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»Der ist definitiv ertrunken. Die haben ihn noch lebend ins Wasser geworfen, dabei nicht mal seine Hände gefesselt.« Die Aussage der Rechtsmedizinerin Karin Hollmann ist klar und deutlich. Sven Spelzer, mit dem sie schon den Serienmörder Pehling zur Strecke brachte, weiß von Anfang an, wen er für diesen Zeugenmord zur Verantwortung ziehen muss. Die Soko wurde gebildet, um den ›SERBEN‹, wie sie den Gewaltverbrecher nennen, nach Jahren der Erfolglosigkeit, endlich zur Strecke bringen zu können. Brutalster Drogen- und Menschenhandel wird ihm zur Last gelegt. Mögliche Belastungszeugen verschwinden meist spurlos. Doch wer ist der unsichtbare Helfer im Hintergrund? Gibt es einen Maulwurf in den Reihen der Polizei? Wieder werden die beiden Ermittler in einen Einsatz hineingezogen, der sie, wie schon im ersten Band dieser Reihe, an die Grenzen treibt. Als sie bereits an den sicheren Zugriff glauben, hat der Teufel längst die Falle gebaut. Alle Thriller der Reihe sind zwar abgeschlossen und könnten auch unabhängig voneinander gelesen werden. Doch der Spannungsbogen ist größer, wenn die Reihenfolge eingehalten wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
DER SERBE
Von H.C. Scherf
Thriller
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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DER SERBE
Teil 2 der Spelzer/Hollmann-Reihe
© 2018 H.C. Scherf
Ewaldstraße 166 – 45699 Herten
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Alle Rechte vorbehalten
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DER SERBE
Spelzer/Hollmann-Serie – Band 2
von H.C. Scherf
Ich habe so viele
Leichen seziert,
und niemals eine Seele
gefunden.
Rudolf Virchow
Mit dem Messer in der erhobenen Hand näherte er sich unaufhaltsam, erzeugte einen bedrohlichen Schatten auf der schwach beleuchteten, feuchten Kellerwand. Der abbröckelnde Putz ließ diese Szene besonders schaurig erscheinen. Muffiger Geruch betäubte gleichzeitig die Sinne. Nichts konnte den Killer noch aufhalten, der sein Werk nun endgültig beenden wollte. Schlurfende Schritte erzeugten Gänsehaut, ließen den Körper des Opfers in Erwartung des tödlichen Stoßes erstarren. Das lange Messer drang in den Hals ein. Ein nervenzerfetzendes Knirschen entstand, als die Klinge die Nackenwirbel durchbohrte. Der Schmerz hielt nur kurz an, da die Nervenbahnen augenblicklich durchtrennt wurden.
Begleitet von einem Aufschrei schnellte Svens Oberkörper in die Höhe. Er stieß das Oberbett von sich, versuchte, sich zu orientieren. Der Schweißfilm, der sich auf seinem Körper gebildet hatte, durchnässte seinen Pyjama komplett, ließ ihn auf der Haut kleben. Karin schüttelte Sven. Ihre Hand glitt zärtlich über sein Gesicht.
»Es war nur ein Traum, Schatz. Beruhige dich wieder. Einfach nur ein böser Traum.«
Sven Spelzer atmete immer noch gehetzt, versuchte sich in der scheinbar fremden Umgebung zu orientieren. Allmählich wurde er sich dessen bewusst, dass er wieder einmal von Erinnerungen heimgesucht wurde, die er so gerne endgültig vergessen machen wollte. Karin Hollmann hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass Sven plötzlich mitten in der Nacht von Träumen geplagt hochschreckte. Nur zu gut wusste sie, was dieser Mann noch vor Monaten durchmachen musste. Der Fall des Isenburg-Killers steckte noch allen Ermittlern in den Knochen. Selbst Karins Geist verarbeitete ab und zu das Geschehen in wilden Traumbildern. Jedoch hatte sie nicht annähernd das durchstehen müssen wie Sven. Trotzdem wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass diese Bestie in der geschlossenen Psychiatrie verrotten möge.
»Habe ich dich wach gemacht, Liebes? Es tut mir leid, aber ...«
»Psssst, mach dir deshalb keine Sorgen, Svenni. War es derselbe Traum? Versuche, wieder einzuschlafen, morgen ist ein neuer Tag. Und denke daran, dass wir in wenigen Wochen den Urlaub in Thailand genießen können. Leg dich hin und entspann dich.«
»Du sagst das so. Wir haben sowieso schon sechs Uhr durch, da kann ich auch gleich aufstehen und das Frühstück machen. Der Termin bei Doktor Haller ist schon um neun. Du kannst noch etwas schlummern. Ich weck dich, wenn der Kaffee durch ist.«
Er küsste Karin auf die Stirn und zog ihr das Oberbett bis hoch zu den Schultern. Sie schloss die Augen und genoss die wenigen Minuten, die ihr noch blieben, bis Sven sie zum Frühstück rief. Auch sie hatte heute einen schweren Tag mit drei Obduktionen, bei denen die Todesursache zweifelsohne festgestellt werden musste. Ihr Gutachten als Rechtsmedizinerin sollte in dem Fall einer verstorbenen, aber vermögenden Mittvierzigerin vor Gericht entscheiden, ob ein Verdächtiger des vorsätzlichen Mordes angeklagt werden sollte. Der Hausarzt hatte zwar den Totenschein mit der pauschalen Diagnose Herztod ausgestellt, der Amtsarzt im Krematorium äußerte daran jedoch berechtigte Zweifel. Die sich anschließenden Ermittlungen ergaben, dass kurz zuvor eine Lebensversicherung über fünfhunderttausend Euro abgeschlossen wurde. Eine verdächtige Einstichstelle im Lendenbereich nährte zusätzlich die Annahme, dass hier ein Außenstehender eventuell nachgeholfen haben könnte.
Als warme Lippen ihre Wange berührten, drehte sich Karin auf die Seite und schnurrte wie eine Katze. Sie umarmte den Mann, der sie vor gar nicht langer Zeit aus den Fängen eines Serienkillers gerissen hatte. Dass er dabei sein eigenes Leben fast verloren hätte, würde sie ihm niemals vergessen.
»Bringt ihn rein!«
Kladicz wartete ruhig ab, bis seine beiden Bodyguards den schmächtigen Mann über den Boden gezogen und auf den Stuhl gepresst hatten. Nur einen Moment sah er in Augen, deren Pupillen wild umherirrten. Scheinbar unbeeindruckt wanderte Kladicz zum Sideboard, um sich in aller Seelenruhe einen Cognac einzugießen. Während er das Glas in Augenhöhe schwenkte und die Färbung des Getränks begutachtete, genoss er das ängstliche Wimmern seines Gastes. Ohne sich umzudrehen, forderte er seine Leute dazu auf, den Mann festzubinden.
»Nein, bitte nicht, ich habe doch alles gesagt, was ich weiß. Die Bullen haben mich wirklich laufen lassen. Kein Sterbenswort habe ich den Schweinen verraten. Ich schwöre es beim Leben meiner Mutter.«
»Du solltest dir gut überlegen, wen du für deine falschen Schwüre sterben lässt, du Furz. Deine verfickte Mutter ist schon fünf Jahre tot. Lass uns noch ein einziges Mal über deine Aussage reden, Renato. Ich tu mich schwer damit, dir abzunehmen, dass du standhaft geblieben bist. Wenn nicht diese verdammten Bullen am Container aufgetaucht wären und mir die zwanzig Kilo Crack beschlagnahmt hätten, säßen wir jetzt nicht hier und würden auch nicht über einen Verrat nachdenken. Ich könnte jetzt bei einer schönen Frau im Pool abhängen und mir die Eier kraulen lassen. Fredi, frag diesen Scheißer bitte noch ein letztes Mal, was er denen gesteckt hat.«
Mit schreckgeweiteten Augen sah Renato die Hünengestalt auf sich zukommen. Er zerrte verzweifelt an seinen Fesseln, die ihn brutal in der Position hielten. Das kurze Messer in Fredis Hand blitzte auf, bevor es sich nur Sekunden später in den Oberschenkel des Gefangenen bohrte. Kladicz zuckte mit keinem Muskel, als der Schrei durch das Haus hallte. Ein zynisches Grinsen umspielte seinen Mund. Genießerisch leerte er sein Glas und goss den verbliebenen kleinen Rest in die Wunde. Wieder dieser Schrei.
»Diese Schmerzen haben gewisse Vorteile. Es wird neben dem Adrenalin auch viel Blut in den Schädel gepresst. Das bewirkt, dass der Bereich, in dem die Erinnerungen lagern, ordentlich befeuert wird. Den meisten Menschen fallen dann wieder Dinge ein, die sie schon längst vergessen glaubten. Du glaubst gar nicht, was wir damit schon alles erreicht haben. Stärkere Männer als du haben darum gebettelt, uns was erzählen zu dürfen. Fredi versteht sich darauf, dass der Blutverlust gering ist, der Schmerz aber umso größer. Dem macht es Spaß, die Befragung lange hinauszuzögern.
Nur mir, das will ich dir sagen, macht es keinen Spaß, lange warten zu müssen. Das macht mich zornig, sehr zornig. Du Judas hast mir schon jetzt auf das teure Parkett gepinkelt, das gefällt mir nicht. Mach jetzt endlich das verdammte Maul auf.«
Stumm gab er Fredi ein Zeichen, der die Klinge in Renatos Handrücken stieß. Ungläubig starrte der auf seine Hand. Bevor er wieder loskreischen konnte, verschloss Fredis Pranke Mund und Nase. Nur ein Gurgeln drang durch dessen Finger. Das Gesicht wechselte in ein ungesundes Blau. Einen Augenblick, bevor Renato das Atmen endgültig einstellte, zog Fredi die Hand zurück und bewegte die Klinge vor Renatos Gesicht. Noch während der nach Luft rang, stützte Fredi seine freie Hand auf die Wunde im Oberschenkel.
»Ich ... ich sage ja ... aufhören damit ... bitte.«
»Ich verstehe dich nur sehr undeutlich. Was hast du soeben gesagt? Willst du mir etwas mitteilen, du Zwerg?«
»Ja, ja ... ich habe diesem Bullen ... ich habe ihm den Tipp gegeben. Aber die haben mich gefoltert, Chef. Die haben mich unter Druck gesetzt. Das wird nie wieder passieren ... nie wieder. Ich verspreche das.«
»Hör mir zu, du Stück Dreck. Du scheinst nicht zu wissen, wie recht du mit deinem Versprechen hast. Ich werde dafür sorgen, dass du es auch einhalten wirst. Dein loses Maul hat mir viele, viele Tausend Euro gekostet. Außerdem hast du mich in der Szene zur Lachnummer gestempelt. Das schadet meinem Image. Du sollst allen anderen Pissern ein Beispiel dafür sein, was passiert, wenn man mich hintergeht. Schafft mir den Kerl endlich aus den Augen. Und bitte, seid besonders nett zu ihm!«
Renatos an sich schon mickrige Gestalt schrumpfte noch mal um einige Zentimeter. Er hing wie ein lebloser Sack zwischen den beiden Kleiderschränken, die alle anfallende Drecksarbeiten für den Boss erledigten. Renatos Muskeln versagten nun endgültig den Dienst. Seine Stimme ließ nur noch ein klägliches Wimmern zu. Kladicz goss sich einen weiteren Cognac ein, trank ihn in einem Zug und legte den Bademantel ab. Er betrachtete seine Gespielin, die ihm über den Poolrand mit laszivem Lächeln entgegensah.
Der Praxisraum von Doktor Haller besaß eine riesige Fensterfront, die den Blick auf einen Teil der Essener Innenstadt freigab. Hoch über den Kronen dreier Pappeln streckte sich die Silhouette des Rathauses in den trüben Himmel. Mit tief in den Taschen vergrabenen Händen stand Sven am Fenster und genoss das Prasseln des Platzregens gegen die Scheiben. Es hatte etwas Beruhigendes. Die Augenblicke des Runterkommens, der Ruhe, taten ihm gut; es waren die Momente, wenn die allgegenwärtige Gewalt einmal draußen bleiben musste. Das wusste auch Doktor Haller, der von Sven unbemerkt ins Zimmer getreten war und ihn beobachtete.
»Herrlich, nicht wahr, Herr Spelzer? Dieser Regen hat auch sein Gutes. Er vermittelt uns recht einfach, dass die Natur unsere Seele positiv ansprechen kann. Sie werden sehen, dass der Tropenregen, den Sie in wenigen Wochen erleben dürfen, einen Teil des Mülls, der sich in uns angesammelt hat, einfach wegspülen kann. Ich genieße das auch einmal im Jahr. Zur Regenzeit finden Sie mich im Südosten, im Golf von Siam. Dann erhole ich mich auf der Insel Koh Chang. Einfach göttlich, sage ich Ihnen.«
Sven mochte diesen Seelenklempner, der sich nun schon mehrere Monate darum bemühte, Svens innere Konflikte, seine Ängste herauszufiltern. Sie nahmen sich jedes einzelne Detail vor und analysierten die Ursachen. Obwohl ihn die Träume immer noch quälten, konnte er den Job wieder ohne Ängste ausüben. Der Aufenthalt in dunklen, engen Räumen bereitete ihm noch manchmal Probleme. Dann setzte das Zittern ein, die Angst, dass dieser wahnsinnige Pehling wieder Hand an ihn legen würde. Der bloße Gedanke, dass ihn jemand in seiner Beweglichkeit einschränken, ihn fesseln könnte, rief Aggressivität in ihm hervor. Doch das wollten sie später gemeinsam angehen. Haller hatte da eigene Methoden.
Wie zu jedem Sitzungsbeginn kochte Haller ihnen einen Filterkaffee, dessen Zubereitung er schon fast zelebrierte. Der große Mann, der seine bereits angegrauten Haare im Nacken zum Zopf gebunden hatte, schwor auf die alte Methode, war ein bekennender Müllvermeider.
»Ist es wieder passiert?«
Sven überraschten solche Fragen nicht mehr, da er davon überzeugt war, dass Haller in seinen Gedanken wie in einem offenen Buch lesen konnte. Er drehte sich nicht einmal um.
»Heute Nacht, da kam er wieder in den Keller. Aber Sie hatten recht. Bevor er mich quälen konnte, bin ich aufgewacht. Das Unterbewusstsein scheint mich tatsächlich vor Schmerz zu bewahren. Aber es muss doch irgendwann einmal vorbei sein. Die Träume zerstören die Nachtruhe, ich finde nur schwer Erholung.«
»Geduld, Herr Spelzer, Sie müssen dem Verstand schon etwas Zeit geben. Sie sind schließlich nicht nur vom Fahrrad gestürzt. Bei Ihnen sind Teile des Gehirns an Grenzen gekommen, die bei den meisten Menschen irreparabel sind. Sie können von großem Glück reden, dass wir uns überhaupt darüber austauschen können. Sie besitzen eine enorme psychische Kraft, die Sie vor dem Schlimmsten bewahrt hat. Für mich ist das schon ein kleines Wunder. Sie nehmen nur Milch im Kaffee, wenn ich mich recht erinnere?«
Sven nickte, während er immer wieder auf seine Uhr blickte. Das war Haller nicht entgangen, der ihn unauffällig beobachtete. Er wusste um all die Veränderungen, die Sven nach seiner Gefangenschaft im Keller des Serienkillers Pehling heimsuchten. Dazu gehörte auch diese innere Unruhe, Spätfolge der Schlafstörungen und der damaligen Verabreichung eines undefinierbaren Drogencocktails. Doktor Haller wusste, dass noch eine lange Zeit der gemeinsamen Arbeit vor ihnen lag.
Eine Stunde lang quälte sich Sven Spelzer durch die Sitzung, die er zwar als notwendig erachtete, ihn aber immer wieder aus seiner Arbeit herausriss. Kriminalrat Fugger hatte auf diese Therapie beim Psychologen konsequent bestanden. Er wollte seinen besten Mann nicht zum Psychokrüppel verkommen lassen – so ähnlich jedenfalls hatte er sich ausgedrückt. Karin unterstützte ihn in dieser Ansicht und achtete darauf, dass Sven keine Sitzung schwänzte.
Sven fiel schon auf dem Flur die Unruhe auf. Kollegen und Kolleginnen aus anderen Dezernaten kamen ihm auf dem Flur entgegen, grüßten flüchtig und verschwanden hinter der Tür zum Besprechungsraum. Er glaubte sogar, Musik zu hören. Neugierig geworden steckte er den Kopf durch den Türspalt. Gesprächslärm, gemischt mit einem Helene-Fischer-Song, schlug ihm entgegen. Mittendrin entdeckte er Hörster, dem ständig auf die Schulter geschlagen wurde. Plötzlich fiel es Sven wie Schuppen von den Augen, dass heute die interne Feier zur Beförderung von Hörster zum Kommissar anstand. Der tiefe Bass von Kriminalrat Fugger ließ Sven zurückschnellen.
»Gehen Sie ruhig rein, Spelzer. Sie dürfen heute auch mitmachen. Ihre Beförderung zum Oberkommissar haben wir ja auch gebührend gefeiert. Ich finde, dass Hörster das wirklich verdient hat. Der war damals so unendlich glücklich darüber, dass er Sie aus der Hand dieses Verrückten befreien konnte. Gehen Sie rein und lassen Sie die bösen Buben da draußen einen Augenblick aus den Augen. Die Welt wird deshalb nicht gleich untergehen. Sie waren doch bei Doktor Haller, oder?«
Fuggers Blick war ernst geworden, als er mit seiner Begrüßung endete. Sven wusste, dass er immer bei Haller nachfragte, ob er denn auch brav erschienen war. Dieser Mann besaß ein Herz für seine Leute, das war Sven spätestens bei dem Fall des Isenburg-Killers klar geworden. Stumm nickte er und ließ sich von dem laufenden Fleischberg in den Raum drücken. Ohrenbetäubender Lärm begleitete Svens Gratulation an seinen Lebensretter. Sven sah sich im Raum um. Karin hatte in den letzten Tagen angedeutet, dass sie ebenfalls zu dieser Feier eingeladen und gewillt war, hinzugehen. Er fand sie jedoch nicht. Die Kollegen ließen ihm keine Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen, zumal sie beim Frühstück davon gesprochen hatte, eine wichtige Obduktion durchführen zu müssen.
Karin Hollmann betrachtete die Einstichstelle im Bereich neben der unteren Lendenwirbel durch eine Lupe. Für sie stand zweifelsohne fest, dass genau hier die Spritze angesetzt worden war, mit der die tödliche Menge an Insulin zugeführt wurde. Ein glücklicher Zufall, der dem Amtsarzt im Krematorium zu Hilfe kam, nachdem der Hausarzt bereits einen natürlichen Tod attestiert hatte. Einmal mehr bestätigte sich die Notwendigkeit, vor dem Verbrennungsprozess noch den Amtsarzt eine Leichenbeschauung vornehmen zu lassen. Zu oft übersahen ungeschulte Hausärzte wichtige Hinweise auf eine Gewalttat. Nun hieß es, für das Morddezernat zu ermitteln, wer für diese Tat verantwortlich war. Karins Gutachten für das spätere Gerichtsverfahren würde eindeutig sein. Sie zog das weiße Laken wieder über die weibliche Leiche.
»Eine schöne Frau, die viel zu früh starb. Ich werde das niemals verstehen können, wozu Menschen fähig sind, um ihre Geldgier zu befriedigen.«
Karins heutiger Praktikant, ein Medizinstudent, den sie vier Wochen an ihrer Seite haben würde, schob die Bahre wieder zurück in den Kühlschacht. Er zog den Mundschutz vom Gesicht und setzte sich gegenüber seiner Chefin, die ihre Ergebnisse in den Computer eingab. Karin ließ die Bemerkung unkommentiert, blickte aber erstaunt auf, als Kevin Holstein fortfuhr.
»Entschuldigen Sie, Frau Hollmann, wenn ich Sie das frage, aber es interessiert mich eben. Es hat sich ja herumgesprochen, dass Sie sich einige Tage in den Händen dieses Isenburg-Killers befunden haben.«
»Halt mal, einen Augenblick. Es hat sich wo herumgesprochen?«
»Nun ja, irgendwer hat das bei einem Studenten-Treffen am Tisch erzählt. Außerdem wurde dieser Fall im Hörsaal bei einer Psychologie-Lesung behandelt.«
»So so, dann werde ich jetzt schon zu Lebzeiten zu Studienzwecken missbraucht. Ganz toll. Was wollen Sie wissen? Sie möchten doch bestimmt was Interessantes zum Thema beitragen können, oder nicht? So aus erster Hand.«
Die Verlegenheit konnte Kevin nicht verbergen, sein hochroter Kopf verriet ihn.
»Ich ... ich hätte nur gerne gewusst, was das für ein Gefühl ist, wenn man weiß, dass dieser Täter sich nur wenige Schritte entfernt aufhält. Ich habe gehört, dass man ihm ein künstliches Knie verpasst hat. Der wird dann wohl bald wieder halbwegs normal laufen können. Ich werde verrückt, wenn ich darüber nachdenke, dass dieser Mörder jetzt auch noch eine Gesichts-OP auf Staatskosten erhalten soll. Die wollen ihm diese hässliche Narbe beseitigen, weil er sich von innen immer wieder auf die alte vernarbte Wunde beißt. Soll er doch daran verrecken, dieses Biest.«
Karin sah ihren Praktikanten völlig konsterniert an. Sie hatte davon gehört, dass Pehling wegen des Knies unters Messer sollte, doch von der Gesichts-OP hatte sie keine Ahnung.
»Sie sind ja da besser im Thema als ich. Ich wusste lediglich, dass ihm ein Gelenk und eine neue Kniescheibe implantiert wurden. Die Bänder sind geflickt worden. Also, eines ist sicher, damit wird der keine Skiabfahrt mehr machen können. Man hatte im Stillen gehofft, dass er von nun an im Rollstuhl sitzen muss. Ich meine damit die Kollegen, die ihn festnahmen. Sie sagen, dass man ihm auch noch das Gesicht verschönert hat? So eine Verschwendung. Ich fand, dass ihm diese fiese Narbe ausgezeichnet stand. Kann ja sein, dass die in der forensischen Psychiatrie Schönheitswettbewerbe veranstalten und den Dreckskerl dafür herrichten.«
»War das denn eindeutig, dass dieser Mistkerl nicht nach normalem Strafrecht verurteilt werden konnte? Die hätten sich im Knast bestimmt auf den Kindermörder gefreut.«
Auf Karins Stirn bildeten sich Falten, bevor sie sich zu Kevin vorbeugte.
»Dem wurde Schizophrenie unterstellt. Fertig. Sie müssen wissen, dass etwa ein Drittel der Menschen einmal im Leben psychisch krank wird. Wir haben allein in Deutschland etwa eine Million Schizophrene. Nur selten wird einer davon durch eine Tötungshandlung auffällig. Doch die wenigen bekannten Fälle erzeugen natürlich ein großes Medieninteresse. So entsteht schnell der Eindruck, dass diese Mörder fast alle in die Klapse kommen, wie es der Volksmund so schön bezeichnet.
Bedenken Sie aber auch, dass die Zeit darin oftmals doppelt so lang ist, als wenn man Straftäter ins Gefängnis stecken würde. Ganz so einfach ist der Maßregelvollzug, also die Forensik, nicht zu sehen. Hier müssen sich die Patienten tagtäglich mit ihrer Tat auseinandersetzen, anstatt nur die Haftstrafe abzusitzen.«
Fasziniert hatte Kevin gelauscht. Er verfolgte Karin Hollmann mit den Augen, die zum Nebentisch ging und sich das Smartphone ans Ohr hielt, das ungeduldig auf der Tischplatte rotierte.
»Tut mir leid Sven. Bestell Hörster meine besten Wünsche zur Beförderung. Ich konnte hier nicht weg. Da war der seltsame Fall dieser Frau auf meinem Tisch, die wir aus dem Krematorium erhielten. Es war Mord, definitiv. Da werdet ihr wohl wieder was zu tun bekommen.«
»Über Arbeit können wir uns nicht beschweren. Ich muss gleich zum Stadthafen. Ein Baggerschiff hatte einen Leichnam in der Schaufel. Allerdings hat der Greifer den mittendurch geschnitten, als er sich schloss. Jetzt suchen Taucher nach der unteren Hälfte des Toten. Die Einzelteile wirst du wohl im Laufe des Tages auf den Tisch bekommen. Ich hoffe, dass ich es heute Nachmittag auch zu dir schaffe. Was essen wir übrigens zu Abend?«
»Verdammt, was ist das denn für eine Frage? Du servierst mir Einzelteile einer Wasserleiche und fragst im gleichen Atemzug, was wir zum Abendbrot servieren? Du bist pervers!«
»Das sind die Folgen, wenn man sich als Mann mit einer Beschäftigten aus der Rechtsmedizin einlässt. Ich überlege ernsthaft, ob ich zum veganen Essen wechsel. Bei totem Fleisch spüre ich in der letzten Zeit immer wieder gewisse Ablehnungen. Früher habe ich mein Steak immer medium rare gegessen, mittlerweile muss ich es well done haben. Schon der Fleischsaft erinnert mich an deinen Arbeitsplatz.«
»Bist du jetzt fertig mit deiner Frotzelei? Du bist ein scheinheiliger Bastard. Zur Strafe gibt es heute Abend Tatar mit Zwiebelringen. Das Fleisch besorge ich selbst, bin ja schließlich an der Quelle.«
»Oh Gott. Da behauptet die Frau doch glatt, dass ich der Perverse bin. Muss jetzt abbrechen, die Spurensicherung wartet auf mich. Bis nachher, Liebes.«
Das Boot der Wasserschutzpolizei lag ruhig auf dem Wasser. Drei Beamte beobachteten aufmerksam die Wasseroberfläche, an der sich immer wieder die Luftblasen der eingesetzten Taucher ausbreiteten. Sven hatte den Kragen seines Parkas hochgestellt, um sich vor dem kalten, böigen Wind zu schützen. Nur die Leute der Spurensicherung liefen suchend durch die angrenzenden Gebüsche und Parkflächen. Sie hofften, Spuren zu finden, die Hinweise darauf lieferten, wie der Leichnam hierher transportiert worden war. Keine leichte Aufgabe, denn gerade hier befand sich eine Kaimauer, an der häufig Ladungen von den Schiffen gelöscht wurden. Unendlich viele Reifenspuren vermischten sich mit Müll und Fußabdrücken. Ruhnert, Chef der Spurensicherung, stand nachdenklich neben Sven und versuchte, mit dem Schirm den Nieselregen abzuhalten. Ein total beschissenes Wetter.
Noch immer spürte Sven den Anblick des Toten wie einen Klotz im Magen. Er würde sich nie an den Anblick von Wasserleichen gewöhnen können. Ihr Äußeres besaß etwas besonders Gruseliges, hauptsächlich dann, wenn sie schon einige Zeit im Wasser lagen. Das Wasser veränderte ihre Haut auf eine besondere Art und Weise. Eine bekannte Stimme holte ihn aus seinen unerfreulichen Gedanken.
»Hallo Sven, hallo Ruhnert. Habt ihr die andere Hälfte schon gefunden? Ich seh mir schon mal den Oberkörper an. Kann ich den Torso bewegen, oder müsst ihr noch dran?«
Ruhnert drehte sich um und beeilte sich, der lieben Kollegin Hollmann zur Hand gehen zu können. Die Plane nahm er in dem Augenblick hoch, als auch Sven eintraf. Der bemühte sich, den Blick von den menschlichen Überresten abzuwenden. Er beobachtete, wie sich Karin an dem männlichen Leichnam zu schaffen machte. Sein Magen drohte zu rebellieren.
»Ich würde auf drei bis vier Tage tippen. Die Hohlhand ist schon weiß, die Waschhaut beschränkt sich also nicht mehr nur auf die Fingerspitzen. Ich kann aber noch die Fingerabdrücke nehmen, eine Leichendaktyloskopie ist noch ohne großen Aufwand möglich. Vielleicht bekommen wir dadurch mehr über den Toten raus. Jetzt mal abgesehen von den hässlichen Wunden im Bauchbereich, die wohl die Baggerschaufel verursacht hat, finde ich es seltsam, dass der Tote im Gesichtsbereich diese Blässe aufweist.«
»Was ist denn daran so außergewöhnlich? Sind die nicht alle blass und blutleer?«
Sven hatte aufmerksam zugehört und schob sich wieder näher an den Ort des Geschehens heran.
»Ich kann deine Frage verstehen, wenn es sich um eine frische Wasserleiche handeln würde. Die ist in der Tat blass und hat eine schwache Ausbildung der Waschhaut, also diese runzelige Haut, wie du sie nach einem langen Wannenbad an den Fingern erhältst. Jetzt muss man wissen, dass die Toten in der Regel kopfüber, senkrecht im stilleren Wasser treiben. Dabei sammelt sich das Blut durch die Schwerkraft im Kopfbereich. Diese Hypostase gibt uns einen ungefähren Aufschluss darüber, wie lange der Tote bereits im Wasser war. Dann entwickeln sich bei längerem Aufenthalt eine rote bis blauviolette Färbung, also diese Totenflecken. Bei besonders langer Verweildauer entsteht sogar ein Durchschlagen des Venennetzes an der Brusthaut. Hier finden wir jedoch totale Blutleere.«
»Was schließt du daraus?«
»Ich würde einmal sagen, dass hier nachgeholfen wurde und der Tote verkehrt herum im Wasser stand.«
»Betonfüße«, warf Ruhnert knurrend in die Runde.
»Genau, da tippe ich auch drauf. Deshalb hat die Baggerschaufel nur den Oberkörper gegriffen und abgetrennt. Den Rest werden die Taucher wohl am Boden des Kanals finden. Die Gewichte an den Füßen haben verschiedene Dinge bewirkt. Die Leiche konnte weder auftauchen noch wegtreiben. Außerdem blieb sie zu unserem Glück davon verschont, von Schiffsschrauben zerrissen zu werden. Allerdings sind erhebliche Verletzungen am Körper zu erkennen, was bedeuten könnte, dass der Tote zuvor kräftig in die Mangel genommen wurde. Ob er schon vor dem Versenken tot war, wird die Obduktion ergeben. Seht, die Taucher haben da was gefunden.«
Alle versammelten sich an der Kaimauer. Sven, der neben Karin stand, versuchte, unauffällig nach ihrer Hand zu greifen. Ruhnert war das nicht entgangen. Ein Lächeln umspielte sein gutmütig wirkendes Gesicht. Ein Taucher rief nach einem Seil und verschwand damit wieder in der Tiefe des Hafenbeckens. Die Winde auf dem Polizeiboot quietschte dezent, als man den Rest des Opfers heraushievte. Mittlerweile hatten sich mehrere Hafenarbeiter auf der gegenüberliegenden Kaimauer versammelt, die sich jedoch erschüttert abwandten, als das ablaufende Wasser den Blick auf den Rumpf des Mannes freigab. Das Boot steuerte näher an die Hafenmauer heran und die Männer legten den Betonklotz ab, aus dem zwei Beine und das Becken herausragten.
»Treffer!«
Weiter äußerte sich Ruhnert nicht dazu, bevor er begleitet von Karin sich dem grausamen Fund näherte. Bis zu den Knien hatten die Täter ihr Opfer einbetoniert und im Hafenbecken versenkt. Die Trennung des Körpergewebes durch die Baggerschaufel war sauber vollzogen worden. Die Arbeit bestand jetzt darin, die Füße wieder von dem Beton zu befreien.
»Seht ihr? Das Blut ist komplett in die unteren Extremitäten gelaufen. Hier finden wir die erwarteten Totenflecken. Ich meine, sobald wir ihm die Kleidung entfernt haben. Na dann viel Spaß bei der Arbeit mit dem Presslufthammer, meine Herren. Den ersten Teil könnt ihr mir ja schon in die Rechtsmedizin bringen. Ich hätte heute sowieso nicht gewusst, was ich vor lauter Langeweile hätte tun sollen.«
Ruhnert spielte den ständig Gehetzten.
»Wann kann ich die ersten Ergebnisse ...?«
»Langsam, langsam, junger Mann. Ich habe meinen Kunden noch nicht auf dem Tisch, da willst du schon erste Kontakte knüpfen. Such doch schon mal in deiner Verbrecherkartei. Ich möchte drauf wetten, dass du die Visage dort finden wirst. Das sieht mir nach einer Bestrafung nach Mafiaart aus. Ich muss jetzt wieder zurück. Das Gutachten wartet. Wir sehen uns heute Abend? Bei mir oder bei dir?«
»Weder noch, meine liebe Frau Doktor. Wir sind doch heute zum Essen beim Griechen. Du erinnerst dich?«
»Okidoki, alles klar, Herr Kommissar ... oh, sorry, Herr Oberkommissar.«
Der Polizeibeamte blickte gelangweilt den Flur entlang. Sein Gefangener war vor einer Viertelstunde aus der Physiotherapie zurück. Es rang Polizeimeister Engelhardt eine gewisse Bewunderung ab, mit welcher Energie dieser Gewaltverbrecher Pehling dafür trainierte, wieder sicher laufen zu können. Eine Knie-OP war ja schließlich kein Pappenstiel. Dazu kam, dass er kurz danach noch diese Gesichtsoperation hat über sich ergehen lassen müssen. Durch die große Glasscheibe verfolgte Engelhardt den großen Mann, dessen rechte Gesichtshälfte von einem breiten Verband verdeckt wurde. Immer wieder setzte er die Krücken auf den Boden und schob das verletzte Bein nach vorne. Sein Keuchen war bis auf den Flur zu hören. Dass sein Hemd hinten nicht gänzlich geschlossen war und sein Gesäß deutlich zu sehen war, störte den Gefangenen nicht. Er gab einfach nicht auf.
Jetzt, nach immerhin fast drei Wochen, war diese Bewachung des verurteilten Mörders schon Routine und trotz Wechsel mit den anderen Kollegen ziemlich langweilig. Engelhardt wusste um die schrecklichen Taten des Mannes, der auf ihn allerdings einen völlig normalen und entspannten Eindruck machte. Immer, wenn er den Raum betrat oder er den Gefangenen zu einer Reha-Maßnahme begleiten musste, grüßte dieser freundlich. Es gab sogar Augenblicke, in denen sie Persönliches austauschten. Pehling hatte ihm noch gestern Tipps gegeben, wie er seine Terrassen-Platten langfristig von Moos und Schimmel befreien konnte.
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