Die Ernte des Bösen - Robert Galbraith - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Ernte des Bösen E-Book

Robert Galbraith

4,5
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der dritte Fall für das außergwöhnliche Ermittlerduo von Robert Galbraith, dem Pseudonym von JK Rowling!

Nachdem Robin Ellacott ein mysteriöses Paket in Empfang genommen hat, muss sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass es ein abgetrenntes Frauenbein enthält. Ihr Chef, der private Ermittler Cormoran Strike, ist ebenfalls beunruhigt, jedoch kaum überrascht. Gleich vier Menschen aus seiner eigenen Vergangenheit fallen ihm ein, denen er eine solche Tat zutrauen würde – und Strike weiß, dass jeder von ihnen zu skrupelloser, unaussprechlicher Grausamkeit fähig ist.

Während die Polizei sich auf den einen Verdächtigen konzentriert, der für Strike immer weniger als Täter infrage kommt, nehmen er und Robin die Dinge selbst in die Hand und wagen sich vor in die düsteren und verstörenden Welten der drei anderen Männer. Doch als weitere erschreckende Vorfälle London erschüttern, gerät das Ermittlerduo selbst mehr und mehr in Bedrängnis …

Sie sind Fan des außergewöhnlichen Ermittlerduos Ellacott und Strike? Dann lesen Sie auch die anderen Romane der SPIEGEL-Bestsellerreihe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 822

Bewertungen
4,5 (82 Bewertungen)
51
20
11
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Robert Galbraith

Die Erntedes Bösen

Roman

Aus dem Englischen von Wulf Bergner, Christoph Göhler und Kristof Kurz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem TitelCareer of Evil bei Sphere, An Imprint of Little, Brown Book Group, London.

1. AuflageCopyright © 2015 J.K. RowlingThe moral right of the author has been asserted.

All characters and events in this publication, other than those clearly in the public domain, are fictitious, and any resemblance to real persons, living or dead, is purely coincidental.

All rights reserved.No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form, or by any means, without the prior permission in writing of the publisher, nor be otherwise circulated in any form of binding or cover other than that in which it is published and without a similar condition including this condition being imposed on the subsequent purchaser.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Vollständige Copyright-Angaben zu den zitierten Songtexten siehe am Ende des BuchesDie ausgewählten Texte von Blue Öyster Cult 1967 – 1994 wurden abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Sony/ATV Music Publishing (UK) Ltd.www.blueoystercult.comDon’t Fear the Reaper: The Best of Blue Öyster Cult von Sony Music Entertainment Inc.jetzt überall erhältlich, wo es Musik gibt.

Umschlaggestaltung: www.buerosued.deUmschlagmotiv: Getty Images/WireImage/Rob BallSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-18858-0V001

www.blanvalet.de

Für Séan und Matthew HarrisIhr könnt mit dieser Widmung machen, was ihr wollt,aber haltet sie –unbedingt –von euren Augenbrauen fern.

I choose to steal what you choose to showAnd you know I will not apologize –You’re mine for the taking.I’m making a career of evil …

BLUE ÖYSTER CULT, »CAREER OF EVIL«TEXT VON PATTI SMITH

1

2011

This Ain’t the Summer of Love

Es war ihm nicht gelungen, ihr Blut vollständig zu entfernen. Unter dem Nagel seines linken Mittelfingers zeichnete sich eine dunkle, sichelförmige Linie ab. Er würde sie herausschaben müssen, obwohl ihm der Anblick eigentlich ganz gut gefiel: eine Erinnerung an die Freuden des vergangenen Tages. Nachdem er eine Minute lang vergeblich an dem blutigen Nagel herumgekratzt hatte, steckte er den Finger in den Mund und lutschte daran. Der metallische Geschmack erinnerte ihn an den Geruch der Fontäne, die auf den Fliesenboden und über die Wände gespritzt war, seine Jeans durchnässt und die pfirsichfarbenen, flauschigen, sorgfältig zusammengefalteten Handtücher in blutgetränkte Lumpen verwandelt hatte.

An diesem Morgen erschienen ihm die Farben kräftiger und die Welt ein angenehmerer Ort als sonst. Er war heiter und gelassen. Als hätte er sie absorbiert, ihr Leben in sich aufgesaugt. Wenn man tötete, nahm man seine Opfer ganz in Besitz. Dann stellte sich eine Verbundenheit ein, die selbst durch Sex nicht zu erreichen war. Der Anblick im Moment ihres Todes war von einer Intimität, die zwei lebendige Körper auf anderem Wege nie erfuhren.

Eine gewisse Erregung erfasste ihn, als er sich wieder in Erinnerung rief, dass niemand ahnte, was er getan hatte oder was er als Nächstes plante. Glücklich und in aller Seelenruhe saugte er an seinem Mittelfinger, lehnte sich gegen die von der schwachen Aprilsonne warme Mauer und betrachtete das Haus gegenüber.

Das nicht besonders ansprechend aussah. Gewöhnlich. Zugegeben, dort ließ es sich garantiert besser leben als in der kleinen Wohnung, wo die blutige Kleidung von gestern in schwarzen Müllsäcken darauf wartete, verbrannt zu werden. Wo er seine Messer – gesäubert und auf Hochglanz poliert – hinter dem Abflussrohr der Küchenspüle versteckt hatte.

Um den kleinen Vorgarten des Hauses verlief ein schwarzer Zaun. Der Rasen musste dringend gemäht werden. Die beiden schmalen, direkt nebeneinanderliegenden Eingangstüren ließen darauf schließen, dass das dreistöckige Gebäude inzwischen als Mietshaus für mehrere Parteien diente. Im Erdgeschoss wohnte eine Frau namens Robin Ellacott. Obwohl er gewaltige Anstrengungen unternommen hatte, um ihren Namen in Erfahrung zu bringen, nannte er sie insgeheim immer noch »die Sekretärin«. Gerade war sie am Erkerfenster vorübergegangen. Er hatte sie deutlich an ihrem rotblonden Haar erkannt.

Die Sekretärin zu beobachten war eine nette Dreingabe, ein vergnüglicher Bonus. Er hatte ein paar Stunden zur freien Verfügung gehabt und beschlossen herzufahren und sie zu observieren. Zwischen seiner gestrigen Großtat und der morgigen, zwischen der Befriedigung über das Geleistete und der Vorfreude auf das Kommende war der heutige Tag der Ruhe gewidmet.

Plötzlich öffnete sich die rechte Eingangstür. Die Sekretärin verließ in Begleitung eines Mannes das Haus.

Mit dem Rücken an der warmen Mauer starrte er quer über die Straße zu ihnen hinüber. Er hatte den Kopf zur Seite gedreht, damit es so aussah, als würde er auf einen Bekannten warten. Keiner der beiden würdigte ihn auch nur eines Blicks. Seite an Seite gingen sie die Straße hinauf. Er ließ ihnen eine Minute Vorsprung, dann ging er ihnen nach.

Sie trug Jeans, eine leichte Jacke und Stiefel mit flachen Absätzen. Im Sonnenlicht schimmerte ihr Haar rötlich. Das Pärchen machte einen seltsam reservierten Eindruck. Sie wechselten kein Wort.

Andere Menschen zu durchschauen fiel ihm leicht. So wie er auch das Mädchen, das gestern zwischen den blutdurchtränkten Pfirsichhandtüchern gestorben war, durchschaut und verführt hatte.

Mit den Händen in den Taschen schlenderte er dem Pärchen die lange Wohnstraße hinauf nach, als wäre er zu einem Einkaufsbummel aufgebrochen. Seine Sonnenbrille fiel an diesem hellen Morgen nicht weiter auf. Die Bäume wiegten sich sanft in der leichten Frühlingsbrise. Das Pärchen bog nach links in eine breite, stärker befahrene und von Bürogebäuden gesäumte Durchfahrtsstraße ein. Sonnenlicht spiegelte sich in den Glasfassaden hoch über ihm, als sie am Gebäude der Gemeindeverwaltung von Ealing vorübergingen.

Der adrette junge Mann mit dem edlen Profil – Mitbewohner, Freund oder was immer er sein mochte – sagte irgendwas. Die Sekretärin antwortete kurz angebunden und mit versteinertem Gesichtsausdruck.

Frauen waren dumm, gemein, schmutzig und schwach. Launische Zicken allesamt, die wie selbstverständlich von ihren Männern erwarteten, dass sie jedes ihrer Bedürfnisse befriedigten. Erst wenn sie tot und leer vor einem lagen, waren sie geheimnisvoll, rein und sogar wunderschön. Da erst besaß man sie vollends. Dann konnten sie weder keifen noch sich wehren noch weglaufen. Man konnte mit ihnen machen, was immer man wollte. Der Körper gestern war schwer und schlaff gewesen, nachdem er ihn hatte ausbluten lassen: sein ganz persönliches lebensgroßes Spielzeug.

Er folgte der Sekretärin und ihrem Freund durch das belebte Arcadia-Einkaufszentrum, schwebte hinter ihnen her wie ein Gespenst oder ein göttliches Wesen. Nahmen ihn die Shopper überhaupt zur Kenntnis? Oder hatte er sich verwandelt, hatte ihm die verdoppelte Lebenskraft die Gabe der Unsichtbarkeit verliehen?

Vor einer Bushaltestelle blieben sie stehen. Er hielt sich in ihrer Nähe, tat so, als würde er sich für ein indisches Restaurant interessieren, für das vor einem Supermarkt aufgestapelte Obst und die Pappmasken von Prince William und Kate Middleton in einem Kioskfenster. Insgeheim beobachtete er jedoch das Spiegelbild der beiden in der Schaufensterscheibe.

Sie warteten auf die Linie 83. Er hatte kaum Bargeld bei sich, fühlte sich aber zu wohl in seiner Rolle als Beobachter, um die Observierung jetzt schon zu beenden. Als er hinter ihnen einstieg, hörte er, wie der Mann »Wembley Central« sagte. Er löste eine Fahrkarte bis zu derselben Haltestelle und folgte ihnen aufs Oberdeck des Busses.

Das Pärchen setzte sich direkt in die erste Reihe. Er nahm neben einer mürrischen Frau Platz, die seinetwegen ihre Einkaufstaschen beiseiteschieben musste. Hin und wieder vernahm er ihre Stimmen über dem Gemurmel der anderen Fahrgäste. Wenn die Sekretärin nicht gerade etwas sagte, blickte sie missmutig aus dem Fenster. Ganz offensichtlich hatte sie keine allzu große Lust auf diese Unternehmung. Als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, entdeckte er den Verlobungsring. Sie würde also heiraten … glaubte sie zumindest. Er verbarg sein Lächeln hinter dem hochgeklappten Kragen seiner Jacke.

Die warme Mittagssonne fiel durch die mit Dreckspritzern übersäten Busfenster. Eine Gruppe von Männern stieg ein und belegte die umliegenden Plätze. Ein paar von ihnen trugen rot-schwarze Rugbytrikots.

Mit einem Mal schien es dunkler um ihn herum zu werden. Die Trikots mit dem Halbmond und dem Stern darauf weckten unliebsame Assoziationen an frühere Zeiten, als er sich noch nicht wie ein göttliches Wesen gefühlt hatte. Seine gute Laune war auf einen Schlag dahin, der Freudentag besudelt von alten, schlimmen Erinnerungen. Ein Teenager aus der Gruppe warf ihm einen Blick zu und sah schnell wieder weg; wütend stand er auf und ging zur Treppe.

Unten hielten ein Mann und sein kleiner Sohn die Haltestange zwischen den Bustüren fest umklammert. Der Zorn explodierte regelrecht in seinen Eingeweiden: Er sollte ebenfalls einen Sohn haben. Oder besser: Er sollte immer noch einen Sohn haben. Er stellte sich vor, wie der Junge neben ihm stand, zu seinem großen Vorbild aufsah – aber sein Sohn war lange tot. Und das war einzig und allein die Schuld eines gewissen Cormoran Strike.

Er würde sich an Cormoran Strike rächen. Er würde dessen Welt zum Einsturz bringen.

Nachdem er ausgestiegen war, erhaschte er durch die Frontscheibe des Busses noch einen letzten Blick auf das goldene Haar der Sekretärin. In weniger als vierundzwanzig Stunden würde er sie wiedersehen. Der Gedanke daran linderte die durch den Anblick der Saracens-Trikots heraufbeschworene Wut ein wenig. Der Bus rumpelte davon. Er wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen.

Er hatte einen genialen Plan. Niemand wusste davon. Niemand ahnte etwas. Und zu Hause im Kühlschrank wartete etwas ganz Besonderes auf ihn.

2

A rock through a window never comes with a kiss.

BLUE ÖYSTER CULT, »MADNESS TO THE METHOD«

Robin Ellacott war sechsundzwanzig Jahre alt und seit mehr als einem Jahr verlobt. Die Hochzeit hätte eigentlich vor drei Monaten stattfinden sollen, doch der unerwartete Tod ihrer zukünftigen Schwiegermutter hatte zu einer Verschiebung der Feier geführt. In der Zwischenzeit war viel geschehen. Sie fragte sich, ob sie und Matthew sich wieder zusammenraufen würden, wenn sie erst einmal ihren Eheschwur abgelegt hätten. Würden sie weniger streiten, wenn neben dem saphirbesetzten Verlobungsring, der mittlerweile ein bisschen zu locker an ihrem Finger saß, ein goldener steckte?

Es war Montagmorgen. Sie kämpfte sich durch den Schutt der Baustellen entlang der Tottenham Court Road und ließ die Auseinandersetzung vom Vorabend noch einmal Revue passieren. Das Ganze hatte begonnen, noch ehe sie zum Rugbyspiel aufgebrochen waren. Wann immer sie Sarah Shadlock und ihren Freund Tom trafen, war dicke Luft vorprogrammiert – eine Tatsache, die Robin während ihres Streits, der nach dem Match entbrannt war und bis in die späte Nacht angedauert hatte, nicht unerwähnt gelassen hatte.

»Himmelherrgott, sie hat doch in einer Tour gestichelt, hast du das nicht gemerkt? Sie hat mich über ihn ausgequetscht. Ich hab nicht von ihm angefangen …«

Die nicht enden wollenden Straßenbauarbeiten entlang der Tottenham Court Road behinderten Robins Weg zur Arbeit seit ihrem ersten Tag bei der kleinen Privatdetektei in der Denmark Street. Dass sie jetzt über einen großen Schuttbrocken stolperte, besserte ihre Laune mitnichten; erst nach ein paar wackligen Schritten erlangte sie das Gleichgewicht zurück. Ein Chor aus anerkennenden Pfiffen und anzüglichen Bemerkungen ertönte aus einer Grube in der Straße, in der sich Bauarbeiter mit Helmen und Warnwesten drängten. Verlegen warf sie das lange, rotblonde Haar zurück und bemühte sich, so gut es ging, die Männer zu ignorieren. Unwillkürlich kehrten ihre Gedanken zu Sarah Shadlock und den unaufhörlichen hinterlistigen Fragen über Robins Chef zurück.

»Auf gewisse Art ist er echt attraktiv, oder nicht? Ein bisschen zerknittert vielleicht, aber mir würde das nichts ausmachen. Ist er im richtigen Leben auch so sexy? Er ist ziemlich groß, oder?«

Robin hatte knapp und nüchtern geantwortet, doch Matthews angespannte Kiefermuskeln waren ihr nicht entgangen.

»Seid ihr eigentlich allein im Büro? Echt? Sonst niemand?«

Schlampe, dachte Robin. Ihr sonst so gutmütiges Naturell war bei Sarah Shadlock von jeher an seine Grenzen gestoßen. Sie wusste ganz genau, was sie da tat.

»Stimmt es, dass er in Afghanistan einen Orden bekommen hat? Wirklich? Ein richtiger Kriegsheld, ja?«

Robin hatte nach Kräften versucht, Sarahs überschwänglichen Lobeshymnen auf Cormoran Strike Einhalt zu gebieten – vergebens. Als das Spiel vorbei war, hatte Matthew für seine Verlobte nur mehr kühle Verachtung übrig gehabt. Seine Verstimmung hatte ihn allerdings nicht daran gehindert, auf dem Rückweg vom Vicarage-Road-Stadion mit Sarah zu lachen und zu scherzen. Tom, den Robin für sterbenslangweilig und etwas schwer von Begriff hielt, hatte munter mitgekichert, ohne den ungemütlichen Unterton auch nur ansatzweise wahrzunehmen.

Unter diversen Remplern von Passanten, die sich ebenfalls um die Löcher in der Straße herumschlängelten, erreichte sie schließlich die andere Straßenseite. Im Schatten des waffelähnlichen Betonklotzes, der den Centre-Point-Bürokomplex beherbergte, fiel ihr wieder ein, was Matthew ihr gegen Mitternacht an den Kopf geworfen und damit erneut Öl ins Feuer gegossen hatte. Und wieder stieg Wut in ihr auf.

»Musst du ständig über ihn reden? Ich hab doch gehört, wie du Sarah …«

»Ich habe überhaupt nicht über ihn geredet, sondern sie. Hättest du zugehört …«

»Ach, er hat so tolle Haare«, hatte Matthew sie mit jener hohen, debil klingenden Stimme nachgeäfft, mit der das weibliche Geschlecht oft diffamiert wurde.

»Du bist doch völlig paranoid!«, hatte Robin ihn angeschrien. »Sarah hat Jacques Burgers verfluchte Haare gemeint, nicht die von Cormoran. Und ich hab nur gesagt, dass …«

»Nicht die von Cormoran«, hatte er mit dieser idiotischen Quietschstimme wiederholt. Als Robin in die Denmark Street einbog, hatte sie wieder genauso viel Wut im Bauch wie vor acht Stunden, als sie aus dem Schlafzimmer gestürmt war und ihr Lager auf dem Sofa aufgeschlagen hatte.

Sarah Shadlock. Diese verdammte Sarah Shadlock, die mit Matthew studiert und alles darangesetzt hatte, um ihn seiner Freundin Robin auszuspannen, die allein in Yorkshire zurückgeblieben war … Am liebsten hätte Robin sie ein für alle Mal aus ihrem Leben verbannt. Doch bedauerlicherweise würde sie zu ihrer Hochzeit im Juli erscheinen und auch danach nicht aufhören, ihnen das Eheleben zu versauern. Wahrscheinlich würde sie eines Tages sogar unter irgendeinem bescheuerten Vorwand in Robins Büro auftauchen, um Strike kennenzulernen. Vorausgesetzt, dass ihr Interesse an ihm echt war und sie ihn nicht nur als Mittel zum Zweck benutzte, um Zwietracht zwischen Robin und Matthew zu säen.

Darauf kann sie lange warten, dachte Robin und marschierte auf einen Motorradkurier zu, der vor der Eingangstür stand. Er trug Handschuhe, hielt ein Klemmbrett in der einen und ein langes, rechteckiges Paket in der anderen Hand.

»Ist das für Ellacott?«, fragte Robin, sowie sie sich in Hörweite befand. Sie erwartete einen ganzen Schwung mit elfenbeinfarbenem Karton verkleideter Einwegkameras, die bei der Hochzeit verteilt werden sollten. In letzter Zeit waren ihre Arbeitszeiten so unregelmäßig gewesen, dass sie sich die Online-Bestellungen lieber ins Büro als nach Hause schicken ließ.

Der Kurierfahrer nickte und hielt ihr das Klemmbrett hin, ohne den Helm abzusetzen. Robin unterzeichnete und nahm das längliche Paket entgegen, das wesentlich schwerer war, als sie erwartet hatte. Sobald sie es sich unter den Arm geklemmt hatte, rutschte ein größerer Gegenstand darin herum.

»Danke«, sagte sie, doch der Kurierfahrer hatte sich bereits umgedreht und war auf das Motorrad gestiegen. Noch während sie die Tür aufsperrte, bretterte er davon.

Sie ging die Treppe hinauf, die sich um den Gitterkäfig des defekten Aufzugs wand. Ihre Absätze klapperten auf den Metallstufen. Als sie das Büro aufschloss, fiel Licht auf die Glastür, auf der sich dunkel der eingravierte Schriftzug C. B. Strike, Privatdetektiv abhob.

Sie war absichtlich so früh gekommen. Momentan ertranken sie förmlich in Aufträgen, und sie wollte Ordnung in den Papierkram bringen, bevor sie sich der täglichen Observierung einer russischen Stripperin widmete. Nach den schweren Schritten zu urteilen, die sie von oben hörte, war Strike immer noch in seiner Wohnung.

Robin legte das sperrige Paket auf den Schreibtisch, zog den Mantel aus, hängte ihn zusammen mit ihrer Handtasche an den Haken hinter der Tür, machte das Licht an, füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Dann griff sie nach dem Brieföffner. Matthew hatte ihr einfach nicht glauben wollen, dass sie die lockige Mähne des Stürmers Jacques Burger und nicht Strikes kurzen und offen gestanden an Schamhaar erinnernden Schopf bewundert hatte. Wütend stieß sie den Brieföffner in das Paket, schlitzte es auf und klappte den Karton auseinander.

Ein abgetrenntes Frauenbein lag seitlich in dem Karton. Die Zehen waren nach oben gebogen worden, damit es hineinpasste.

3

Half-a-hero in a hard-hearted game.

BLUE ÖYSTER CULT, »THE MARSHALL PLAN«

Robins Schrei hallte von den Fensterscheiben wider. Sie wich vom Schreibtisch zurück, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von dem abscheulichen Objekt abzuwenden. Das blasse Bein war schlank und glatt; beim Öffnen der Schachtel hatte sie es mit dem Finger gestreift, die kalte, gummiartige Haut gespürt.

Sie schlug die Hände vor den Mund und war kaum verstummt, als auch schon die Glastür neben ihr aufflog und der gut eins neunzig große Strike mit finsterer Miene hereinstürmte. Er hatte nicht einmal sein Hemd zugeknöpft, sodass sein dichtes dunkles Brusthaar zu sehen war.

»Was zum …«

Er folgte ihrem entsetzten Blick. Sowie er das Bein entdeckt hatte, packte er Robin grob am Oberarm und schob sie ins Treppenhaus.

»Wo kommt das her?«

»Kurier«, sagte sie und ließ sich von ihm in die nächsthöhere Etage führen. »Motorradkurier.«

»Warte hier. Ich rufe die Polizei.«

Nachdem er hinter ihr die Wohnungstür zugezogen hatte, stand sie stocksteif und mit rasendem Herzen da und lauschte seinen verhallenden Schritten. Magensäure stieg in ihrer Kehle auf. Ein Bein. Sie hatte soeben ein Bein in Empfang genommen. Sie hatte soeben in aller Seelenruhe ein Bein – ein Frauenbein in einer Schachtel – die Treppe hochgetragen. Wem gehörte es? Wo war der Rest der Frau?

Sie steuerte auf den nächstbesten Stuhl zu – ein billiges gepolstertes Metallgestell mit Kunststoffüberzug – und setzte sich, die Finger immer noch auf die betäubten Lippen gepresst. Das Paket, kam es ihr wieder in den Sinn, war an sie persönlich adressiert gewesen.

Unterdessen hielt Strike mit dem Handy am Ohr in seinem Büro am Fenster, das zur Denmark Street hinausging, nach dem Motorradkurier Ausschau. Erst als er ins Vorzimmer zurückkehrte, um das geöffnete Paket auf dem Schreibtisch einer genaueren Prüfung zu unterziehen, wurde sein Anruf entgegengenommen.

»Ein Bein?«, wiederholte Detective Inspector Eric Wardle am anderen Ende. »Scheiße, ein Bein?«

»Und es hat nicht mal meine Größe«, erwiderte Strike. In Robins Anwesenheit hätte er sich einen solchen Scherz niemals erlaubt. Sein Hosenbein war hochgekrempelt, sodass die Metallkonstruktion darunter zu sehen war, die ihm als rechtes Sprunggelenk diente. Er war gerade erst dabei gewesen, sich anzuziehen, als er Robins Schrei gehört hatte.

Noch während er sprach, dämmerte es ihm, dass es sich um ein rechtes Bein handelte – genau wie der Körperteil, den er selbst eingebüßt hatte. Und dass es unter dem Knie abgetrennt worden war – exakt an der Stelle, an der man sein Bein amputiert hatte. Mit dem Telefon am Ohr nahm Strike die Extremität in Augenschein. Ein unangenehmer Geruch wie von aufgetautem Tiefkühlhühnchen stieg ihm in die Nase. Weiße Haut: glatt, bleich und bis auf einen beinahe verheilten grünlichen Bluterguss auf der nachlässig rasierten Wade makellos. Die Haarstoppeln waren blond, die unlackierten Zehennägel nicht ganz sauber. Der durchtrennte Schienbeinknochen stach schneeweiß aus dem umgebenden Fleisch hervor. Ein glatter Schnitt – entweder von einer Axt oder einem Fleischerbeil, vermutete Strike.

»Ein Frauenbein, sagten Sie?«

»Sieht zumindest …«

Dann fiel ihm noch etwas auf. Auf der Wade, in unmittelbarer Nähe des Schnitts, waren alte Narben zu erkennen, die augenscheinlich nichts mit der Amputation zu tun hatten.

Wie oft war er während seiner Kindheit in Cornwall hinterrücks überrascht worden, sobald er dem trügerischen Wasser den Rücken zugekehrt hatte. Wer das Meer nicht genau kannte, unterschätzte seine Härte und Brutalität. Umso erschreckender war es dann, wenn eine Welle mit der Wucht eiskalten Metalls gegen den Körper krachte. Strike hatte sich in seinem Berufsleben den verschiedensten Ängsten gestellt, sich mit ihnen auseinandergesetzt und sie im Zaum gehalten, so gut es ging. Doch beim Anblick dieser Narben und dem damit einhergehenden unerwarteten Grauen verschlug es ihm die Sprache.

»Sind Sie noch dran?«, fragte Wardle.

»Was?«

Strikes zweifach gebrochene Nase war mittlerweile nur mehr Zentimeter von der Stelle entfernt, an der der Unterschenkel vom Körper abgetrennt worden war. Er musste an das vernarbte Bein eines Mädchens denken, das er nie vergessen hatte … Wann hatte er sie zum letzten Mal gesehen? Wie alt war sie inzwischen?

»Sie haben mich doch angerufen, oder?«, fragte Wardle.

»Ja«, sagte Strike und zwang sich zur Konzentration. »Mir wär’s am liebsten, wenn Sie die Sache übernehmen könnten, aber wenn das nicht geht …«

»Schon unterwegs«, fiel Wardle ihm ins Wort. »Ich bin gleich bei Ihnen. Halten Sie durch.«

Strike beendete das Telefonat und legte das Handy beiseite, den Blick immer noch starr auf das Bein gerichtet. Jetzt erst bemerkte er das Blatt Papier darunter. Eine ausgedruckte Nachricht. Die Army hatte ihm eine gründliche Ausbildung in Sachen Spurensicherung angedeihen lassen, daher widerstand er der fast übermächtigen Versuchung, den Zettel hervorzuziehen und die Nachricht zu lesen. Keinesfalls durfte er Beweismittel kontaminieren. Stattdessen ging er etwas unsicher in die Knie, um den Adressaufkleber zu inspizieren, der verkehrt herum auf dem geöffneten Deckel angebracht worden war.

Das Paket war an Robin adressiert. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Ihr Name war korrekt buchstabiert und zusammen mit der Adresse des Büros auf den Aufkleber gedruckt worden. Darunter befand sich ein weiteres Etikett, das er mit zusammengekniffenen Augen musterte, ohne den Karton auch nur um einen Millimeter zu verschieben. Der Absender hatte das Paket zunächst an »Cameron Strike« adressiert, bevor er das zweite, mit »Robin Ellacott« beschriftete Etikett darübergeklebt hatte. Weshalb hatte er es sich anders überlegt?

»Scheiße«, flüsterte Strike.

Mühsam richtete er sich auf, nahm Robins Handtasche vom Haken hinter der Tür, schloss die Glastür ab und ging nach oben.

»Die Polizei ist unterwegs«, sagte er und stellte die Handtasche vor ihr ab. »Willst du einen Tee?«

Sie nickte.

»Mit einem Schuss Brandy?«

»Du hast doch gar keinen Brandy«, sagte sie mit leicht brüchiger Stimme.

»Hast du geschnüffelt?«

»Natürlich nicht!«

Dass sie derart empört über die Unterstellung war, seine Schränke kontrolliert zu haben, entlockte ihm ein Schmunzeln.

»Du bist nur … Ich kann mir einfach nur nicht vorstellen, dass du zu medizinischen Zwecken Branntwein im Haus hast.«

»Ein Bier vielleicht?«

Sie schüttelte den Kopf. Ein Lächeln brachte sie nicht zustande.

Sobald der Tee fertig war, nahm er mit seinem Becher in der Hand gegenüber Robin Platz. Strike war groß gewachsen, ein Exboxer, der zu viel rauchte und zu viel Fast Food zu sich nahm, und dementsprechend sah er aus. Er hatte buschige Augenbrauen, eine breite, schiefe Nase und trug – wenn er nicht gerade lächelte – stets eine verdrießliche Miene zur Schau. Seine dichten, dunklen Locken waren noch feucht vom Duschen. Robin kamen auf der Stelle wieder Jacques Burger und Sarah Shadlock in den Sinn. Der Streit mit Matthew schien plötzlich eine Ewigkeit her zu sein. Seit ihrer Ankunft in Strikes Wohnung hatte sie nur einmal kurz an ihren Verlobten gedacht. Sie würde ihm wohl oder übel von diesem Vorfall erzählen müssen. Und natürlich würde er wieder wütend werden. Er war ohnehin dagegen, dass sie für Strike arbeitete.

»Hast du … es dir angesehen?«, flüsterte sie, nachdem sie ihren Becher mit dem kochend heißen Tee erst angehoben und dann wieder abgesetzt hatte, ohne einen Schluck zu trinken.

»Ja«, sagte Strike.

Sie wusste nicht, was sie sonst hätte fragen sollen. Ein abgetrenntes Bein. Das Ganze war so grässlich, so grotesk, dass ihr jedes weitere Nachbohren lächerlich und unangemessen vorgekommen wäre. Hast du es erkannt? Weshalb hat man es hierhergeschickt?Und – was am wichtigsten war – warum gerade mir?

»Die Beamten werden dir Fragen über den Kurier stellen.«

»Ich weiß«, sagte Robin. »Ich versuche schon die ganze Zeit, mich an möglichst viele Details zu erinnern.«

Unten klingelte es an der Tür.

»Das wird Wardle sein.«

»Wardle?«, wiederholte sie erschrocken.

»Von allen Polizisten kann er uns noch am besten leiden«, erklärte Strike. »Du bleibst hier, ich hole ihn.«

Es war nicht allein Strikes Schuld, dass er in der Gunst der Metropolitan Police im letzten Jahr dramatisch gesunken war. Seine beiden großen detektivischen Glanzleistungen hatten ein überschwängliches Medienecho nach sich gezogen. Verständlich also, dass die für die Ermittlungen zuständigen und von ihm ausgebooteten Beamten nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen waren. Wardle dagegen – der ihm bei der Lösung des ersten Falles behilflich gewesen war – hatte sich zumindest für eine Weile in Strikes Ruhm sonnen können, sodass ihre Beziehung nicht ganz so stark gelitten hatte. Robin indes kannte Wardle nur aus Zeitungsartikeln über den Fall. Bei Gericht waren sie sich nie begegnet.

Wardle war, wie sich herausstellte, ein gut aussehender Mann mit dichtem braunem Haar und schokobraunen Augen. Er trug eine Lederjacke und Jeans. Amüsiert und verärgert zugleich bemerkte Strike, wie Wardle Robin bei Betreten des Zimmers begutachtete – blitzschnell wanderte sein Blick über ihr Haar und ihre Figur und verharrte dann eine Sekunde lang auf dem mit einem Saphir und Diamanten besetzten Verlobungsring an ihrer linken Hand.

»Eric Wardle«, stellte er sich mit tiefer Stimme und einem nach Strikes Dafürhalten unnötig charmanten Lächeln vor. »Und das hier ist Detective Sergeant Ekwensi.«

Er hatte eine schlanke dunkelhäutige Beamtin mitgebracht, die sich das Haar zu einem Dutt aufgesteckt hatte. Sie schenkte Robin ein kurzes Lächeln. Diese wiederum fand die Anwesenheit einer weiteren Frau überaus tröstlich. Detective Sergeant Ekwensi sah sich in Strikes feudalen Gemächern um.

»Wo ist das Paket?«, fragte sie.

»Unten«, erklärte Strike und zog seinen Büroschlüssel aus der Tasche. »Ich zeige es Ihnen. Wie geht’s der werten Gattin, Wardle?«, fügte er hinzu, ehe er mit Detective Sergeant Ekwensi die Wohnung verließ.

»Was geht Sie das an?«, rief Wardle ihm nach, doch zu Robins Erleichterung legte er seine forsche Art ab, sowie er ihr gegenüber Platz genommen hatte und seinen Notizblock aufklappte.

»Er stand vor der Tür, als ich die Straße hochkam«, erklärte Robin auf Wardles Frage hin, wie das Bein in ihrem Büro gelandet war. »Ich hab ihn für einen Motorradkurier gehalten. Er trug eine schwarze Lederkombi mit blauen Streifen an den Schultern. Der Helm war ebenfalls schwarz, das Visier heruntergeklappt und verspiegelt. Er war über eins achtzig, also mindestens zehn Zentimeter größer als ich – auch ohne den Helm.«

»Körperbau?«, hakte Wardle nach und machte sich eifrig Notizen.

»Ziemlich kräftig, würde ich sagen, aber das kann auch an der Jacke gelegen haben.« Unwillkürlich sah Robin zu Strike auf, der gerade wieder die Wohnung betrat. »Also nicht …«

»Nicht so ein Fettsack wie der Boss?«, brachte Strike, der alles mit angehört hatte, den Satz zu Ende. Wardle, der ebenfalls gut austeilen konnte und einem Scherz auf Strikes Kosten selten abgeneigt war, kicherte leise.

»Und er trug Handschuhe«, fuhr Robin fort, ohne mit der Wimper zu zucken. »Schwarze Motorradhandschuhe aus Leder.«

»Handschuhe, natürlich«, sagte Wardle und schrieb es auf. »Ist Ihnen an dem Motorrad etwas aufgefallen?«

»Es war eine schwarz-rote Honda«, sagte Robin. »Ich hab das Logo mit dem Flügel erkannt. 750 Kubik, würde ich sagen. Eine schwere Maschine.«

Wardle sah erstaunt und beeindruckt aus.

»Sie hat ein Faible für alles, was motorisiert ist«, erklärte Strike. »Sie fährt wie Fernando Alonso.«

Robin fand Strikes betont fröhliches Gehabe äußerst unpassend. Unten lag ein Frauenbein. Wo war der Rest? Sie durfte jetzt nicht in Tränen ausbrechen. Hätte sie doch nur besser geschlafen. Das verfluchte Sofa … In letzter Zeit hatte sie viel zu viele Nächte darauf verbracht …

»Und er hat sie gedrängt zu unterzeichnen?«, fragte Wardle.

»Na ja, nicht gerade ›gedrängt‹«, sagte Robin. »Er hat mir das Klemmbrett hingehalten, und ich hab ohne nachzudenken unterschrieben.«

»Was war auf dem Klemmbrett?«

»Es sah aus wie eine Rechnung oder …«

Sie schloss die Augen und versuchte, es sich wieder ins Gedächtnis zu rufen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie amateurhaft das Formular gewirkt hatte. Als hätte es jemand auf seinem heimischen Laptop zusammengebastelt. Auch diese Beobachtung teilte sie Wardle mit.

»Haben Sie denn ein Paket erwartet?«, erkundigte er sich.

Robin erzählte ihm von den Einwegkameras für die Hochzeit.

»Was hat er getan, nachdem Sie die Sendung entgegengenommen hatten?«

»Er ist aufgestiegen und davongefahren. In Richtung Charing Cross Road.«

Es klopfte an der Wohnungstür. Mit der Notiz, die Strike unter dem Bein bemerkt hatte und die jetzt in einem Asservatenbeutel steckte, gesellte sich Detective Sergeant Ekwensi wieder zu ihnen.

»Die Spurensicherung ist jetzt da«, sagte sie. »Diese Nachricht lag übrigens in dem Paket. Vielleicht sollte Miss Ellacott mal einen Blick darauf werfen.«

Wardle nahm die Botschaft in der durchsichtigen Folie entgegen und überflog sie mit gerunzelter Stirn.

»Was für ein Blödsinn«, stellte er fest. »A harvest of limbs, of arms and of legs, of necks …«

»… that turn like swans«, fiel ihm Strike ins Wort, der am Herd lehnte und von seiner Position aus den Zettel unmöglich lesen konnte, »as if inclined to gasp or pray.«

Ungläubig starrten die anderen ihn an.

»Das ist ein Songtext«, erklärte Strike. Sein Gesichtsausdruck verursachte Robin Unbehagen. Offensichtlich hatten die Worte bei ihm ungute Assoziationen geweckt. »Aus der letzten Strophe von ›Mistress of the Salmon Salt‹. Von Blue Öyster Cult.«

Detective Sergeant Ekwensi zog die sorgfältig nachgezogenen Augenbrauen hoch. »Von wem?«

»Das war in den Siebzigern eine angesagte Rockband.«

»Und anscheinend sind Sie mit ihren Songs vertraut«, meinte Wardle.

»Mit diesem Lied schon.«

»Haben Sie denn eine Vermutung, wer Ihnen das Bein geschickt haben könnte?«

Strike zögerte. Unter den Augen der Anwesenden wurde er von einer Flut unzusammenhängender Bilder und Erinnerungen heimgesucht. Sie wollte sterben, hörte er eine tiefe Stimme sagen. Sie war das Quicklime Girl. Dann das dünne Bein eines zwölfjährigen Mädchens, auf dem kreuz und quer dünne, silbrige Narben verliefen. Dunkle Augen wie die eines Frettchens. Zusammengekniffen und voller Hass. Die Tätowierung einer gelben Rose.

Und plötzlich tauchte eine weitere Erinnerung auf, die einem anderen wohl als Erstes in den Sinn gekommen wäre – ein Polizeibericht, in dem von einem abgetrennten Penis die Rede war, den man einem Beamten zugestellt hatte.

»Wissen Sie, wer es geschickt hat?«

»Vielleicht«, sagte Strike und sah erst Robin und dann Detective Sergeant Ekwensi an. »Aber das möchte ich lieber unter vier Augen besprechen. Haben Sie noch Fragen an Robin?«

»Wir müssen noch ihre Personalien und so weiter aufnehmen«, sagte Wardle. »Vanessa, können Sie das erledigen?«

Detective Sergeant Ekwensi trat mit ihrem Notizblock vor, während die Schritte der beiden Männer allmählich im Treppenhaus verhallten. Robin verspürte nicht das Bedürfnis, das abgetrennte Bein noch ein weiteres Mal zu sehen. Andererseits kam sie sich mit einem Mal beinahe ausgeschlossen vor. Immerhin hatte ihr Name auf der Schachtel gestanden.

Das grausige Paket lag immer noch auf dem Schreibtisch im Büro. Detective Sergeant Ekwensi hatte zuvor zwei weitere Kollegen eingelassen. Einer machte Fotos, der andere telefonierte mit dem Handy, als sein Vorgesetzter und der Privatdetektiv an ihnen vorbeimarschierten. Beide Beamte sahen Strike neugierig an. Obwohl er bei Wardles Kollegen nicht sonderlich beliebt war, hatte er es doch zu einer gewissen Berühmtheit gebracht.

Strike machte die Tür zu seinem Büro zu und setzte sich hinter den Schreibtisch. Wardle nahm davor Platz und schlug eine neue Seite in seinem Notizblock auf.

»Na schön. Wer wäre Ihrer Meinung nach fähig, Leichen zu zerstückeln und Ihnen per Post zuzuschicken?«

»Terence Malley«, antwortete Strike nach kurzem Zögern. »Zum Beispiel.«

Wardle starrte ihn über seinen Notizblock hinweg an.

»Terence ›Digger‹ Malley?«

Strike nickte.

»Vom Harringay-Syndikat?«

»Wie viele Terence ›Digger‹ Malleys kennen Sie?«, fragte Strike ungeduldig zurück. »Und wie viele davon haben die Angewohnheit, anderen Leuten Körperteile zu schicken?«

»Wann zum Teufel sind Sie denn mit Digger aneinandergeraten?«

»2008, während einer gemeinsamen Operation mit der Sitte. Es ging damals um einen Drogenring.«

»Deswegen wurde er doch verhaftet, oder nicht?«

»Stimmt genau.«

»Heilige Scheiße«, stieß Wardle hervor. »Das ist es! Der Kerl ist ein verfluchter Psychopath – er ist vor Kurzem erst aus dem Gefängnis entlassen worden, und er kennt die Hälfte der Londoner Prostituierten. Was von der da übrig ist, werden wir dann wohl demnächst aus der Themse fischen.«

»Kann sein. Nur hab ich damals anonym gegen ihn ausgesagt. Er dürfte gar nicht wissen, dass ich gegen ihn ermittelt habe.«

»Na ja, da gibt es Mittel und Wege«, erwiderte Wardle. »Das Harringay-Syndikat ist schlimmer als die verdammte Mafia. Wussten Sie, dass er Ian Bevin den Schwanz von Hatford Ali geschickt hat?«

»Ja, hab ich gehört«, sagte Strike.

»Und was hat es mit diesem Song auf sich? Geerntete Körperteile? Was soll der Scheiß?«

»Tja, das bereitet mir am meisten Kopfzerbrechen«, sagte Strike vorsichtig. »Das ist einfach zu raffiniert für jemanden wie Digger – und deshalb glaube ich, dass einer der anderen drei Kandidaten dahintersteckt.«

4

Four winds at the Four Winds Bar,

Two doors locked and windows barred,

One door left to take you in,

The other one just mirrors it …

BLUE ÖYSTER CULT, »ASTRONOMY«

»Dir fallen vier Männer ein, die dir ein abgetrenntes Bein schicken würden? Vier?«

Strike sah Robins entsetzte Miene in dem runden Spiegel über dem Spülbecken, vor dem er sich gerade rasierte. Die Beamten hatten das Bein endlich abtransportiert, woraufhin Strike den heutigen Arbeitstag für beendet erklärt hatte. Robin saß mit einem zweiten Becher Tee in den Händen an dem kleinen Resopaltisch in Strikes Wohnküche.

»Eigentlich«, sagte er und entfernte die Bartstoppeln von seinem Kinn, »sind es nur drei. Es war ein Fehler, dass ich Malley in Wardles Gegenwart überhaupt erwähnt habe.«

»Warum?«

Strike erzählte Robin von seinem kurzen Kontakt mit dem Berufskriminellen, der seine jüngste Inhaftierung nicht zuletzt den von Strike beschafften Beweisen verdankte.

»… und jetzt glaubt Wardle, dass das Harringay-Syndikat irgendwie herausgefunden hat, dass ich dahintersteckte. Allerdings wurde ich unmittelbar nach der Gerichtsverhandlung in den Irak versetzt. Und ich habe auch noch nie gehört, dass ein SIB-Officer aufgeflogen wäre, nur weil er vor Gericht ausgesagt hat. Außerdem ist dieser Songtext überhaupt nicht Diggers Stil – das ist viel zu subtil für ihn.«

»Aber er ist doch bekannt dafür, den Leuten, die er umgebracht hat, Körperteile abzuschneiden?«

»Meines Wissens ist das nur ein einziges Mal vorgekommen – und es ist ja nicht gesagt, dass derjenige, der uns das Bein geschickt hat, auch ein Mörder ist«, führte Strike aus. »Womöglich war die Besitzerin des Beins schon tot. Oder es handelt sich um Krankenhausabfall. Wardle wird das überprüfen. Solange die Rechtsmedizin noch mit dem Bein beschäftigt ist, werden wir wohl nichts Neues erfahren.«

Die beunruhigende Möglichkeit, das Bein könnte von einer noch lebenden Person stammen, ließ er lieber unerwähnt.

In der darauffolgenden Gesprächspause reinigte Strike seinen Rasierer unter dem Wasserhahn in der Küche. Robin starrte gedankenverloren aus dem Fenster.

»Du musstest Malley erwähnen«, sagte sie schließlich und wandte sich wieder zu Strike um, der ihren Blick im Rasierspiegel erwiderte. »Immerhin hat er jemandem ein … Was genau hat er eigentlich verschickt?«, fragte sie nervös.

»Einen Penis«, antwortete Strike, wusch sich das Gesicht und trocknete sich mit einem Handtuch ab. »Ja, wahrscheinlich hast du recht. Aber je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich mir, dass er es nicht gewesen ist. Einen Augenblick – ich muss mir nur schnell ein anderes Hemd anziehen. Als du geschrien hast, hab ich zwei Knöpfe abgerissen.«

»Tut mir leid«, murmelte sie Strike hinterher, der im Schlafzimmer verschwand.

Robin nippte an ihrem Tee und sah sich um. Sie war noch nie zuvor in Strikes Wohnung gewesen, sondern hatte lediglich hier und da an der Tür geklopft, um ihm etwas mitzuteilen oder um ihn während jener hektischen Arbeitsphasen zu wecken, in denen sie sonst kaum zum Schlafen kamen. Die Wohnküche war nicht sehr geräumig, aber sauber und ordentlich und bis auf mehrere bunt zusammengewürfelte Becher und ein billiges Spültuch neben dem Gasherd bar jeder persönlichen Note. Keine Fotos, nichts Dekoratives – die einzige Ausnahme stellte das augenscheinlich von Kinderhand gemalte Bild eines Soldaten an einer Schrankwand dar.

»Von wem ist das?«, fragte sie, als Strike in einem frischen Hemd zurückkehrte.

»Von meinem Neffen Jack. Aus unerfindlichen Gründen mag er mich.«

»Keine falsche Bescheidenheit.«

»Überhaupt nicht. Ich kann mit Kindern einfach nicht umgehen.«

»Also, deiner Meinung nach gibt es drei Männer, die …«, setzte Robin noch einmal an.

»Ich brauch erst mal ein Bier«, sagte Strike. »Gehen wir ins Tottenham.«

Das Rattern der Presslufthämmer, das aus den Gruben im Asphalt drang, machte jede Unterhaltung unmöglich, aber mit Strike an Robins Seite verkniffen sich die Arbeiter in den Warnwesten wenigstens ihre Pfiffe und Rufe. Als sie ihren Stammpub mit den großen Spiegeln in den reich verzierten Goldrahmen, der dunklen Holzverkleidung, den auf Hochglanz polierten Messingzapfhähnen, der Buntglaskuppel und den tanzenden Schönheiten auf den Gemälden von Felix de Jong erreichten, bestellte sich Strike ein Doom Bar, und Robin – der es allein bei dem Gedanken an Alkohol den Magen umdrehte – nahm einen Kaffee.

»Also?«, fragte Robin, sobald der Detektiv an den hohen runden Tisch unter der Glaskuppel zurückgekehrt war. »Wer sind die drei Männer?«

»Ich könnte mich irren, vergiss das nicht«, sagte Strike und nahm einen Schluck von seinem Pint.

»Schon klar«, sagte Robin. »Wer?«

»Perverse, die allen Grund haben, mich abgrundtief zu hassen.«

Vor seinem geistigen Auge sah Strike ein verängstigtes zwölfjähriges Mädchen mit einem vernarbten Bein, das ihn durch eine schief sitzende Brille anstarrte. Waren die Narben auf dem rechten Bein gewesen? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Oh Gott, hoffentlich ist sie es nicht …

»Wer?«, fragte Robin noch einmal. Allmählich verlor sie die Geduld.

»Zwei davon waren früher bei der Army«, antwortete Strike und rieb sich das Kinn. »Beide wahnsinnig und gewalttätig genug, um … um …«

Unwillkürlich musste er gähnen. Robin wartete ab, bis er wieder verständlich reden konnte. Ob er den gestrigen Abend mit seiner neuen Freundin verbracht hatte? Elin war eine ehemalige Violinistin, die inzwischen eine Sendung auf Radio Three moderierte. Eine attraktive Blondine vom Typ Skandinavierin, die Robin aus zwei Gründen auf Anhieb unsympathisch gewesen war: Zum einen sah sie aus wie eine hübschere Version von Sarah Shadlock, zum anderen hatte sie Robin – in ihrem Beisein – als Strikes Sekretärin bezeichnet.

»Entschuldigung«, sagte Strike. »Ich hab mir bis spät in die Nacht Notizen zum Fall Khan gemacht. Ich bin todmüde.«

Er sah auf die Uhr.

»Sollen wir nach unten gehen und einen Happen essen? Ich bin am Verhungern.«

»Gleich. Es ist noch nicht mal zwölf. Erst will ich mehr über die drei Männer hören.«

Strike seufzte.

»Also gut«, sagte er und senkte die Stimme, als ein Mann auf dem Weg zur Toilette an ihrem Tisch vorbeikam. »Donald Laing. Er war bei den King’s Own Royal Borderers.« Von Neuem sah Strike die vor Hass regelrecht sprühenden Frettchenaugen und die Rosentätowierung vor sich. »Ich hab ihm zu lebenslänglich verholfen.«

»Aber wie …«

»Nach zehn Jahren kam er wieder raus«, erklärte Strike. »Seit 2007 ist er untergetaucht. Laing war nicht einfach nur verrückt, er war ein Tier. Ein schlaues, hinterlistiges Tier und der reinste Psychopath, wenn du mich fragst. Ich hab ihn für eine Sache dranbekommen, für die ich nicht mal zuständig gewesen wäre. Die ursprüngliche Klage hätte fallen gelassen werden sollen. Kein Wunder also, wenn Laing mich hassen würde.«

Was Laing getan und weshalb Strike gegen ihn ermittelt hatte, blieb unausgesprochen. Gelegentlich und insbesondere dann, wenn seine Zeit in der Special Investigation Branch zur Sprache kam, konnte Robin aus Strikes Tonfall heraushören, dass er nicht beabsichtigte, weiter ins Detail zu gehen, und sie hatte ihn auch nie dazu gedrängt. Wenn auch widerwillig, wechselte sie das Thema.

»Und der zweite?«

»Noel Brockbank. Eine Wüstenratte.«

»Eine was?«

»Er war bei der Seventh Armoured Brigade. Einer Panzerdivision.«

Strike wurde zusehends wortkarger, und seine Miene verdüsterte sich. Robin fragte sich, ob er einfach nur Hunger hatte. Wie sie wusste, bestand zwischen der Laune ihres Chefs und der regelmäßigen Nahrungsaufnahme ein direkter Zusammenhang. Oder hatte dieser Stimmungsumschwung einen beunruhigenderen Grund?

»Sollen wir was essen?«, fragte Robin.

»Gerne«, meinte Strike, leerte sein Pint und stand auf.

Der gemütliche Speiseraum im Keller mit eigener Bar war mit rotem Teppichboden ausgelegt. Gerahmte Drucke hingen an den Wänden. Sie waren die Ersten, die an einem der Holztische Platz nahmen und bestellten.

»Zurück zu Noel Brockbank«, drängte Robin, nachdem Strike Fish and Chips und sie selbst einen Salat bestellt hatte.

»Tja, der hätte wohl ebenfalls einen guten Grund, wütend auf mich zu sein«, meinte Strike kurz angebunden. Er hatte kaum über Donald Laing reden wollen, doch jetzt schien er völlig dichtzumachen. »Brockbank ist nicht ganz richtig im Kopf«, erklärte Strike nach einer längeren Pause, in der er über Robins Schulter hinweg ins Nichts gestarrt hatte. »Behauptet er zumindest.«

»Hast du ihn ins Gefängnis gebracht?«

»Nein.«

Inzwischen blickte Strike regelrecht feindselig drein. Robin wartete, bis zweifelsfrei feststand, dass von ihm keine weiteren Informationen über Brockbank kommen würden.

»Und der Letzte?«, fragte sie schließlich.

Diesmal antwortete Strike überhaupt nicht, sodass sie schon glaubte, er hätte sie nicht gehört.

»Wer ist …«

»Ich will nicht darüber reden«, knurrte Strike.

Er starrte finster in sein frisches Pint. Doch Robin ließ sich nicht beirren.

»Wer immer dieses Bein geschickt hat«, sagte sie, »er hat es mir geschickt.«

»Also gut«, lenkte Strike nach kurzem Zögern ein. »Jeff Whittaker.«

Robin war fassungslos. Sie musste nicht erst fragen, unter welchen Umständen Strike Jeff Whittaker kennengelernt hatte. Sie wusste es, obwohl sie beide nie auch nur ein einziges Wort darüber verloren hatten.

Cormorans Kindheit und Jugend wurden im Internet erschöpfend behandelt und waren nach seinen detektivischen Triumphen Gegenstand zahlreicher Presseberichte gewesen. Strike war der uneheliche und ungeplante Spross eines Rockstars und einer Frau, die gemeinhin als »Supergroupie« bezeichnet wurde. Als Strike gerade einmal zwanzig gewesen war, war sie an einer Überdosis gestorben, woraufhin man Jeff Whittaker, ihren um einiges jüngeren zweiten Ehemann, wegen Mordes angeklagt hatte. Er war freigesprochen worden.

Sie saßen schweigend da, bis das Essen serviert wurde.

»Nur ein Salat? Hast du gar keinen Hunger?«, fragte Strike und machte sich über seine Pommes her. Robins Ahnung war zutreffend gewesen: Die Zufuhr von Kohlenhydraten besserte seine Laune erheblich.

»Hochzeit«, sagte Robin nur.

Strike schwieg. Jeglicher Kommentar zu ihrer Figur hätte die Grenze überschritten, die er sich selbst gesteckt hatte, um ihre Beziehung nicht zu persönlich werden zu lassen. Trotzdem fand er, dass sie allmählich zu dünn wurde. Seiner Meinung nach (und auch das lag jenseits besagter Grenze) taten ein paar Kilo mehr ihrer Attraktivität keineswegs Abbruch.

»Willst du mir auch nicht verraten«, fragte Robin nach mehreren Minuten des Schweigens, »was es mit diesem Song auf sich hat?«

Strike kaute, nahm noch ein paar große Schlucke und bestellte sich das nächste Doom Bar, bevor er antwortete. »Meine Mutter hatte sich den Titel tätowieren lassen.«

Er fühlte sich nicht bemüßigt, Robin zu verraten, an welcher Stelle ihres Körpers sich die Tätowierung befunden hatte. Darüber wollte er nicht einmal nachdenken. Nichtsdestoweniger stimmten ihn Essen und Trinken gnädiger: Robin hatte nie unangemessenes Interesse an seiner Vergangenheit gezeigt, und heute hatte sie durchaus ein Recht darauf, derlei Fragen zu stellen.

»Es war ihr Lieblingslied. Und Blue Öyster Cult ihre Lieblingsband. Na ja, das ist noch untertrieben. Sie war besessen von ihnen.«

»Nicht von den Deadbeats?«, hakte Robin nach, ohne darüber nachzudenken. Strikes Vater war der Sänger der Deadbeats gewesen. Auch über ihn hatten sie nie gesprochen.

»Nein«, antwortete Strike und brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Der gute alte Jonny belegte bei Leda immer nur den undankbaren zweiten Platz. Sie wollte Eric Bloom, den Sänger von Blue Öyster Cult – aber er war einer der wenigen, den sie nie ins Bett bekommen hat.«

Robin wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. Wie man sich wohl dabei fühlte, wenn das ausschweifende Sexleben der eigenen Mutter im Internet bis ins letzte Detail nachzulesen war?

Das nächste Bier kam. Strike nahm einen langen Schluck und fuhr dann fort: »Um ein Haar hätte sie mich Eric Bloom Strike getauft.« Robin verschluckte sich an ihrem Wasser und hustete in die Serviette. Er lachte. »Obwohl – Cormoran ist auch nicht besser. Cormoran Blue …«

»Blue?«

»Blue Öyster Cult, schon vergessen?«

»Oh Gott«, sagte Robin. »Das solltest du besser für dich behalten.«

»Ganz meine Meinung.«

»Und was bedeutet ›Mistress of the Salmon Salt‹?«

»Keine Ahnung. Die Songtexte sind ziemlich kryptisch. Science-Fiction. Verquastes Zeug.«

Sie wollte sterben, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Sie war das Quicklime Girl.

Er nahm noch einen Schluck.

»Ich kenne kein einziges Lied von Blue Öyster Cult«, sagte Robin.

»Doch, bestimmt«, widersprach Strike. »›Don’t Fear the Reaper‹.«

»Was?«

»Das war ihr größter Hit. ›Don’t Fear the Reaper‹.«

»Ah … ach so. Verstehe.«

Einen verwirrten Augenblick lang hatte Robin geglaubt, Strike wollte ihr dazu raten, keine Angst vor dem Sensenmann zu haben.

Sie aßen eine Weile lang schweigend weiter. Dann hielt Robin es nicht länger aus und formulierte die Frage, die ihr am meisten auf den Nägeln brannte – und gab sich größte Mühe, um nicht allzu verängstigt zu klingen: »Warum wurde das Bein an mich geschickt?«

Darüber hatte Strike sich bereits Gedanken gemacht.

»Das habe ich mich auch gefragt«, sagte er. »Und ich glaube, dass es eine unterschwellige Drohung sein sollte. Bis wir herausgefunden haben, wer …«

»Ich arbeite auf jeden Fall weiter«, fiel Robin ihm entschieden ins Wort. »Ich bleibe unter keinen Umständen zu Hause. Genau das will Matthew ja.«

»Hast du es ihm schon erzählt?«

Sie hatte Matthew angerufen, als Strike mit Wardle unten im Büro gewesen war.

»Ja. Er ist sauer auf mich, weil ich den Empfang quittiert habe.«

»Vermutlich macht er sich nur Sorgen«, log Strike. Er hatte Matthew des Öfteren getroffen, und von Mal zu Mal war er ihm unsympathischer geworden.

»Er macht sich keine Sorgen«, zischte Robin. »Allerdings glaubt er, dass es jetzt vorbei wäre. Dass ich vor lauter Angst kündigen würde. Aber da hat er sich geschnitten.«

Matthew hatte die Nachricht mit Entsetzen aufgenommen. Trotz allem hatte sie eine leise Befriedigung aus seiner Stimme herausgehört, die unausgesprochene Gewissheit darüber, dass sie nun wohl endlich einsehen würde, wie lächerlich es gewesen war, sich mit einem abgehalfterten Privatdetektiv einzulassen. Strike konnte ihr noch nicht einmal ein anständiges Gehalt bezahlen und brummte ihr ständig unmögliche Arbeitszeiten auf, sodass sie sich sogar die Paketpost nicht mehr nach Hause schicken lassen konnte. (»Ich hab das Bein doch nicht bekommen, weil Amazon mir meine Einkäufe neuerdings ins Büro liefert!«, hatte Robin wütend entgegnet.) Dass Strike, der inzwischen so etwas wie eine Berühmtheit war, in ihrem Bekanntenkreis ein ewiges Faszinosum darstellte, setzte dem Ganzen die Krone auf. Matthews Tätigkeit als Bilanzbuchhalter hatte nicht annähernd den gleichen Stellenwert. Sein Neid und sein Groll saßen tief und suchten sich immer öfter ein Ventil.

Doch Strike war nicht so dumm, Robin zur Illoyalität gegenüber Matthew zu ermutigen. Er wollte nicht, dass sie etwas bedauerte, sobald sie sich wieder beruhigt hätte.

»Das Bein an dich statt an mich zu adressieren war ein nachträglicher Einfall«, sagte er. »Zuerst stand mein Name auf dem Paket. Entweder wollte mich der Täter aus der Fassung bringen, indem er mir zeigt, dass er deinen Namen kennt, oder aber er will dich so sehr einschüchtern, dass du hinwirfst.«

»Ich lasse mich aber nicht einschüchtern.«

»Robin, dies ist der falsche Zeitpunkt, um die Heldin zu spielen. Der Täter will uns klarmachen, dass er mit meiner Vergangenheit vertraut ist, dass er deinen Namen kennt und dass er spätestens seit heute Morgen auch weiß, wie du aussiehst. Er hat dich aus nächster Nähe gesehen. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Offensichtlich hast du keine sonderlich hohe Meinung von meinen Gegenobservationsfähigkeiten.«

»Immerhin habe ich dich in den besten Kurs geschickt, der verflucht noch mal aufzutreiben war«, hielt Strike dagegen. »Und ich hab das exzellente Abschlusszeugnis gelesen, das du mir unter die Nase gehalten hast …«

»Dann glaubst du also, dass es mit meiner Selbstverteidigung nicht weit her wäre.«

»Ich hab dich noch nie in Aktion gesehen. Da muss ich mich wohl oder übel auf dein Wort verlassen.«

»Habe ich dich bezüglich meiner Qualifikationen jemals angelogen?«, fragte Robin beleidigt, und Strike musste ihr gegenüber eingestehen, dass dies nie der Fall gewesen war. »Na also. Ich werde keine unnötigen Risiken eingehen. Schließlich hast du mir beigebracht, wie man nach verdächtigen Personen Ausschau hält. Und außerdem kannst du es dir nicht leisten, mich zu beurlauben. Wir schaffen es auch so schon kaum, all unsere Fälle zu bearbeiten.«

Strike seufzte und verbarg sein Gesicht hinter den großen, behaarten Handrücken.

»Aber du arbeitest nur noch tagsüber und hast ab sofort immer einen Handalarm bei dir«, sagte er. »Und zwar einen vernünftigen.«

»Einverstanden«, sagte sie.

»Und ab nächsten Montag übernimmst du sowieso den Fall Radford«, sagte er – ein Gedanke, der ihn halbwegs beruhigte. Radford, ein reicher Geschäftsmann, verdächtigte einen seiner Abteilungsleiter krimineller Umtriebe. Um diesen zu überführen, hatte er vorgeschlagen, einen als Teilzeitkraft getarnten Privatermittler in sein Büro einzuschleusen. Dafür kam ohnehin nur Robin infrage, nachdem Strike, der in der Vergangenheit zwei aufsehenerregende Mordfälle gelöst hatte, inzwischen bekannt war wie ein bunter Hund. Während der Detektiv sein drittes Pint leerte, dachte er darüber nach, wie er Radford davon überzeugen sollte, Robins Arbeitsstunden aufzustocken. In Radfords palastähnlichem Bürogebäude wäre sie so zumindest tagsüber sicher aufgehoben, solange der Wahnsinnige, der ihnen das Bein geschickt hatte, noch auf freiem Fuß war.

Unterdessen kämpfte Robin gegen die Erschöpfung und vereinzelte Übelkeitsanfälle an. Erst der Streit, zu wenig Schlaf, der grässliche Anblick des abgetrennten Beins – und jetzt musste sie auch noch nach Hause fahren und sich vor Matthew einmal mehr dafür rechtfertigen, weshalb sie für ein derart mickriges Gehalt einen so gefährlichen Beruf ausübte. Matthew, einst ihr Halt und Trost, kam ihr mittlerweile nur mehr wie ein weiteres Hindernis vor.

Unwillkürlich und widerwillig sah sie erneut das kalte, abgehackte Bein in dem Pappkarton vor sich. Würde sie es je vergessen können? Ihre Fingerspitzen, die damit in Berührung gekommen waren, prickelten unangenehm. Instinktiv ballte sie die Hand im Schoß zur Faust.

5

Hell’s built on regret.

BLUE ÖYSTER CULT, »THE REVENGE OF VERA GEMINI« TEXT VON PATTI SMITH

Viel später, nachdem er Robin sicher zur U-Bahn gebracht hatte, kehrte Strike ins Büro zurück und setzte sich tief in Gedanken versunken auf ihren Stuhl.

Er hatte im Leben schon zahlreiche grässlich zugerichtete Leichen gesehen. Verwesend in Massengräbern, in Stücke zerrissen im Straßengraben: abgetrennte Gliedmaßen, zerquetschtes Fleisch, zermalmte Knochen. Unnatürliche Todesfälle waren das tägliche Brot der Special Investigation Branch, der zivilen Abteilung der Militärpolizei. Strike und seine Kollegen hatten darauf nicht selten mit Humor reagiert. Nur so wurde man mit dem Anblick der verstümmelten Toten fertig. Ein gewaschener, geschminkter Leichnam in einer mit Satin ausgeschlagenen Kiste war ein Luxus, den sich die SIB nicht leisten konnte.

Apropos Kiste: Der Karton, in dem das Bein gelegen hatte, war völlig unscheinbar gewesen. Strike hatte nicht den geringsten Hinweis auf seine Herkunft erkennen können, keinen vorherigen Empfänger, nichts. Das Ganze war peinlich genau durchdacht gewesen – und genau das beunruhigte ihn viel mehr als das Bein an sich, so makaber das auch sein mochte. Was ihm eher Sorgen bereitete, war der sorgfältige, akribische, beinahe klinische Modus Operandi des Täters.

Strike sah auf die Uhr. Er war für heute Abend mit Elin verabredet. Im Lauf der nun schon zwei Monate andauernden Beziehung war er Zeuge ihres Scheidungsprozesses geworden, der mit dem kalkulierten Risiko einer Schachpartie unter Großmeistern geführt wurde. Ihr Noch-Ehemann war überaus gut betucht, was Strike erst in jener Nacht klar geworden war, da er zum ersten Mal ihr geräumiges, mit Parkett ausgelegtes Apartment mit Ausblick auf den Regent’s Park betreten hatte. Sie konnten sich nur sehen, wenn Elins fünfjährige Tochter beim Vater weilte, und weil Elin vermeiden wollte, dass ihr Mann von ihrer neuen Beziehung Wind bekam, suchten sie für gewöhnlich die ruhigeren und etwas abgelegeneren Restaurants der Hauptstadt auf – was Strike nur recht sein konnte. Dass er die Abendstunden, die andere Leute der trauten Zweisamkeit widmeten, oft mit der Observation untreuer Ehepartner zubrachte, hatte für alle seine bisherigen Beziehungen eine Zerreißprobe dargestellt. Außerdem verspürte er gar keine große Lust darauf, Elins Tochter näher kennenzulernen. In diesem Punkt war er aufrichtig zu Robin gewesen: Er konnte wirklich nicht besonders gut mit Kindern umgehen.

Er griff nach seinem Handy. Bevor er aufbrach, gab es noch einige Dinge zu erledigen.

Der erste Anruf landete direkt auf der Mailbox. Er hinterließ Graham Hardacre, seinem ehemaligen Kollegen bei der Special Investigation Branch, eine Nachricht mit der Bitte, ihn zurückzurufen. Strike wusste nicht einmal, wo Hardacre gegenwärtig stationiert war. Als sie sich zuletzt unterhalten hatten, war er kurz davor gewesen, aus Deutschland wegversetzt zu werden.

Zu Strikes Enttäuschung wurde auch sein zweiter Anruf nicht beantwortet, der einem alten Freund gegolten hätte, dessen berufliche Laufbahn sich in die mehr oder weniger entgegengesetzte Richtung zu der Hardacres entwickelt hatte. Strike hinterließ eine beinahe wortgleiche Nachricht und legte auf.

Dann rutschte er näher an Robins Schreibtisch heran, schaltete ihren Computer ein und starrte auf die Startseite des Browsers, ohne sie richtig wahrzunehmen. Völlig gegen seinen Willen konnte er an nichts anderes denken als an seine nackte Mutter. Wer wusste von der Tätowierung? Ihr Ehemann natürlich sowie die vielen anderen Männer in ihrem Leben, dazu alle, die sie in den vielen besetzten Häusern und schmuddeligen Kommunen nackt gesehen hatten, in denen sie im Lauf der Zeit gehaust hatten. Im Tottenham war ihm außerdem noch eine weitere Möglichkeit eingefallen, die er Robin allerdings vorenthalten hatte: dass Leda irgendwann einmal für Nacktfotos posiert haben könnte. Es wäre ihr auf jeden Fall zuzutrauen gewesen.

Seine Finger schwebten kurz über der Tastatur. Er kam gerade bis zu Leda Strike nack – und hieb dann wütend mit dem Zeigefinger auf die Löschtaste. Es gab gewisse Dinge, die ein geistig gesunder Mann wohl besser ruhen ließ, bestimmte Phrasen, die er nicht im Suchverlauf seines Browsers hinterlassen wollte. Dummerweise aber auch Aufgaben, die er nur ungern an andere delegierte.

Er starrte den leidenschaftslos blinkenden Cursor im Suchfeld an, dann tippte er wie immer im Adlersuchsystem: Donald Laing.

Donald Laings gab es diverse – vorwiegend in Schottland. Strike schloss all jene aus, die während Laings Inhaftierung Miete bezahlt hatten oder wählen gegangen waren. Nachdem er diese Kandidaten sorgfältig eliminiert hatte, blieb nur mehr ein Mann übrig, der in etwa in Laings Alter war. Er hatte im Jahr 2008 offenbar bei einer gewissen Lorraine MacNaughton in Corby gewohnt. Inzwischen war nur noch sie dort registriert.

Er löschte Laings Namen und gab stattdessen Noel Brockbank in die Suchmaske ein. Männer dieses Namens waren in Großbritannien zwar nicht annähernd so zahlreich vertreten wie Donald Laings, trotzdem führte Strikes Recherche in eine Sackgasse. Er fand einen N. C. Brockbank, der 2006 als allein lebend in Manchester registriert gewesen war. Augenscheinlich hatte er sich von seiner Frau getrennt. Strike wusste nicht recht, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war …

ENDE DER LESEPROBE