Weißer Tod - Robert Galbraith - E-Book
SONDERANGEBOT

Weißer Tod E-Book

Robert Galbraith

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Finsterer als die düstersten Ecken Londons ... Der vierte Fall aus der Feder von Robert Galbraith, dem Pseudonym von J.K. Rowling!

Ein verstörter junger Mann bittet den privaten Ermittler Cormoran Strike um Hilfe bei der Aufklärung eines Verbrechens, das er – so glaubt er – als Kind mit angesehen hat. Strike ist beunruhigt: Billy hat offensichtlich psychische Probleme und kann sich nur an wenig im Detail erinnern, doch er wirkt aufrichtig. Bevor Strike ihn allerdings ausführlich befragen kann, ergreift der Mann panisch die Flucht. Um Billys Geschichte auf den Grund zu gehen, folgen Strike und Robin Ellacott – einst seine Assistentin, jetzt seine Geschäftspartnerin – einer verschlungenen Spur, die sie durch die zwielichtigen Ecken Londons, in die oberen Kreise des Parlaments und zu einem prachtvollen, doch düsteren Herrenhaus auf dem Land führt. Zugleich verläuft auch Strikes eigenes Leben alles andere als gradlinig: Er hat es als Ermittler zu Berühmtheit gebracht und kann sich nicht länger unauffällig hinter den Kulissen bewegen. Noch dazu ist das Verhältnis zu seiner früheren Assistentin schwieriger denn je – zwar ist Robin für ihn geschäftlich mittlerweile unersetzlich, ihre private Beziehung ist jedoch viel komplizierter …

Sie sind Fan des außergewöhnlichen Ermittlerduos Ellacott und Strike? Dann lesen Sie auch die anderen Romane der SPIEGEL-Bestsellerreihe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1054

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Ein verstörter junger Mann bittet den privaten Ermittler Cormoran Strike um Hilfe bei der Aufklärung eines Verbrechens, das er – so glaubt er – als Kind mit angesehen hat. Strike ist beunruhigt: Billy hat offensichtlich psychische Probleme und kann sich nur an wenig im Detail erinnern, doch er wirkt aufrichtig. Bevor Strike ihn allerdings ausführlich befragen kann, ergreift der Mann panisch die Flucht. Um Billys Geschichte auf den Grund zu gehen, folgen Strike und Robin Ellacott – einst seine Assistentin, jetzt seine Geschäftspartnerin – einer verschlungenen Spur, die sie durch die zwielichtigen Ecken Londons zu einem geheimen exklusiven Zirkel innerhalb des Parlaments und einem prachtvollen, doch düsteren Herrenhaus auf dem Land führt. Zugleich verläuft auch Strikes eigenes Leben alles andere als gradlinig: Er hat es als Ermittler zu Berühmtheit gebracht und kann sich nicht länger unauffällig hinter den Kulissen bewegen. Noch dazu ist das Verhältnis zu seiner früheren Assistentin schwieriger denn je – zwar ist Robin für ihn geschäftlich mittlerweile unersetzlich, ihre private Beziehung ist jedoch viel komplizierter …

Der Autor

Robert Galbraith ist das Pseudonym von J.K. Rowling, Autorin der Harry-Potter-Reihe und des Romans »Ein plötzlicher Todesfall«. Die ersten drei Cormoran-Strike-Romane, »Der Ruf des Kuckucks«, »Der Seidenspinner« und »Die Ernte des Bösen«, erklommen die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten und wurden für BBC One als große TV-Serie verfilmt, produziert von Brontë Film and Television.

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

ROBERT

GALBRAITH

WEISSER

TOD

Ein Fall für Cormoran Strike

Deutsch von Wulf Bergner, Christoph Göhler und Kristof Kurz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Lethal White bei Sphere, an Imprint of Little, Brown Book Group, London.
Copyright der Originalausgabe © J. K. Rowling 2018 The moral right of the author has been asserted.
All characters and events in this publication, other than those clearly in the public domain, are fictitious and any resemblance to real persons, living or dead, is purely conincidental.
All rights reserved.
No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, without the prior permission in writing of the publisher, nor be otherwise circulated in any form of binding or cover other than that in which it is published and without a similar condition including this condition being imposed on the subsequent purchaser. Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Leena Flegler Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage Umschlagdesign und Fotografie: Duncan Spilling © Little, Brown Book Group Ltd 2018 zusätzliche Textur: © Arigato/Shutterstock.com AF · Herstellung: sam Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-24164-3V003
www.blanvalet.de

Für Di und Roger und zum Gedenken an den lieben weißen Spike

PROLOG

Glück, liebe Rebekka, Glück ist zuerst und vor allen Dingen das stille, frohe, sichere Gefühl der Schuldlosigkeit.

HENRIK IBSEN, ROSMERSHOLM

Das Bild wäre der Höhepunkt im Schaffen des Hochzeitsfotografen gewesen, doch die beiden Schwäne weigerten sich standhaft, Seite an Seite über den dunkelgrünen See zu schwimmen.

Das weiche Licht, das durchs Blätterdach fiel, verwandelte die Braut mit ihren locker gedrehten rotgoldenen Locken in einen präraffaelitischen Engel und betonte die markanten Wangenknochen des Bräutigams, sodass der Fotograf die beiden nur ungern an eine andere Stelle beordern wollte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal ein so schönes Ehepaar fotografiert hatte. Bei Mr. und Mrs. Matthew Cunliffe bedurfte es keiner taktvollen Tricks – weder musste er die Braut so positionieren, dass man die Fettwülste am Rücken nicht sah (wenn überhaupt, war sie eher zu dünn, was jedoch für das Foto nur von Vorteil sein konnte), noch dem Bräutigam vorschlagen, »es mal mit geschlossenem Mund zu versuchen«, denn Mr. Cunliffes Zähne waren weiß und ebenmäßig. Das Einzige, was aus den Bildern herausretuschiert werden müsste, wäre die hässliche rotviolette Narbe, die sich deutlich auf dem Unterarm der Braut abzeichnete. Selbst die Wundnähte waren noch zu erkennen.

Als der Fotograf an diesem Morgen bei ihren Eltern eingetroffen war, hatte sie einen Armschutz aus elastischem Gummi getragen. Daher war er auf den Anblick der Wunde nicht vorbereitet gewesen und hatte sich gehörig erschreckt. Er hatte sogar einen missglückten Selbstmordversuch kurz vor der Hochzeit vermutet. Nach zwanzig Jahren im Geschäft wunderte einen nichts mehr.

»Eine Messerattacke«, hatte Mrs. Cunliffe erklärt – oder Robin Ellacott, wie sie vor zwei Stunden noch geheißen hatte, woraufhin der Fotograf, eine eher zartbesaitete Natur, das Bild der Klinge, die sich in das weiche, blasse Fleisch gebohrt hatte, nicht mehr aus dem Kopf bekam. Zum Glück lag die hässliche Narbe nun im Schatten des Straußes aus cremefarbenen Rosen, den Mrs. Cunliffe in der Hand hielt.

Diese verdammten Schwäne. Wenn sie sich doch verzogen hätten. Stattdessen tauchte einer ständig ab und präsentierte sein Hinterteil, das wie ein flauschiger, pyramidenförmiger Eisberg aus der Mitte des Sees ragte. Die Wellen, die er dabei erzeugte, würden nicht ganz so einfach digital zu beseitigen sein, wie der junge Mr. Cunliffe, der den Vorschlag gemacht hatte, vielleicht glaubte. Der zweite Schwan lungerte unterdessen in Ufernähe herum: ruhig, elegant und fest entschlossen, außerhalb des Bildes zu bleiben.

»Fertig?«, fragte die Braut, deren Ungeduld deutlich zu spüren war.

»Schätzchen, du siehst klasse aus«, sagte Geoffrey, der Vater des Bräutigams, der hinter dem Fotografen stand. Er lallte schon leicht. Die Eltern der Brautleute, der Trauzeuge und die Brautjungfern warteten in der Nähe im Schatten der Bäume. Die jüngste der Brautjungfern, noch ein Kleinkind, musste wiederholt davon abgehalten werden, Kieselsteine ins Wasser zu werfen. Sie fing an zu quengeln, woraufhin die Mutter leise, aber in scharfem Ton auf sie einredete.

»Fertig?«, fragte Robin abermals, ohne ihrem Schwiegervater Beachtung zu schenken.

»So gut wie«, log der Fotograf. »Drehen Sie sich bitte noch ein Stückchen zu ihm … Sehr gut, Robin. Und jetzt schön lächeln. Lächeln – und bitte!«

Die Anspannung, die von dem Brautpaar ausging, war bestimmt nicht allein den unkooperativen Schwänen zuzuschreiben. Doch das war dem Fotografen egal, er war ja kein Eheberater. Er hatte mehrmals erlebt, wie sich Brautleute anschrien, noch ehe er seinen Belichtungsmesser gezückt hatte. Einmal hatte eine Braut während der eigenen Hochzeitsfeier die Flucht ergriffen. Unvergessen war auch das verschwommene Foto aus dem Jahr 1998, das den Bräutigam zeigte, wie er dem Trauzeugen einen Kopfstoß verpasste. Damit erheiterte er selbst heute noch gelegentlich seine Freunde.

Die Cunliffes mochten gut aussehen; ihrer Ehe dagegen räumte er keine allzu lange Lebensdauer ein. Die Narbe auf dem Arm der Braut war ihm von Anfang an suspekt vorgekommen – ein schlechtes, hässliches Omen.

»Das muss reichen«, sagte der Bräutigam unvermittelt und ließ Robin los. »Wir haben doch genug Bilder, oder?«

»Moment, Moment, der andere Schwan schwimmt gerade los!«, rief der Fotograf verärgert.

Im selben Augenblick, da Matthew Robin losgelassen hatte, war der Schwan vom entfernten Ufer auf seinen Gefährten zugeschwommen.

»Egal«, sagte Robin und raffte den langen Rock ihres Hochzeitskleids zusammen, für das ihre Schuhe ganz offenkundig zu flach waren. »Da war doch bestimmt ein schönes Bild dabei.«

Sie marschierte aus dem Schatten der Bäume in den strahlenden Sonnenschein und dann über die Rasenfläche auf das zu einem Hotel umfunktionierte Schloss aus dem siebzehnten Jahrhundert zu, wo sich die meisten Hochzeitsgäste bereits versammelt hatten und bei einem Glas Champagner die Aussicht bewunderten.

»Wahrscheinlich tut ihr der Arm wieder weh«, teilte die Brautmutter dem Vater des Bräutigams mit.

Blödsinn, dachte der Fotograf mit einem leichten Anflug von Schadenfreude. Sie haben sich im Auto gestritten.

Im Konfettiregen beim Verlassen der Kirche hatte das Paar noch halbwegs glücklich gewirkt. Bei der Ankunft im Schlosshotel hingegen waren ihre Mienen finster vor Wut gewesen.

»Das wird schon wieder. Braucht nur einen Drink«, sagte Geoffrey gutmütig. »Matt, geh und leiste ihr Gesellschaft.«

Eilig schloss Matthew zu seiner über den Rasen stöckelnden Braut auf. Die übrige Hochzeitsgesellschaft folgte ihnen. Die mintgrünen Chiffonkleider der Brautjungfern flatterten in der warmen Brise.

»Robin, wir müssen reden.«

»Ja?«

»Bleib mal kurz stehen.«

»Wenn ich stehen bleibe, holen uns die anderen ein.«

Matthew sah sich um. Sie hatte recht.

»Robin …«

»Fass meinen Arm nicht an!«

Die Wunde pochte schmerzhaft in der Hitze. Robin hätte gern den Gummischutz übergezogen, doch der lag unerreichbar in ihrer Tasche in der Hochzeitssuite, wo immer die sein mochte.

Inzwischen waren die Gäste im Schatten des Hotels deutlicher zu erkennen. Die Damen waren anhand ihrer Hüte leicht auseinanderzuhalten – Matthews Tante Sue trug ein knallblaues Exemplar von den Ausmaßen eines Wagenrads, Robins Schwägerin Jenny ein merkwürdiges Gebilde aus gelben Federn –, während die männlichen Gäste zu einer konformen Masse aus dunklen Anzügen verschmolzen. Ob Cormoran Strike ebenfalls da war, konnte sie nicht erkennen.

»Jetzt bleib doch mal stehen!«

Mittlerweile hatten sie einen komfortablen Vorsprung vor dem Rest der Familie, die ihr Tempo dem von Matthews kleiner Nichte angepasst hatte.

Robin hielt inne.

»Ich war einfach schockiert, ihn zu sehen, mehr nicht«, erklärte Matthew.

»Glaubst du vielleicht, es war meine Idee, dass er in den Gottesdienst platzt und die Blumen umschmeißt?«, gab Robin zurück.

Matthew hätte ihr beinahe Glauben geschenkt, wäre da nicht das Schmunzeln gewesen, das sie verzweifelt zu unterdrücken versuchte. Die Freude in ihrem Gesicht, als ihr ehemaliger Chef die Trauung gestört hatte, hatte er nicht vergessen. Und würde er ihr je verzeihen können, dass sie bei den Worten »Ja, ich will« den Blick nicht auf ihn, ihren Ehemann, sondern auf Cormoran Strikes große, grobschlächtige Gestalt gerichtet hatte? In der Kirche hatten alle mitbekommen, wie sie ihn angestrahlt hatte.

Allmählich holte die Familie auf. Matthew legte seine Hand sanft ein paar Zentimeter über der Wunde auf Robins Oberarm, schob sie vor sich her, und sie ließ es geschehen – wahrscheinlich nur, wie er insgeheim dachte, weil sie auf diese Weise hoffentlich Strike näher kam.

»Ich hab es dir schon im Auto gesagt. Wenn du wieder für ihn arbeiten willst …«

»… bin ich eine ›verdammte Idiotin‹.«

Langsam, aber sicher konnte Robin die auf der Terrasse versammelten Männer voneinander unterscheiden. Strike war nirgends zu sehen. Dabei war er so groß, dass er selbst ihre Brüder und die Onkel überragt hätte, von denen keiner weniger als einen Meter achtzig maß. Ihre Laune, die sich bei Strikes Erscheinen zu einem Höhenflug aufgeschwungen hatte, trudelte jetzt wie ein regennasses Küken dem Boden entgegen. Anscheinend hatte er sich abgeseilt, als die übrige Hochzeitsgesellschaft in Kleinbussen zum Hotel aufgebrochen war. Überhaupt war sein Auftauchen nur eine Geste des guten Willens gewesen, nichts weiter. Er hatte sie nicht wieder einstellen, sondern ihr lediglich zum neuen Lebensabschnitt gratulieren wollen.

»Hör mal«, sagte Matthew jetzt etwas versöhnlicher. Offenbar hatte auch er einen Blick auf die Menge geworfen und war, als er Strike nicht entdeckt hatte, zu dem gleichen Schluss gekommen. »Was ich im Auto sagen wollte: Es ist letztlich deine Entscheidung, Robin. Aber er will dich ja sowieso … Ich meine – für den Fall, dass er dich zurückhaben will … Verflucht, ich mache mir doch nur Sorgen um dich! Für ihn zu arbeiten war ja nicht gerade ungefährlich, oder?«

»Nein.« Die Stichwunde pochte. »Ungefährlich war es nicht.« Dann drehte sie sich um und wartete auf ihre Eltern und die übrigen Familienmitglieder. Der süße Duft des warmen Rasens kitzelte sie in der Nase, und die Sonne brannte auf ihre nackten Schultern herab.

»Willst du zu Tante Robin?«, fragte Matthews Schwester, woraufhin die kleine Grace gehorsam Robins Arm packte und daran zog, was einen Schmerzenslaut zur Folge hatte. »Oh, das tut mir so leid, Robin! Gracie, lass los!«

»Champagner!«, rief Geoffrey und schob die Braut mit seinem Arm um ihre Schultern auf die wartende Gästeschar zu.

Wie man es in dem exklusiven Schlosshotel erwarten durfte, war und roch die Herrentoilette blitzsauber. Am liebsten hätte Strike sich mit einem Pint in eine der kühlen, stillen Toilettenkabinen verzogen, doch das hätte den Eindruck des abgehalfterten Alkoholikers, der geradewegs aus dem Gefängnis zur Hochzeit gekommen war, nur noch verstärkt. An der Rezeption war seine Beteuerung, zur Hochzeitsgesellschaft Cunliffe-Ellacott zu gehören, auf kaum verhohlene Skepsis gestoßen.

Selbst in unversehrtem Zustand war der große, dunkelhaarige Strike mit seiner Boxernase und der von Natur aus griesgrämigen Miene eine einschüchternde Erscheinung. Heute sah er aus, als wäre er geradewegs aus dem Ring gestiegen. Seine Nase war gebrochen, hatte sich violett verfärbt und war auf die doppelte Größe angeschwollen. Die Augen waren gerötet und verquollen, ein Ohr entzündet und frisch vernäht, wie an dem schwarzen Faden deutlich zu erkennen war. Gnädigerweise verbarg ein Verband die Schnittwunde in seiner Handfläche. Der gute Anzug, der bei seinem letzten Einsatz einen Weinfleck abbekommen hatte, war verknittert. Immerhin hatte er es geschafft, vor der Abfahrt nach Yorkshire zwei zueinanderpassende Schuhe herauszusuchen.

Strike gähnte, schloss die schmerzenden Augen und lehnte den Kopf gegen die kühle Trennwand. Er war so müde, dass er auf der Stelle noch auf der Toilette hätte einschlafen können. Doch das durfte er sich nicht erlauben. Er musste Robin sprechen, sie bitten – sie anflehen, wenn nötig –, ihm die Kündigung zu verzeihen und wieder zur Arbeit zu kommen. Als sich vorhin in der Kirche ihre Blicke getroffen hatten, war da nicht Erleichterung in ihrem Gesicht zu erkennen gewesen? Während sie, bei Matthew untergehakt, an ihm vorbeigeschritten war, hatte sie ihn eindeutig freudestrahlend angelächelt – und zwar so freudestrahlend, dass er zurück zu seinem Kumpel Shanker gelaufen war, der jetzt auf dem Parkplatz in ihrem eigens für die Fahrt geborgten Mercedes ein Nickerchen hielt, und ihn gebeten hatte, den Kleinbussen von der Kirche zum Schlosshotel zu folgen.

Strike wollte weder zum Festessen noch zu den anschließenden Reden bleiben; deshalb hatte er auch auf die Einladung, die er – vor der Kündigung – erhalten hatte, gar nicht erst reagiert. Er würde bloß ganz kurz ungestört mit Robin reden müssen, aber das schien unmöglich zu sein. Strike hatte völlig vergessen, wie es auf Hochzeiten zuging. Während er auf der überfüllten Terrasse nach Robin Ausschau gehalten hatte, hatte er die Blicke aus hundert neugierigen Augenpaaren auf sich gespürt. Er lehnte den angebotenen Champagner ab – ein Getränk, gegen das er ohnehin eine Abneigung hatte – und wandte sich zur Bar, um sich dort ein Pint zu holen. Ein dunkelhaariger junger Mann, der Robin vor allem um Mundpartie und Stirn herum auffällig ähnlich sah, folgte ihm mitsamt einer Horde ebenso neugieriger Gleichaltriger.

»Du bist Strike, oder?«

Der Detektiv nickte.

»Martin Ellacott«, stellte sich sein Gegenüber vor. »Ich bin Robins Bruder.«

»Freut mich.« Strike hob die Hand, um ihm zu signalisieren, dass sie sich nicht ohne Schmerzen würde schütteln lassen. »Weißt du, wo sie gerade steckt?«

»Sie lassen Hochzeitsfotos machen«, antwortete Martin und hielt sein iPhone in die Höhe. »Du bist in den Nachrichten. Du hast den Shacklewell Ripper geschnappt.«

»Yeah«, sagte Strike. »Stimmt.«

Trotz der frischen Schnittwunden an Handfläche und Ohr kam es ihm vor, als lägen jene turbulenten und blutigen Ereignisse von vor zwölf Stunden schon jetzt eine Ewigkeit zurück. Das Schlosshotel kam für ihn einer anderen Wirklichkeit gleich – so groß war der Unterschied zum schäbigen Versteck des Killers.

Eine Frau, deren türkisfarbener Kopfputz im weißblonden Haar auf und ab wippte, hatte die Bar betreten. Sie hatte abwechselnd zu dem Detektiv und auf das Handy in ihrer Hand geblickt und den leibhaftigen Strike ganz offensichtlich mit einem Foto auf dem Display verglichen.

»Entschuldigung, ich muss mal«, hatte Strike gemurmelt und Reißaus genommen, ehe jemand ihn ansprechen konnte. Nachdem er das Personal an der Rezeption von der Rechtmäßigkeit seiner Anwesenheit überzeugt hatte, war er zur Toilette geflüchtet.

Gähnend sah er auf die Uhr. Die Fotos mussten doch längst im Kasten sein. Weil die Wirkung der Schmerzmittel, die er im Krankenhaus bekommen hatte, schon vor einer Weile nachgelassen hatte, verzog er beim Aufstehen das Gesicht. Dann entriegelte er die Kabinentür und kehrte zu den neugierigen Fremden zurück.

Am gegenüberliegenden Ende des leeren Speisesaals hatte ein Streichquartett Platz genommen und fing an zu spielen, während die Gäste sich in einer Schlange aufstellten, um vor dem Brautpaar zu defilieren. Irgendwann während der Hochzeitsvorbereitungen hatte sie das wohl abgenickt. Robin hatte so viele Entscheidungen anderen überlassen, dass sie sich im Lauf der Feier ständig mit kleineren Überraschungen konfrontiert sah. Zum Beispiel hatte sie völlig vergessen, dass die Fotos vor dem Hotel und nicht vor der Kirche gemacht werden sollten. Deshalb waren sie nach dem Gottesdienst auch sofort in den Mercedes gestiegen und davongefahren, sodass sie keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, mit Strike zu sprechen und ihn zu bitten – ihn anzuflehen, wenn nötig –, sie wieder einzustellen. Dann war er ohne ein Wort verschwunden. Würde sie den Mut aufbringen oder ihren Stolz auch nur halbwegs hinunterschlucken können, um ihn anzurufen und um ihren Job zu betteln?

Nach dem sonnigen Schlossgarten kam ihr der Raum mit der Holzverkleidung, den Brokatvorhängen und Ölgemälden geradezu düster vor. In der Luft hing der schwere Duft der Blumengestecke; Gläser und Silberbesteck glänzten auf schneeweißen Tischdecken. Das Streichquartett, dessen erstes Stück laut durch den holzvertäfelten Raum gehallt hatte, wurde allmählich von den eintreffenden Gästen übertönt, die sich unter dem Einfluss von Champagner und Bier plaudernd und lachend auf dem Treppenabsatz versammelten.

»Jetzt geht’s los!«, rief Geoffrey, dem die Feier mit Abstand am meisten Spaß zu machen schien. »Immer angetreten!«

Robin bezweifelte, dass Geoffrey seiner Überschwänglichkeit derart Ausdruck verliehen hätte, wenn Matthews Mutter noch am Leben gewesen wäre. Die kürzlich verstorbene Mrs. Cunliffe war eine Meisterin des kühlen Seitenblicks und der unauffälligen Zurechtweisung gewesen. Sue, die Schwester der Verblichenen, die sich an der Spitze der Schlange eingereiht hatte, beglückwünschte Robin leicht unterkühlt, da man ihr das Privileg verwehrt hatte, am Tisch des Brautpaars zu sitzen.

»Alles Gute, Robin«, sagte sie und küsste die Luft neben Robins Ohr. Robin, die sich elend, enttäuscht und schuldig fühlte, weil sie nicht glücklicher war, spürte mit einem Mal, wie wenig ihre neue Schwiegertante sie leiden konnte. »Schönes Kleid«, sagte Sue noch, während ihr Blick längst auf dem blendend aussehenden Matthew ruhte. »Hätte deine Mutter doch nur …«

Mit einem Schluchzen vergrub sie das Gesicht in einem Taschentuch, das sie zu diesem Zweck bereits in der Hand gehalten hatte.

Weitere Freunde und Verwandte drängten sich, lächelnd, Küsschen verteilend und Hände schüttelnd, an Robin vorbei. Geoffrey sorgte für eine gewisse Verzögerung, indem er jeden, der sich nicht wehrte, aufs Herzlichste umarmte.

»Dann ist er doch gekommen«, flüsterte Robins Lieblingscousine Katie. Dass sie hochschwanger war, hatte sie von ihren Brautjungfernpflichten entbunden. Der Geburtstermin war ausgerechnet für den heutigen Tag berechnet worden, und Robin staunte, dass Katie überhaupt noch gehen konnte. Als sie sich vorbeugte, um ihr ein Küsschen zu geben, spürte Robin, dass deren Bauch hart wie eine Wassermelone war.

»Wer ist gekommen?«, fragte Robin, als Katie beiseitetrat und Matthew umarmte.

»Dein Chef. Strike. Martin hat ihn schon in Beschlag genommen und …«

»Katie, ich glaube, du sitzt da drüben«, sagte Matthew und deutete auf einen Tisch in der Mitte des Raums. »Da kannst du dich ausruhen. Die Hitze macht dir bestimmt zu schaffen, oder?«

Die nächsten Gäste in der Schlange nahm Robin kaum mehr wahr. Wie in Trance bedankte sie sich für die Glückwünsche, ohne den Blick von der Eingangstür abzuwenden. Sollte das heißen, dass Strike mit zum Hotel gekommen war? Würde er gleich hier auftauchen? Wo hatte er dann gerade gesteckt? Sie hatte ihn überall gesucht – auf der Terrasse, im Eingangsbereich, an der Bar. Der Hoffnungsfunken flackerte auf und erlosch sofort wieder. Martin konnte gelegentlich recht taktlos sein. Womöglich hatte er ihn verscheucht? Doch das kam ihr unwahrscheinlich vor; immerhin hatte Strike ein dickes Fell. Wieder erlaubte sie es sich zu hoffen, und in diesem Wechselbad aus Erwartung und Enttäuschung wollte ihr eine Vorspiegelung konventioneller Hochzeitstagsgefühle schlichtweg nicht mehr gelingen – sehr zu Matthews Enttäuschung, der dies sehr wohl registrierte.

»Martin!«, rief Robin erfreut, als ihr Bruder, der bereits drei Pints zu viel intus hatte, im Kreis seiner Freunde erschien.

»Du hast es schon gehört, oder?« Er hielt sein Handy in die Höhe. Er meinte es als rein rhetorische Frage – Martin hatte bei einem Freund übernachtet, da sein Zimmer für Verwandte aus dem Süden gebraucht worden war.

»Was denn?«

»Dass er gestern Nacht den Ripper geschnappt hat.«

Martin hielt ihr das Telefon hin. Robin keuchte überrascht, als sie dort endlich den Namen des Rippers las. Die Wunde, die ihr der Mann am Unterarm zugefügt hatte, fing wieder an zu pochen.

»Ist er noch hier?«, fragte Robin rundheraus. »Strike? Mart, wollte er noch bleiben?«

»Herrgott noch mal«, murmelte Matthew.

»Entschuldige«, sagte Martin, der Matthews Ärger bemerkt hatte, »ich halte alles auf …« Dann trollte er sich.

Robin wandte sich zu Matthew um. Wie mittels einer Wärmebildkamera sah sie ihn vor Schuldgefühlen glühen.

»Du wusstest es«, sagte sie und schüttelte einer Großtante, die sich eigentlich für ein Wangenküsschen vorgebeugt hatte, unachtsam die Hand.

»Was wusste ich?«, knurrte er.

»Dass Strike den Ripper …«

Als Nächstes beanspruchte Matthews Exkommilitone und derzeitiger Kollege Tom mitsamt seiner Verlobten Sarah ihre Aufmerksamkeit. Trotzdem behielt Robin auf der Suche nach Strike ständig die Tür im Blick und bekam so gut wie nichts davon mit, was Tom erzählte.

»Du wusstest es«, wiederholte Robin, sobald Tom und Sarah sich entfernt hatten und eine kurze Pause entstand, weil Geoffrey einen Cousin aus Kanada begrüßte. »Oder etwa nicht?«

»Kann sein, dass ich es heute Morgen in den Nachrichten gehört habe«, murmelte Matthew. Dann verfinsterte sich seine Miene, als er über Robins Kopf hinweg zur Tür blickte. »Wie es aussieht, kriegst du deinen Willen. Da ist er.«

Robin drehte sich um. Strike betrat den Raum. In seinem stoppeligen Gesicht leuchtete ein Veilchen, ein Ohr war angeschwollen und allem Anschein nach mit mehreren Stichen genäht worden. Als sich ihre Blicke trafen, hob er die bandagierte Hand und versuchte sich an einem reumütigen Lächeln, das jedoch sofort in ein schmerzhaftes Zusammenzucken überging.

»Robin«, sagte Matthew. »Hör mal, du musst …«

»Später«, sagte sie mit einer Begeisterung, die sie an diesem Tag bislang hatte vermissen lassen.

»Bevor du mit ihm sprichst, muss ich dir noch was sagen …«

»Matt, bitte, kann das nicht warten?«

Strike, dessen Verletzung kein Händeschütteln erlaubte, konnte die Verwandtschaft ungehindert passieren, indem er die bandagierte Hand vor sich hielt und sich an der Menge vorbeizwängte. Geoffrey starrte ihn wütend an, und sogar Robins Mutter, die ihn bei ihrer ersten und bisher einzigen Begegnung eigentlich ganz nett gefunden hatte, konnte sich selbst dann nicht zu einem Lächeln durchringen, als er sie namentlich begrüßte. Alle Augen schienen auf ihn gerichtet zu sein.

»Ein weniger dramatischer Auftritt hätte es auch getan«, sagte Robin lächelnd, als er endlich vor ihr stand. Unter Schmerzen verzog er das ramponierte Gesicht zu einem Grinsen. Ihr Lächeln war die Strapazen der zweihundert Meilen langen Fahrt mehr als wert. »Einfach so in die Kirche zu stürmen … Du hättest auch anrufen können.«

»Das mit den Blumen tut mir leid.« Strikes Entschuldigung war nicht zuletzt auch an Matthew gerichtet. »Ich hatte angerufen, aber …«

»Ich hab das Telefon heute Morgen abgeschaltet«, sagte Robin, der es völlig egal war, dass sie die Schlange aufhielt. »Gehen Sie einfach weiter«, wies sie eine große rothaarige Frau – Matthews Chefin – an.

»Nein, ich hatte schon vor – wann? – zwei Tagen angerufen«, entgegnete Strike.

»Was?«

Matthew unterhielt sich unterdessen steif mit Jemima.

»Ich hab’s ein paarmal versucht«, fuhr Strike fort, »und dir dann auf die Mailbox gesprochen.«

»Da war kein Anruf«, sagte Robin. »Und auch keine Nachricht.«

Der Schock hüllte Robin ein wie eine Blase, durch die das Geplauder und Gläserklirren der hundert Gäste und das gefällige Spiel des Streichquartetts nur mehr gedämpft an ihre Ohren drangen.

»Wann hast du … Du hast was … Vor zwei Tagen?«

Seit der Ankunft bei ihren Eltern war sie ununterbrochen mit lästigen Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt gewesen. Trotzdem hatte sie in jedem unbeobachteten Moment in Erwartung eines Anrufs oder einer SMS von Strike auf ihr Handy gesehen. Sie hatte sogar um ein Uhr nachts – allein im Bett – ihre Anrufliste aufgerufen für den Fall, dass sie etwas verpasst haben sollte. Die Liste war leer gewesen. Sie hatte angenommen, dass sie aus Müdigkeit die falsche Taste gedrückt und sie versehentlich gelöscht hatte.

»Ich will auch gar nicht lange bleiben«, murmelte Strike. »Ich wollte mich bloß entschuldigen und dich bitten, wieder …«

»Aber du musst bleiben«, sagte sie und packte ihn am Arm, als fürchtete sie, er könnte auf der Stelle die Flucht ergreifen.

Ihr Herz raste, und sie bekam kaum noch Luft. Der Raum verschwamm vor ihren Augen, und sie spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich.

»Bitte bleib«, sagte sie und klammerte sich an seinen Arm, ohne dem zunehmend wütenden Matthew neben ihr Beachtung zu schenken. »Ich muss … Ich will mit dir reden. Mum?«, rief sie.

Wie aufs Stichwort trat Linda aus der Schlange.

»Ist noch ein Platz für Cormoran frei?«, wollte Robin von ihrer Mutter wissen. »Vielleicht bei Stephen und Jenny?«

Mit versteinerter Miene führte Linda Strike davon, während die letzten Gäste ihre Glückwünsche überbrachten, obwohl Robin weder zu einem Lächeln noch zu belanglosem Geplauder imstande war.

»Warum habe ich Cormorans Anrufe nicht erhalten?«, fragte sie Matthew, während ein älterer Mann ungegrüßt an ihnen vorbei zu seinem Tisch schlurfte.

»Ich wollte dir schon die ganze Zeit sagen, dass …«

»Matthew, warum habe ich die Anrufe nicht erhalten?«

»Können wir das nicht später besprechen?«

Mit einem Mal fiel der Groschen, und sie keuchte wütend auf. »Du hast die Anrufliste gelöscht«, sagte sie, während sie in Windeseile zu einer Schlussfolgerung nach der anderen gelangte. »Du wolltest meine PIN wissen, als ich auf der Raststätte aus der Toilette gekommen bin.«

Zwei letzte Gäste warfen Braut und Bräutigam einen flüchtigen Blick zu und schoben sich eilig und wortlos an ihnen vorbei.

»Du hast dir mein Telefon genommen. Angeblich wegen der Flitterwochen. Hast du seine Nachricht abgehört?«

»Ja«, gestand Matthew. »Und gelöscht.«

Aus der Stille, die sie umgab, wurde ein gellendes Pfeifen, und Robin wurde schwindlig. Hier stand sie, gefangen in diesem Ungetüm aus weißer Spitze – jenem Kleid, das hatte geändert werden müssen, weil die Hochzeit schon einmal verschoben worden war –, und hatte keine andere Wahl mehr, als ihren Verpflichtungen nachzukommen. Aus dem Augenwinkel konnte sie hundert erwartungsvolle und hungrige Gesichter sehen.

Dann fiel ihr Blick auf Strike, der mit dem Rücken zu ihr neben Linda darauf wartete, dass sein Platz neben Robins älterem Bruder Stephen eingedeckt wurde. Sie stellte sich vor, wie sie zu ihm hinüberging und ihm zuflüsterte: »Hauen wir ab.« Wie würde er wohl reagieren?

Ihre Eltern hatten ein Vermögen für die Feier ausgegeben. Jeder Einzelne in diesem überfüllten Saal wartete nur mehr darauf, dass das Brautpaar endlich Platz nahm. Robin war blasser als ihr Hochzeitskleid, als sie ihrem Ehemann unter dem frenetischen Applaus der Anwesenden zu ihrem Tisch folgte.

Der pedantische Kellner schien Strikes Unbehagen förmlich auszukosten. Letzterem blieb nichts anderes übrig, als für jeden sichtbar mitten im Saal stehen zu bleiben und zu warten, bis man den Platz für ihn eingedeckt hatte. Linda, die einen ganzen Kopf kleiner war als der Detektiv, stand ungerührt an seiner Seite, während der junge Kellner kaum merkliche Korrekturen an der Position der Dessertgabel vornahm und dann den Teller so drehte, dass die Ausrichtung des Musters exakt mit der der anderen übereinstimmte. Strike konnte Lindas Gesicht unter dem silberfarbenen Hut zwar nicht richtig erkennen, doch sie sah wütend aus.

»Vielen Dank«, sagte er, als der Kellner endlich beiseitetrat. Doch noch bevor er sich setzen konnte, legte Linda ihm leicht die Hand auf den Arm. Die eigentlich sanfte Berührung fühlte sich in Kombination mit ihrer mütterlichen Entrüstung über die missbrauchte Gastfreundschaft an wie eine Eisenfessel. Linda sah ihrer Tochter sehr ähnlich. Auch ihr Haar war rotblond, und der silberfarbene Hut verstärkte das klare Blau ihrer Augen.

»Was wollen Sie hier?«, fragte sie durch die zusammengebissenen Zähne, während Kellner um sie herum die Vorspeisen auftrugen. Zum Glück lenkte das die anderen Gäste ab, sie nahmen ihre Gespräche wieder auf und wandten ihre Aufmerksamkeit dem langersehnten Festmahl zu.

»Ich muss Robin fragen, ob sie wieder für mich arbeiten will.«

»Sie haben sie gefeuert. Das hat ihr das Herz gebrochen.«

Dazu hätte er so einiges sagen können, aber er ließ es bleiben – aus Respekt vor alledem, was Linda beim Anblick der zwanzig Zentimeter langen Schnittwunde sicherlich hatte durchmachen müssen.

»Seit sie für Sie arbeitet, ist sie drei Mal angegriffen worden«, sagte Linda, deren Gesicht immer röter wurde. »Drei Mal!«

Strike hätte mit Fug und Recht behaupten können, nur für den ersten der drei Angriffe verantwortlich zu sein. Der zweite war geschehen, weil Robin seine ausdrücklichen Anweisungen missachtet hatte, und der dritte war nicht bloß Folge ihres Ungehorsams gewesen, sie hatte damit auch die ganze Ermittlung und nicht zuletzt seine Firma in Gefahr gebracht.

»Sie kann nicht mehr ruhig schlafen. Ich hab gehört, wie sie nachts …« Tränen traten ihr in die Augen, und sie ließ seinen Arm los. »Sie haben keine Kinder. Sie können sich nicht vorstellen, was wir durchgemacht haben.«

Noch bevor der müde Strike zu einer Erwiderung ansetzen konnte, hatte sie sich wieder auf den Weg zum Ehrentisch gemacht. Dann bemerkte er, dass Robin ihn über die unberührte Vorspeise hinweg ansah. Sie wirkte ängstlich, als befürchtete sie, er könnte sich doch wieder aus dem Staub machen. Strike hob leicht die Brauen und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

Zu seiner Linken bemerkte er eine große Gestalt. Als er sich danach umdrehte, blickte er erneut in Augen, die denen von Robin sehr ähnlich sahen – diesmal allerdings über einem streitlustig vorgereckten Kinn und gekrönt von buschigen Brauen.

»Du musst Stephen sein«, stellte Strike fest.

Robins älterer Bruder funkelte ihn böse an und grunzte. Die beiden großen Männer saßen so eng beisammen, dass Stephens Ellbogen Strike streifte, als er zu seinem Pint griff. Alle anderen am Tisch starrten Strike an. Er hob die rechte Hand zu einem halbherzigen Gruß, erinnerte sich erst an den Verband, als er ihn wieder vor sich sah, und verwünschte sich insgeheim, weil er damit nur umso mehr Aufmerksamkeit erregte.

»Hi, ich bin Jenny, Stephens Frau«, sagte die breitschultrige Brünette neben Stephen. »Du siehst aus, als könntest du auch eins vertragen …«

An Stephens Teller vorbei schob sie ihm ein frisches Pint zu. Strike hätte sie vor Dankbarkeit küssen können, beschränkte sich aber angesichts von Stephens grimmigem Blick auf ein von Herzen kommendes »Vielen Dank«, bevor er das halbe Glas in einem Zug leerte. Dabei nahm er aus den Augenwinkeln zur Kenntnis, wie Jenny Stephen etwas ins Ohr flüsterte. Der wartete, bis Strike sein Glas abgesetzt hatte, und räusperte sich.

»Da sind wohl Glückwünsche angebracht«, sagte er leicht unwirsch.

»Wofür?«, fragte Strike ahnungslos.

Stephens Miene hellte sich ein wenig auf. »Du hast diesen Killer geschnappt.«

»Ach so«, sagte Strike, nahm die Gabel in die linke Hand und machte sich über seine Lachsmousse her. Erst als er die Vorspeise zur Gänze verputzt hatte und Jenny lachen hörte, dämmerte ihm, dass er sie womöglich besser hätte würdigen sollen. »Entschuldigung«, murmelte er. »Ich hab einen Bärenhunger.«

Fast schon anerkennend sah Stephen ihn an.

»Kaum der Mühe wert, was?«, sagte er und sah auf seine eigene Mousse hinab. »Ist ja quasi nur Luft.«

»Cormoran«, sagte Jenny, »wärst du so nett, Jonathan kurz zuzuwinken? Das ist noch einer von Robins Brüdern – gleich da drüben.«

Strike folgte ihrem Fingerzeig. Ein schlanker junger Mann mit ebenso hellem Teint wie Robin winkte ihm begeistert vom Nachbartisch aus zu, was Strike mit einem kurzen, betretenen Gruß quittierte.

»Du willst sie also zurück, ja?«, erkundigte sich Stephen.

»Ja«, sagte Strike. »Will ich.«

Statt der erwarteten wütenden Reaktion seufzte Stephen nur lange und tief. »Das sollte mich eigentlich freuen. Solange sie für dich gearbeitet hat, war sie glücklich wie noch nie. Sie wollte schon als Kind Polizistin werden. Ich hab sie deshalb immer veralbert«, sagte er. »Das tut mir inzwischen leid«, fügte er eilig hinzu, ließ sich von einem Kellner ein frisches Pint geben und nahm einen beeindruckenden Schluck. »So im Nachhinein muss ich sagen, dass wir uns wirklich unmöglich aufgeführt haben, und dann ist sie … Na ja, inzwischen hat sie sich ja wieder im Griff.«

Stephen sah zu den Brautleuten hinüber. Strike, der mit dem Rücken zu Robin saß, nutzte die Gelegenheit, um ebenfalls einen Blick zu riskieren. Robin saß schweigend an ihrem Platz, ohne zu essen oder Matthew Beachtung zu schenken.

»Jetzt nicht, Sportsfreund«, murmelte Stephen, und Strike drehte sich wieder um. Sein Tischnachbar hielt mit seinem langen, muskulösen Arm einen von Martins Freunden davon ab, sich Strike zu nähern und Fragen zu stellen. Der junge Mann, der sich bereits halb zu ihm vorgebeugt hatte, trollte sich verschüchtert.

»Danke«, sagte Strike und leerte Jennys Pint.

»Gewöhn dich dran«, sagte Stephen und verschlang seine Mousse mit einem einzigen Bissen. »Du hast den Shacklewell Ripper gefasst, Mann. Du bist jetzt berühmt.«

Es hieß ja immer, dass man im Schockzustand alles nur schemenhaft wahrnahm. Doch Robins Empfinden nach war das genaue Gegenteil der Fall. Alles um sie herum war überdeutlich, jedes Detail messerscharf zu erkennen: die hellen Rechtecke aus Sonnenlicht, das durch die Spalten zwischen den Vorhängen fiel; der azurblaue Hochglanzhimmel hinter den Fensterscheiben; die Ellbogen und benutzten Gläser auf den Damasttischdecken; die sich allmählich rötenden Wangen der lachenden, trinkenden Gäste. Sie sah Tante Sues strenges Profil, die im Gespräch mit ihrem Tischnachbarn keine Miene verzog; Jennys albernen gelben Hut, der auf und ab wippte, während sie sich mit Strike unterhielt. Und dann Strike selbst. Ihr Blick ruhte so oft auf seinem Rücken, dass sie jede Falte seiner Anzugjacke, die dichten dunklen Locken an seinem Hinterkopf und die verletzungsbedingt unterschiedlich großen Ohren aus dem Gedächtnis hätte nachzeichnen können.

Nein, der Schock angesichts dessen, was sie beim Defilee erfahren hatte, ließ ihre Umgebung mitnichten verschwimmen, doch er hatte ihr Zeitempfinden verändert und die Art und Weise, wie sie die Geräusche um sich herum wahrnahm. Irgendwann forderte Matthew sie auf, endlich etwas zu essen, was jedoch erst bei ihr ankam, als der beflissene Kellner ihren vollen Teller schon wieder abgeräumt hatte. Was immer jemand zu ihr sagte, musste erst durch die dicken Mauern dringen, die sie seit Matthews Eingeständnis seiner Niedertracht um sich herum errichtet hatte, die sie jetzt wie eine unsichtbare Zelle umgaben und von den anderen Anwesenden trennten. Adrenalin flutete durch ihren Körper, drängte sie immer wieder dazu, einfach aufzustehen und zu gehen.

Wäre Strike nicht doch noch erschienen, hätte sie niemals erfahren, dass er sie zurückhaben wollte. Die Scham, die Wut, die Demütigung und die Kränkung seit jenem schrecklichen Abend, da er die Kündigung ausgesprochen hatte – dies alles war vollkommen unnötig gewesen. Matthew hatte ihr das Einzige versagt, was sie hätte retten können, das Einzige, worüber sie spätnachts, wenn alle anderen schliefen, Tränen vergossen hatte: ihre Selbstachtung. Die Arbeit, die ihr alles bedeutet hatte. Die Freundschaft, deren Wichtigkeit ihr erst im Nachhinein bewusst geworden war. Matthew hatte gelogen, er hatte gelogen. Er hatte gelächelt und gelacht, während sie sich durch die Tage vor der Hochzeit geschleppt und dabei so getan hatte, als wäre sie glücklich darüber, all das zu verlieren, was sie liebte. Hatte sie ihn wirklich täuschen können? Hatte er allen Ernstes geglaubt, sie wäre froh, dass ihr Leben mit Strike nun beendet war? Wenn ja, dann hatte sie einen Mann geheiratet, der sie nicht ansatzweise kannte. Und wenn nicht, dann …

Sobald auch das Dessertgeschirr abgeräumt war, musste Robin ein Lächeln für den besorgten Kellner aufsetzen, der sich nach dem dritten nicht angerührten Gang erkundigte, ob er ihr etwas anderes bringen dürfe.

»Eine geladene Pistole, wenn Sie die haben.«

Er lächelte – war kurz von der Ernsthaftigkeit getäuscht, mit der sie ihr Anliegen vortrug –, dann blickte er nur mehr verwirrt drein.

»Egal«, sagte sie. »Vergessen Sie’s.«

»Robin, reiß dich zusammen«, sagte Matthew, und mit grimmiger Genugtuung dämmerte ihr, dass er allmählich in Panik geriet, weil er nicht mehr wusste, was sie als Nächstes tun und was als Nächstes geschehen würde.

Die Kellner servierten Kaffee in schlanken Silberkannen und stellten kleine Tabletts mit Petits Fours auf die Tische. Sarah Shadlock in ihrem engen türkisfarbenen, ärmellosen Kleid huschte vor Beginn der Reden noch schnell zur Toilette, gefolgt von der hochschwangeren Katie in ihren flachen Schuhen, die müde ihren gewaltigen Bauch vor sich herschleppte. Und wieder kehrte ihr Blick zu Strikes Rücken zurück. Er verdrückte Petits Fours und unterhielt sich mit Stephen. Zum Glück hatte sie ihn dort platziert. Sie hatte immer vermutet, dass die beiden gut miteinander auskommen würden.

Dann wurde um Ruhe gebeten, und der Geräuschpegel stieg, als diejenigen, die mit dem Rücken zum Ehrentisch saßen, ihre Stühle herumrückten. Robin sah Strike an. Der erwiderte ihren Blick mit undurchschaubarer Miene, bis ihr Vater aufstand, sich die Brille zurechtrückte und das Wort ergriff.

Strike hätte sich am liebsten hingelegt oder zumindest zu Shanker ins Auto gesetzt und den Sitz zurückgeklappt. Von den vergangenen achtundvierzig hatte er kaum zwei Stunden schlafen können, und die starken Schmerzmittel in Kombination mit mittlerweile vier Pints sorgten dafür, dass er wiederholt einnickte und ihm die Schläfe von der Hand rutschte, mit der er den Kopf aufstützte.

Er hatte Robin nie nach den Berufen ihrer Eltern gefragt, und falls Michael Ellacott im Rahmen seiner Rede seinen Broterwerb erwähnt hatte, so war es Strike entgangen. Er war ein liebenswerter, mit seiner Hornbrille vage an einen Professor erinnernder Mann, der zwar all seinen Kindern die Körpergröße, aber nur Martin sein dunkles Haar und die braunen Augen vererbt hatte.

Er musste die Rede nach Robins Kündigung geschrieben oder zumindest angepasst haben. Mit erkennbarer Zuneigung und großer Anerkennung ging er auf ihre persönlichen Qualitäten ein, auf ihre Intelligenz, Entschlossenheit, Großzügigkeit und Güte. Bevor er darauf zu sprechen kam, wie stolz er auf seine einzige Tochter war, hielt er kurz inne und räusperte sich. Mit keinem Wort erwähnte er, was sie erreicht oder durchgemacht hatte. Natürlich wäre es auch höchst unpassend gewesen, gewisse Dinge, die Robin jüngst erst erlebt hatte, vor diesem aufgebrezelten Publikum in diesem schwül-stickigen Saal zur Sprache zu bringen. Und doch – für Strike war allein die Tatsache, dass sie all das überlebt hatte, Beweis genug für ihre Stärken. Bei aller Müdigkeit fand er durchaus, dass dies zumindest hätte erwähnt werden müssen.

Doch mit dieser Ansicht stand er allein da. Stattdessen meinte er, so etwas wie Erleichterung im Publikum zu spüren, als Michael seine Rede beendete, ohne Messer und Narben, Gorillamasken oder Sturmhauben erwähnt zu haben.

Dann war der Bräutigam an der Reihe. Unter begeistertem Applaus stand Matthew auf. Nur Robin behielt die Hände im Schoß und starrte aus dem gegenüberliegenden Fenster, hinter dem die Sonne bereits tief am wolkenlosen Himmel hing und lange Schatten über den Rasen warf.

Irgendwo im Saal summte eine Biene. Strike, der weitaus weniger Skrupel hatte, Matthew vor den Kopf zu stoßen, machte es sich auf seinem Stuhl bequem, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Ein, zwei Minuten lang hörte er zu, wie Matthew erzählte, dass er Robin zwar schon seit Kindertagen gekannt, aber erst in der sechsten Klasse bemerkt habe, wie hübsch dieses kleine Mädchen doch geworden sei, das ihn mal beim Eierlauf geschlagen habe …

»Cormoran!«

Er schreckte hoch. Nach dem feuchten Fleck auf seiner Brust zu urteilen hatte er gesabbert. Benommen drehte er sich zu Stephen um, der ihm den Ellbogen in die Seite gerammt hatte.

»Du hast geschnarcht«, flüsterte er.

Bevor Strike antworten konnte, ertönte erneut Applaus. Matthew nahm ihn ohne große Begeisterung zur Kenntnis, dann setzte er sich wieder.

Jetzt musste es doch vorüber sein … aber nein. Der Trauzeuge stand auf. Strike – inzwischen hellwach – spürte seine volle Blase. Er hoffte inständig, dass sich der Kerl kurzfasste.

»Matt und ich haben uns beim Rugby kennengelernt«, begann der Trauzeuge, woraufhin von einem Tisch im rückwärtigen Teil des Raums trunkene Beifallsrufe ertönten.

»Nach oben«, sagte Robin. »Sofort.«

Es waren die ersten Worte, die sie an ihren Ehemann richtete, seit sie Platz genommen hatten. Der Applaus für die Rede des Trauzeugen war kaum verklungen. Strike war sofort aufgesprungen, hatte dann aber wohl doch nur zur Toilette gemusst. Wie dem auch sei – jetzt wusste sie, dass er sie zurückhaben wollte, und zweifellos würde er abwarten, bis sie sein Angebot annähme. Das hatte ihr der Blick verraten, den er ihr über die Vorspeise hinweg zugeworfen hatte.

»In einer halben Stunde spielt die Band«, rief Matthew ihr in Erinnerung. »Wir sollten …«

Doch Robin war bereits an der Tür. Die unsichtbare Isolationszelle, die es ihr ermöglicht hatte, der Rede ihres Vaters, Matthews nervösem Gestammel und schließlich den abgedroschenen Rugby-Anekdoten des Trauzeugen zu lauschen, ohne auch nur eine Träne zu vergießen, beschützte sie noch immer. Während sie sich zwischen den Gästen hindurchdrängte, nahm sie am Rande war, wie ihre Mutter versuchte, sie aufzuhalten. Robin reagierte nicht, immerhin hatte sie bereits gehorsam Essen und Reden über sich ergehen lassen. Das Universum war ihr jetzt endlich einen kurzen Augenblick der Ruhe und der Freiheit schuldig.

Sie marschierte die Treppe hoch – jetzt nicht mit den billigen Schuhen auf das Kleid treten! –, dann einen mit weichem Teppichboden ausgelegten Korridor entlang. Sie hörte hinter sich Matthews Schritte.

»Verzeihung«, fragte sie leicht orientierungslos einen jungen Kellner mit Weste, der gerade einen Korb mit Tischwäsche aus einem Schrank holte, »wo bitte liegt die Hochzeitssuite?«

Er sah erst sie und dann Matthew an. Und dann grinste er. Er grinste allen Ernstes.

»Machen Sie sich jetzt nicht lächerlich«, blaffte Robin ihn an.

»Robin!«, tadelte Matthew sie, als der junge Mann rot anlief.

»Dahinten.« Er deutete den Flur entlang.

Matthew hatte den Schlüssel. Er und sein Trauzeuge hatten bereits die vergangene Nacht im Hotel verbracht, wenn auch selbstverständlich nicht in der Hochzeitssuite.

Sobald Matthew die Tür geöffnet hatte, stürmte Robin hinein. Auf dem Bett lagen Rosenblüten, im Sektkühler stand eine Flasche Champagner bereit, und ein großer Umschlag war an Mr. und Mrs. Cunliffe adressiert. Erleichtert fand sie die Tasche, die sie für die Hochzeitsreise mit unbekanntem Ziel gepackt hatte. Sie riss sie auf, schob den unversehrten Arm hinein und ertastete den Gummischutz, den sie wegen der Hochzeitsbilder abgenommen hatte. Sobald sie ihn über die kaum verheilte Wunde im schmerzenden Oberarm gezogen hatte, riss sie sich den Ehering vom Finger und knallte ihn neben den Sektkühler auf den Nachttisch.

»Was machst du denn da?« Matthew klang verängstigt und wütend zugleich. »Was – willst du jetzt alles hinschmeißen? War’s das mit der Hochzeit?«

Robin starrte ihn an. Sie hatte eigentlich vorgehabt, ihrem Ärger Luft zu machen, sobald sie mit ihm allein wäre, doch die Tragweite seiner Tat raubte ihr schlicht den Atem. An seinem hin und her huschenden Blick und den nach unten gesackten Schultern war ihm deutlich anzusehen, welche Angst er vor ihrem Schweigen hatte. Er hatte sich – womöglich unbewusst – zwischen sie und die Tür gestellt.

»Also gut«, sagte er bestimmt. »Ich weiß, ich hätte …«

»Du hast genau gewusst, wie viel mir die Arbeit bedeutet. Das hast du ganz genau gewusst.«

»Ich wollte nicht, dass du wieder bei ihm anfängst, okay?«, rief Matthew. »Du bist überfallen und verletzt worden, Robin!«

»Das war allein meine Schuld!«

»Er hat dich gefeuert, verdammte Scheiße!«

»Weil ich etwas getan hab, was ich nie hätte tun dürfen …«

»War ja klar, dass du ihn verteidigst!«, brüllte Matthew, der jetzt völlig außer sich war. »Du musst nur kurz mit ihm reden, und schon läufst du zu ihm zurück wie sein beschissenes Schoßhündchen!«

»Solche Entscheidungen hast nicht du für mich zu treffen«, fauchte sie ihn an. »Niemand hat das Recht, meine verdammten Anrufe abzufangen und meine Anrufliste zu löschen!«

Alle Zurückhaltung war dahin. Sie hörten den jeweils anderen nur mehr, wenn sie selbst Luft holen mussten, ansonsten schleuderten sie einander ihre Verbitterung und ihre Qual wie brennende Speere entgegen, die zu Staub zerfielen, noch ehe sie ihr Ziel erreicht hatten. Robin gestikulierte wild und kreischte vor Schmerz auf, als ihr Arm gegen die Gesten scharf Einspruch erhob. Mit selbstgerechtem Zorn deutete Matthew auf die Narbe – die ewig währende Erinnerung daran, wie unverantwortlich und dumm es gewesen sei, für Strike zu arbeiten. Doch kein Fortschritt, keine Vergebung, kein Einlenken – die vielen kleinen Scharmützel, die ihnen in den vergangenen zwölf Monaten das Leben madiggemacht hatten, mündeten nun unausweichlich in dieser alles entscheidenden Schlacht. Hinter dem Fenster ging der Nachmittag in den Abend über. Robins Kopf dröhnte, ihr Magen krampfte sich zusammen, und das Gefühl, ersticken zu müssen, war übermächtig.

»Du warst immer nur sauer wegen der Überstunden – es hat dich doch einen Dreck interessiert, dass ich zum ersten Mal einen Job hatte, mit dem ich glücklich war, und deshalb hast du gelogen! Du hast genau gewusst, was mir dieser Job bedeutet, und du hast gelogen! Wie kannst du es wagen, meine Anrufliste zu löschen und meine Mailbox …«

Sie ließ sich in einen weichen Sessel mit Fransen fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Von der Wut und angesichts des Schocks auf nüchternen Magen war ihr speiübel.

Irgendwo auf dem Hotelflur war ein vom Teppich gedämpftes Türenschlagen zu hören. Dann folgte das Kichern einer Frau.

»Robin«, begann Matthew heiser.

Sie hörte, wie er näher kam, und hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. »Fass mich nicht an.«

»Robin, ich weiß genau, dass ich das nicht hätte tun dürfen, aber ich wollte doch nur, dass dir nichts mehr passiert.«

Sie hörte ihn kaum. Inzwischen war sie nicht mehr nur auf Matthew, sondern auch auf Strike wütend. Er hätte sie zurückrufen sollen. Er hätte es weiter versuchen müssen.

Wer weiß, vielleicht wäre ich dann gar nicht hier.

Der Gedanke machte ihr Angst.

Wenn ich gewusst hätte, dass Strike mich zurückwill – hätte ich Matthew dann noch geheiratet?

Matthews Jackett raschelte. Wahrscheinlich sah er auf die Uhr. Die Gäste unten vermuteten bestimmt, dass sie sich zurückgezogen hätten, um die Ehe zu vollziehen. Unter Garantie riss Geoffrey schon anzügliche Witze. Die Band wartete seit einer Stunde. Wieder musste sie daran denken, wie viel ihre Eltern für die Feier ausgegeben hatten – zusätzlich zu den Anzahlungen für jene Hochzeitsfeier, die hatte verschoben werden müssen.

»Na schön«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Gehen wir wieder runter und tanzen.«

Sie stand auf, strich sich reflexhaft das Kleid glatt, und Matthew sah sie misstrauisch an. »Sicher?«

»Wir müssen das irgendwie hinter uns bringen«, sagte sie. »Die Leute sind von weiß Gott woher angereist. Und Mum und Dad haben ein Vermögen bezahlt.«

Sie raffte ihr Kleid zusammen und lief auf die Tür zu.

»Robin!«

Sie drehte sich um, erwartete ein »Ich liebe dich«, ein Lächeln, ein Flehen, irgendeine wahrhaftigere Versöhnung.

»Hast du nicht etwas vergessen?« Mit kühlem Blick hielt er ihr den Ehering hin, den sie zuvor abgestreift hatte.

Strike hatte beschlossen zu bleiben, bis sich die Gelegenheit ergab, mit Robin zu sprechen. Trinken schien ihm bis dahin der vernünftigste Zeitvertreib zu sein. Stephen und Jenny, die ihn bislang bereitwillig von den anderen abgeschirmt hatten, sollten endlich mit ihren Freunden und der Familie plaudern können; stattdessen setzte er wieder auf die Faktoren, die neugierige Fremde auch sonst so zuverlässig abschreckten: seine beeindruckende Körperfülle in Kombination mit einer konstant finsteren Miene. Eine Weile hielt er sich an der Bar auf, wo er am Ende des Tresens ein Pint trank, dann lief er auf die Terrasse, wo er in sicherer Entfernung zu den anderen Rauchern den Sonnenuntergang betrachtete und unter dem korallenroten Himmel tief den süßen Wiesenduft inhalierte. Selbst Martin und seine Freunde, die längst nicht mehr nüchtern waren und wie Teenager eine Zigarette kreisen ließen, brachten nicht mehr den Mut auf, ihn anzusprechen.

Nach einer Weile trieben die Kellner routiniert die versprengten Gäste zusammen und scheuchten sie zurück in den holzgetäfelten Saal, wo in ihrer Abwesenheit die Tanzfläche freigeräumt worden war, indem man die Hälfte der Tische entfernt und die restlichen zur Seite gerückt hatte. Die Band hatte hinter den Verstärkern Posten bezogen, nur Braut und Bräutigam ließen noch auf sich warten. Ein schwitzender, dicker, rotgesichtiger Mann – Matthews Vater, wenn Strike es richtig verstanden hatte –, riss Scherze darüber, wo sie steckten und womit sie wohl beschäftigt seien. Eine Frau in einem engen türkisfarbenen Kleid steuerte auf Strike zu. Der Federschmuck an ihrem Hut kitzelte ihn an der Nase, als sie sich vorbeugte, um ihm die Hand zu geben.

»Cormoran Strike, nicht wahr?«, sagte sie. »Welche Ehre! Sarah Shadlock.«

Strike wusste über Sarah Shadlock Bescheid. Sie hatte an der Uni mit Matthew geschlafen, während der eine Fernbeziehung mit Robin gehabt hatte. Erneut hob Strike die bandagierte Hand, um ihr zu verstehen zu geben, dass er ihre nicht schütteln würde.

»Ach, Sie Armer!«

Ein angetrunkener Mann mit schütterem Haar stellte sich hinter Sarah. Er hatte aus der Entfernung älter ausgesehen, als er tatsächlich war.

»Tom Turvey.« Er blickte Strike aus glasigen Augen an. »Verdammt gute Arbeit. Starke Leistung, Kumpel. Verdammt gute Arbeit.«

»Wir warten schon seit Ewigkeiten darauf, Sie endlich kennenzulernen«, sagte Sarah. »Wir sind alte Freunde von Matt und Robin.«

»Der Shacklewell Rip… Ripper«, sagte Tom. Er hatte einen leichten Schluckauf. »Verdammt gute Arbeit.«

»Sehen Sie sich nur an, Sie Armer«, wiederholte Sarah, griff nach Strikes Bizeps und lächelte in sein lädiertes Gesicht. »Das war doch nicht etwa er, oder?«

»Das wollen hier alle wissen«, sagte Tom und grinste belämmert. »Aber sie trauen sich nicht zu fragen. Sie hätten die Rede halten sollen, nicht Henry.«

»Haha«, flötete Sarah. »Aber darauf konnten Sie gewiss verzichten, nicht wahr? Sind Sie etwa direkt von der Festnahme hergefahren?«

»Die Polizei hat mich gebeten, nicht darüber zu sprechen«, entgegnete Strike ernst. »Tut mir sehr leid.«

»Ladys und Gentlemen«, hob der genervte Hochzeitsmoderator an, sowie er mitbekommen hatte, dass Matthew und Robin wieder da waren, »bitte einen herzlichen Applaus für Mr. und Mrs. Cunliffe!«

Die Frischvermählten betraten mit ernsten Mienen die Mitte der Tanzfläche. Alle bis auf Strike applaudierten. Der Moderator reichte das Mikrofon an den Sänger der Band weiter.

»Dieses Lied begleitet Matthew und Robin schon lange, und es bedeutet ihnen sehr viel«, verkündete der Sänger, während Matthew eine Hand an Robins Hüfte legte und sich mit der anderen nach ihrer Hand ausstreckte.

Der Fotograf schälte sich aus den Schatten und knipste drauflos. Verärgert nahm er zur Kenntnis, dass die Braut sich wieder den hässlichen Gummischutz über den Arm gestreift hatte.

Dann ertönten die ersten Takte von »Wherever You Will Go« von The Calling. Robin und Matthew drehten sich auf dem Fleck und mieden den Blick des jeweils anderen.

So lately, been wondering,

Who will be there to take my place

When I’m gone, you’ll need love

To light the shadows on your face …

Seltsame Wahl für »unser Lied«, dachte Strike – und sah im nächsten Moment, wie Matthew sich zu Robin vorbeugte, ihre schlanke Taille fester umklammerte und das edle Profil vorschob, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern.

Der Nebel aus Müdigkeit, Erleichterung und Alkohol, der die wahre Bedeutsamkeit dieser Hochzeit bislang vor Strike verborgen hatte, lichtete sich, und er spürte einen Stich in der Magengrube. Jetzt, da er das Brautpaar auf der Tanzfläche vor sich sah – Robin im langen weißen Kleid mit einem Kranz aus Rosen im Haar, Matthew im dunklen Anzug, das Gesicht an der Wange seiner Braut –, musste er sich zu guter Letzt eingestehen, wie lange schon und wie sehr er gehofft hatte, dass Robin nicht heiraten würde. Er hätte gewollt, dass sie frei wäre, so frei wie früher. Frei, falls sich die Umstände änderten … falls sich die Gelegenheit ergäbe … frei, um eines Tages herausfinden zu können, ob sie beide mehr waren als nur Kollegen.

Scheiß drauf.

Wenn sie mit ihm reden wollte, konnte sie ihn ja anrufen. Er stellte sein leeres Glas auf der Fensterbank ab, drehte sich um, schob sich durch die Menge, die ihm angesichts des finsteren Blicks nur zu bereitwillig Platz machte.

Robin drehte sich um und sah, wie Strike auf den Ausgang zusteuerte und die Tür aufzog. Dann war er verschwunden.

»Lass mich los …«

»Was?«

Sie befreite sich aus Matthews Griff und raffte ein weiteres Mal ihr Kleid zusammen, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Halb ging, halb rannte sie von der Tanzfläche und wäre um ein Haar mit ihrem Vater und Tante Sue zusammengestoßen, die sich in unmittelbarer Nähe im Tanzschritt gewiegt hatten. Matthew blieb allein mitten im Saal zurück, während Robin sich ihren Weg durch die verblüfften Zuschauer bahnte – zu der Tür, die soeben hinter Strike ins Schloss gefallen war.

»Cormoran!«

Er war bereits die halbe Treppe hinunter, als er seinen Namen hörte und sich noch mal umdrehte. Die langen Locken unter der Krone aus Yorkshire-Rosen gefielen ihm ausnehmend gut.

»Glückwunsch.«

Sie lief ein paar weitere Stufen nach unten und versuchte mehrmals, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken.

»Willst du mich wirklich zurückhaben?«

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Glaubst du ernsthaft, Shanker und ich sind nur zum Spaß stundenlang in einem höchstwahrscheinlich gestohlenen Wagen hierhergefahren? Natürlich will ich dich zurück.«

Sie lachte, während ihr gleichzeitig Tränen in die Augen stiegen. »Shanker ist auch da? Du hättest ihn reinbitten sollen!«

»Shanker? Auf deiner Hochzeit? Er hätte die Taschen sämtlicher Gäste geleert und dann wahrscheinlich noch die Kasse an der Rezeption ausgeräumt.«

Sie lachte wieder. Diesmal kullerten ihr die Tränen über die Wangen. »Wo wollt ihr denn übernachten?«

»Ich schlaf im Auto, während Shanker mich wieder nach Hause fährt. Dafür wird er mir ein Vermögen abknöpfen«, sagte er. »Aber egal«, fügte er eilig hinzu, bevor sie etwas erwidern konnte. »Wenn du zurückkommst, war es das mehr als wert.«

»Diesmal will ich einen Vertrag«, sagte Robin mit strenger Stimme, was so gar nicht zu dem warmen Ausdruck in ihren Augen passte. »Einen richtigen Arbeitsvertrag.«

»Abgemacht.«

»Also gut. Wir sehen uns dann …«

Ja, wann? Jetzt ging es erst mal für zwei Wochen auf Hochzeitsreise.

»Gib mir einfach Bescheid«, sagte Strike.

Er drehte sich um und ging weiter die Treppe hinunter.

»Cormoran!«

»Was?«

Sie kam auf ihn zu, bis sie eine Treppenstufe über ihm auf Augenhöhe zu ihm stand.

»Du musst mir alles erzählen – wie du ihn geschnappt hast und so weiter. Alles.«

Er lächelte. »Mach ich, keine Sorge. Aber ohne dich hätte ich das niemals geschafft.«

Es war unmöglich zu sagen, wer die Initiative ergriff oder ob sie sich gleichzeitig einander näherten, doch ehe sie sichs versahen, lagen sie sich fest in den Armen. Robins Kinn ruhte auf Strikes Schulter, und er drückte das Gesicht in ihr Haar. Er roch nach Schweiß, Bier und Desinfektionsmittel, sie nach Rosen und dezent nach dem Parfüm, das er so sehr vermisst hatte, seit sie nicht mehr ins Büro gekommen war. Sie fühlte sich unvertraut und gleichzeitig vertraut an, als hätte er sie vor langer Zeit schon mal in den Armen gehalten, als hätte er sich nach dieser Umarmung seit Jahren gesehnt, ohne es auch nur zu ahnen. Durch die geschlossene Tür war die Band zu hören.

I’ll go wherever you will go

If I could make you mine …

So plötzlich, wie sie sich in die Arme gefallen waren, ließen sie einander wieder los. Tränen strömten Robin übers Gesicht. Einen wahnwitzigen Augenblick lang überlegte Strike, einfach zu sagen: »Komm mit«, doch manche Worte konnte man nicht mehr zurücknehmen oder vergessen machen, und diese gehörten, wie er sehr wohl wusste, dazu.

»Gib mir Bescheid«, wiederholte er stattdessen. Er wollte lächeln, doch sein Gesicht tat zu sehr weh. Ohne sich umzudrehen, ging er die Treppe hinunter und hob dabei die bandagierte Hand.

Sie sah ihm nach und wischte sich dabei energisch die heißen Tränen aus dem Gesicht. Hätte er gesagt: »Komm mit«, sie wäre ihm, ohne zu zögern, gefolgt. Aber was dann? Sie schluckte, wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, drehte sich um, raffte das Kleid erneut zusammen und kehrte gemessenen Schrittes zu ihrem Ehemann zurück.

TEIL EINS – EIN JAHR SPÄTER

1

… will er jetzt vergrößern, höre ich. Aus sicherer Quelle habe ich erfahren, dass er einen geschickten Mitarbeiter sucht.

HENRIK IBSEN, ROSMERSHOLM

Das allgemeine Streben nach Ruhm bewirkt für gewöhnlich, dass diejenigen, denen er versehentlich oder unbeabsichtigt zufällt, kein Erbarmen erwarten dürfen.

Noch viele Wochen nach der Ergreifung des Shacklewell Rippers musste Strike befürchten, dass sein größter detektivischer Triumph seiner Karriere zugleich den Todesstoß versetzt hatte. Schon zweimal war eine Welle des öffentlichen Interesses über seine Detektei hinweggerollt. Wie ein Ertrinkender hatte er sich immer wieder an die Oberfläche gekämpft, doch diesmal drohte er endgültig in die Tiefe gezogen zu werden. Sein Geschäft, für das er so große Opfer erbracht und so hart gearbeitet hatte, beruhte ganz wesentlich darauf, dass er sich unerkannt durch die Straßen Londons bewegen konnte. Doch mit der Überführung eines Serienmörders hatte er das öffentliche Interesse geweckt, war zu einer Sensationsmeldung geworden, einem Kuriosum, gut für eine launige Randbemerkung in einer Quizshow, ein Gegenstand der Neugier, der umso faszinierender war, da er sich weigerte, jene Neugier zu befriedigen.

Nachdem sie Strikes Einfallsreichtum bei der Verfolgung des Rippers in allen Facetten und bis ins letzte Detail nachgezeichnet hatten, nahmen sich die Medien seine Vergangenheit vor. Sie wurde als »schillernd« bezeichnet, obwohl Strike selbst sie eher als psychische Last begriff, die er schon sein Leben lang mit sich herumtrug und die er nur zu gern abgelegt hätte: der Vater ein Rockstar, die verstorbene Mutter ein Groupie, die Laufbahn bei der Armee, die mit dem Verlust des rechten Unterschenkels ein Ende gehabt hatte. Grinsende Reporter mit dicken Scheckbüchern hatten sich auf diejenige seiner Verwandten gestürzt, mit der er die Kindheit verbracht hatte: seine Halbschwester Lucy. Ehemalige Kameraden ließen blöde Sprüche über ihn ab, und Strike meinte immer wieder, hinter dem groben soldatischen Humor Neid und Verachtung wahrzunehmen. Der Vater, dem Strike nur zweimal im Leben begegnet war und dessen Namen er nicht hatte tragen wollen, hatte mittels einer Pressemitteilung die Andeutung einer freundschaftlichen Vater-Sohn-Beziehung fallen lassen, die sich angeblich im Verborgenen abspielte, in Wirklichkeit aber nicht existierte. Die Nachwirkungen des Ripper-Falls hatten Strikes Leben ein ganzes Jahr lang erschüttert, und noch immer war er sich nicht sicher, ob sie vollends ausgestanden waren.

Natürlich hatte es auch seine Vorteile, der bekannteste Privatdetektiv Londons zu sein. Nach dem Prozess hatte man ihm förmlich die Bude eingerannt, sodass Robin und er es irgendwann nicht mehr geschafft hatten, sämtliche Aufträge persönlich zu bearbeiten. Doch weil Strike den Ball ohnehin für eine Weile flach halten musste, hatte er sich mehrere Monate lang auf die Büroarbeit beschränkt und Verstärkung angeheuert – hauptsächlich in Gestalt ehemaliger Polizisten und Army-Angehöriger mit Erfahrung im privaten Sicherheitsgewerbe. Diese übernahmen den Löwenanteil der Observationsarbeit, während Strike selbst sich um die Nachtschichten und den Papierkram kümmerte.

Nachdem die vergrößerte Detektei ein Jahr lang an der Kapazitätsgrenze gearbeitet hatte, war es Strike endlich möglich gewesen, Robin die längst überfällige Gehaltserhöhung zuzugestehen, seine letzten Schulden zu begleichen und sich einen dreizehn Jahre alten 3er-BMW anzuschaffen.

Lucy und seine Bekannten sahen in dem Wagen und im zusätzlichen Personal den Beweis dafür, dass Strike finanziell endlich auf einen grünen Zweig, wenn nicht gar zu Wohlstand gekommen war. Doch sobald die freien Mitarbeiter und der exorbitant teure Garagenstellplatz in der Londoner Innenstadt bezahlt waren, blieb so gut wie nichts mehr übrig, sodass er wohl oder übel in seiner Zweizimmerwohnung über dem Büro wohnen bleiben und seine Mahlzeiten auch weiter auf einem Herd zubereiten musste, der über lediglich eine Kochplatte verfügte.