Der Siebenschläfer schlägt zu - Anika Sawatzki - E-Book

Der Siebenschläfer schlägt zu E-Book

Anika Sawatzki

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Beschreibung

Warum klebt wieder Blut an meinen Händen? Ich wollte meine Jugendsünden hinter mir lassen. Doch ich kann es nicht leugnen – Ich bin der »Siebenschläfer«. Spikes dunkles Geheimnis ist gelüftet. Er ist schuld daran, dass Julia im Visier eines Serienmörders ist. Doch nicht nur der Siebenschläfer, auch Arthur stellt ihr weiterhin nach. Unabhängig von Spikes Team begibt sie sich auf die Suche nach dem Mörder, der bald ein weiteres Opfer fordert. Während Julia dem Siebenschläfer immer näher kommt, distanziert sich ihr bester Freund Alex von seinem Umfeld. Er kann nicht akzeptieren, dass Julia sich mit ihrem neuen Mitschüler Liam anfreundet. Doch nur über ihn kann sie das Geheimnis lüften, das die Pilgrims und McMillans vor Jahrzehnten verfeindete und schließlich zu der Katastrophe führte, die sich nun zu wiederholen droht. Kann Julia Spikes Urteilsvermögen vertrauen? Wer ist der Siebenschläfer? Und wer hat die drei neuen Opfer auf dem Gewissen?

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Das Buch

Warum klebt wieder Blut an meinen Händen?

Ich wollte meine Jugendsünden hinter mir lassen.

Doch ich kann es nicht leugnen – Ich bin der »Siebenschläfer«.

Spikes dunkles Geheimnis ist gelüftet. Er ist schuld daran, dass Julia im Visier eines Serienmörders ist. Doch nicht nur der Siebenschläfer, auch Arthur stellt ihr weiterhin nach. Unabhängig von Spikes Team begibt sie sich auf die Suche nach dem Mörder, der bald ein weiteres Opfer fordert.

Während Julia dem Siebenschläfer immer näher kommt, distanziert sich ihr bester Freund Alex von seinem Umfeld. Er kann nicht akzeptieren, dass Julia sich mit ihrem neuen Mitschüler Liam anfreundet. Doch nur über ihn kann sie das Geheimnis lüften, das die Pilgrims und McMillans vor Jahrzehnten verfeindete und schließlich zu der Katastrophe führte, die sich nun zu wiederholen droht.

Kann Julia Spikes Urteilsvermögen vertrauen? Wer ist der Siebenschläfer? Und wer hat die drei neuen Opfer auf dem Gewissen?

Widmung

»Ich bin dein Gott, dein Racheengel.

Mein Blut kocht in deinem Herz.

Bin dein Ohr, das sich verschließt,

dass du nicht ihre Lügen hörst.«

(Letzte Instanz)

Ich widme dieses Buch meinem Bruder,

der in seiner Jugend viele Fehler gemacht hat,

aber selten ein zweites Mal.

Was bisher geschah …

Der Siebenschläfer ermordet seinen Großvater Hector McMillan, weil dieser seine Großtante Anna in ihrer Jugend vergewaltigte. Nachdem er seiner Großmutter nahegelegt hat, Annas unehelichen Sohn Patrick zu beerben, begeht sie Selbstmord. Wenige Monate später läuft sein bester Freund Ben Hanssen Amok. Der Siebenschläfer tötet Bens Ex-Freundin Yvonne und den Polizisten, der seinen Freund vor seinen Augen hinrichtete. Mithilfe von Bens Vater Richard Hanssen schiebt er seine Taten einem stadtbekannten Gangster in die Schuhe. Sascha Baumann kommt fünfzehn Jahre später aus dem Gefängnis frei und will den Siebenschläfer zur Rechenschaft ziehen. Doch dieser tötet ihn in Notwehr.

Zwölf Jahre später trifft Julia unter mysteriösen Umständen Spike, der sie um einen Gefallen bittet. Im Gefängnis besucht sie seinen ehemaligen Partner Christian und erhält Informationen über den sogenannten Siebenschläfer. Dieser soll nach Jahrzehnten wieder aktiv sein und den amtierenden Bürgermeister Bruce McMillan ermordet haben.

Spike nimmt Julia mit auf eine Feier, wo Arthur McMillan seine Freilassung aus der Untersuchungshaft feiert. Sie attackiert seinen Bruder Justin, da dieser seine Ex-Freundin schlägt. Wider Erwarten lädt Arthur sie daraufhin zu einem Autorennen ein, wo er übergriffig wird.

Kurz darauf erfährt Julia von Justins Tod und erhält einen vermeintlichen Drohbrief vom Siebenschläfer. Ihr Mitschüler Liam Pilgrim lädt sie in einen Club ein. Sein Vater Vincent kandidiert genauso wie Arthurs Bruder Theodor für den vakanten Bürgermeisterposten. Auf dem Heimweg vom Club kommt es zu einer Schlägerei mit Arthur, in die sich Spike einmischt.

Spike gesteht Julia, dass er der Sohn des Polizisten ist, den der Siebenschläfer vor 27 Jahren zusammen mit seiner Mutter ermordet hatte. Vor zwei Jahren glaubte er, den Mörder seiner Eltern gefunden zu haben, doch erschoss fälschlicherweise den Anwalt Richard Hanssen und seinen Chauffeur. Sein Partner Christian nahm die Schuld auf sich und ging statt ihm ins Gefängnis.

Nach der Bürgermeisterwahl, die Theodor McMillan gewann, besucht Julia mit ihrer Freundin Carina den Poetry Slam ihres Freundes Alex. Dieser trägt ein Gedicht vor, in dem er über sein Mobbing und den daraus resultierenden Wunsch nach Rache an seinen Mitschülern redet.

Auf der Halloweenfeier der Familie Pilgrim tauchen überraschend Arthur und seine Kumpels auf. Carina scheint verschwunden und es kommt zur Konfrontation …

Inhaltsverzeichnis

September, vor 12 Jahren

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Juli, vor 8 Jahren

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

August, vor 8 Jahren

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Mai, vor 28 Jahren

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Juni, vor 2 Jahren

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Mittwoch, der 15. August

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Montag, der 22. Oktober

Kapitel 19

Kapitel 20

Dienstag, der 13. November

Kapitel 21

Danksagung

Die Autorin

Impressum

Bist du bereit?

September, vor 12 Jahren

»So, Herr McMillan. Sie haben sich bei uns auf eine Stelle als Lagerlogistiker beworben.« Ich nickte. »Sie sind 33 Jahre alt und ledig.«

Herr Hohenheim musterte mich kritisch über seine Brillengläser hinweg. Ich knetete unentwegt meine Hände im Schoß. Mit einem Knall ließ er meine Bewerbungsunterlagen auf den Tisch fallen.

»Und Sie haben noch nie für die McMillan Textilmanufaktur gearbeitet?« Ich schüttelte den Kopf. »Das wundert mich.«

»Warum? Weil allein der gemeinsame Name etwas über unsere Beziehung aussagt? McMillans gibt es in dieser Gegend wie Sand am Meer.«

Er senkte nachdenklich den Blick. »Haben Sie sich nicht einmal bei ihm beworben?«

»Nein. Mein Zweig der Familie hat nicht viel Kontakt zu Patrick McMillan«, log ich.

»Sie kennen ihn also?«

»Natürlich. Man sieht sich auf Familienfeiern. Was denken Sie, was Weihnachten bei uns los ist? Aber dort reden wir grundsätzlich über Privates, nicht übers Geschäftliche.«

Herr Hohenheim nickte, seine Stirn war jedoch nach wie vor in Falten gelegt. Er kratzte sich im Nacken und studierte weiter meine Bewerbungsmappe.

»Haben Sie schon Erfahrung auf dem Gebiet?«

»Nein, noch nicht.«

»Sie haben aber gute Referenzen: ein abgeschlossenes Studium der Wirtschaftswissenschaften, eine begonnene Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker. Und wie ich sehe, waren Sie auf dem hiesigen Privatgymnasium.«

Ich presste die Lippen aufeinander und nickte vorsichtig. Meine Finger gruben sich in meine Oberschenkel, bis der Schmerz meine Gedanken aufs Gespräch lenkte. Herr Hohenheim schlug die Bewerbungsmappe zu und sah mich eindringlich an.

»Schlimme Sache, was da passiert ist.«

Ich betrachtete den Meisterbrief an der Wand hinter ihm.

»Ich bin da gerade erst aufs Gymnasium gekommen. Sie haben da gerade den Abschluss gemacht.« Er tippte auf die Mappe und schob die Unterlippe vor. »Dass Sie trotzdem mit einer so guten Note bestanden und Ihr Studium mit Glanzleistungen abgeschlossen haben. Wirklich ausgezeichnet. Spricht für Ihren Ehrgeiz.«

Herr Hohenheim lehnte sich zurück und lächelte mich wohlwollend an. Ich ballte die Fäuste in meinem Schoß und atmete einmal tief ein und aus. Mein Freund Ben war damals Amok gelaufen. Ich wollte mich nicht an diesen Tag erinnern.

Vor meinem Bewerbungsgespräch hatte ich Uriel Hohenheim in die Suchmaschine getippt. Dieser Kerl war fünf Jahre jünger als ich, hatte aber bereits das Erbe seines herzkranken Vaters übernommen. Seit einem Jahr krempelte er das Unternehmen um und wurde immer gefährlicher für Patricks Firma.

»Ich denke, dass ein so talentierter Mann genau der Richtige für unsere Firma ist. Darf ich Sie zu einem weiteren Gespräch einladen? Dann können wir Sie in das Unternehmen einführen.«

»Heißt das, ich habe den Job?«, fragte ich verwundert.

»Die anderen Bewerber waren nicht gerade das Gelbe vom Ei, wenn ich das so sagen darf. Ich meine«, er breitete die Arme aus, »Sie sind ein McMillan. Sie schinden Eindruck allein durch ihren Namen und ihr gepflegtes Auftreten. Dass Sie gut mit Leuten reden können, habe ich vorhin an der Rezeption beobachtet.« Er zwinkerte mir zu.

Ich lehnte mich zurück. »Sie haben mich beobachtet?«

»Ich muss doch wissen, mit wem ich später zusammenarbeite. Und ihr Flirt mit meiner Sekretärin war wirklich erfrischend. Ich muss Ihnen nur mitteilen, dass Fanny verlobt ist.«

»Aber das macht doch nichts«, sagte ich.

Herr Hohenheim erwiderte mein süffisantes Lächeln mit einem anerkennenden Nicken. Meine eigene Falschheit schmerzte mir in den Mundwinkeln. Ich musste schlucken, damit mir der Ekel nicht den Rachen emporkroch.

Hohenheim lehnte sich verschwörerisch vor und strich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. »Wissen Sie, Fanny arbeitet jetzt schon über ein Jahr für mich und zwischen uns ist nichts gelaufen. Aber wie es aussieht, haben Sie ziemlichen Eindruck auf sie gemacht.«

Ich folgte seinem Blick durch die Glasscheibe, die uns vom Flur trennte. Frau Köppe lief mit einem Stapel bunter Mappen in der Hand vorüber. Ihr brauner Pferdeschwanz wippte mit jedem Schritt hin und her. Als sie mich erblickte, hellte sich ihre konzentrierte Miene kurz auf. Sie strich sich den fransigen Pony zur Seite und verschwand aus meinem Blickfeld.

Herr Hohenheim grinste mich verschlagen an. Ich sah ihm in die grünen Augen und schluckte. Wenn ich diesen Vertrag unterzeichnete, würde ich meine Seele dem Teufel vermachen. Luzifer. Der Name passte viel besser zu ihm als Uriel. Ein Engel, der so schön war, dass er aus dem Himmel geworfen wurde. Oh, und ich wollte ihn fallen sehen.

»Denken Sie, Sie könnten da was regeln?«

Ich erwiderte sein schäbiges Grinsen. »Aber selbstverständlich.«

»Genau ein Mann von Ihrem Kaliber hat mir noch gefehlt.« Er ließ sich zurück in seinen Bürostuhl fallen und zeigte mit dem Finger auf mich, den Kopf schräg gelegt. »Ich denke, aus uns wird ein Spitzenteam.«

Nach unserem Gespräch rief ich sofort meinen Onkel an.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Patrick.

»Wie geplant«, antwortete ich. »Ich bin drin. Und Hohenheim ist ein genauso überheblicher Drecksack, wie du gesagt hast.«

»Meinst du, du kriegst das hin?«

»Diesen Drecksack und sein Unternehmen zu Fall bringen? Aber sicher. Ich weiß schon, wie ich es anstellen werde. Gib mir drei Monate!«

»Wenn es soweit ist, kannst du bei mir anfangen«, sagte Patrick.

»Wäre mir eine Ehre.«

***

Ich hatte es tatsächlich drei Monate in der Firma ausgehalten. Fanny und ich verstanden uns fantastisch. Wir waren beide in einer Beziehung und wussten, dass unsere Flirts rein beruflich waren, auch wenn Hohenheim dachte, wir würden miteinander schlafen.

Das hielt ihn nicht davon ab, Fanny an den Hintern zu grabschen, wenn sie nicht gerade auf ihrem Bürostuhl saß. Ich hatte es ein paar Mal beobachtet und bereits ein Foto gemacht. Ein Skandal würde dem Geschäft erheblich schaden. Fanny wollte nicht, dass ich es veröffentlichte. Sie hatte Angst, ihren Job zu verlieren. Es war ihr erster, den sie nach der Ausbildung zur Bürokauffrau bekommen hatte. Außerdem würde ihr Verlobter diesen Kerl umbringen, hatte sie gesagt. Dass sie zehn Jahre jünger war als ich und mit ihren Referenzen überall eine Anstellung finden würde, wollte sie nicht hören.

Heute hatten sich alle im großen Konferenzsaal der Firma versammelt. Es roch nach würzigem Punsch mit viel zu viel Schuss. An der Decke hingen zerknitterte Schneeflocken-Girlanden, auf den Tischen standen kleine Wichtelfiguren, die aussahen, als hätte sie ein Grundschüler bemalt.

Fanny unterhielt sich mit Hohenheim am anderen Ende des Raums. Ich hatte sie gefragt, ob ich sie unterstützen sollte, aber sie wollte ihm unter vier Augen sagen, was sie von seinen Annäherungsversuchen hielt. Bevor die beiden den Raum verließen, lächelte Fanny mir mitleidig zu. Nun musste ich diese Feier wohl vorübergehend ohne sie überstehen.

Aus einem Lautsprecher plärrte »Last Christmas« schon zum fünften Mal. Das Schokoplätzchen in meiner Hand war das Einzige am gesamten Buffet, was nicht fade schmeckte. Ich wünschte mir einen Sack Salz und Pfeffer für jedes lauwarme Gericht.

Eine Gruppe von Kollegen lachte kreischend über einen Witz, den ich verpasst hatte. Dabei schwappte der Sekt eines Mannes über den Glasrand und spritzte ins Dekolleté einer Frau. Die Männer feixten, während dem Mann umgehend nachgeschenkt wurde.

Ich stöhnte und wandte mich einigen Kollegen zu, die eine Schnapsrunde schmissen. Wegen der Musikanlage hinterm Buffet konnte ich das Gespräch nicht verfolgen. Erst als ich unmittelbar neben ihnen stand, hörte ich die Frau raunen.

»Albino?«

Den Begriff sprach sie mit so viel Abscheu aus, dass ich ihren Ekel auf meiner Haut kribbeln spürte. Die Praktikantin verzog das Gesicht. Vier Männer in Anzügen scharten sich um sie wie gierige Geier.

»Ja«, antwortete ein Kollege. »Patrick McMillan hat ultrahelle Haut und weiße Haare.«

»In seinem Alter?«, sagte die Frau herablassend, »Hat der auch so rote Augen?«

»Nein, glaub ich nicht. Die sind blau, wenn ich mich recht entsinne. Aber total stechend.«

Ich griff nach einer Bierflasche vom Buffet. Eigentlich hatte ich nicht trinken wollen. Nie wieder. Aber ich schwor mir, dass es bei diesem einen Bier bleiben würde.

»Ich stell mir grad so eine ekelhafte Laborratte vor.« Die Praktikantin schlug sich auf den Arm, als wolle sie eine Spinne vertreiben. »Wie sie … igitt.«

Ich setzte den Kronkorken an der Tischkante an, um ihn mit einem Schlag zu öffnen. Dabei zerbrach der Flaschenhals. Das Bier breitete sich auf der Tischdecke aus. Die Kellnerin kam zu mir, sah mich tadelnd an und sammelte die Scherben auf. Mit einer Serviette tupfte ich über die Decke, wobei ich rote Schlieren auf dem Stoff hinterließ.

Ich sah auf meine linke Hand. Ein tiefer Schnitt zerteilte meinen Lederhandschuh. Blut quoll hervor. Ich nahm eine frische Serviette vom Tisch und drückte sie auf den Handschuh. Die Kellnerin sprach mich an, doch ich verstand sie nicht. Ich drehte mich von ihr weg und eilte zur Männertoilette.

Diese Wichser hatten keine Ahnung. Sie wussten nicht, warum Patrick an einem Gendefekt litt. Sie wussten nicht, dass sein leiblicher Vater – mein Großvater – seine eigene Nichte vergewaltigt hatte. Sie wussten nicht, dass es Inzucht war. Und sie würden es nie erfahren.

Ich schaute in den Spiegel. Mein irrer Blick machte mir selbst Angst. Als die Blutung nachgelassen hatte, zog ich den Handschuh wieder über. Ich atmete tief ein und öffnete die Tür zum Flur. Ein Klirren, gefolgt von einem Frauenschrei, kam aus der Richtung von Hohenheims Büro. Ich lief über den Flur und riss die Bürotür auf.

Fanny kniete am Boden, das Gesicht in den Händen verborgen. Vor ihr lag Hohenheim. Eine Blutlache breitete sich neben seinem Kopf aus und färbte den grauen Teppich rot. In Fannys Schoß befand sich die silberglänzende Figur eines Rentiers. Sie blickte panisch auf. Schnell schloss ich die Tür hinter mir, während Fanny begann zu hyperventilieren. Ihr Pferdeschwanz hüpfte auf und ab.

»Was hast du getan?«

»Ich … Er hat mir gedroht …«

Ich kniete mich neben Hohenheim und hielt mein Ohr an sein Gesicht. Er atmete nicht. Seine Haut war so blass wie Fannys.

»Womit hat er dir gedroht?«

Fanny starrte ins Leere. »Ich war untreu … vor ein paar Jahren … Ich hab ihm eine Abfuhr erteilt. Damals hab ich ihm gesagt, dass ich so einen Fehler nie wieder machen werde. Aber jetzt …« Sie schluckte trocken und sah mich verzweifelt an. »Wir müssen ihn hier wegschaffen.«

»Was heißt hier wir?«

»Du musst mir helfen«, stammelte sie.

Sie sah mich aus ihren hellbraunen Augen flehend an.

Vor acht Monaten hatte ich Sascha Baumann von der Eisenbahnbrücke gestoßen. Die ganze Welt glaubte, er sei der Siebenschläfer und hätte meine Morde verübt.

Würde ich Fanny dabei helfen, Hohenheims Leiche verschwinden zu lassen, würde auch sein Blut an mir haften. Wenn ich aber für Fanny aussagte, bliebe ihr ein Prozess wahrscheinlich dennoch nicht erspart. Außerdem käme ich wieder in die Schlagzeilen.

Ich sah auf meine linke Hand, die ich unbemerkt zur Faust geballt hatte. Frisches Blut tropfte aus dem Handschuh.

»Ich mach das Rentier sauber und kümmere mich um den Teppich«, sagte ich. »Ich stell ihn in die Abstellkammer und entsorge ihn, sobald alle durch den Fund der Leiche abgelenkt sind. Du musst dich waschen.«

Fanny sah auf ihre blutigen Hände und die dunklen Flecken auf den Ärmeln ihrer weißen Bluse.

»Ich hab Wechselsachen im Spind«, flüsterte sie.

»Dann geh!«

Fanny stand unsicher auf und ließ das Rentier auf den Teppich fallen. Sie kam auf mich zu und blieb vor mir stehen. Als ich aufsah, berührten ihre Lippen meine Wange. Sie öffnete die Tür und eilte mit leisen Schritten über den Flur.

Ich schaute ihr mit einem eigenartigen Gefühl in der Magengegend nach. Ein Satz von Benjamin Franklin, den meine Mutter mir ans Herz gelegt hatte, kam mir in den Sinn: »Drei Leute können ein Geheimnis nur bewahren, wenn zwei von ihnen tot sind.«

Kapitel 1

Ich sah Arthur fest in die Augen. Dann holte ich mit dem Messer aus.

Liam packte meinen Unterarm. Ich funkelte ihn düster an. Arthurs Lachen drang an mein Ohr wie das Rattern eines nahenden Zugs. Ich trat Liam auf den Fuß. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz zu einer Grimasse.

Er lockerte seinen Griff, ich befreite mich und war mit einem Schritt bei Arthur. Sein Freund mit der Tigermaske stand neben einem Haufen geschnitzter Kürbisse und holte aus. Bevor er mit der Plastik-Axt zuschlagen konnte, wollte ich ihn treten, doch er griff nach meinem Rocksaum. Der weiße Stoff riss und ich verlor das Gleichgewicht. Ich versuchte mich an Arthurs grauem Anorak festzuhalten, doch er wich zurück. Ich fiel aufs Steißbein und schrie auf.

»Hey«, rief ein Mann in Zombiekostüm. »Auseinander!«

Arthur lachte noch immer. Mit dem Messer stach ich ihm ins Bein. Die Spitze blieb im Leder der Springerstiefel stecken. Schnell setzte ich mit einem Fausthieb gegen sein Schienbein nach. Als er sich hinhockte, um sich das schmerzende Bein zu halten, trat ich ihm ins Gesicht. Er taumelte und stürzte neben mir zu Boden.

Bevor mich sein Freund, der eine Schafsmaske trug, mit der Armbrust schlagen konnte, verpasste Liam ihm einen Magenhieb. Er ächzte und kniete sich hin. Der Tiger war unterdessen von Simon McMillan im Schwitzkasten gepackt worden. Mit den Händen zerrte er an Simons Armen, doch sie hatten sich wie ein Schraubstock um seinen Hals gelegt.

»Was hast du mit Cari gemacht?«, schrie ich.

Ich packte Arthur am roten Haarschopf. Er jaulte auf wie ein getretener Hund und fuchtelte mit den Armen in der Luft. Jemand griff von hinten meine Schultern und zog mich ruckartig zurück. Ich wollte gerade zuschlagen, als ich die Maske von Jason Voorhees erkannte. Es durfte nicht wahr sein, dass Spike sich schon wieder in eine Schlägerei einmischte, die ihn nichts anging.

»Julia!«, rief eine Frau.

Ich hielt in der Bewegung inne. Mein Kopf schwang herum zu ihr, während eine flache Hand auf meine Wange prallte. Ich wurde in Spikes Arme gedrückt und sah mich benommen um. Das Messer glitt mir aus der Hand und schlitterte über den Boden. Es blieb vor einem Paar pinkfarbener Schuhe liegen. Mein Blick folgte den Beinen bis zu einem rosafarbenen Kleid mit Elfenflügeln.

Ich riss die Augen auf und flüsterte: »Cari?«

Maja stand in ihrem Playboy-Bunny Outfit neben ihr, genauso wie dutzende Leute, die die Szene beobachtet hatten. Ein Pärchen tuschelte. Meine beste Freundin schaute auf das Messer zu ihren Füßen, dann sah sie mich schockiert an.

Spike ließ mich los. Ich rappelte mich ungelenk auf und klopfte den Dreck von meinem weißen Kleid. Ich ging einen Schritt auf Carina zu. Maja hob das Messer vom Boden auf und ließ die Klinge verschwinden.

»Woher hast du das Messer?«, fragte Carina.

»Von meinem Vater«, log ich und streifte Majas Blick.

Carina schüttelte den Kopf. »Was ist hier los?«

»Das wollte ich auch gerade fragen.«

Liams Vater presste sich zwischen zwei Hexen hindurch und stand nun ebenfalls neben Carina. Hinter ihm erschienen Theodor und Riley McMillan, sowie Liams Onkel Damian Pilgrim. Carinas Vater trat an die Seite seiner Tochter und legte eine Hand auf ihren Rücken.

»Alles in Ordnung?«

Sie nickte verhalten.

»Ich denke, Arthur steht auf der schwarzen Liste?«, keifte Liam.

Damian verzog die Mundwinkel. »Das tut er auch.«

»Warum ist er dann hier?«

Sein Onkel hob die Schultern. »Ich werde mich darum kümmern.«

»Wird Zeit!«

Liam wies mit dem Zeigefinger in Richtung Garderobe. Dahinter befand sich der Ausgang des Nachtclubs. Sein Onkel und er stierten sich einige Sekunden schweigend an. Erst auf Vincents Kopfbewegung hin wandte sich Damian ab.

Arthur und seine zwei Freunde hatten sich bereits aufgerappelt. Simon hielt nach wie vor den Tiger im Schwitzkasten und schleifte ihn zum Ausgang. Damian zeigte den anderen beiden den Weg am Buffet vorbei nach draußen.

»Wir sehen uns, Süße«, rief Arthur über die Schulter hinweg.

»Fick dich!«, schrie ich ihm nach.

Carina sah mich mit offenem Mund an.

»Wir hätten sie einfach rausschmeißen können«, sagte Liam zornig zu mir. »Dein Move war unnötig.«

»Sagt derjenige, der Arthur damals in der Nebengasse attackiert hat.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Carina sah zwischen Liam und mir hin und her.

»Wer ist Arthur?«

»Kinder?«, grollte Vincent. »Könnt ihr das draußen klären?«

Liam schnaufte. Sein Vater drehte sich zur Bühne und winkte den Musikern zu. Die Band spielte ein schnelles Lied und lockte die Umstehenden auf die Tanzfläche.

»Wo warst du?«, fragte ich Carina schroffer als beabsichtigt.

»Draußen«, sagte sie unschuldig.

»Was hast du da gemacht?«, fragte ihr Vater.

»Ich wollte auf Toilette. Dann ist mir schwindelig geworden. Ich wollte Julia und Liam noch Bescheid geben, aber hab keinen mehr gefunden. Also bin ich raus und hab frische Luft geschnappt.«

»Wir haben dich gesucht«, sagte ich.

»Ja. Und jetzt habt ihr mich gefunden.« Sie runzelte die Stirn und deutete auf mein dreckiges Kleid. »Was ist hier passiert?«

»Das klären wir besser draußen«, sagte Carinas Vater und sah mich nachdrücklich an. »Ich bring dich nach Hause, Julia.«

Sein Gesicht zeigte mir, dass er keine Widerworte duldete. Ich nickte Liam zu, der mich finster beobachtete. Mein Blick glitt ein letztes Mal durch den Raum, doch Maja und Spike waren verschwunden.

Als Carina und ich uns auf die Rückbank des Autos gesetzt hatten, fragte sie: »Und? Was ist jetzt?«

Ich schaute aus dem Autofenster.

»Was ist zwischen dir und diesem rothaarigen Kerl passiert?«

»Es ist nichts passiert«, murmelte ich.

Herr Schwarzmüller hatte sich hinters Steuer gesetzt und sah mich vorwurfsvoll durch den Rückspiegel an. Carina wusste lediglich von Liams Zettel im Biologieunterricht, dass Arthur mit ihm verwandt war. Ich konnte nicht verheimlichen, dass ich ihn kannte, aber ihr doch die Details über seinen Übergriff am Hafen ersparen. Sie beäugte mich argwöhnisch.

»Er ist einfach ein Arschloch. Als ich mal mit Liam weg war, hat er uns aufgelauert. Die beiden haben sich geprügelt. Machogehabe eben.«

»Liam hat sich geprügelt?« Carina machte eine lange Pause, dann bildeten ihre Lippen ein O. »Deshalb hatte er an dem einen Tag eine aufgeplatzte Lippe.«

»Ja, das war direkt nach der Schlägerei.«

Dass die aufgeschlagene Lippe nicht von Arthur, sondern von Liams Vater stammte, verschwieg ich.

»Ihr habt euch schon vorher mit ihm geschlagen?«, fragte Carina. »Warum habt ihr mir nichts davon erzählt?«

Weil du dir immer zu viele Sorgen machst, dachte ich, doch sagte: »Arthur ist gefährlich. Er war schon im Knast und …«

»Was hattet ihr denn mit dem zu schaffen?«

»Er ist Felicitas’ Freund.«

»Das ist Felis Freund?« Ihre Stimme überschlug sich.

»Ja«, flüsterte ich. »Wir haben sie dabei erwischt, wie sie Drogen genommen hat. Danach haben wir sie rausgeschmissen.«

»Hat ihrem Freund wohl nicht gefallen.«

»Gar nicht«, sagte ich.

»Kanntest du den schon vorher?«, fragte Carina, »also vor der Prügelei?«

Zuerst wollte ich einfach Nein sagen, aber ich befürchtete, dass Liam ihr später etwas anderes berichten würde. Sicher fragte sie ihn in der Schule nach seiner Beziehung zu Arthur.

»Ja, aus einer Bar«, log ich.

Ich konnte Carina unmöglich beichten, dass ich im Knast einen Häftling besucht und Arthur dort im Flur getroffen hatte; dass ein Typ sich vor mir auf dem Damenklo umgezogen hatte; dass dieser Typ mich mit auf eine Party genommen hatte, wo ich Arthur wiedersah; und dass dieser Typ auf der Suche nach dem Siebenschläfer ist, der mir offenbar einen Drohbrief geschickt hatte. Zusammengefasst hörte es sich selbst für mich schwer vorstellbar an.

»Ich kellnere wieder«, sagte ich. »Die Bar heißt Pont Neuf. In der Bismarckstraße.«

»Wie die Brücke in Paris?«, fragte Carina.

Ich nickte. Erst neulich hatten wir die Sehenswürdigkeiten von Paris im Französischunterricht besprochen.

»Sie wird von einem netten Franzosen geführt. In seiner Bar hab ich Arthur kennengelernt. Wir sind ins Gespräch gekommen. Ich mochte ihn und wir haben uns ein Mal getroffen. Da hat er sich schon als Wichser herausgestellt.«

Dass Mika, der Franzose, wegen Drogenhandels in Untersuchungshaft gesessen hatte, erwähnte ich nicht.

»Warum hast du mir nichts von diesem Kerl erzählt?«

Ich schaute wieder aus dem Fenster und kurbelte die Scheibe herunter, um frische Luft hereinzulassen. Motorenlärm drang herein. Ich wartete das Umschalten einer Fußgängerampel ab, bevor ich antwortete.

»Weil es mir peinlich war. Vor allem nachdem er sich als Idiot herausgestellt hatte.«

»Aber du hast keinen Kontakt mehr zu diesem Arthur, richtig?«, fragte Carina.

»Ich hab ihn abserviert. Liam hat ihm nach dem Clubbesuch noch mal deutlich gemacht, dass er mich in Ruhe lassen soll. Er ist keine Gefahr für mich.«

»Auf mich hat er eher den Eindruck gemacht«, sagte Herr Schwarzmüller, »als würde er sich für diese Aktion noch revanchieren wollen.«

Ich sah Herrn Schwarzmüller vorwurfsvoll an, während die Falten auf Carinas Stirn meine eigenen Zweifel widerspiegelten.

»Das wird Liams Vater nicht zulassen.«

»Wenn doch …«, murmelte Herr Schwarzmüller.

Hoffentlich ließ Arthur mich nach diesem Abend zufrieden, wenn schon der Siebenschläfer mich im Auge behalten sollte. Wenn nicht Arthur selbst den Drohbrief geschrieben hatte.

»Seit wann gehst du eigentlich auf Partys?«, fragte Carina.

»Darf ich mir ohne deine Erlaubnis nicht mal mehr den Arsch abwischen, oder was?«, fragte ich.

Carina sah mich schockiert an, genauso wie ihr Vater durch den Rückspiegel. Ich schluckte und schaute aus dem Fenster. Die Straßenlaternen zogen gelbe Streifen über den Asphalt. Wir hatten die Stadt in Richtung des Vorortes verlassen, in dem ich mit meinem Vater wohnte.

»Sorry«, flüsterte ich.

Carina hatte sich abgewandt und starrte aus dem Fenster.

»Du hättest mich mitnehmen können«, sagte sie schließlich.

Unsere Blicke trafen sich. »Liam hat mich eingeladen. Wenn du willst, nehmen wir dich das nächste Mal mit. Okay?«

»Okay«, sagte sie mit einem gequälten Lächeln.

Kapitel 2

Zwei Wochen vergingen, bis ich Theodor und Simon McMillan wiedersah. Ich stand hinter der Theke im Pont Neuf und zapfte Bier. Mika lief durch den Raum und nahm neue Bestellungen auf. Theodor und sein Patenonkel Simon betraten die Bar gegen 22 Uhr. Da alle Tische belegt waren, setzten sie sich auf die Barhocker an der Theke.

»Hallo, Julia«, sagte Simon. »Ein Bier und eine Cola, bitte.«

»Die Kleine heißt Bea«, lallte ein graubärtiger Mann mit aufgedunsenem Gesicht neben ihm.

Theodor und Simon schauten mich mit gerunzelter Stirn an. Ich lächelte den Mann entschuldigend an. Er saß schon seit gut drei Stunden mit seinem Freund an der Theke.

»Julia ist mein Zweitname.«

»Sollen wir dich jetzt Bea oder Julia nennen?«, fragte sein Freund und stützte sich auf seine massigen Ellenbogen.

»Ich hasse meinen Zweitnamen.«

»Alles klar, Bea.« Sie prosteten mir zu und kippten ihren Whiskey hinunter. »Wie hieß nochmal deine Vorgängerin?«

Ich schaute Mika an, der an die Theke zurückgekehrt war, und das Tablett mit leeren Gläsern auf die Spüle stellte. Er blickte an die holzgetäfelte Decke. Mika wohnte über der Bar. Nachdem Saskias Eltern sie hinausgeworfen hatten, war sie bei ihm untergekommen.

»Saskia«, antwortete er.

»Warum ist die gegangen? Die war so nett.«

»Und ich nicht, oder was?«, rief ich empört und schlug mit dem Geschirrtuch spielerisch nach dem Mann. Der zog die Hand weg und stieß mit dem Arm sein Bierglas an. Es schwankte, doch sein Freund griff instinktiv danach. Beide lachten.

»Das Studium war zu stressig«, sagte Mika, stellte drei volle Biergläser auf das Tablett und verließ den Tresen.

Theodor und Simon sahen ihm skeptisch hinterher. Als die beiden ihre Blicke mir zuwandten, zuckte ich mit den Achseln. Sie wussten genauso gut wie ich, dass Saskia das aktuelle Wintersemester noch beendete. Aber sie war im vierten Monat schwanger und durfte nicht mehr schwer heben. Außerdem wäre sie ständigem Zigarettenqualm ausgesetzt.

Als ich den beiden die zwei gefüllten Gläser reichte, beugte ich mich über die Bar und zwinkerte ihnen zu.

»Ich heiße übrigens Tabea.«

Theodor schmunzelte. »Das hier ist gar nicht mal so legal, he?«

Er wies auf die Uhr, die über der Tür zu den Toiletten hing.

»Wollen Sie mich jetzt verpfeifen, Herr Bürgermeister?«

Theodor grinste und nahm einen Schluck Bier. Er kratzte sich am Kopf und verwuschelte dabei sein braunes Haar. Dann wandte er sich seinem Patenonkel zu, der an seiner Cola nippte.

Seit drei Wochen kellnerte ich für Mika. Offiziell arbeitete ich tagsüber als Minijobberin. Nach 22 Uhr endete meine Arbeitszeit. Er bezahlte mich ab da an in bar. Den Gästen erzählten wir, ich sei gerade volljährig geworden und kellnerte neben meinem Abitur.

Für den Arbeitsvertrag hatte ich die Unterschrift meines Vaters fälschen müssen. Ich behauptete, dass ich bis spät abends bei Carina oder Alex war. Meinen Job im Eiscafé hatte er gutgeheißen, aber wenn er wüsste, welche Klientel hier um Mitternacht rumlungerte?

Ich gab vor, die zwei Betrunkenen an der Bar zu beobachten, während die McMillans über die Umstrukturierung des Frachthafens redeten. Gestern hatte wohl eine Gemeindeversammlung diesbezüglich stattgefunden.

»Ich hab gehört, was er beim Hinausgehen sagte«, erläuterte Theodor. »Er meinte: ›Der Kleine hat doch keine Ahnung vom Geschäft.‹«

Frustriert griff er nach seinem Bierglas und hob es an den Mund, während sein Patenonkel den Kopf schüttelte.

»Lass dich davon bloß nicht unterkriegen«, sagte Simon. »Es ist immer schwer in die Fußstapfen des eigenen Vaters zu treten.«

»Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt will. Wir waren nie einer Meinung, schon zu seinen Lebzeiten nicht. Das wird politisch genauso sein wie privat. Diese Typen können nicht erwarten, dass ich so weitermache wie mein Vater.«

»Das sollst du auch gar nicht.«

Mika kam zum Tresen und gab mir einen Zettel. Ich sah auf die neue Bestellung und holte den Bourbon aus dem Regal hinter mir.

»Warum hab ich mich von dir nur dazu überreden lassen, mich für diesen Posten aufzustellen?«, fragte Theodor.

»Dü bist die Beste für die Job«, sagte Mika.

Er stand an der Kasse und ließ sich von einem Gast die EC-Karte reichen.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich wirklich gewinne. Vincent Pilgrim hatte viel mehr Potenzial und Unterstützer. Ich kann es immer noch nicht glauben. Und alles wegen dieser Razzien nur zwei Tage vor der Wahl.«

»Dein Glück«, sagte Mika, »dass sie Drogen gefünden ’aben.«

Theodor strich mit dem Daumen über das Kondenswasser an seinem Glasrand. »Ja. Was für ein Zufall.«

»Ich hab schon immer geglaubt, dass aus dir was ganz Großes wird, Theo.« Simon legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Wenn du wegen dieser Hafensache unsicher bist, dann frag doch Vincent um Rat! Der ist immerhin ein waschechter Geschäftsmann.«

»Wahrscheinlich hätte der Stadtrat ihn auch lieber an der Spitze. Ich weiß, was er antworten wird: Er wäre für den uneingeschränkten Ausbau des Hafens, um die Wirtschaft anzukurbeln. Dann kann er besser Waren anliefern lassen. Unser Cousin könnte besser Autos importieren und exportieren. Bla, bla, bla. Aber ich denke an die Natur. Was ist, wenn wir den Fluss weiter strapazieren? Die Wasserqualität hat in den letzten Jahrzehnten bereits unter der Expansion unserer Familien gelitten.«

Der Gast unterschrieb seine Quittung und sah den Bürgermeister argwöhnisch an.

»Möchten Sie irgendetwas zur Diskussion beitragen?«, fragte Simon. »Nein? Dann gehen Sie bitte weiter! Danke.«

Theodor wurde sich offenbar erst jetzt der Anwesenheit des Fremden bewusst. Der Mann wich seinem Blick aus und lief zurück zu seinem Tisch.

»Das mochte ich schon immer an dir«, sagte Simon mit einem sanftmütigen Lächeln. »Du hast dich schon als Kind mehr für Käfer und Insekten als für Autos und Partys interessiert.«

Ein älterer Herr mit braunem Herrenhut betrat die Bar. Theodor winkte ihn heran. Die Haut des Unbekannten war hell und der gestutzte Vollbart sowie seine Augenbrauen waren weiß.

Er nahm die Sonnenbrille und den Hut ab. Seine kristallblauen Augen standen im Kontrast zu der düsteren Bar. Erst als er sich neben Theodor setzte und meinen Blick erwiderte, merkte ich, dass ich ihn anstarrte. Ich senkte den Kopf.

»Entschuldigung«, flüsterte ich. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

»Ja, ein Bier, bitte.« Er räusperte sich. »Keine Sorge, Mädchen! Du bist nicht die Erste, die mich anstarrt.«

Er lächelte mild, was seine Gesichtsfalten noch vertiefte. Sein androgynes Aussehen ließ ihn jedoch zeitlos wirken. Ich griff ein leeres Bierglas und hielt es unter den Zapfhahn. Als er das Glas entgegennahm, sah ich, dass er an seiner linken Hand einen Lederhandschuh trug. Die farbigen Nähte zogen sich wie Ranken über den Stoff.

»Habt ihr davon gehört?«, fragte der Mann schroff.

»Guten Abend, Onkel Patrick«, sagte Simon betont langsam. Sein Onkel nickte nur mit finsterer Miene. »Du meinst sicher den Polizeieinsatz, oder? Ja, hab ich mitbekommen.«

Theodor sah zwischen den beiden hin und her. »Was für ein Polizeieinsatz?«

»Heute Morgen waren zehn Polizisten bei uns«, sagte Patrick. »Die haben unseren Laden dichtgemacht und Unmengen von Firmeneigentum konfisziert.«

Simon pfiff verächtlich. »Mit welcher Begründung?«

»Nun. Offenbar gehen sie davon aus, dass ich deinen Vater und deinen Bruder ermordet habe.«

»Ist ja lächerlich«, spie Theodor aus und lachte nervös auf.

»Offensichtlich haben sie keinerlei Beweise dafür. Sonst würdest du nicht hier sitzen«, sagte Simon. »Was genau haben sie konfisziert?«

»Unmengen von Stoff.«

Patricks Blick traf auf Simons Hand, die um sein Colaglas geschlossen war. Ihre Handschuhe ähnelten sich. Patrick räusperte sich und fuhr fort.

»Sie haben von forensischen Erkenntnissen geredet und von allen Lederwaren Proben mitgenommen. Wie es aussieht, gehen sie davon aus, dass der Mörder Kleidung aus unserem Laden trägt. Deshalb haben sie auch alle Käuferlisten der letzten Jahre mit einem Durchsuchungsbefehl eingefordert. Die letzten dreißig Jahre soll ich nachreichen.«

»Dann ist jeder zweite Bürger dieser Stadt unter Verdacht, einschließlich wohl jedes McMillans überhaupt«, sagte Theodor. »Ich trage eure Westen, Simon und Riley tragen eure Handschuhe und Jacken. Das schränkt ihre Suche doch in keiner Weise ein. Es legt nur einen Generalverdacht auf jedes Familienmitglied der McMillans.«

»Deshalb wollte ich mit dir darüber reden. Was gedenkst du zu tun, Theo?«

»Ich?«

»Ja, du als Bürgermeister«, sagte Patrick. »Du musst doch irgendwas unternehmen können. Dein Vater Bruce – Gott hab ihn selig – hat uns damals das erste Kapital für den Laden gegeben. Die Polizei kann unser Unternehmen nicht so einfach dichtmachen, nachdem er verstorben ist.«

»Haben sie dir ein Geschäftsverbot erteilt?«, fragte Simon.

»Nein. Können Sie auch nicht, solange sie nicht beweisen, dass wir etwas mit den Morden zu tun haben. Und das haben wir nicht«, sagte er. »Aber es ist ein Einschnitt in unsere Diskretion und damit berufsschädigend. Du hättest sehen müssen, mit welcher Seelenruhe die unsere Sachen durchstöbert haben. Das sind persönliche Dokumente unserer Kunden. Manche haben – sagen wir – ausgefallene Wünsche. Wenn ihr versteht, was ich meine.«

Simon lächelte süffisant.

»Ich weiß nicht, Onkel Patrick.« Theodor nahm den letzten Schluck aus seinem Bierglas. »Ich werde sehen, was ich tun kann, aber ich kann keine polizeilichen Ermittlungen beeinflussen.«

»Sollte die Polizei weiterhin meine Familie terrorisieren«, fuhr Patrick fort, »dann kann ich ungemütlich werden. Das verspreche ich dir.«

Theodor drehte das leere Glas in seinen Händen. »Die glauben doch nicht im Ernst, dass einer aus unserer Familie meinen Vater und Justin umgebracht hat. Das ist … einfach lächerlich. Ich mein: Simon trägt seine Handschuhe schon solange ich denken kann. Als ob ihn das zu einem Mörder machen würde. Am Ende behaupten die noch, er sei der Siebenschläfer. So ein Schwachsinn.«

Patrick stimmte in das Lachen der anderen beiden ein.

»Ist doch wahr. Forensische Erkenntnisse.« Theodor spuckte die Worte auf die Theke. »Dass ich nicht lache.«

»Selbst wenn der Siebenschläfer bei dir eingekauft haben sollte«, sagte Simon, »bist du nicht für seine Morde verantwortlich. Seine Taten sind Jahrzehnte her. Was kannst du dafür, dass er auf eure Klamotten steht?«

»Meine Rede.«

Die drei bestellten eine zweite Runde und verzogen sich an einen freigewordenen Tisch am Ende des Raums.

Nach Mitternacht eilte ich aus dem Pont Neuf, um den letzten Bus zu bekommen. Vor der Bar standen zwei Grüppchen und rauchten. Ich zog den Reißverschluss meiner Lederjacke zu und den Schal enger um den Hals. Dann atmete ich einmal tief durch und wandte mich in Richtung Bushaltestelle.

Abrupt blieb ich stehen, als ich den Mann neben mir erkannte. Er lehnte an der Wand und hatte den Kragen seines grauen Mantels hoch ins Gesicht gezogen. Er blies den Qualm seiner Zigarette in die kalte Novemberluft und sah mich unverwandt an.

---ENDE DER LESEPROBE---