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Robert Galbraith

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Beschreibung

Der zweite Fall für das außergewöhnliche Ermittlerduo von Robert Galbraith, dem Pseudonym von JK Rowling!

Als der Romanautor Owen Quine spurlos verschwindet, bittet seine Frau den privaten Ermittler Cormoran Strike um Hilfe. Es ist nicht das erste Mal, dass Quine für einige Tage abgetaucht ist, und sie möchte, dass Strike ihn findet und nach Hause zurückbringt. Doch schon zu Beginn seiner Ermittlungen wird Strike klar, dass mehr hinter Quines Verschwinden steckt, als seine Frau ahnt. Der Schriftsteller hat soeben ein Manuskript vollendet, das scharfzüngige Porträts beinahe jeder Person aus seinem Bekanntenkreis enthält. Sollte das Buch veröffentlicht werden, würde es Leben zerstören – zahlreiche Menschen hätten also allen Grund, Quine zum Schweigen zu bringen. Als Quine tatsächlich tot aufgefunden wird, brutal ermordet unter bizarren Umständen, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um das wahre Motiv des skrupellosen Mörders aufzudecken – eines Mörders, wie Strike ihm noch nie zuvor begegnet ist …

Sie sind Fan des außergewöhnlichen Ermittlerduos Ellacott und Strike? Dann lesen Sie auch die anderen Romane der SPIEGEL-Bestsellerreihe.

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Seitenzahl: 788

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Robert Galbraith

DerSeidenspinner

Roman

Aus dem Englischen von Wulf Bergner, Christoph Göhler und Kristof Kurz

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel The Silkworm bei Sphere, An Imprint of Little, Brown Book Group, London.

1. AuflageCopyright © 2014 Robert Galbraith LimitedThe moral right of the author has been asserted.

All characters and events in this publication, other than those clearly in the public domain, are fictitious and any resemblance to real persons, living or dead, is purely coincidental.

All rights reserved.

No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system,or transmitted, in any form, or by any means, without the prior permission in writing of the publisher, nor be otherwise circulated in any form of binding or cover other than that in which it is published and without a similar condition including this condition being imposed on the subsequent purchaser.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Liedzeile: »Love You More«: Words & Music by Oritsé Williams, Marvin Humes, Jonathan Gill, Aston Merrygold, Toby Gad & Wayne Hector © 2010 BMG FM Music Ltd., a BMG Chrysalis company/BMG Rights Management UK Ltd., a BMG Chrysalis company/EMI Music Publishing Ltd./All Rights Reserved. International Copyright Secured./Reproduced by permission of Music Sales Limited/Reproduced by permission of EMI Music Publishing Ltd, London W1F 9LD.

Liedzeile: »Oh Santa!«: Words and Music by Mariah Carey, Bryan Michael Paul Cox and Jermaine Mauldin Dupri

© 2010, Reproduced by permission of EMI Music Publishing Ltd, London W1F 9LD/© 2010 W.B.M. MUSIC CORP. (SESAC) AND SONGS IN THE KEY OF B FLAT, INC. (SESAC) ALL RIGHTS ON BEHALF OF ITSELF AND SONGS IN THE KEY OF B FLAT, INC. ADMINISTERED BY W.B.M. MUSIC CORP./© 2010 Published by Universal/MCA Music Ltd.

Umschlaggestaltung: www.buerosued unter Verwendung einer Originalvorlage und einer Fotografie von Sian Wilson © Little Brown Book Group Limited 2014

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-14595-8V002www.blanvalet.de

Für Jenkins,ohne den …Er kennt den Rest.

… Blut und Rache die Bühne, der Tod das Stück,

der Federkiel ein blutbeflecktes Schwert,

ein tragischer Kerl der Dichter auf hohem Kothurn,

dem nicht Lorbeer krönt sein Haupt, jedoch ein Kranz aus

sengend heißen Flammen.

THOMAS DEKKER, DER EDLE SPANISCHE SOLDAT

1

Frage:

Was nährt dich?

Antwort:Unterbrochner Schlaf.

THOMAS DEKKER, DER EDLE SPANISCHE SOLDAT

»Strike«, sagte die heisere Stimme am anderen Ende der Leitung, »ich will schwer für Sie hoffen, dass jemand Berühmtes gestorben ist.«

Der große unrasierte Mann, der mit dem Telefon am Ohr durch die Finsternis vor der Morgendämmerung marschierte, musste grinsen.

»So was in der Richtung.«

»Es ist sechs Uhr früh, verdammt noch mal!«

»Halb sieben. Sie müssen schon kommen und es sich holen, wenn Sie es haben wollen«, sagte Cormoran Strike. »Ich bin ganz in der Nähe Ihrer Wohnung. Hier ist ein …«

»Woher wissen Sie, wo ich wohne?«, verlangte die Stimme zu erfahren.

»Von Ihnen«, antwortete Strike und unterdrückte ein Gähnen. »Sie wollen die Wohnung doch verkaufen.«

»Oh. Gutes Gedächtnis«, sagte der andere halbwegs besänftigt.

»Das Café hier hat rund um die Uhr …«

»Nein, verdammt. Kommen Sie später in meinem Büro vorbei und …«

»Culpepper, ich habe heute Morgen noch einen Termin mit einem anderen Klienten, und der zahlt besser als Sie. Außerdem war ich die ganze Nacht wach. Sie brauchen den Kram jetzt, wenn Sie was damit anfangen wollen.«

Ein Stöhnen. Strike hörte das Rascheln einer Bettdecke.

»Es ist hoffentlich wirklich heißes Material.«

»Das Smithfield Café in der Long Lane«, sagte Strike und legte auf.

Das leichte Humpeln wurde stärker, als er zum Smithfield Market hinunterging. Das Marktgebäude ragte wie ein Monolith in der Winterschwärze auf – ein gewaltiger, quaderförmiger viktorianischer Tempel des Fleisches, wo seit Jahrhunderten an jedem Werktag ab vier Uhr morgens tote Tiere angeliefert, zerlegt, verpackt und an Metzgereien und Restaurants in ganz London verkauft wurden. Stimmen waren durch das Dunkel zu hören, gebrüllte Befehle und das Brummen und Piepen zurücksetzender Lastwagen, aus denen die Kadaver ausgeladen wurden. Sowie er die Long Lane betrat, war er nur mehr einer von vielen dick vermummten Männern, die zielstrebig ihren Montagmorgengeschäften nachgingen.

Unter einem steinernen Greif, der über einer Ecke des Marktgebäudes wachte, standen mehrere Kuriere in neonfarbenen Westen und hielten Teebecher in den behandschuhten Händen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite glühten die Lichter des rund um die Uhr geöffneten Smithfield Café wie ein Kaminfeuer in der Dunkelheit – ein Unterschlupf voller Wärme und fettigem Essen, der gerade so groß war wie ein Schrank.

Eine Toilette gab es dort nicht, nur eine Vereinbarung mit dem Ladbrokes-Wettbüro einige Häuser weiter. Da die Buchmacher jedoch erst in drei Stunden öffnen würden, schlug Strike einen Umweg durch eine Seitengasse ein, wo er seine Blase – die er während der durchwachten Nacht bis zum Bersten mit schwachem Kaffee gefüllt hatte – in einem dunklen Hauseingang entleerte. Müde und hungrig trat er mit einer Vorfreude, wie sie nur ein Mann kennt, der seine körperlichen Grenzen überschritten hat, in das nach Eiern, Speck und Bratfett duftende Café.

Zwei Männer in Fleecepullovern und Regenjacken waren soeben von einem Tisch aufgestanden. Strike manövrierte seinen massigen Körper in die enge Nische und ließ sich mit einem zufriedenen Grunzen auf den harten Stuhl aus Holz und Metall fallen. Kaum hatte er bestellt, brachte ihm der italienische Inhaber des Cafés auch schon einen großen weißen Becher mit Tee, zu dem kleine dreieckige Butterbrote serviert wurden. Fünf Minuten später stand ein komplettes englisches Frühstück auf einem großen ovalen Teller vor ihm.

Strike fiel unter den stämmigen Männern, die in dem Café ein und aus gingen, nicht weiter auf. Er war groß, dunkel, hatte dichtes, kurzes, gelocktes Haar, das sich über der hohen, gewölbten Stirn bereits ein wenig lichtete, eine breite Boxernase und buschige Augenbrauen, die ihm ein mürrisches Aussehen verliehen. Bartstoppeln bedeckten sein Kinn, und er hatte Schatten wie Blutergüsse unter den dunklen Augen. Beim Essen starrte er gedankenverloren auf das Marktgebäude gegenüber. Der nächstgelegene Eingang – als Nummer zwei ausgeschildert – nahm im zunehmenden Tageslicht endlich Gestalt an, und ein strenges, uraltes, bärtiges Steingesicht über dem Torbogen starrte zu ihm zurück. Hatte es je einen Gott der Kadaver gegeben?

Er wollte sich gerade über seine Würstchen hermachen, als Dominic Culpepper eintrat. Der Journalist mit dem Teint eines Chorknaben war fast so groß wie Strike, aber deutlich schlanker. Sein Gesicht war seltsam asymmetrisch, als hätte es jemand gegen den Uhrzeigersinn verdreht, um seiner nahezu mädchenhaften Schönheit Einhalt zu gebieten.

»Ich hoffe, es lohnt sich«, sagte Culpepper und nahm Platz, zog die Handschuhe aus und sah sich beinahe misstrauisch in dem Café um.

»Wollen Sie was essen?«, fragte Strike, den Mund voll Wurst.

»Nein«, antwortete Culpepper.

»Sie hätten wohl lieber ein Croissant?«, fragte Strike und grinste.

»Sie können mich mal, Strike.«

Es war geradezu erbärmlich einfach, den einstigen Privatschuljungen auf die Palme zu bringen. Trotzig bestellte er sich einen Tee, wobei er den gleichgültigen Kellner mit »Kumpel« ansprach (wie Strike amüsiert bemerkte).

»Also?«, fragte Culpepper ungeduldig, sobald er den heißen Becher in seinen großen, blassen Händen hielt.

Strike griff in seine Manteltasche, zog einen Umschlag hervor und schob ihn über den Tisch. Culpepper nahm den Inhalt heraus und fing an zu lesen.

»Verdammte Scheiße«, flüsterte er nach einer Weile. Er blätterte fieberhaft durch die Seiten, von denen manche mit Strikes Handschrift bedeckt waren. »Wo zum Teufel haben Sie das her?«

Strike, der erneut den Mund voll Wurst hatte, tippte mit dem Finger auf ein Blatt, auf das eine Büroadresse gekritzelt war.

»Von seiner Assistentin höchstpersönlich. Sie ist stinksauer«, sagte er, nachdem er endlich geschluckt hatte. »Er hat sie gevögelt, genau wie die beiden anderen, von denen Sie ja bereits wissen. Sie hat erst jetzt begriffen, dass sie nicht die nächste Lady Parker sein wird.«

»Wie zur Hölle haben Sie das denn herausgefunden?« Aufgeregt sah Culpepper von den Papieren in seinen zitternden Händen zu Strike auf.

»Ermittlungsarbeit«, nuschelte Strike, der bereits auf dem nächsten Wurstbissen kaute. »Habt ihr das nicht auch mal so gemacht, ehe ihr das Ganze an Leute wie mich ausgesourct habt? Culpepper, die Frau macht sich Sorgen um ihre Zukunft auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb will sie ungern in der Geschichte auftauchen, in Ordnung?«

Culpepper schnaubte verächtlich. »Daran hätte sie denken sollen, bevor sie das Zeug hier geklaut hat.«

Im Nu hatte Strike dem Journalisten die Blätter wieder entrissen.

»Sie hat gar nichts geklaut. Er hat ihr gestern Nachmittag aufgetragen, diese Unterlagen auszudrucken. Ihr einziges Vergehen war, sie mir zu zeigen. Culpepper, wenn Sie vorhaben, ihr Privatleben in der Presse breitzutreten, dann nehme ich den Kram hier sofort wieder an mich.«

»Scheiße.« Vergeblich schnappte er nach den Beweisen für einen schweren Fall von Steuerhinterziehung, die Strike in seiner behaarten Hand hielt. »Also gut, meinetwegen wird sie nicht erwähnt. Aber er wird sich zusammenreimen können, woher wir die Informationen haben. Er ist ja nicht völlig bescheuert.«

»Was soll er denn tun? Sie vor Gericht zerren, damit sie auch noch jede andere schmierige Sache auspackt, von der sie in den vergangenen fünf Jahren Wind bekommen hat?«

»Na schön«, sagte Culpepper und seufzte, nachdem er einen Augenblick darüber nachgedacht hatte. »Jetzt geben Sie schon her. Ich werde sie nicht erwähnen, aber mit ihr reden muss ich ja wohl, oder? Mich vergewissern, dass sie koscher ist.«

»Die Unterlagen sind koscher. Mit ihr müssen Sie nicht reden«, sagte Strike entschieden.

Die zitternde, verliebte, verratene Frau, von der sich Strike gerade erst verabschiedet hatte, durfte unter keinen Umständen allein mit Culpepper sprechen. Mit ihren wilden Rachegelüsten gegenüber dem Mann, der ihr eine Hochzeit und Kinder versprochen hatte, würde sie sich selbst und ihren Zukunftschancen irreparable Schäden zufügen. Strike hatte nicht lange gebraucht, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie war knapp zweiundvierzig, und sie war der irrigen Annahme aufgesessen, schon bald die Mutter von Lord Parkers Kindern zu werden; stattdessen wurde sie jetzt von dem geradezu blutrünstigen Drang beherrscht, es ihm heimzuzahlen. Strike hatte stundenlang mit ihr zusammengesessen, sich die tragische Geschichte ihrer Verblendung angehört und sie dabei beobachtet, wie sie in ihrem Wohnzimmer weinend auf und ab marschiert war, sich auf dem Sofa vor- und zurückgewiegt und sich dabei die Fingerknöchel gegen die Stirn gepresst hatte. Schließlich hatte sie zugestimmt – zu einem Verrat, mit dem sie all ihre Hoffnungen zu Grabe tragen würde.

»Sie werden sie mit keinem Wort erwähnen«, sagte Strike. Er hielt die Unterlagen fest in seiner Faust, die doppelt so groß war wie die seines Gegenübers. »Verstanden? Es ist auch ohne sie eine verdammt heiße Story.«

Culpepper zögerte einen Moment, dann verzog er das Gesicht und gab nach.

»Schon gut, schon gut. Geben Sie her.«

Der Journalist stopfte die Unterlagen in die Innentasche seines Mantels und stürzte seinen Tee hinunter. Sein momentaner Zorn auf Strike schien zu verrauchen angesichts der verlockenden Aussicht, schon bald den Ruf eines Mitglieds des englischen Hochadels zu ruinieren.

»Lord Parker of Pennywell«, flüsterte er frohgemut. »Du bist wirklich und wahrhaftig am Arsch, Freundchen.«

»Das übernimmt doch sicher Ihr Arbeitgeber?«, fragte Strike, als die Rechnung auf ihrem Tisch landete.

»Ja, ja …«

Culpepper warf eine Zehnpfundnote daneben. Gemeinsam verließen die beiden Männer das Café. Sobald die Tür hinter ihnen zugefallen war, zündete sich Strike eine Zigarette an.

»Wie haben Sie sie zum Reden gebracht?«, fragte Culpepper, als sie durch die Kälte an den Motorrädern und Lieferwagen vorbeigingen, die noch immer vor dem Marktgebäude verkehrten.

»Ich hab ihr zugehört«, sagte Strike.

Culpepper warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Alle anderen Privatschnüffler, mit denen ich zu tun habe, hacken sich normalerweise in irgendwelche Mailboxen ein.«

»Das ist illegal«, sagte Strike und blies Rauch in die Dämmerung.

»Aber wie …«

»Sie schützen Ihre Quellen und ich meine.«

Schweigend legten sie weitere fünfzig Meter zurück. Strikes Humpeln wurde mit jedem Schritt schlimmer.

»Das wird riesig … eine Riesensache«, verkündete Culpepper vergnügt. »Dieser scheinheilige alte Sack prangert die Gier der Konzerne an und hat selber zwanzig Millionen auf den Caymans gebunkert!«

»Immer gern zu Diensten«, sagte Strike. »Die Rechnung kommt per E-Mail.«

Culpepper bedachte ihn mit einem weiteren argwöhnischen Blick.

»Haben Sie das von Tom Jones’ Sohn letzte Woche in der Zeitung gelesen?«

»Tom Jones?«

»Der walisische Sänger«, sagte Culpepper.

»Ach, der«, sagte Strike ohne große Begeisterung. »Ich kannte mal einen Tom Jones in der Army.«

»Haben Sie’s gelesen?«

»Nein.«

»Schön langes Interview. Er behauptet, dass er seinen Vater nie persönlich getroffen und nie auch nur ein Sterbenswörtchen von ihm gehört hat. Ich wette, dass er weitaus mehr bekommen hat als das, was auf Ihrer Rechnung stehen wird.«

»Warten Sie’s ab«, sagte Strike.

»Ich meine ja nur … Ein einziges kleines Interview, und Sie bräuchten ein paar Nächte lang mal keine Sekretärinnen zu verhören.«

»Culpepper, wenn Sie nicht damit aufhören«, sagte Strike, »muss ich aufhören, für Sie zu arbeiten.«

»Ich könnte die Story natürlich trotzdem bringen«, sagte Culpepper. »Der verlorene Sohn des Rockstars – ein Kriegsheld, der seinen Vater nie kennengelernt hat und jetzt als Privat…«

»Jemanden damit zu beauftragen, fremde Telefone anzuzapfen, ist ebenfalls illegal, soweit ich weiß.«

Am Ende der Long Lane blieben sie stehen und sahen einander an. Culpepper lachte verunsichert.

»Dann warte ich also auf Ihre Rechnung, ja?«

»Geht klar.«

Sie gingen in verschiedene Richtungen davon. Strike machte sich auf den Weg zur U-Bahn-Haltestelle.

»Strike!« Culpeppers Stimme hallte ihm durch die Dämmerung nach. »Haben Sie sie gevögelt?«

»Ich bin gespannt auf Ihre Story, Culpepper«, rief Strike müde zurück, ohne sich umzudrehen.

Er humpelte den dunklen U-Bahn-Eingang hinunter und verschwand aus Culpeppers Blickfeld.

2

Wie lange dauert das Duell? Ich kann nicht bleiben

Und werd es nicht! Ich bin ein viel gefragter Mann.

FRANCIS BEAUMONT UND PHILIP MASSINGER, DER KLEINE FRANZÖSISCHE ANWALT

Die U-Bahn war bereits ziemlich voll: schlaffe, blasse, verkniffene, resignierte Montagmorgengesichter. Strike ergatterte einen freien Sitz gegenüber einer Blondine mit verquollenen Augen, deren Kopf ständig zur Seite kippte. Immer wieder schreckte sie aus dem Schlaf, setzte sich gerade auf und versuchte in der Befürchtung, ihre Haltestelle verpasst zu haben, die vorbeihuschenden Schilder auf den Bahnsteigen zu erfassen.

Der Zug ratterte und klapperte, während er Strike zu der schlecht isolierten, kargen Zweieinhalbzimmer-Dachgeschosswohnung brachte, die er sein Zuhause nannte. Todmüde und umgeben von all den leeren Schafsgesichtern, grübelte er über die Umstände nach, die für ihrer aller Existenz verantwortlich waren. Jede Geburt war bei genauerer Betrachtung reiner Zufall. Bei einhundert Millionen Spermien, die blind durch die Dunkelheit schwammen, war die Chance, eine bestimmte Person zu werden, verschwindend gering. Wie viele der Fahrgäste in diesem Wagen waren geplant gewesen, fragte er sich, vor Müdigkeit ganz benommen, und wie viele waren wie er selbst Unfälle?

In seiner Grundschulklasse hatte es ein Mädchen mit einem Feuermal im Gesicht gegeben, und Strike hatte immer eine geheime Verbindung zwischen ihnen verspürt. Beiden haftete seit ihrer Geburt ein unveränderliches Merkmal an, das sie von den anderen unterschied und für das sie nicht verantwortlich waren. Selbst sehen konnten sie es nicht, dafür aber alle anderen – und die hatten nicht einmal den Anstand, es höflich zu ignorieren. Die Faszination, die wildfremde Menschen ihm gegenüber gelegentlich empfanden, hatte der damals Fünfjährige auf seine Einmaligkeit und Einzigartigkeit zurückgeführt – bis er irgendwann begriff, dass man ihn lediglich als die Zygote eines berühmten Rocksängers betrachtete, als das zufällige Nebenprodukt des Fehltritts eines treulosen Prominenten. Strike war seinem leiblichen Vater nur zwei Mal begegnet. Jonny Rokeby hatte seine Vaterschaft erst nach einem DNS-Test anerkannt.

Dominic Culpepper stellte die Verkörperung der überheblichen Sensationsgier dar, die Strike immer dann entgegenschlug, wenn jemand den griesgrämigen Exsoldaten mit dem alternden Rockstar in Verbindung brachte, was dieser Tage nicht mehr allzu häufig vorkam – aber wenn doch, dann dachten alle sofort an Treuhandfonds und großzügige Geschenke, Privatjets und VIP-Lounges und die nie versiegende Freigiebigkeit eines Multimillionärs, und angesichts der Bescheidenheit seines Lebensstils und der endlosen Überstunden, die er machte, fragten sie sich dann: Was hatte Strike nur getan, um es sich mit seinem Vater zu verscherzen? War seine Armut nur vorgetäuscht, um Rokeby mehr Geld aus den Rippen zu leiern? Was hatte er mit den Millionen angestellt, die seine Mutter aus ihrem reichen Liebhaber herausgequetscht haben musste?

In solchen Augenblicken dachte Strike wehmütig an die Army, an die Anonymität eines Berufsstandes, in dem die eigene Herkunft gegenüber der Befähigung und Pflichterfüllung so gut wie keine Rolle spielte. Das Persönlichste während seines Vorstellungsgesprächs bei der Special Investigation Branch war die Bitte gewesen, ob er wohl die beiden seltsamen Namen noch einmal wiederholen könne, die ihm seine übertrieben unkonventionelle Mutter aufgebürdet hatte.

Als Strike wieder aus dem Untergrund auftauchte, herrschte auf der Charing Cross Road bereits starker Verkehr. Die graue halbherzige Novemberdämmerung war immer noch voller düsterer Schatten. Erschöpft und todmüde bog er in die Denmark Street und sehnte sich nach einem kurzen Nickerchen, das er sich noch gönnen wollte, ehe um neun Uhr dreißig der erste Klient bei ihm auftauchte. Er winkte der jungen Verkäuferin im Gitarrenladen zu, mit der er hin und wieder auf der Straße eine Zigarette rauchte, schloss die schwarze Tür neben dem 12 Bar Café auf und nahm die schmiedeeiserne Wendeltreppe in Angriff, die sich um den Schacht eines defekten Aufzugs wand. Vorbei am Büro des Grafikdesigners im ersten Stock, vorbei an seinem eigenen Büro mit der gravierten Glastür im zweiten und hinauf auf den dritten und schmalsten Treppenabsatz, der zu seiner derzeitigen Behausung führte.

Der vorherige Bewohner, dem die Kneipe im Erdgeschoss gehörte, hatte sich ein anderes, komfortableres Quartier gesucht. Strike, der gezwungen gewesen war, mehrere Monate in seinem Büro zu übernachten, hatte die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und die Wohnung gemietet. Er war dankbar dafür gewesen, seiner Obdachlosigkeit auf so einfache Weise ein Ende setzen zu können. Platz war unter den Dachbalken in jeder Hinsicht knapp bemessen, ganz besonders für einen Mann von eins zweiundneunzig. In der Dusche konnte er sich kaum umdrehen. Küche und Wohnzimmer gingen ungünstig ineinander über, und das Schlafzimmer war fast vollständig von einem Doppelbett ausgefüllt. Trotz der Proteste des Vermieters befanden sich noch immer mehrere Kisten mit Strikes Habseligkeiten auf dem Treppenabsatz.

Durch die kleinen Fenster hoch über der Denmark Street waren die Dächer der Nachbarhäuser zu erkennen. Das ständige Basswummern aus der Kneipe im Erdgeschoss war hier so weit gedämpft, dass Strike es mit seiner eigenen Musik größtenteils übertönen konnte.

Strikes angeborene Ordnungsliebe war unübersehbar: Das Bett war gemacht, das Geschirr sauber und alles an seinem Platz. Er hatte eine Dusche und eine Rasur nötig, doch das konnte warten; nachdem er seinen Mantel aufgehängt hatte, stellte er den Wecker auf neun Uhr zwanzig und streckte sich vollständig bekleidet auf dem Bett aus.

Binnen Sekunden war er eingeschlafen und nach einigen weiteren – zumindest kam es ihm so vor – wieder hellwach, weil jemand an seine Tür klopfte.

»Cormoran, tut mir leid, wirklich …«

Draußen stand seine Assistentin, eine hochgewachsene junge Frau mit langem rotblondem Haar. Ihre bedauernde Miene verwandelte sich bei seinem Anblick in einen Ausdruck milden Entsetzens.

»Alles in Ordnung?«

»Hab geschlafen … War die ganze Nacht unterwegs – zwei Nächte sogar.«

»Tut mir wirklich leid«, wiederholte Robin. »Aber es ist schon zwanzig vor zehn, und William Baker ist hier und will …«

»Scheiße«, murmelte Strike. »Der verdammte Wecker is’ wohl … Ich brauch noch fünf Min…«

»Außerdem«, fiel Robin ihm ins Wort, »wartet eine Frau auf Sie. Sie hat keinen Termin, und ich habe ihr gesagt, dass Sie keine Zeit für eine weitere Klientin haben, aber sie weigert sich zu gehen.«

Strike gähnte und rieb sich die Augen.

»Fünf Minuten. Machen Sie ihnen Tee oder so.«

Sechs Minuten später betrat der immer noch unrasierte, aber nach Zahncreme und Deodorant duftende und mit einem frischen Hemd bekleidete Strike das Vorzimmer, wo Robin an ihrem Computer saß.

»Na ja, besser spät als nie«, sagte William Baker mit einem steifen Lächeln. »Zum Glück haben Sie eine so gut aussehende Sekretärin, sonst hätte ich vor Langeweile längst das Weite gesucht.«

Strike sah, wie Robin vor Zorn errötete, sich abwandte und demonstrativ die Post sortierte. Baker hatte das Wort »Sekretärin« mit einem unverkennbar beleidigenden Unterton ausgesprochen. Der Geschäftsführer in dem makellosen Nadelstreifenanzug hatte Strike angeheuert, um zwei seiner Aufsichtsratsmitglieder durchleuchten zu lassen.

»Morgen, William«, sagte Strike.

»Keine Entschuldigung?«, murmelte Baker, die Augen zur Decke gerichtet.

Strike beachtete ihn nicht weiter, sondern wandte sich an die dünne Frau mittleren Alters, die in einem abgetragenen braunen Mantel auf dem Sofa saß: »Hallo, und wer sind Sie?«

»Leonora Quine«, antwortete sie. Strikes feines Ohr glaubte, einen vertrauten West-Country-Akzent zu hören.

»Ich habe heute Morgen einen sehr straffen Terminplan«, sagte Baker und marschierte, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, schnurstracks in Strikes Büro. Als er bemerkte, dass Strike ihm nicht folgte, bekam seine aalglatte Fassade Risse. »Ich glaube kaum, dass Sie in der Army mit Unpünktlichkeit weit gekommen sind, Mr. Strike. Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte?«

Strike schien ihn nicht zu hören.

»Was genau kann ich für Sie tun, Mrs. Quine?«, fragte er die schäbig gekleidete Frau auf dem Sofa.

»Also, es geht um meinen Mann …«

»Mr. Strike, ich habe in knapp einer Stunde einen Termin«, sagte William Baker, diesmal etwas lauter.

»… und Ihre Sekretärin hat gesagt, dass sie eigentlich keine Zeit mehr haben, aber ich wollte trotzdem warten.«

»Strike!«, bellte William Baker, als wollte er einen Hund zurückpfeifen.

»Robin«, knurrte der übermüdete Strike, der nun doch die Geduld verlor. »Schreiben Sie Mr. Baker eine Rechnung, und geben Sie ihm seine Akte. Sie ist auf dem neuesten Stand.«

»Wie bitte?« Fassungslos kehrte William Baker in das Vorzimmer zurück.

»Er hat Sie abgesägt«, bemerkte Leonora Quine zufrieden.

»Noch haben Sie Ihren Auftrag nicht erfüllt«, sagte Baker. »Sie sagten, es gebe noch mehr …«

»Das kann jemand anderes für Sie erledigen. Jemand, dem es nichts ausmacht, blöde Wichser als Klienten zu haben.«

Die Atmosphäre im Büro kühlte merklich ab. Mit versteinerter Miene holte Robin Bakers Akte aus dem Schrank und hielt sie Strike hin.

»Wie können Sie es wagen …«

»Hier steht massenhaft brauchbares Zeug drin, das vor Gericht Bestand haben wird«, sagte Strike und reichte die Akte an den Firmenchef weiter. »Sie ist Ihr Geld wert.«

»Sie haben Ihren Auftrag …«

»Er hat die Schnauze voll von Ihnen«, warf Leonora Quine ein.

»Wollen Sie wohl die Klappe halten, Sie dumme …«, begann Baker, machte dann jedoch schnell einen Schritt zurück, als Strike seinerseits einen Schritt auf ihn zutrat. Niemand sagte etwas. Der ehemalige Soldat schien auf einmal doppelt so viel Raum einzunehmen wie noch Sekunden zuvor.

»Bitte nehmen Sie in meinem Büro Platz, Mrs. Quine«, sagte Strike ruhig.

Sie tat wie geheißen.

»Glauben Sie wirklich, dass so eine Ihr Honorar bezahlen kann?«, spöttelte William Baker, der bereits auf dem Rückzug war und die Hand auf die Türklinke gelegt hatte.

»Wenn ich den Klienten leiden kann«, sagte Strike, »ist mein Honorar Verhandlungssache.«

Er folgte Leonora Quine in sein Büro und zog die Tür mit Nachdruck hinter sich zu.

3

… und diese Bürden ganz allein zu schultern …

THOMAS DEKKER, DER EDLE SPANISCHE SOLDAT

»Unangenehmer Kerl, was?«, bemerkte Leonora Quine, als sie sich auf den Stuhl vor Strikes Schreibtisch setzte.

»Ja«, pflichtete ihr Strike bei und ließ sich schwer auf den Platz gegenüber fallen. »Stimmt.«

Sie musste um die fünfzig sein, obwohl sie ein beinahe faltenfreies, rosiges Gesicht hatte und das Weiß in ihren blassblauen Augen makellos war. Zwei Haarkämme aus Kunststoff verhinderten, dass ihr das dünne, ergrauende Haar ins Gesicht fiel, und sie blinzelte ihn durch eine altmodische Brille mit einem monströsen Plastikgestell an. Ihr Mantel mit den Schulterpolstern und den großen Knöpfen war zwar sauber, aber höchstwahrscheinlich in den Achtzigern gekauft worden.

»Es geht also um Ihren Mann, Mrs. Quine?«

»Ja«, sagte Leonora. »Er ist verschwunden.«

»Wie lange schon?«, fragte Strike und griff unwillkürlich nach einem Notizbuch.

»Zehn Tage«, sage Leonora.

»Haben Sie die Polizei verständigt?«

»Die hilft mir auch nicht weiter«, sagte sie ungeduldig, als hätte sie es satt, diese Tatsache immer wieder erläutern zu müssen. »Ich hab schon mal bei denen angerufen, und dann waren die stinksauer, weil er nur bei einer Freundin war. Manchmal haut Owen einfach ab. Er ist Schriftsteller«, sagte sie, als würde das sein Verhalten erklären.

»Es gab also schon früher solche Vorfälle?«

»Er ist ziemlich emotional«, sagte sie verdrießlich. »Ständig flippt er wegen irgendwas aus. Aber jetzt sind es schon volle zehn Tage, und ich weiß, dass er wirklich wütend ist, aber er muss wieder nach Hause kommen – wegen Orlando und weil ich auch noch anderes zu tun hab, und außerdem …«

»Orlando?«, fragte Strike, dessen müdes Hirn an die Touristenmetropole in Florida dachte. Er hatte keine Zeit, nach Amerika zu reisen, und Leonora Quine in ihrem antiquierten Mantel sah auch nicht so aus, als könnte sie ihm das Flugticket bezahlen.

»Das ist unsere Tochter, Orlando«, sagte Leonora. »Jemand muss sich um sie kümmern. Im Moment passt eine Nachbarin auf sie auf, sonst hätte ich gar nicht kommen können.«

Es klopfte, und Robins goldener Blondschopf erschien in der Tür.

»Möchten Sie einen Kaffee, Mr. Strike? Sie, Mrs. Quine?«

Nachdem sie ihre Wünsche geäußert hatten und Robin wieder verschwunden war, fuhr Mrs. Quine fort: »Das Ganze wird nicht lange dauern, weil ich nämlich glaube, dass ich weiß, wo er ist. Aber ich krieg die Adresse nicht raus, und wenn ich irgendwo anrufe, geht niemand ans Telefon. Jetzt sind es schon zehn Tage«, wiederholte sie. »Er muss wieder nach Hause kommen.«

Wegen einer solchen Lappalie einen Privatdetektiv anzuheuern erschien Strike einigermaßen verschwenderisch – insbesondere da sie nicht gerade wohlhabend aussah.

»Wenn es sich nur um ein einfaches Telefonat handelt«, sagte er sanft, »dann bitten Sie doch eine Freundin oder …«

»Edna kann das nicht machen«, fiel sie ihm ins Wort. Dieses indirekte Eingeständnis, nur eine einzige Freundin auf der Welt zu haben, ging Strike (der bei extremer Müdigkeit gelegentlich zu Sentimentalität neigte) unverhältnismäßig zu Herzen. »Owen hat allen gesagt, dass sie mir nicht verraten sollen, wo er steckt. Dafür«, sagte sie entschieden, »muss ein Mann her. Sie müssen sie dazu bringen, es Ihnen zu verraten.«

»Ihr Mann heißt also Owen, ja?«

»Ja«, antwortete sie. »Owen Quine. Er hat Hobarts Sünde geschrieben.«

Weder der Name noch der Buchtitel sagte Strike etwas.

»Und Sie haben eine Vermutung, was seinen Aufenthaltsort betrifft?«

»Ja. Wir waren neulich auf dieser Party, mit einer Horde Verlagsmenschen und so … Erst wollte er mich überhaupt nicht mitnehmen. ›Aber ich hab doch schon einen Babysitter‹, hab ich gesagt, ›ich komme mit.‹ Und da hab ich gehört, wie Christian Fisher Owen von diesem Schriftstellerrefugium erzählt hat. Ein Haus oder so, wo sie ungestört arbeiten können. ›Was ist das für ein Ort, von dem er da geredet hat?‹, hab ich Owen später gefragt. ›Das werd ich dir wohl kaum verraten‹, hat er gesagt. ›Das ist doch der ganze Witz an der Sache: dass man mal von der Frau und den Kindern wegkommt.‹«

Beinahe schien es, als wollte sie Strike dazu auffordern, ebenso über sie zu lachen, wie ihr Mann es getan hatte. Sie klang stolz, so wie manche Mütter vorgeben, auf die Ungezogenheiten ihrer Kinder stolz zu sein.

»Wer ist Christian Fisher?«, fragte Strike und zwang sich zur Konzentration.

»Ein Verleger. So ein junger, angesagter Typ.«

»Haben Sie schon mal versucht, Fisher anzurufen und ihn nach der Adresse dieses Refugiums zu fragen?«

»Ja, und zwar täglich, seit einer Woche. Aber sie sagen immer nur, dass sie es sich aufgeschrieben hätten und dass er zurückrufen würde. Hat er aber nicht. Ich glaube, dass Owen ihm verboten hat, mir zu verraten, wo er steckt. Aber bei Ihnen wird Fisher schon damit rausrücken. Ich weiß, dass Sie was taugen«, sagte sie. »Sie haben diese Lula-Landry-Sache geklärt, wo die Polizei keinen Schimmer hatte.«

Vor nicht einmal acht Monaten hatte Strike lediglich einen einzigen Klienten gehabt. Seine Detektei war dem Untergang geweiht, seine Aussichten trostlos gewesen. Dann hatte er der Staatsanwaltschaft gegenüber überzeugend darlegen können, dass ein berühmtes junges Model nicht Selbstmord begangen hatte, sondern von ihrem Balkon im dritten Stock gestoßen worden war. Der darauffolgende Medienrummel hatte das Geschäft ordentlich angekurbelt. Ein paar Wochen lang war er der bekannteste Privatdetektiv der Stadt gewesen. Jonny Rokeby war zu einer Fußnote in seinem Leben degradiert worden. Strike hatte sich aus eigener Kraft einen Namen gemacht – auch wenn es ein Name war, den die meisten Leute auf Anhieb nicht richtig verstanden und regelmäßig falsch buchstabierten …

»Entschuldigung, ich habe Sie unterbrochen«, sagte er und versuchte, sich wieder zu konzentrieren.

»Ach wirklich?«

»Ja.« Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Strike seine krakelige Handschrift auf den Seiten des Notizbuchs. »Sie sagten: ›wegen Orlando und weil ich auch noch anderes zu tun hab, und außerdem …‹«

»Ach ja«, sagte sie, »und außerdem passieren lauter komische Sachen, seit er weg ist.«

»Komische Sachen?«

»Scheiße«, bemerkte Leonora Quine trocken. »Durch den Briefschlitz.«

»Jemand hat Ihnen Fäkalien durch den Briefschlitz gesteckt?«, fragte Strike.

»Ja.«

»Nachdem Ihr Mann verschwunden ist?«

»Ja. Hund«, sagte Leonora, und Strike brauchte einen Sekundenbruchteil, ehe er begriff, dass sie damit den Urheber der Exkremente und nicht ihren Ehemann meinte. »Drei oder vier Mal schon. Immer nachts. Ist nicht gerade angenehm, am frühen Morgen auf so was zu stoßen. Und einmal stand eine merkwürdige Frau vor der Tür.«

Sie verstummte und wartete darauf, dass Strike nachhakte. Offensichtlich gefiel es ihr, ausgefragt zu werden. Strike wusste, dass viele einsame Menschen es genossen, im Zentrum der uneingeschränkten Aufmerksamkeit ihres Gesprächspartners zu stehen, und bemüht waren, das angenehme Erlebnis nach Möglichkeit zu verlängern.

»Wann stand diese Frau vor Ihrer Tür?«

»Letzte Woche. Sie wollte Owen sprechen. ›Er ist nicht da‹, hab ich gesagt. ›Richten Sie ihm aus, dass Angela gestorben ist‹, hat sie gesagt, und dann ist sie wieder gegangen.«

»Und die Frau war Ihnen völlig unbekannt?«

»Ich hab sie noch nie im Leben gesehen.«

»Kennen Sie eine Angela?«

»Nein. Aber Owens weibliche Fans sind manchmal ein bisschen komisch«, sagte Leonora in einem plötzlichen Anfall von Redseligkeit. »Eine hat ihm mal Briefe geschickt und Fotos von ihr, auf denen sie sich als eine von seinen Romanfiguren verkleidet hat. Die schreiben ihm, weil sie glauben, dass er sie versteht oder so. Wegen seinen Büchern. Ganz schön bescheuert, was?«, sagte sie. »Dabei hat er sich das alles doch nur ausgedacht.«

»Ist die Adresse Ihres Mannes denn allgemein bekannt?«

»Nein«, sagte Leonora. »Aber vielleicht war sie eine Schülerin oder so. Er gibt manchmal Schreibkurse.«

Die Tür ging erneut auf, und Robin betrat mit einem Tablett den Raum. Nachdem sie einen schwarzen Kaffee vor Strike und Tee vor Leonora Quine abgestellt hatte, zog sie sich wieder zurück und machte die Tür hinter sich zu.

»Aber sonst ist nichts Außergewöhnliches vorgefallen?«, fragte Strike. »Die Fäkalien und die Frau vor der Tür – das war alles?«

»Ich glaube, ich werde verfolgt. Eine große Frau mit schwarzen Haaren und hängenden Schultern«, sagte Leonora.

»Das ist aber nicht dieselbe Frau wie …«

»Nein, die vor meiner Tür war eher pummelig. Lange rote Haare. Die andere hat schwarze Haare und geht irgendwie gebückt.«

»Und Sie sind sich sicher, dass sie Ihnen gefolgt ist?«

»Ja, ich glaube schon. Ich hab sie jetzt schon zwei, drei Mal bemerkt. Sie ist nicht aus der Nachbarschaft, jedenfalls hab ich sie vorher noch nie gesehen, und ich wohne schon seit über dreißig Jahren in Ladbroke Grove.«

»Okay«, sagte Strike langsam. »Ihr Mann war also sehr wütend. Worüber hat er sich denn so aufgeregt?«

»Er hatte einen Mordsstreit mit seiner Literaturagentin.«

»Wissen Sie, worum es dabei ging?«

»Um sein neuestes Buch. Liz – das ist seine Agentin – hat ihm gesagt, es wär das beste, das er je geschrieben hätte, und dann urplötzlich, einen Tag später, lädt sie ihn zum Essen ein und sagt ihm, dass man es nicht veröffentlichen kann.«

»Warum hat sie ihre Meinung geändert?«

»Das müssen Sie sie fragen«, entgegnete Leonora und wirkte nun zum ersten Mal verärgert. »Natürlich hat er sich darüber aufgeregt. Kein Wunder! Er hat zwei Jahre lang an diesem Buch geschrieben. Er ist stocksauer nach Hause gekommen und in sein Arbeitszimmer marschiert und hat es sich geschnappt …«

»Hat sich was geschnappt?«

»Sein Buch, das Manuskript, seine Notizen, alles. Hat geflucht wie ein Bierkutscher und das ganze Zeug in seine Tasche gestopft und ist verschwunden. Seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Hat er ein Handy? Haben Sie ihn mal angerufen?«

»Ja, natürlich, aber er geht nicht ran. Aber er geht nie ran, wenn er mal wieder seinen Rappel hat. Einmal hat er sein Handy aus dem Autofenster geworfen«, fügte sie hinzu, und wieder meinte Strike, in ihrer Stimme einen gewissen Stolz auf das Temperament ihres Mannes wahrzunehmen.

»Mrs. Quine«, sagte Strike. Was immer er gegenüber William Baker behauptet haben mochte – seine Großherzigkeit kannte Grenzen. »Ich will ehrlich sein: Meine Dienste sind nicht gerade billig.«

»Kein Problem«, sagte Leonora, ohne mit der Wimper zu zucken. »Die Rechnung geht an Liz.«

»Liz?«

»Liz, Elizabeth Tassel. Owens Agentin. Es ist ihre Schuld, dass er weg ist. Soll sie’s doch von seinem Vorschuss abziehen. Er ist ihr bester Klient. Wenn ihr erst mal klar wird, was sie da angerichtet hat, wird sie ihn bestimmt zurückhaben wollen.«

In diesem Punkt war Strike nicht ganz so zuversichtlich wie Leonora. Er warf drei Zuckerwürfel in seinen Kaffee, stürzte ihn hinunter und dachte über sein weiteres Vorgehen nach. In gewisser Weise tat Leonora Quine ihm leid. Sie schien sich an die Eskapaden ihres launischen Mannes gewöhnt zu haben, hatte die Tatsache akzeptiert, dass niemand es für nötig hielt, sie zurückzurufen, und war zu dem Schluss gekommen, dass sie Hilfe nur erwarten konnte, wenn sie auch dafür bezahlte. Ungeachtet ihres leicht exzentrischen Verhaltens schien sie jedoch schonungslos ehrlich zu sein. Nichtsdestoweniger hatte er, seit sein Geschäft so unerwartet begonnen hatte zu florieren, nur noch lukrative Fälle angenommen. Jene wenigen, die in der Hoffnung zu ihm gekommen waren, er wäre durch seine eigenen persönlichen (und in der Presse weithin ausgewalzten) Schwierigkeiten empfänglich für ihre traurigen Geschichten und würde ihnen unentgeltlich unter die Arme greifen, waren auf taube Ohren gestoßen.

Leonora Quine hingegen, die ihren Tee fast ebenso schnell getrunken hatte wie Strike seinen Kaffee, war bereits aufgestanden, als hätten sie sich darauf geeinigt, dass er den Fall übernehmen würde.

»Ich muss wieder los«, sagte sie. »Ich will Orlando nicht so lange allein lassen. Sie vermisst ihren Daddy. Ich hab ihr gesagt, dass ich zu einem Mann gehe, der ihn finden wird.«

Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte Strike mehreren reichen jungen Damen dabei geholfen, ihre Börsenmaklermänner loszuwerden, nachdem diese im Zuge der Finanzkrise in ihren Augen erheblich an Attraktivität eingebüßt hatten. Ein Ehepaar wieder zusammenzubringen erschien ihm verglichen damit als durchaus reizvolle Aufgabe.

»Also gut«, sagte er. Mit einem Gähnen schob er ihr sein Notizbuch zu. »Ich brauche Ihre Kontaktdaten, Mrs. Quine, und ein Foto Ihres Mannes wäre ebenfalls sehr hilfreich.«

In runden, kindlichen Buchstaben schrieb sie ihre Adresse auf. Die Frage nach einer Fotografie schien sie allerdings zu überraschen.

»Wozu brauchen Sie ein Foto? Er ist in diesem Refugium. Christian Fisher soll Ihnen sagen, wo das ist.«

Noch bevor der erschöpfte und müde Strike sich von seinem Schreibtisch erheben konnte, war sie auch schon durch die Tür. Er hörte noch, wie seine neue Klientin Robin zurief: »Danke für den Tee«, die Glastür zum Treppenhaus aufriss und mit leichtem Klirren wieder schloss.

4

Ein gewitzter Freund ist eine seltne Gunst …

WILLIAM CONGREVE, DOPPELSPIEL

Strike ließ sich auf das fast nagelneue Sofa im Vorzimmer fallen – eine unvermeidliche Investition, da das gebraucht erstandene Modell, das zur ursprünglichen Büroausstattung gehört hatte, zu Bruch gegangen war. Der Kunstlederbezug, der ihn im Möbelgeschäft noch so beeindruckt hatte, machte bei jeder unbedachten Bewegung Furzgeräusche. Seine Assistentin – groß und kurvig, mit einem reinen, strahlenden Teint und hellen graublauen Augen – musterte ihn eingehend über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg.

»Sie sehen fürchterlich aus.«

»Ich hab die ganze Nacht damit zugebracht, einer hysterischen Frau Details über die sexuellen und finanziellen Fehltritte eines Mitglieds des englischen Hochadels aus der Nase zu ziehen«, sagte Strike und gähnte herzhaft.

»Lord Parker?«, fragte Robin japsend.

»Genau der«, sagte Strike.

»Er hat …«

»Mit drei verschiedenen Frauen parallel geschlafen und Millionen am Fiskus vorbei ins Ausland geschafft«, sagte Strike. »Wenn Sie keinen allzu empfindlichen Magen haben, sollten Sie sich am Sonntag die News of the World genehmigen.«

»Wie um alles in der Welt haben Sie das herausgefunden?«

»Durch den Bekannten eines Bekannten eines Bekannten«, psalmodierte Strike.

Er gähnte wieder und riss den Mund dabei so weit auf, dass es regelrecht schmerzhaft aussah.

»Sie sollten sich hinlegen«, sagte Robin.

»Ja, sollte ich«, erwiderte Strike, machte jedoch keine Anstalten, sich zu bewegen.

»Außer Gunfrey um vierzehn Uhr haben Sie keine weiteren Termine.«

»Gunfrey«, seufzte Strike und rieb sich die Augen. »Warum sind eigentlich all meine Klienten Vollidioten?«

»Mrs. Quine kam mir nicht so vor.«

»Woher wissen Sie, dass ich ihren Fall angenommen habe?«

»Ich weiß es eben«, sagte Robin und konnte sich ein verschmitztes Grinsen nicht verkneifen. »Sie ist genau Ihr Typ.«

»Ein mittelaltes Relikt aus den Achtzigern?«

»Passt genau in Ihr Klientenschema. Außerdem wollten Sie Baker eins auswischen.«

»Hat ja auch geklappt, oder?«

Das Telefon klingelte. Immer noch mit einem Grinsen im Gesicht nahm Robin das Gespräch entgegen.

»Büro von Cormoran Strike«, sagte sie. »Oh. Hi.«

Es war ihr Verlobter Matthew. Sie warf ihrem Chef einen flüchtigen Seitenblick zu. Strike hatte die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelehnt und die Arme vor der breiten Brust verschränkt.

»Hör mal«, sagte Matthew. Er klang nie besonders freundlich, wenn er von der Arbeit aus anrief. »Wir müssen unsere Feierabenddrinks von Freitag auf Donnerstag verschieben.«

»Oh Matt«, sagte sie und versuchte, nicht allzu enttäuscht und frustriert zu klingen.

Es war inzwischen das fünfte Mal, dass dieser spezielle Termin verschoben wurde. Von den drei beteiligten Personen hatte allein Robin noch kein einziges Mal Ort, Datum und Uhrzeit des Treffens geändert, sondern sich vielmehr mit jedem neuen Arrangement einverstanden erklärt.

»Warum?«, murmelte sie.

Plötzlich ertönte ein lautes Grunzen vom Sofa herüber. Strike war im Sitzen eingeschlafen. Sein massiver Schädel lehnte gegen die Wand, die Arme waren immer noch vor der Brust verschränkt.

»Am Neunzehnten geht die ganze Belegschaft hier einen trinken«, sagte Matthew. »Würde nicht gut aussehen, wenn ich mich da nicht blicken ließe.«

Sie widerstand dem Drang, ihn anzublaffen. Er arbeitete in einer großen Steuerkanzlei, tat manchmal aber so, als kämen die damit einhergehenden sozialen Verpflichtungen denen eines hochrangigen Diplomaten gleich.

Dabei war sie sich ziemlich sicher, den wahren Grund für die Terminverschiebung zu kennen. Bisher hatte Strike jedes geplante Treffen unter dem Vorwand eines dringenden Einsatzes abgesagt, der nur zu später Stunde stattfinden konnte. Obwohl seine Entschuldigungen stets plausibel geklungen hatten, war Matthew zunehmend verärgert gewesen. Er hatte es zwar nie laut ausgesprochen, doch Robin wusste, dass ihr Verlobter argwöhnte, Strike halte seine Zeit für zu wertvoll und seinen Job für zu wichtig, um sich mit Matthew abzugeben.

In den acht Monaten, seit sie für Cormoran Strike arbeitete, waren sich ihr Chef und Matthew nie persönlich begegnet. Selbst an jenem denkwürdigen Abend nicht, als Matthew sie aus der Notaufnahme abgeholt hatte, in die sie mit Strike gefahren war – ihren Mantel fest um die Stichwunde gewickelt, die ihm der in die Ecke getriebene Mörder beigebracht hatte. Als sie, zitternd und blutbefleckt, aus dem Krankenhaus getreten war, in dem sie Strike zusammenflickten, hatte Matthew das Angebot, ihren verletzten Chef kennenzulernen, rundheraus abgelehnt. Zu wütend war er über die ganze Sache gewesen, obwohl ihm Robin wieder und wieder beteuert hatte, dass sie selbst zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gewesen sei.

Matthew war kategorisch dagegen gewesen, dass sie fest bei Strike arbeitete. Von Anfang an hatte er Argwohn gegen den Detektiv gehegt und aus seiner Abneigung gegen dessen Mittellosigkeit, Obdachlosigkeit und – in Matthews Augen – absurden Beruf keinen Hehl gemacht. Das bisschen, was ihm Robin über ihn erzählt hatte – Strikes Tätigkeit bei der Special Investigation Branch (der zivilen Ermittlungseinheit der britischen Militärpolizei), sein Tapferkeitsorden, der Verlust seines rechten Unterschenkels, seine Erfahrung auf hundert Gebieten, auf denen Matthew, der bis dahin der Experte in ihrer Beziehung gewesen war, wenig bis gar nicht bewandert war –, hatte (entgegen ihrer Hoffnung) nicht dazu beigetragen, eine Verbindung zwischen den beiden Männern herzustellen, sondern im Gegenteil die Kluft zwischen ihnen nur mehr vergrößert.

Strikes plötzlicher Ruhm und sein kometenhafter Aufstieg vom Versager zum erfolgreichen Detektiv hatten Matthews Vorbehalte weiter verstärkt. Zu spät hatte Robin begriffen, dass es überaus kontraproduktiv gewesen war, Matthew auf seine widersprüchlichen Aussagen hinzuweisen: »Erst beschwerst du dich, weil er keine Wohnung hat und arm ist, und jetzt passt es dir nicht, dass er berühmt ist und massenhaft Aufträge an Land zieht.«

Für Matthew – wie Robin sehr wohl bewusst war – bestand Strikes größte Missetat jedoch in dem hautengen Designerkleid, das er ihr nach seinem Krankenhausaufenthalt geschenkt hatte. Das Kleid war eigentlich als Zeichen seiner Dankbarkeit und als Abschiedsgeschenk gedacht gewesen, und sie hatte es Matthew voller Stolz und Freude vorgeführt, doch angesichts seiner Reaktion hatte sie es nicht gewagt, es auch nur ein einziges Mal zu tragen.

All das hoffte Robin bei einem persönlichen Treffen auszuräumen, doch Strikes wiederholte Absagen hatten Matthews Abneigung nur noch verstärkt. Zum letzten vereinbarten Termin war Strike gar nicht erst aufgetaucht. Seine Entschuldigung – er war gezwungen gewesen, einen Verfolger abzuschütteln, den der argwöhnische Ehemann einer seiner Klientinnen angeheuert hatte – war von Robin anstandslos akzeptiert worden, da sie natürlich mit den Einzelheiten jenes überaus komplizierten und hässlichen Scheidungsfalls vertraut gewesen war. Für Matthew war das Ganze jedoch lediglich ein weiterer Beweis für Strikes Geltungssucht und Überheblichkeit gewesen.

Nur mit Mühe hatte sie Matthew dazu bewegen können, einem neuerlichen Anlauf zuzustimmen. Er hatte Zeit und Ort des Treffens festlegen dürfen, doch jetzt, da Robin Strikes Einwilligung einmal mehr eingeholt hatte, wollte Matthew seinerseits den Termin verschieben. Sie kam nicht umhin, Absicht dahinter zu vermuten – womöglich war dies ein Versuch, Strike zu signalisieren, dass auch er andere Verpflichtungen hatte; dass auch er (wie Robin ihm schweren Herzens unterstellen musste) andere Leute nach Belieben hin- und herbeordern konnte.

»In Ordnung«, seufzte sie ins Telefon. »Ich frage Cormoran, ob er am Donnerstag Zeit hat.«

»Klingt nicht gerade so, als wäre es in Ordnung.«

»Matt, bitte, ich will jetzt nicht anfangen zu diskutieren. Ich frage ihn, okay?«

»Na dann, bis später.«

Robin legte auf. Strike hatte mittlerweile mächtig Fahrt aufgenommen und schnarchte jetzt wie ein Walross. Sein Mund stand weit offen, er hatte die Beine gespreizt, die Füße flach auf dem Boden und die Arme nach wie vor verschränkt.

Seufzend betrachtete sie ihren schlafenden Chef. Er hatte sich nie ablehnend über ihren Freund geäußert. Allein Matthew schien sich an Strikes Existenz zu stören und ließ keine Gelegenheit aus, um darauf hinzuweisen, dass Robin in einem der vielen anderen Jobs, die man ihr angeboten hatte, bedeutend mehr verdienen könnte, hätte sie sich nicht selbst für diesen hochstapelnden, hoch verschuldeten Privatdetektiv entschieden, der nicht in der Lage war, sie ihren Fähigkeiten entsprechend zu entlohnen. Ihr Haussegen könnte erheblich gerader hängen, wenn Matthew sich endlich ihrer Meinung über Cormoran Strike anschließen und ihn sympathisch finden, ja vielleicht sogar bewundern würde. Doch Robin war zuversichtlich. Sie mochte sie beide – warum also sollten sie einander nicht ebenfalls mögen?

Mit einem heftigen Grunzen wachte Strike auf. Er öffnete die Augen und blinzelte sie an.

»Ich hab geschnarcht«, stellte er fest und wischte sich über den Mund.

»Nicht sehr«, flunkerte sie ihn an. »Ähem, also, wäre es okay, wenn wir unsere Drinks von Freitag auf Donnerstag vorverlegen könnten?«

»Drinks?«

»Mit Matthew und mir«, sagte sie. »Wissen Sie noch? Im King’s Arms in der Roupell Street. Ich hab’s Ihnen aufgeschrieben«, sagte sie mit leicht aufgesetzter Unbefangenheit.

»Ach so, ja«, sagte er. »Freitag. Geht klar.«

»Nein, Matt will … Er kann am Freitag nicht. Wäre Donnerstag auch in Ordnung?«

»Ja, sicher«, kam es verschlafen zurück. »Ich glaub, ich leg mich noch ein bisschen aufs Ohr.«

»Wunderbar. Dann am Donnerstag. Ich schreibe es Ihnen noch mal auf.«

»Was ist am Donnerstag?«

»Die Drinks mit … Ach, nicht so wichtig. Schlafen Sie sich erst mal aus.«

Nachdem die Glastür zugefallen war, starrte sie gedankenverloren auf ihren Bildschirm und zuckte heftig zusammen, als die Tür wieder aufging.

»Robin, könnten Sie bitte einen Typen namens Christian Fisher anrufen? Sagen Sie ihm, wer ich bin, dass ich Owen Quine ausfindig machen muss und die Adresse des Schriftstellerrefugiums brauche, von dem er Quine erzählt hat.«

»Christian Fisher … Und wo erreiche ich ihn?«

»Mist«, murmelte Strike. »Das hab ich sie nicht gefragt. Ich bin wirklich voll neben der Spur. Er ist Verleger … irgendein junger, angesagter Verleger.«

»Kein Problem, das finde ich heraus. Gehen Sie schon und legen Sie sich hin.«

Sowie sich die Glastür zum zweiten Mal geschlossen hatte, rief Robin Google auf. Binnen dreißig Sekunden hatte sie herausgefunden, dass Christian Fisher der Gründer eines kleinen Verlags namens Crossfire war, der am Exmouth Market residierte.

Während sie die Nummer des Verlags wählte, musste sie wieder an die Hochzeitseinladung denken, die schon seit einer Woche in ihrer Handtasche schlummerte. Robin hatte Strike gegenüber das Datum ihrer Vermählung nicht einmal erwähnt – genauso wenig, wie sie Matthew eröffnet hatte, dass sie ihren Chef einladen wollte. Wenn das Treffen am Donnerstag einigermaßen glattging …

»Crossfire«, meldete sich eine schrille Stimme, und Robin konzentrierte sich wieder auf die Arbeit.

5

Nichts gibt es, was auch so verdrießlich wäre,

als eines Menschen eigene Gedanken.

JOHN WEBSTER, DIE WEISSE TEUFELIN

Um zwanzig nach neun am selben Abend lag Strike in T-Shirt und Boxershorts auf seiner Bettdecke, die Reste einer indischen Take-away-Mahlzeit neben sich auf einem Stuhl, und las den Sportteil seiner Zeitung. Im Fernseher, den er vor sein Bett gestellt hatte, liefen Nachrichten. Die Metallstange, die ihm als Ersatz für seinen rechten Fuß diente, glänzte silbern im Licht der billigen Schreibtischlampe, die auf einem Umzugskarton neben ihm stand.

Für Mittwochabend war in Wembley ein Freundschaftsspiel zwischen England und Frankreich angesetzt, doch Strike interessierte sich viel mehr für das Arsenal-Heimspiel gegen die Spurs am Samstag. Er war seit seiner Kindheit Arsenal-Fan, genau wie sein Onkel Ted. Warum Onkel Ted sich so sehr für die Gunners begeisterte, obwohl er sein ganzes Leben in Cornwall verbracht hatte, war Strike allerdings ein Rätsel.

Ein trüber Glanz, den die funkelnden Sterne nur mit Mühe durchdringen konnten, erfüllte den Nachthimmel über dem kleinen Fenster neben ihm. Obwohl er sich am Nachmittag mehrere Stunden ausgeruht hatte, war er immer noch todmüde. Trotzdem wollte er sich mit der großen Portion Lamm-Biryani und einem Pint Bier im Magen nicht sofort schlafen legen. Neben ihm lag ein Stück Papier, auf dem in Robins Handschrift zwei Termine notiert waren; sie hatte ihm den Zettel am Abend in die Hand gedrückt, als er das Büro verlassen hatte. Der erste Termin lautete:

Christian Fisher, morgen 9 Uhr, Crossfire Publishing, Exmouth Market EC1

»Warum will er mich denn persönlich sprechen?«, hatte Strike überrascht gefragt. »Ich brauche doch bloß die Adresse dieses Schriftstellerrefugiums, von dem er Quine erzählt hat.«

»Ich weiß«, hatte Robin geantwortet, »und das habe ich ihm auch gesagt, aber er hat darauf bestanden, Sie zu treffen, und morgen um neun vorgeschlagen. Ich konnte es ihm nicht ausreden.«

Was, dachte Strike und starrte konsterniert auf den Zettel, habe ich mir dabei eigentlich gedacht?

Erst hatte er sich am Morgen aus Müdigkeit von seinem Temperament überwältigen lassen und einen betuchten Klienten vom Hof gejagt, von dem bestimmt weitere Aufträge zu erwarten gewesen wären. Dann hatte er sich von Leonora Quine breitschlagen lassen, sie als Klientin anzunehmen – obwohl die Bezahlung alles andere als gesichert schien. Jetzt, da sie nicht mehr vor ihm saß, konnte er sich nur mehr undeutlich an jene Mischung aus Mitleid und Neugier erinnern, die ihn dazu veranlasst hatte, den Fall zu übernehmen. In der Stille seiner kalten, kahlen Dachkammer erschien ihm sein Versprechen, ihren eingeschnappten Ehemann wiederzufinden, ebenso wirklichkeitsfremd wie unverantwortlich. Versuchte er nicht, seine Schulden zu tilgen, um endlich mehr Freizeit zu haben und beispielsweise einen Samstagnachmittag im Stadion verbringen oder sonntags ausschlafen zu können? Endlich, nach monatelanger, fast ununterbrochener Arbeit, war er aus den roten Zahlen heraus, und seine Klienten strömten nicht mehr aufgrund der kurzlebigen Prominenz, die ihm zuteilgeworden war, sondern wegen einer diskreteren, weitaus wirkungsvolleren Mundpropaganda in sein Büro. Hätte er William Baker wirklich keine drei Wochen länger ertragen?

Und warum, fragte er sich, während er ein weiteres Mal Robins handgeschriebene Notiz überflog, wollte dieser Christian Fisher ihn so dringend persönlich treffen? Lag es womöglich an Strike selbst – weil er den Fall Lula Landry gelöst hatte oder (noch schlimmer) weil er Jonny Rokebys Sohn war? Den eigenen Bekanntheitsgrad richtig einzuschätzen war ein Ding der Unmöglichkeit. Eigentlich hatte Strike angenommen, dass sein unerwarteter Ruhm allmählich wieder verblasste. Es war eine anstrengende Zeit gewesen, doch inzwischen hatte er schon seit Monaten keinen Anruf mehr von einem Reporter erhalten, und es war auch nicht mehr bei jedweder Gelegenheit Lula Landrys Name im selben Atemzug gefallen wie sein eigener. Fremde sprachen ihn genau wie früher wieder mit »Cameron Strick« oder irgendeiner Variation davon an.

Andererseits besaß der Verleger möglicherweise Informationen über den verschwundenen Owen Quine, die er mit Strike zu teilen bereit war; warum er diese jedoch der Ehefrau des Schriftstellers vorenthalten hatte, war Strike schleierhaft.

Unter den Termin mit Fisher hatte Robin eine zweite Verabredung notiert:

Donnerstag, 18. November, 18.30 Uhr im King’s Arms, 25 Roupell Street, SE1

Strike wusste genau, warum die Angaben so detailliert waren. Sie war fest entschlossen, dass er – war es der dritte oder vierte Versuch? – endlich ihren Verlobten kennenlernte.

Der ihm immer noch unbekannte Bilanzbuchhalter ahnte ja nicht, wie dankbar Strike für dessen Existenz und für den mit einem Saphir und Diamanten besetzten Ring war, der an Robins Finger funkelte. Er hielt Matthew zwar für einen Vollidioten (Robin hatte nicht die leiseste Ahnung, wie gut er sich an jede einzelne noch so beiläufige Bemerkung erinnern konnte, die sie über ihren Verlobten hatte fallen lassen), doch er stellte eine nützliche Barriere zwischen Strike und einer Frau dar, die ihn andernfalls womöglich aus dem Gleichgewicht hätte bringen können.

Strike hatte trotzdem nicht verhindern können, große Sympathie für Robin zu entwickeln – schließlich hatte sie in seinen schwersten Stunden zu ihm gehalten und ihm geholfen, das Ruder herumzureißen; genauso wenig konnte er die Tatsache leugnen, dass sie eine äußerst attraktive Frau war. Er war schließlich nicht blind. Ihre Verlobung erschien ihm wie ein Korken, der ein dünnes, stetiges Rinnsal verstopfte, das – hätte es ungehindert fließen können – Strikes Wohlbefinden nach und nach ausgehöhlt hätte. Er sah sich gegenwärtig in der Genesungsphase nach einer langen, turbulenten Beziehung, die ebenso geendet, wie sie begonnen hatte: mit einer Lüge. Er hatte nicht das geringste Bedürfnis, sein Singledasein aufzugeben, das er als angenehm und zweckdienlich empfand. Aus diesem Grund war er in den letzten Monaten auch bestrebt gewesen, jedweder emotionalen Verstrickung aus dem Weg zu gehen – trotz der Versuche seiner Schwester Lucy, Treffen mit unterschiedlichen Frauen zu arrangieren, die auf ihn wie der verzweifelte Bodensatz irgendwelcher Internetdating-Seiten gewirkt hatten.

Wenn Matthew und Robin erst einmal verheiratet wären, war es durchaus möglich, dass Matthew kraft seiner neuen Rolle seine frisch angetraute Braut dazu überredete, jenen Job aufzugeben, den er so offenkundig verabscheute (Strike hatte Robins zögerliche, ausweichende Reaktionen auf dieses Thema durchaus richtig interpretiert). Robin hätte ihn jedoch gewiss informiert, wenn der Hochzeitstermin bereits feststünde. Insofern schätzte er diese Gefahr zumindest im Augenblick als gering ein.

Mit einem weiteren lauten Gähnen faltete er die Zeitung zusammen, warf sie auf den Stuhl und widmete seine Aufmerksamkeit den Fernsehnachrichten. Ein Satellitenanschluss war der einzige Luxus, den er sich seit dem Einzug in die enge Dachwohnung gegönnt hatte. Durch das kleine tragbare Gerät, das jetzt auf einer Sky Box stand, hatte das bisher durch die schwache Zimmerantenne empfangene Fernsehbild deutlich an Schärfe gewonnen. Justizminister Kenneth Clarke gab soeben sein Vorhaben bekannt, die staatliche Prozesskostenhilfe um dreihundertfünfzig Millionen Pfund zu kürzen. Mit einem Schleier der Müdigkeit vor Augen verfolgte Strike, wie der rotwangige, korpulente Mann vor dem Parlament seine Intention kundtat, »die Menschen davon abzuhalten, bei jeder Gelegenheit einen Anwalt einzuschalten, und sie stattdessen zu geeigneteren Methoden der Konfliktlösung zu ermutigen«.

Womit er selbstverständlich durchblicken ließ, dass in erster Linie die Armen auf einen Rechtsbeistand verzichten sollten. Jene Schicht, die den Löwenanteil von Strikes Klientel bildete, würde sich auch weiterhin teure Anwälte leisten. Tatsächlich war er inzwischen fast ausschließlich im Auftrag der ewig misstrauischen und intrigierenden Reichen unterwegs. Er stellte die Informationen bereit, mit deren Hilfe ihre aalglatten Anwälte in schmutzigen Scheidungsprozessen und erbitterten Finanzstreitigkeiten üppigere Einigungen erzielen konnten. Ein steter Strom wohlhabender Klienten empfahl ihn an gleichermaßen wohlhabende Bekannte mit ähnlich langweiligen Problemen weiter. Das war der Dank dafür, dass er sich auf diesem Gebiet den Ruf eines Experten erarbeitet hatte – und auch wenn diese Arbeit ermüdend war, so war sie zumindest lukrativ.

Als die Nachrichten zu Ende gingen, stemmte er sich mühsam vom Bett auf, räumte die Überreste seiner Mahlzeit weg und schleppte sich steif in den kleinen Küchenbereich, um den Abwasch zu erledigen. In derlei Dingen ließ er die Disziplin nicht schleifen; von diesem in der Army erlernten Ausdruck der Selbstachtung war er auch in Zeiten größter Armut niemals abgewichen. Doch der militärische Drill war nicht der einzige Grund für seine Reinlichkeit. Schon als Kind war er sehr ordentlich gewesen. Auch hier hatte er sich seinen Onkel Ted zum Vorbild genommen, dessen Ordnungsliebe überall – vom Werkzeugkasten bis zum Bootshaus – unübersehbar gewesen war und einen offensichtlichen Gegensatz zu dem Chaos im Leben von Strikes Mutter Leda dargestellt hatte.

Zehn Minuten später – nachdem er auf der Toilette gewesen war, die durch die unmittelbare Nachbarschaft zur Dusche nie trocken wurde, und sich die Zähne geputzt hatte, was er aus Platzgründen über der Küchenspüle erledigte – kehrte er zu seinem Bett zurück, um die Prothese abzunehmen.

Die Nachrichten endeten mit der Wettervorhersage: Temperaturen um den Gefrierpunkt und Nebel. Strike klopfte sich ein wenig Puder auf den Stumpf seines amputierten Beins. Inzwischen waren die Schmerzen nicht mehr ganz so stark wie noch vor einigen Monaten, und ungeachtet der Tatsache, dass er sich heute ein komplettes englisches Frühstück sowie ein Abendessen vom Inder einverleibt hatte, war es ihm gelungen, ein wenig abzunehmen, seit er wieder für sich selbst kochte – was wiederum eine gewisse Entlastung seines Beins mit sich brachte.

Er richtete die Fernbedienung auf den Bildschirm, machte einer lachenden Blondine und ihrem Waschpulver den Garaus und kroch schwerfällig unter seine Bettdecke.

Sofern Owen Quine sich wirklich in diesem Schriftstellerrefugium befand, würde es ein Leichtes sein, ihn aufzuspüren. Selbstgefälliges Arschloch, dachte Strike, sich einfach mir nichts, dir nichts mit seinem ach so wertvollen Buch aus dem Staub zu machen …

Das verschwommene Bild eines wutschnaubenden Mannes, der mit einer Reisetasche über der Schulter davonstürmte, verschwand ebenso schnell aus Strikes Gedanken, wie es aufgetaucht war, und er glitt in einen höchst willkommenen tiefen und traumlosen Schlaf. Das leise Wummern einer Bassgitarre aus der Kneipe im Erdgeschoss wurde schon bald von seinem sägenden Schnarchen übertönt.

6