrere Literaturpreise und schreibt als Journalist und Autor für Film, Theater und Fernsehen."Ein leichter Fall" ist sein erster Kriminalroman um die Polizeikommissarin Kristina Vendel, "Der sechste Passagier" ist der zweite fall von Vendel.-

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Seitenzahl: 280

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Theodor Kallifatides

Der sechste Passagier

Saga

1

Es war ein regnerischer Sommer gewesen, aber in der zweiten Augustwoche kam von Westen her überraschend ein gewaltiges Hochdruckgebiet und nötigte die Bewohner Stockholms, ins Kühle zu flüchten.

Hauptkommissarin Kristina Vendel, dreiunddreißig Jahre alt, lag unter einer Eiche im Erholungsgebiet von Lida Gård. Alte Eichen sind etwas Schönes, ihr Schatten ist sozusagen weiblich, man fühlt sich wie unter einem luftigen Rock.

Sie hatte ein aufgeschlagenes Buch neben sich, dachte aber nicht ans Lesen.

Als sie jung war, hatte sie die Welt verändern wollen. Es dauerte ein paar Jahre, bis sie erkannte, daß sie noch nicht einmal imstande war, sich selbst zu ändern. Seither lebte sie im inneren Exil. Wie die meisten Menschen.

Es war Sonntag. Von fern hörte man eine Kirchenglocke. Der Himmel war wolkenlos, das milchig blaue Licht wanderte mit gleichbleibender Geschwindigkeit, das Leben ging seinen Gang. Auch in diesem Jahr würde Island wieder um einen Zentimeter wachsen, die Baumstämme würden neue Jahresringe bekommen, und sie würde ein Jahr älter werden.

Sie legte sich flach auf den Rücken. Durch das Laub der Eichenkrone sah sie, wie ein kleines Propellerflugzeug am Himmel rasch an Höhe verlor. Es steuerte vermutlich die alte Militärlandebahn an, die das Verteidigungsministerium aufgegeben und dem Fliegerclub von Botkyrka zur Verfügung gestellt hatte. Schweden rüstete ab, es waren keine Feinde mehr da, höchstens noch die Elche.

Völlig entspannt unter der zweihundertjährigen Eiche, mit einem langen, breiten Tag vor sich – wenn Tage lang sind, können sie ebensogut breit sein –, hatte sie beinahe ein Gefühl von Allmacht. Beinahe, denn aus der Sicht des Piloten in dem kleinen Flugzeug dort oben war sie wohl nichts als ein großer, glänzender Wurm.

Die Vorstellung machte sie übermütig.

Sie spreizte ihre Schenkel, langsam, vorsichtig, ungefähr so, wie man ein quietschendes Gartentor öffnet, wenn man nicht gehört werden will. Sie wünschte sich, jemand anders würde es tun, aber es war niemand da. Ihr Mann hatte nach dreizehn Jahren Ehe das Weite gesucht. Seit ein paar Monaten war ihr Bett leer.

Sie schloß die Augen, sanft strich ihre Hand an der weichen Innenseite des Oberschenkels entlang. Zögernd näherte sie sich der empfindlichsten Stelle, wurde entschiedener, drängender. Sie atmete stoßweise, um den Genuß zu verlängern, hielt sich zurück, ein trotziges Lächeln auf den Lippen. Irgendwann, wußte sie, würde es zu spät sein, der Körper würde die Regie übernehmen, zwischen Millionen von Nervenzellen einen Kontakt herstellen, der nicht mehr rückgängig zu machen war, und die Nerven würden vibrieren, rhythmisch und unerbittlich wie das Meer.

Als der Orgasmus kam, ließ ein ohrenbetäubender Lärm den Boden erzittern.

Überaus passend.

Noch im Nachbeben ihres Körpers wurde ihr klar, was für ein Geräusch das war.

Das Flugzeug. Es war abgestürzt.

Ihr Gehirn hatte die Erkenntnis schon registriert, bevor sie in ihr Bewußtsein drang.

Wenn es stimmte, dann würde irgendwann ihr Mobiltelefon klingeln. Sekundenlang war sie in Versuchung, es abzuschalten. Flugzeugunglücke sind schrecklich, aber unter kriminalistischem Aspekt meist uninteressant.

Noch einmal tief durchatmen, um den letzten Rest von Wollust zu verjagen – sie bereitete sich darauf vor, ihre Pflicht zu tun. Sie sammelte ihre Sachen auf, packte die Thermosflasche aus und goß sich eine Tasse Kaffee ein, die sie in einem Zug austrank. Sie hatte das Telefon nicht abgeschaltet.

Die Menschen verließen ihre schattigen Verstecke, kamen von allen Seiten herbeigerannt. Es war, als sei ein Krieg ausgebrochen.

Sonntag, der elfte August, war vorüber, durchgerissen wie ein Blatt weißes Papier.

2

Der Getarsee ist nicht besonders groß. Von einem Aussichtspunkt, der hoch genug liegt, kann man ihn ohne weiteres überblicken. Er ist zweieinhalb Kilometer lang, und seine breiteste Stelle mißt dreihundert Meter. Er liegt eingebettet in eine Felsspalte auf dem Hochplateau des Hanved, und Freizeitangler wissen, daß das Flüßchen Kagghamra aus ihm entspringt, eines der wenigen Gewässer, in denen sich noch Lachsforellen tummeln. Der Getarsee ist ziemlich kalt, obwohl er flach ist, nirgends tiefer als drei Meter. Nur an der südlichen Landzunge fällt das Ufer steil ab, bis auf fünfundzwanzig Meter Wassertiefe.

Der Zufall wollte es, daß das Flugzeug genau dort abstürzte. Die halbnackten Sonnenanbeter sahen es langsam versinken.

Kristina Vendel rannte zu ihrem Fiat Uno. Viele Leute waren unterwegs zu ihren Autos. Eine Katastrophe ist immer eine Volksbelustigung, wenn auch von der brutalen Sorte. Man spricht es nicht aus, aber man wird durch solche Ereignisse daran erinnert, daß man noch unter den Lebenden weilt – eine Tatsache, die man in der Lethargie des Alltags oft vergißt.

Eigentlich wußte sie nicht, was sie tun sollte. Es hatte keinen Sinn, auf eigene Faust zur Unfallstelle zu fahren. Was hätte sie dort ausrichten können? Sie fuhr statt dessen zur Landebahn. Vielleicht hatte man dort noch gar nichts von dem Unglück mitbekommen.

Weit gefehlt. Man hatte Katastrophenalarm ausgerufen, die Feuerwehr benachrichtigt, eine Notlandung vorbereitet. Die dann nicht stattfand.

Bengt Lagerrud, der Verantwortliche auf dem Flugplatz, war ein Mann jenseits der mittleren Jahre, der diesen Übergang drahtig und mit eingezogenem Bauch bewältigt hatte. Er trug Jeans und ein kariertes Hemd; kurzum, er hatte beschlossen, jung zu bleiben, und es war leicht zu erraten, daß seine Lieblingsbeschäftigung nicht Fernsehen war. Jetzt war er im Begriff, mit seinem Jeep zu dem verunglückten Flugzeug zu fahren. Ohne Umschweife bot er Kristina an, mitzukommen, denn er hatte sie sofort wiedererkannt.

In Huddinge war sie binnen kurzem eine Person des öffentlichen Lebens geworden, nachdem sie einen Mordfall in Stockholms gehobenen Kreisen aufgeklärt hatte. Ihr Porträt war in den Abendzeitungen erschienen, man nannte sie »die philosophische Polizistin«, wegen ihres Philosophiestudiums in früheren Zeiten. Dem Lokalblatt war das noch nicht genug, dort wurde sie erhöht zur »Philosophin, die über Huddinge wacht«. Sogar im Fernsehen war sie aufgetreten, um mit Fachleuten, Tätern und ganz gewöhnlichen Idioten über Kriminalität zu debattieren.

Kristina stellte ein paar Fragen, und Lagerrud konnte sie alle beantworten.

Das Flugzeug war zum Flughafen Bromma unterwegs gewesen, aber dann hatte der Pilot um Erlaubnis gebeten, die Landebahn des Fliegerclubs benutzen zu dürfen. Er hatte keinen Treibstoff mehr, die Motoren setzten aus. Natürlich bekam er die Genehmigung, und unter normalen Umständen hätte es überhaupt keine Probleme gegeben. Man kann sehr gut ohne Motorkraft landen, Piloten sind für solche Situationen ausgebildet. Doch das Flugzeug hatte die Landebahn gar nicht erreicht. »Kann sein, daß der See schuld war. Über Seen und Talsenken gibt es immer wieder tückische Luftströmungen.«

Wieso war der Treibstoff ausgegangen? Was das betraf, so hatte Lagerrud zwei Theorien. Nach der ersten waren kräftige Gegenwinde aufgekommen, die den Treibstoffverbrauch stärker ansteigen ließen, als der Pilot einkalkuliert hatte. Das war nichts Ungewöhnliches. Nach der zweiten hatte sich Eis in den Vergasern gebildet.

Eis? An einem so warmen Sommertag?

Lagerrud erklärte gedudig, daß man mit Eisbildung jederzeit rechnen müsse. Wenn man die Landung vorbereitet, schaltet man den Motor auf Leerlauf. Dann genügt es, eine feuchte Wolke zu durchqueren, und schon frieren die Vergaser zu. Deshalb hat man ein System zur Lufterwärmung installiert. Vielleicht hatte der Pilot vergessen, dieses System zu betätigen, oder es hatte nicht funktioniert.

»Das heißt also, wenn es nicht das eine war, dann war es das andere«, faßte Kristina zusammen, gegen ihren Willen mit einer Spur Ironie. Aber Lagerrud ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

Mehr konnte er nicht sagen. Er wußte nicht, wer an Bord der Maschine gewesen war, zu welcher Fluggesellschaft sie gehörte, von wo aus sie gestartet war. Zum Plaudern habe der Pilot keine Zeit gehabt, bemerkte er, nun seinerseits mit einer Prise Sarkasmus. Er war schließlich nicht umsonst Fluglehrer.

Sie sah so beleidigt aus, daß er ein schlechtes Gewissen bekam. Für den Rest der Fahrt unterhielt er sie mit Geschichten aus der Gegend, die er wie seine Westentasche kannte. Er stammte von Norrgakvarnen, einem der ältesten Höfe der Umgebung, wo seine Mutter vor sechzig Jahren als Magd gedient hatte.

Die Siedlungsspuren auf Norrgakvarnen ließen sich bis in die Wikingerzeit zurückverfolgen. In diesem Teil Südschwedens hatten schon vor sechstausend Jahren Menschen gelebt, es gab dort viele unerforschte Gräber, und Schluchten gab es, in denen man sich vorkam wie in einem Tropenland. Es ärgerte ihn, daß die Leute so wenig wußten, immer hatte ihn das geärgert. Kristina fand, daß er Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte, und sie hätte ihn gern umarmt. Feuerköpfe haben stets etwas Rührendes.

Sie ließ es bleiben, um Komplikationen zu vermeiden.

Als sie ankamen, war sonst noch niemand da. Die Stelle war nicht leicht zugänglich, am einfachsten war sie per Boot zu erreichen.

Kristina schimpfte über die verspätete Ankunft der Feuerwehr, aber Lagerrud gab zu bedenken, daß sie mit ihren Fahrzeugen gar nicht bis dorthin vordringen könne. Außerdem würden keine Feuerwehrleute gebraucht, sondern Taucher. »Unterwasserbrände«, fügte er spöttisch hinzu, »sind eher selten.«

Am Unglücksort herrschte vollkommene Stille, als sei nichts geschehen. Kristina wurde von einem Schwindelgefühl erfaßt. Wenn das Ganze nun bloß Einbildung war?

Zuweilen überfiel sie diese Unruhe, die Befürchtung, eine Realität wahrzunehmen, die gar nicht existierte. Es war, als ob ihr Gehirn ihr eine Falle stellte.

Die glatte Oberfläche des Wassers wurde von einer leichten Brise sanft gekräuselt.

Wer lag dort unten? Nur der Pilot, oder waren Passagiere dabei? Sie mußte es herausfinden, das war ihre Aufgabe.

Vorerst konnte sie nur warten.

3

Den Chef der Feuerwehr hatte Kristina schon flüchtig kennengelernt, auf einer Tagung für Führungskräfte, die von der Gemeinde auf einer der Finnlandfähren veranstaltet worden war. Etliche Teilnehmer laborierten bis heute an ihrem Kater.

Nicht so Laszlo Hindeguti. Er stammte von ungarischen Eltern ab, die nach dem mißglückten Aufstand von 1956 ihr Land überstürzt verlassen hatten, war aber in Schweden geboren. Er hatte im Brandschutz Karriere gemacht, obwohl weder seine Vorgesetzten noch seine Untergebenen seinen Namen aussprechen konnten. In stiller Übereinkunft nannten sie ihn Puskas, nach dem legendären ungarischen Fußballspieler.

Puskas brachte eine Taucherin vom Lebensrettungsdienst mit und vier Feuerwehrmänner, die ein Rettungsboot der leichteren Bauart trugen.

Ihre Fahrzeuge hatten sie dreihundert Meter von der Unfallstelle entfernt parken müssen. Der Volvo der Polizei war schon vorher in einer tiefen Wasserpfütze steckengeblieben, die der Regen der letzten Wochen hinterlassen hatte.

Das Team machte sich an die Arbeit, ohne ein Wort zu verlieren. Jeder wußte offenbar, was er zu tun hatte. Das Boot wurde ins Wasser gesenkt, die Taucherin kletterte an Bord, zwei Feuerwehrmänner folgten ihr. Sie paddelten einige Meter auf den See hinaus, hielten an und schauten nach oben, zum Chef. Er nickte zustimmend. Die Taucherin machte sich fertig und sprang.

Das alles dauerte etwa drei Minuten. Kristina konnte nicht umhin, die Leute zu bewundern, und schüttelte respektvoll den Kopf. »Das einzige, was an einem solchen Tag noch funktioniert«, dachte sie, »ist die Feuerwehr.«

Eine Schar Schwalben zog über den Himmel, in Formation wie ein Kampfgeschwader. Sie flogen mit normaler Wandergeschwindigkeit, sie hatten eine lange Reise vor sich. Ihr Schatten zeichnete sich als großes V auf dem See ab.

Niemand sagte etwas.

Malena Persson, dreiundzwanzig Jahre alt und eine der wenigen Frauen unter den Berufstauchern, war unterwegs zu dem gesunkenen Flugzeug. Schon nach drei Metern konnte sie außerhalb der Zone, die ihre Lampe erfaßte, nichts mehr sehen. Der See war stark verschmutzt, auch wenn in der Öffentlichkeit nie darüber geredet wurde.

Sie mußte einen Felsvorsprung umrunden und ging vorsichtig tiefer. Man weiß nie, was auf dem Grund eines Sees liegt. Es wurde immer dunkler. In fünfzehn Metern Tiefe erkannte sie die Tragfläche des Flugzeugs. Sie schwamm darauf zu. Die Maschine schien unbeschädigt. Ihr Herz klopfte schneller. Es war immer noch möglich, daß jemand überlebt hatte, es war ja kein Absturz gewesen. Vielleicht hatte sich eine Luftblase gebildet.

Als sie sah, daß zwei Fensterscheiben sich gelöst hatten, wußte sie, daß es zu spät war. Wer sich dort drinnen befand, war mit Sicherheit tot, ertrunken.

Sie schwamm um das Flugzeug herum, um zu erkunden, ob es irgendwo einen Einlaß gab, versuchte die Passagierluke zu öffnen, ohne Erfolg. Sie mußte sich mit dem Versuch begnügen, von außen die Anzahl der Insassen festzustellen. Sie konnte nur Umrisse sehen, aber sie zählte sechs Passagiere. Mit dem Piloten sieben.

Bevor sie das Signal gab, daß man sie hochziehen sollte, entzifferte sie den Namen der Fluggesellschaft auf dem Rumpf. Nikki Air.

Auf dem Weg nach oben ließ sie ihre Gedanken wandern, zu fernen Sommern am Mittelmeer, in denen sie von einem jungen Griechen ihren ersten Tauchunterricht erhalten hatte und in die Magie der Tiefe eingeweiht worden war, die sie seitdem nicht mehr losließ.

Als sie an die Oberfläche kam, war das versonnene Lächeln wieder aus ihrem Gesicht verschwunden, und sie war bereit zur Berichterstattung.

Puskas zog die Schlußfolgerung, die alle befürchtet hatten. Sie konnten nichts tun. Es fehlte ihnen an Ausrüstung. Nur die Marine war imstande, eine solche Operation auszuführen.

Er bat Kristina, die beiden Polizisten, die nun auch endlich eingetroffen waren, zur Bewachung des Unfallortes abzustellen. Lagerrud ließ telefonisch die Alarmbereitschaft abblasen.

So traurig es auch war, es gab ganz einfach nichts, was man im Moment noch hätte tun können. Man konnte in der Zwischenzeit versuchen, etwas über die Identität der Opfer herauszufinden, aber das war nicht die Aufgabe der Feuerwehr. Das wußte auch Kristina.

Lagerrud fuhr sie zum Flugplatz zurück, wo sie ihren Wagen geparkt hatte. Unterwegs redeten sie nicht viel. Er gab ihr nur den Rat, sich an den Flughafen Bromma zu wenden, den die Unglücksmaschine angesteuert hatte, bevor sie, nun ja, im Jenseits landete. Vielleicht wußte man in Bromma mehr, zum Beispiel, von wo aus das Flugzeug gestartet war. Er bezweifelte jedoch, daß man ihr dort weiterhelfen würde, was die Passagiere betraf. Von Nikki Air hatte er noch nie etwas gehört.

4

Eigentlich brauchte sie überhaupt nichts zu tun. Es war Sonntag, sie hatte dienstfrei, und es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt für ein Verbrechen. Es war ein Unfall, ein tragischer dazu, aber das fiel wohl kaum in ihr Ressort. Sie leitete das sechste Dezernat, ihr Arbeitsgebiet waren Straftaten.

Dann dachte sie an die Angehörigen der Opfer. Irgendwo warteten Menschen, eine Ehefrau oder ein Ehemann, ein Vater oder eine Mutter, eine Freundin oder ein Verlobter.

Irgendwo machten Menschen Pläne für den Abend, an dem die Reisenden endlich wieder zu Hause sein würden. Vielleicht bereitete man gerade das Abendessen vor und öffnete eine gute Flasche Wein, man nahm ein ausgiebiges Bad, feilte seine Nägel oder rasierte sich besonders gründlich.

Sie konnte sich nicht auf ihren freien Tag berufen und auch nicht auf ihre fachliche Spezialisierung, um ihren Sonntag ausklingen zu lassen, als ob nichts geschehen wäre. Wie pflegte ihr alter Vater zu sagen, der aus Ostdeutschland geflüchtet war? Menschsein bedeutet, sich als Teil der Gesellschaft, der »Gemeinschaft« (er benutzte das deutsche Wort) zu begreifen.

Übrigens mußte sie ihn anrufen. Sie hatte ihn eine ganze Weile nicht gesehen. Eine schwere Zeit lag hinter ihr, die Scheidung hatte ihre Kräfte aufgezehrt. Glückliche Ehen sind selten, aber glückliche Scheidungen sind noch seltener.

Meist zieht es einen zum Partner zurück wie den Verbrecher zum Tatort. Ihre Nachbarn hatten sich ebenfalls scheiden lassen, sie hatten ihre große Villa verkauft und waren in einen entfernten Ort gezogen. Und doch hatte Kristina beobachtet, daß sie abends in der Gegend herumschlichen, um das Haus noch einmal zu sehen, in dem sich jetzt eine andere Familie eingerichtet hatte.

Auch sie würde ihr Haus verkaufen müssen. Sie konnte sich nicht leisten, es zu behalten. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es gewollt hätte. Johan, ihr Exmann, war ihr dort viel zu nahe. Er hatte das Haus gestrichen, hatte geschreinert und dekoriert. Sie kümmerte sich nicht um solche Dinge, aber es hatte ihr sehr gefallen, ihn in Tischlerhosen zu sehen. Sein erotischstes Kleidungsstück. Im Smoking sah er aus wie eine verkleideter Handwerker, in Arbeitsklamotten wie ein verkleideter Prinz.

Im Garten, unter den Fliederbüschen, hatten sie ein Versteck, wo niemand sie beobachten konnte. Dort hatten sie sich manchmal geliebt, unvermittelt und wild, wie Tiere, Dachse vielleicht. Danach schämten sie sich ein wenig voreinander, wie zwei Fremde.

Um Himmels willen! Gerade war sie Zeugin eines schrecklichen Unglücks geworden, und das einzige, woran sie denken konnte, war Sex.

Nein, das stimmte nicht. Ein anderer Teil ihres Gehirns, irgendwo im Stirnbereich, war eifrig damit beschäftigt, die nächsten Schritte zu planen. Als erstes mußte sie Nikki Air ausfindig machen. Sie schlug das Telefonbuch auf. Kein Eintrag. Vielleicht eine ausländische Firma, die keine Niederlassung in Schweden hatte?

Sie rief am Flughafen Bromma an. Das Besetztzeichen tutete. Kein Wunder. Am besten fuhr sie gleich hin. Das war auf jeden Fall das Effektivste. Wenn man telefonisch Auskünfte einholen will, erfährt man in der Regel nur, was der andere nicht weiß. Konkrete Angaben bekommt man allenfalls von der Zeitansage.

Im Umkleideraum für Polizistinnen ging sie rasch unter die Dusche. Sie hatte sich selbst gelobt, nicht in den Spiegel zu schauen, und sie hielt sich daran.

Sie zog ihre Uniform an und fühlte sich sofort sicherer. Als sie ihr Haar bürstete, klingelte das Telefon. Maria Valetieri, ihre Assistentin, hatte die Nachricht im Radio gehört. Der Reporter hatte Kristina als Augenzeugin erwähnt, »die prominente Chefin des Gewalttaten-Dezernats von Huddinge«.

Maria wollte wissen, ob sie gebraucht wurde, sie hatte ohnehin nichts zu tun, saß nur da und fing Fliegen, wie sie behauptete. Sie konnte sofort kommen.

Kristina war froh, ihre Stimme zu hören, die ein wenig heiser war und die unschuldigsten Wörter irgendwie verdächtig, ja fast unanständig klingen ließ. »Maria, du hättest nicht Polizistin werden sollen, sondern Mafiosa«, sagte sie manchmal zu ihr.

Kaum hatte sie den Hörer aufgelegt, merkte sie, daß sie Hunger hatte. Die Kantine des Polizeireviers war bestimmt nicht geöffnet. Sie versuchte es am Automaten, steckte zwei Fünfkronenstücke hinein, um eine Tafel Schokolade zu ziehen, doch es kam nichts heraus. Wütend schlug sie mit der flachen Hand auf das Gerät, es rasselte, und sie bekam zehn Fünfer zurück, aber keine Schokolade.

Sie rief Maria auf dem Handy an und schlug vor, sich bei McDonald’s im Zentrum von Huddinge zu treffen. Das war der einzige Ort, wo man um diese Zeit etwas zu essen bekam. Alles andere war geschlossen, sogar die Wurstbude am Bahnhof.

Immer hatte man sonntags dieses Problem, aber früher war es noch schlimmer gewesen. Als ihr Vater sein erstes Weihnachtsfest in Schweden verbrachte, suchte er vergeblich nach einer Gaststätte. Schließlich aß er eine Dose Hundefutter, die seine Vermieterin in der Speisekammer vergessen hatte.

Maria, deren Vater Pizzabäcker war, verkündete, daß sie niemals ihren Fuß in eine McDonald’s-Filiale setzen würde. Sie erklärte sich bereit, Butterbrote mitzubringen. Ihr Angebot wurde dankbar angenommen.

5

Man könnte Bromma einen hochnäsigen Vorort nennen. Die Villen dort strahlen Wohlstand und Selbstzufriedenheit aus, aber auch eine gewisse Besorgnis.

Kristina und Maria sahen, wie Männer und Frauen auf ihren Sonnenterrassen saßen oder sich der Gartenarbeit widmeten, mit jener mühsam erkämpften Nonchalance, die das Kennzeichen der aufstrebenden Mittelklasse ist. Hier wohnten höhere Beamte, Politiker und Unternehmer, denen der Flugplatz mitten in ihrem Wohnviertel ein Dorn im Auge war, obwohl er gleichzeitig als Statussymbol galt.

Ein Flugplatz übrigens, mit dem das moderne Schweden ein paar glanzvolle Erinnerungen verband. Hier war Anita Ekberg gelandet, nachdem sie in »La Dolce Vita« mitgespielt hatte, hier waren Ingrid Bergman und Roberto Rossellini angekommen. Die jüngeren Leute wußten natürlich nichts davon und wollten den Flugplatz aus Umwelt- und Sicherheitsgründen schließen lassen. Es hatte Unfälle gegeben, in Abrahamsberg war ein Passagierflugzeug abgestürzt, der Lärmpegel war hoch.

Aber bislang leistete die alte Garde noch Widerstand. Das auffälligste Merkmal der Mittelklasse sind heftige Generationskonflikte. In der Oberschicht versucht die junge Generation, die Privilegien der älteren zu übernehmen, und in der Arbeiterklasse ist die Jugend bestrebt, ihre Herkunft zu verleugnen, aber in der Mittelschicht würden die Jungen die Alten am liebsten einfach auslöschen, sie zu unmündigen, brabbelnden Idioten erklären.

In der Oberschicht hat man hin und wieder Sorgen, in der Unterschicht hat man kein Geld, und in der Mittelschicht hat man Angst. Die Mittelschicht hat die Angst sozusagen erfunden.

Man kann sie fühlen, so merkwürdig es auch klingen mag – sie schwebt über den Villen und Gärten, sie nistet in den Fältchen, die sich um den Mund der Frauen bilden, und im entschlossenen Gang der Männer, die wissen, daß sie eigentlich kein Ziel haben.

Sogar in das Auto, in dem die beiden Polizistinnen schweigend saßen, kroch sie hinein. Es war fast drei Uhr, der Himmel hatte sich von Osten her bewölkt, im Radio war für den Abend Regen angekündigt worden. Nichts Neues von dem verunglückten Flugzeug.

Kristina hatte keinen klaren Plan für ihr Vorgehen, aber Maria fand, daß man bei dem Fluglotsen anfangen sollte, der Kontakt mit dem Piloten gehabt hatte. Vielleicht wußte er etwas, das sie weiterbringen würde.

Der Lotse war ein junger Mann, eine Urlaubsvertretung, und er war völlig verzweifelt. Dies war sein erster Unfall. Gerade hatte er das Flugzeug noch auf dem Radarschirm gesehen, im nächsten Moment war es verschwunden. Es war gespenstisch. Ein kleiner Punkt mit einer Gruppe von Menschen an Bord, ein elektronisches Signal voller Lebewesen, das er mit knappen, präzisen Anweisungen dirigiert hatte, um es in die richtige Position für die Landung zu bringen, und das ihn am Ende zum Narren gehalten hatte wie der Blick eines jungen Mädchens im Vorübergehen.

Er hatte in sein Funkgerät gerufen, dann geschrien, und als ihm klar wurde, was geschehen war, hatte er geweint. Alle wußten, daß ihn keine Schuld traf, trotzdem mußte er es immer wieder beteuern.

Er riß sich zusammen und beantwortete ein paar einfache Fragen. Der Pilot hatte gesagt, daß der Öldruck plötzlich gesunken sei. Erst fiel der eine Motor aus, dann der andere. Sie hatten die ganze Zeit Kontakt gehabt, bis das Flugzeug einfach verschwand. Er wußte nicht, wie viele Leute an Bord gewesen waren, und von Nikki Air wußte er auch nichts. Er verwies sie an den Aufklärungsdienst, der tatsächlich in der Zwischenzeit einiges herausgefunden hatte.

Nikki Air war eine kleine Fluggesellschaft mit Sitz in Trelleborg, spezialisiert auf VIP-Transporte. Deshalb hatte Kristina sie im Telefonbuch nicht gefunden. Eine Passagierliste gab es nicht, man arbeitete hier nach etwas anderen Prinzipien, Diskretion war das zentrale Verkaufsargument. Am besten würde es sein, sich direkt an das Büro in Trelleborg zu wenden.

Sie versuchten es sofort, aber es meldete sich nur ein Anrufbeantworter.

Kristina rief Puskas an und fragte, ob die Bergung der Leichen etwas ergeben hätte. Noch nichts, lautete die Antwort. Aber die Marine hatte per Hubschrauber einige Taucher geschickt, die sich ein eigenes Bild von der Lage machen wollten. Sie hofften, in wenigen Stunden mit der Arbeit beginnen zu können.

Mit anderen Worten: nichts Neues, nichts über die Passagiere oder den Piloten. Kristina war enttäuscht und müde, deshalb schlug sie vor, über Stockholm zurückzufahren und in der Konditorei am Mariatorg einzukehren, wo es die beste Möhrentorte der Stadt gab.

Auf dem Platz war viel Betrieb. Ein paar Leute spielten Boule, andere lagen im Gras, Kleinkinder plantschten im Brunnenbecken, Hunde rannten so selbstvergessen herum, wie nur Hunde es können, und auf den Kneipenterrassen saß man beim Bier.

Kristina hatte in dieser Gegend jahrelang ihre Dienststelle gehabt. Sie kannte jeden, und jeder kannte sie. Am liebsten ging sie in »Sofijas Skafferi«, wo es gutes, preiswertes Essen gab und eine Wirtin, die immer lächelte.

Sollten sie nicht auch lieber ein Bier trinken? Maria hatte nichts dagegen. Sie deutete diskret auf die beiden jungen Frauen, die in der Allee vor ihnen hergingen, eng umschlungen. Es waren zwei stadtbekannte junge Frauen, sie waren sich dessen bewußt, und es lag ihnen offensichtlich daran, der Welt ihre Liebe zu zeigen. Plötzlich blieben sie stehen. Die ältere hob den Fuß wie Strindbergs Fräulein Julie, und sogleich kniete die jüngere vor ihr nieder, um ihr das Schuhband zu schnüren, das sich gelöst hatte.

In Stockholm wurde gerade das »Gay Festival« gefeiert. Von Tantolunden her dröhnte Musik, überall hingen Plakate, die Schlammringkämpfe, Stöckelschuhrennen oder Schlagerwettbewerbe ankündigten. Das alles bedeutete Leben, Bewegung, nicht zuletzt Selbstdarstellung. Die Homosexuellen freuten sich, daß sie ihr eigenes Fest bekommen hatten, und die wenigsten unter ihnen besaßen genügend Scharfblick, um zu erkennen, daß damit endgültig eine Mauer zwischen ihnen und dem Rest der Gesellschaft errichtet wurde. Ungefähr so, wie wenn Einwanderer ein Lokal bekommen, in dem sie unter sich sein dürfen. Man war nicht dabei, die Homosexualität zu integrieren, man war dabei, ihr Außenseitertum zu festigen.

Maria war anderer Meinung. Es sei doch gut, daß die Schwulen sich öffentlich zeigten, denn wen man in den Untergrund verbannte, den würde man über kurz oder lang in dunklen Gassen und später in irgendwelchen Anstalten wiedertreffen. Der erste Überschwang würde sich ohnehin mit der Zeit legen, die Tunten würden wie alle anderen werden, mit Ratenzahlungen und Rentenversicherungen, und am Ende würden sie bloß noch Demonstrationen gegen die Grundsteuerpflicht organisieren.

In diesem Augenblick kam das Bier, und sie prosteten einander einträchtig zu, dankbar dafür, hier zu sitzen, dies alles zu sehen und die Sonne auf dem Gesicht zu spüren. Denen, die im Flugzeug auf dem Grund des Getarsees lagen, würde das nie wieder vergönnt sein.

6

Nikki von Lauterhorn war nicht mehr mit Erland von Lauterhorn verheiratet, aber seinen Nachnamen hatte sie behalten. Er war gut für das Geschäft. Sie war Alleineigentümerin von Nikki Air, die Idee zu dem Unternehmen stammte von ihr, und das Kapital ebenfalls.

Sie war am 17. Mai 1972 geboren, als erste und einzige Tochter von Ingalill Eriksson aus Eskilstuna. Ihr Vater war ein griechischer Einwanderer, ungefähr so zuverlässig wie die Prognosen von Aktien-Analysten. Er verschwand, sobald das kleine Mädchen mit seinen großen, blaugrauen Augen das Licht der Welt erblickt hatte.

Nikki wuchs bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf. Der Ausdruck gefiel ihr, er hatte so etwas Heroisches. Mit vierzehn wurde sie von einer Model-Agentur entdeckt, mit knapp achtzehn war sie berühmt, und mit zwanzig war sie weg vom Fenster.

Sie hatte ein wenig Erspartes, das sie in Erland von Lauterhorn investierte, einen jungen Mann, der mit seinen abenteuerlichen Ambitionen und seinen noch abenteuerlicheren Ideen ihr Herz erobert hatte. Er träumte davon, ein Karl XII. des New-Economy-Zeitalters zu werden, und sein Erfolg übertraf alle Erwartungen. Innerhalb von zwei Jahren hatte er mit Nikkis Hilfe die Firma »Vinci Konsult« zu einem multinationalen, milliardenschweren Konzern ausgebaut.

Die Geldgeber standen Schlange vor seiner Tür, der adelige Name zog reiche Plebejer an wie ein Magnet, das Unternehmen expandierte ohne Ende, ständig kaufte man andere Firmen auf, praktisch ohne einen Öre dafür zu bezahlen. Das heißt, bei »Vinci Konsult« bezahlte man in Aktien. Die Zeitungen rissen sich um Interviews mit Erland von Lauterhorn, das Fernsehen brachte sein Porträt, der Rundfunk widmete ihm stundenlange Programme.

Mit anderen Worten, es war die alte Geschichte: Wenn man in Schweden auf einem Gebiet als unfehlbar gilt, hat man in allen Dingen recht. Und Erland äußerte sich zu allem und jedem, insbesondere zur sozialdemokratischen Regierung, die er aus dem tiefsten Grund seines blaublütigen Herzens verachtete.

Nikki war glücklich über den Erfolg, aber ihr Eheleben war mit der Zeit so sporadisch geworden wie das von Zirkuselefanten. Erland kam immer seltener nach Hause; wenn er nicht gerade in New York war, dann war er in Tokio. Außerdem wurde er immer müder, und um sein Lebenstempo zu halten, mußte er sich bald verschiedener Stimulantien bedienen. Dazu gehörten auch kleine Eskapaden jenseits von Nikkis Bett, in dem sie nun immer häufiger allein blieb, in der Gesellschaft von zweiundfünfzig Fernsehkanälen.

Aber auch sie legte sich neue Gewohnheiten zu. Sie schaute sich pornographische Filme an, Nacht für Nacht. Die ersten zwei Minuten waren anregend, dann wurde es langweilig, und sie schwor sich, es nie mehr zu tun. In der folgenden Nacht saß sie dann doch wieder wie festgeklebt vor dem Bildschirm. Pornographie ist eine Droge wie jede andere, man wird abhängig von diesen Bildern, von der Wollust der ersten Minuten.

Irgendwann sah sie ein, daß sie etwas tun mußte. Sie mußte ihr Leben ändern. Einen Monat bevor die New-Economy-Aktien an der Börse einbrachen, verkaufte sie ihren Anteil an »Vinci Konsult« und reichte die Scheidung ein. Erland von Lauterhorn war einverstanden. Für Liebeskummer hatte er keine Zeit. Das Ganze ging ohne Komplikationen ab, weil keine Kinder im Spiel waren.

Nun war Nikki allein und reich. Was sollte sie tun? Was konnte sie? Eigentlich gar nichts. Aber sie kannte viele reiche Leute. Sie dachte daran, eine hochkarätige Catering-Firma zu gründen, nur gab es davon schon eine ganze Reihe.

Sie wußte, daß es in Schweden Leute gab, die Wert darauf legten, bequem, schnell und diskret reisen zu können, wenn es ihnen gerade einfiel. Sie hatte keine Eile. Sie beriet sich mit einer ehemaligen Nachtclubkönigin, die von der Idee sofort begeistert war. Gott, die Reichen in Schweden haben viele Probleme, aber das Schlimmste ist, daß sie ihren Reichtum nicht genießen können, es gibt dafür keine »diskrete« Form. Sie können sich nicht einmal eine Wohnung am Strandväg kaufen, ohne daß es in der Zeitung steht. Sagte die Exkönigin.

Nikki entwickelte ihre Idee weiter, gründete Nikki Air und kaufte eine sechssitzige Propellermaschine, eine zuverlässige Beech Baron 58 mit zwei Motoren, die stark genug waren, das Flugzeug nach vierhundert Metern Startbahn in die Luft zu heben. Ein großer Vorteil, wenn man von kleineren Flugplätzen starten will.

Es war nicht schwer, zwei gute Piloten zu finden. Jeder wußte, daß das Luftwaffengeschwader von Ängelholm keine Zukunft mehr hatte. Die jungen Flieger waren auf der Suche nach einer Alternative. Zwei von ihnen fanden sie bei Nikki Air, und einer der beiden, Fredrik Stolle, fand sogar noch mehr. Er fand Nikki, und sie hörte auf, Pornofilme zu gucken.

Das Geschäft ließ sich zögernd an, kam dann aber schnell in Gang, vor allem deshalb, weil die Oberschicht in Schonen mehr Geld zum Ausgeben hat und zugleich puritanischer ist als in anderen Gegenden Schwedens. Luxusreisen wurden nicht verlangt, erstaunlich oft handelte es sich um harmlose Vergnügungen: Man lud die Enkelkinder zu einem Rundflug ein oder spendierte einem jungen Paar die Hochzeitsreise. Es kam auch vor, allerdings eher selten, daß eine heimliche Geliebte in aller Eile irgendwohin geflogen werden mußte, wo der Auftraggeber gerade geschäftlich zu tun hatte.

Nikki Air war so verschwiegen wie ein katholischer Priester. An die Öffentlichkeit gelangten nur Dinge, von denen der Kunde dies ausdrücklich wünschte.

Nikki von Lauterhorn hatte es geschafft, und diesmal ganz in eigener Regie.

Es war kurz vor sieben, sie hatte gerade eine Flasche Weißwein in den Kühlschrank gestellt. Fredrik mußte um diese Zeit auf dem Heimweg von Bromma sein. Das Radio in der geräumigen Küche war eingeschaltet, durch das Fenster sah sie den großen Apfelbaum, gebeugt wie ein Greis unter der Last der Früchte, die langsam in der Sonne reiften. Ein Gefühl der Freude, einem ziehenden Schmerz ähnlich, stieg ihr vom Bauch in den Kopf und fand den Weg bis zu ihren Lippen. Sie lächelte in sich hinein.

Das Lächeln fror fest wie ein Tropfen Schmelzwasser in einer kalten Nacht, als die Stimme am Telefon ihr Anliegen vorbrachte.

Es war Kristina, die inzwischen den Standort von Nikki Air und, mit Hilfe der Polizei in Trelleborg, auch die Besitzerin der Firma ausfindig gemacht hatte.

Eine Methode, den Schmerz auszuschalten, besteht darin, formell zu sein und rasch zur Sache zu kommen. Das tat Kristina. Sie erhielt Antwort auf ihre Fragen, obwohl Nikki die ganze Zeit nach Luft rang, als sei sie kurz vor dem Ertrinken.

Das Flugzeug war in Amsterdam gestartet, auf einem kleineren Flugplatz südlich von Schiphol, und gechartert worden war es von »Eternal Youth«, einem weniger bedeutenden Unternehmen in der Kosmetikbranche. Sie wußte nur den Namen des Angestellten, der sie angerufen hatte. Sonst nichts, denn die Firma hatte im voraus bezahlt, mit einer Internet-Überweisung auf Nikkis Konto in Luxemburg.

Der Pilot – sie wagte seinen Namen nicht auszusprechen, weil sie fürchtete, laut in den Hörer heulen zu müssen – hatte erwähnt, daß fünf Passagiere an Bord sein würden. Namen waren ihr nicht mitgeteilt worden.

Kristina fragte, ob sie genau wisse, daß er »fünf« gesagt hatte, und Nikki versicherte ihr, die Angabe sei auf Tonband festgehalten worden, da sie ihre Geschäftsgespräche grundsätzlich aufzeichnete.

Das war merkwürdig. Die Taucherin hatte sechs Passagiere gezählt.

Nikki von Lauterhorn konnte dazu nichts sagen, sie war ebenso verwirrt wie die Kommissarin. Aber sie wollte noch heute abend den Nachtzug nach Stockholm nehmen. Sie verabscheute das Fliegen. Die Kommissarin würde sie dann im Grand Hotel antreffen, wo sie zu übernachten pflegte. Falls sie nicht dort war, wußte die Rezeption, wo sie sich aufhielt.

Kristina hatte viel Stoff zum Nachdenken, als sie den Hörer auflegte.

Und Nikki konnte endlich weinen.

7

Bei den Marinetauchern handelte es sich um echte Profis. Zwei von ihnen waren damals als erste zur »Estonia« hinuntergestiegen. Die Bergung der Leichen aus dem Flugzeug war nicht schwierig, und sie machten sich sofort an die Arbeit.

Inzwischen war es halb sieben, aber es würde noch mindestens anderthalb Stunden hell bleiben. Man ging davon aus, daß die Zeit reichen würde. Und sie reichte tatsächlich.

Sieben Leichen wurden hochgezogen. Fünf Männer, eine Frau und ein Junge von zwölf oder dreizehn Jahren. Die Identifizierung war problemlos, außer dem Jungen hatten alle ihre Ausweispapiere bei sich.

Kristina und Maria notierten Namen und Adressen für die Telefonate mit den Angehörigen.

Der Pilot Fredrik Stolle, wohnhaft in Ängelholm, war zweiunddreißig Jahre alt.

Anders Lalleholm, wohnhaft in Stockholm, fünfunddreißig Jahre.

Lars Fältgård, Djursholm, einundfünfzig.

Erik Jönsson, Söderköping, einundzwanzig.

Ninni Larsson, Stockholm, fast siebzehn.

Und dann der Junge. Ohne Ausweis, offenbar auch ohne Gepäck.

Ein schwarzhaariger Junge mit regelmäßigen Zügen, seine Haut war viel zu dunkel für einen Europäer und zu hell für einen Afrikaner. Vermutlich stammte er aus Asien, vieles sprach für Indien.

Wie war der Junge in das Flugzeug geraten? War er allein gereist? Und wenn nicht, mit wem?

Hatten die Verunglückten etwas mit der Firma zu tun, die das Flugzeug gemietet hatte? Hatten sie etwas miteinander zu tun? Fragen über Fragen.

Die Bedingungen waren nicht gerade ideal für weitere Nachforschungen. Längst hatten die Medien sich am Unglücksort eingefunden, denn die Opfer waren keine Unbekannten. Um etwas herauszubekommen, mußte man nicht die Polizei fragen; man zog es vor, sie zu ignorieren.