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Sabrina hat lange für ihre Freiheit gekämpft. Stalking, Kontrollzwang, Psychoterror … Das alles will die Fotografin in ihrem neuen Leben hinter sich lassen. Da trifft sie bei einem Fotoshooting ausgerechnet auf Robin Winter - Profifußballer und Frauenheld. Ihre schlagfertige Art scheint ihn nicht abzuschrecken, genauso wenig ihre rätselhafte Vergangenheit. Denn auch er hat ein Geheimnis, das seine Karriere bedroht. Während Sabrina langsam Vertrauen zu Robin fasst, holt der Albtraum ihrer Kindheit sie wieder ein. Und sie muss sich entscheiden: Will sie ihre Unabhängigkeit um jeden Preis bewahren oder kann sie ihre Gefühle für Robin zulassen? Kann diese Liebe gegen alle Schwierigkeiten bestehen?
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Das Buch
Sabrina hat lange für ihre Freiheit gekämpft. Stalking, Kontrollzwang, Psychoterror … Das alles will die Fotografin in ihrem neuen Leben hinter sich lassen. Da trifft sie bei einem Fotoshooting ausgerechnet auf Robin Winter - Profifußballer und Frauenheld.
Ihre schlagfertige Art scheint ihn nicht abzuschrecken, genauso wenig ihre rätselhafte Vergangenheit. Denn auch er hat ein Geheimnis, das seine Karriere bedroht.
Während Sabrina langsam Vertrauen zu Robin fasst, holt der Albtraum ihrer Kindheit sie wieder ein. Und sie muss sich entscheiden: Will sie ihre Unabhängigkeit um jeden Preis bewahren oder kann sie ihre Gefühle für Robin zulassen?
Kann diese Liebe gegen alle Schwierigkeiten bestehen?
Die Autorin
Anika Sawatzki wohnt mit Jamie L. Farley in einer Autoren-WG. #diemitderEnte
Seit 2017 veröffentlicht sie Thriller im Selfpublishing. Ihr Debütroman war im Dezember 2017 Monatsfavorit bei Neobooks. 2021 war sie mit dem ersten Band ihrer Siebenschläfer-Trilogie für den tolino media Newcomerpreis nominiert.
Neben Thrillern schreibt sie mittlerweile auch Kurzkrimis und Horror-Kurzgeschichten.
Romane
Lachende Clowns morden nicht (2017)
Der Siebenschläfer erwacht (2019)
Der Siebenschläfer schlägt zu (2020)
Der Siebenschläfer ruht nie (2021)
Shooting Star - If you leave me (2023)
Anthologien
Midnight Stories (2021)
Red River Lane (2023)
»When you’re feeling empty, keep me in your memory.
Leave out all the rest.«
Linkin Park
Ich widme dieses Buch Torsten.
Dein unvorhersehbarer Tod erinnerte mich daran,
meine Träume niemals auf Morgen zu verschieben.
Shooting Star
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Epilog
Wie geht es weiter?
Danksagung
Impressum
ENDE
Prolog
Sabrina
Sie war unmittelbar nach Tagesbeginn aufgebrochen. Die Stadt schlief noch tief und fest, genauso wie ihre beste Freundin Alina, die sie allein in ihrem Bett zurückgelassen hatte. Über Sabrinas Schulter hing eine leere Reisetasche – ebenso leer wie die Zündkörper um sie herum.
Sie hatte Mühe, nicht bei jedem Schritt über den Müll zu stolpern. Verschossene Raketen, abgebrannte Wunderkerzen und gezündete Feuerwerksbatterien verteilten sich quer über die Gehwege. Der Geruch von Schwarzpulver lag ihr in der Nase. Vor einigen Stunden hatten an dieser Stelle Menschen einen wundervollen Silvesterabend verbracht. Ihre Freundin nicht.
Sabrina hielt an einem Neubaublock und schloss die Tür auf. Anstandshalber klingelte sie, bevor sie die Treppen hinauf zu Alinas Wohnung stieg. Gerade, als sie nach dem passenden Schlüssel an ihrem Bund suchte, wurde die Wohnungstür geöffnet.
Timo stand vor ihr, auf dem Gesicht ein freudestrahlendes Lächeln, bis er sie erkannte. Seine Miene gefror. Ohne ein Grußwort zwängte sie sich an ihm vorbei, rammte dabei seine Schulter.
Ihre zielstrebigen Schritte führten sie ins zweite Zimmer auf der linken Seite – das Schlafzimmer. Dort öffnete sie den Kleiderschrank und verstaute alle wesentlichen Klamotten ihrer Freundin in der mitgeführten Reisetasche. Timo war ihr unterdessen durch den Flur gefolgt und lehnte im Türrahmen.
»Spielst du den Kurier?«, fragte er sarkastisch.
Sabrina antwortete nicht, woraufhin Timo verächtlich schnaubte. Sie fühlte sich zurückversetzt in ihr Jugendzimmer. Damals, als sie ins Zimmer gestürmt war, ihren Vater im Nacken; die Sachen gepackt und die Heimat hinter sich gelassen hatte; ihre Vergangenheit und ihre Altlasten. Genauso würde es mit ihm laufen – Alina ließ dieses Arschloch endlich hinter sich.
Im Augenwinkel sah sie, wie Timo sich durchs blonde Haar fuhr und auf sie zutrat. Umgehend sprang sie auf, um ihm ebenbürtig zu begegnen. Er stoppte vor ihr und sah sie aus eisblauen Augen an.
Betont langsam schob er seine Brille hoch. »Die Sachen bleiben hier.«
»Davon träumst du«, antwortete sie und trat einen Schritt zurück.
Sie ergriff die Henkel der Tasche, registrierte dabei jede Regung seines Knies. Es rührte sich nicht. Mit diesem Zimmer war sie fertig. Im Bad öffnete sie den Spiegelschrank und ließ alle notwendigen Utensilien mit einer einzigen Handbewegung in die offene Reisetasche fallen. Als sie sich umdrehte, stand er in der Tür.
Umgehend spannte sie die Muskeln an, als wolle ihr Körper sich auf einen vermeintlichen Schlag gefasst machen. Unwillkürlich sah sie sich nach möglichen Waffen um. Sie erspähte die Nagelschere im Badschrank und eine Gänsehaut überlief sie. Timos Blick folgte ihr und ruhte Millisekunden später wieder auf ihr.
Damals in ihrem Jugendzimmer hatte sie ihrem Vater wüste Beleidigungen an den Kopf geworfen, ihn sogar mit einem Schmuckkästchen beworfen. Sie hatte gewollt, dass er ging. Sie wollte, dass auch Timo ging. Doch ihr Auszug von Zuhause war fünf Jahre her. Heute würde sie nicht auf dieselbe Art und Weise ausrasten. Sie hatte sich unter Kontrolle.
Sabrina schloss kurz die Augen und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Ein und aus. Sie musste ihr wummerndes Herz im Zaum halten. Als sie die Lider wieder öffnete, musterte Timo sie unverhohlen. Sie zwang sich zu einem Lächeln und erntete ein Stirnrunzeln.
»Ich werde jetzt gehen«, sagte sie so ruhig wie möglich.
Sie wollte sich an ihm vorbei durch die Tür zwängen, doch er packte sie unvermittelt am Unterarm. Sofort griff sie nach der Nagelschere und hielt sie ihm entgegen.
»Wag es dir!«
Er ließ los und hob beide Hände. Gut so. Er sollte nicht denken, dass sie sich genauso wie ihre Freundin von ihm behandeln lassen würde.
Endlose Sekunden taxierten sie einander bewegungslos. Dann rempelte sie ihn mit der Schulter an, um endlich diesen stickigen Raum verlassen zu können. Ein für alle Mal.
Ihr lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als sie den langen Flur durchschritt und durch die Wohnungstür verschwand, den Blick immer geradeaus gerichtet. Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war und der Widerhall von den Treppenhauswänden an ihr Ohr drang, fiel ihr ein Stein von der Größe eines Lieferwagens vom Herzen. Sie lockerte ihren verkrampften Griff um die Schere und ließ sie zu Boden fallen.
Timo würde nie wieder Teil ihrer beider Leben sein.
Kapitel 1
Sabrina
6 Monate später
Sabrina stand vor einem ausufernden DVD-Regal. Robin hatte überwiegend Action- und Trashfilme zu bieten. Als Kind hatte sie keine derartigen Filme sehen dürfen. Stattdessen hatte ihr Vater sie regelmäßig auf Städtereisen geschickt. Bildung und Kultur bedeuteten ihm alles.
Bewusst schlecht gemachte Filme konnte er genauso wie ihre Freundin Alina nicht nachvollziehen. Seit sie sich aber mit Robin traf, hatte er sie in die Untiefen des Trashs eingeweiht. Seine Lieblingsfilme hießen ›Zombiber‹, ›Titanic 2‹ und ›Hentai Kamen‹. Alle drei hatten sie bereits gesehen.
Trashfilme erkannte man für gewöhnlich an der abstrusen Reaktion des Gegenübers, wenn man versuchte, den Film in einem Satz zusammenzufassen. ›Hentai Kamen‹ handelte beispielsweise von einem Japaner, der durch das Aufsetzen benutzter Damenschlüpfer Superkräfte erhielt. Sabrina hatte noch niemals in ihrem Leben so lange am Stück lachen müssen wie während dieses Films.
Heute tendierte sie zu einem unbekannteren Streifen. Einige hielt sie in der Hand und ließ sich von den Covern und Beschreibungen faszinieren. Robin betrat das Wohnzimmer und stellte ein Tablett mit zwei Tellern und Tassen auf dem Couchtisch ab. Es gab ein Kartoffelgratin, für das sie bis vor einer halben Stunde noch gemeinsam die Knollen geschnitten hatten.
Er strich sich eine braune Strähne aus dem Gesicht. »Und? Hast du dich endlich entschieden?«
»Nein. Aber das hier hört sich alles ziemlich trashig an.«
Er trat auf sie zu und sah über ihre Schulter. Sie hatte das Bedürfnis, sich zurück an seine Brust zu lehnen, doch widerstand dem Verlangen. In den letzten Tagen hatte sie immer öfter solche verwirrenden Gedanken.
»›Cowboys vs. Dinosaurs‹«, sagte Robin. »Der ist super.«
»Ist der nicht mit James Bond?«
»Schön wär’s. Du meinst sicher ›Cowboys & Aliens‹. Der ist mit Daniel Craig und Harrison Ford. Der hier ist später entstanden und – wie du siehst – vollkommener Trash.«
»Dann mal los!«, sagte Sabrina.
Sie reichte Robin den Film, blieb aber noch vor dem Regal stehen, um die übrigen Titel zu lesen. Als sie eine DVD herauszog, entdeckte sie, dass hinter den vorderen Hüllen noch eine einzige weitere quer lag. Sabrina nahm eine Handvoll Filme heraus, um an die hintere DVD zu gelangen. Es schien eine selbstgebrannte zu sein, schlicht und grau. Nichts ließ Rückschlüsse über den Inhalt zu.
Im Augenwinkel nahm sie wahr, dass Robin sich erneut erhoben hatte und zu ihr eilte. Schnell zog sie den Film hervor und wich ihm aus. Er packte sie am Handgelenk, doch sie entwand sich seinem Griff.
»Was ist da drauf?«
»Nichts«, sagte er hastig.
Sabrina schüttelte den Kopf. »Deinem Verhalten nach zu urteilen, ist da was Obszönes drauf.«
In Robins Augen blitzte etwas auf.
»Nein, Robin! Wer hätte gedacht, dass du einer von denen bist, die es nicht unter ihrem Bett verstecken?«
»Da ist schon meine Playboy-Sammlung«, antwortete er sarkastisch. »Und jetzt her damit!«
Sabrina grinste ihn herausfordernd an und zog den Film zurück, als er danach griff. Seine Hand umschlang mühelos ihr Handgelenk. Während er mit der einen Hand nach der DVD griff, zog er sie mit der anderen zu sich heran. Ihre Gesichter kamen sich gefährlich nahe.
»Ach, komm schon! Stell dich nicht wie ein Pubertier an! Jeder Mann hat eine Sammlung, oder?«
»Dann kannst du mir den Film ja jetzt wiedergeben.«
Er zog an der DVD, doch Sabrina löste ihren Griff nicht.
»Wieso? Was ist da drauf? Aber nichts mit Tieren. Oder Toten. Oder Babys.« Sie riss schockiert die Augen auf. »Oder mit toten Tierbabys.« Sie entlockte Robin ein kurzes Lächeln, das Sekunden später erstarb. »Lass mich wenigstens wissen, worum es geht!«
»Auf keinen Fall.«
Sie ließ die DVD los und er verbarg sie hinter seinem Rücken. So konnte sie weder die Hülle noch die Aufschrift der DVD mehr sehen.
»Du stellst dich an, als wäre das ein Sextape.«
Robins Mimik gefror und er wandte sich ab. Die Röte stieg ihm ins Gesicht.
»Nein.« Sie riss den Mund auf und kicherte wie ein Teenager. »Nicht dein Ernst.«
Er schwieg und schob die Hülle zurück ins Regal.
»Sag mir, dass du nicht auf dieser DVD bist!«
Er schwieg noch immer, warf ihr einen flüchtigen Blick zu.
»Robin Winter, hast du einen Porno gedreht?«
»Reicht es dir, wenn ich sage, ich war jung und unerfahren? Und dass die Qualität miserabel ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich will ihn sehen.«
»Willst du nicht.«
»Wissen deine Freunde davon?«
»Klar«, sagte er.
»Warum ich dann nicht? Bin ich etwa keine Freundin?«
Sabrina ging einen Schritt auf ihn zu. Seine Hand glitt wieder hinauf zur DVD.
»Du wirst ihn nicht sehen«, stellte Robin unmissverständlich fest.
»Niemals?«, fragte sie und legte den Kopf schief. »Was muss ich tun, damit wir ihn uns heute Abend ansehen?«
Aus einem Impuls heraus legte sie ihre Hände auf seine Brust und lehnte sich an ihn, um seinem Gesicht näher zu sein. Sie sah ihm tief in die Augen.
»Nun, wenn du dabei halbnackt auf meinem Schoß sitzt, könnte ich mich erweichen lassen«, scherzte er mit süffisantem Grinsen.
Erst jetzt erkannte sie, wie ihre plötzliche Nähe in Kombination mit ihrer Frage auf ihn gewirkt haben musste. Sie zog ihre Hände zurück und sah auf seine Brust. Ihr Puls beschleunigte sich.
»Niemals.«
»Deine Entscheidung«, sagte Robin und schnalzte mit der Zunge. »Dann siehst du den Film eben nie.«
Sein verschmitztes Lächeln trieb ihr eine Gänsehaut über den Körper. Niedliche Grübchen traten auf seine Wangen. Er taxierte Sabrina und seine einnehmende Mimik ließ sie erschaudern, während er ein paar Schritte zurück zur Couch ging.
»Also, ›Cowboys vs. Dinosaurs‹«, verkündete Robin.
Er griff nach der DVD, die er auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte, bevor sie das mutmaßliche Sextape gefunden hatte. Sie folgte ihm langsam zur Couch, nicht ohne einen Blick zurück zu der DVD geworfen zu haben.
Robin legte den Film ein und sie machten sich über den lauwarmen Auflauf her. Alle paar Minuten linste sie hinüber zum Regal und fragte sich, wer darauf zu sehen war. Wie alt mochte er gewesen sein? Aber in Wirklichkeit wollte sie das Tape nicht sehen.
Noch vor zwei Monaten hätte sie niemals in Erwägung gezogen, Robin allein in seine Wohnung zu folgen. Damals hatte sie den Auftrag erhalten, die ansässige Fußballmannschaft nach ihrem Auftaktspiel zu fotografieren. Dort hatte sie Robin zum ersten Mal getroffen.
Er hatte sie auf so stumpfe Art und Weise angegraben, dass sie sich noch heute fragte, wie sie nach seinem zweiten ›That’s what she said‹ Witz überhaupt mit ihm hatte ausgehen können. Doch ehrlich gesagt, hatten sie niemals ein Date gehabt.
Die Fronten waren klar: Sie waren nur Freunde. Das hatte Sabrina mehrmals betont. Dennoch hielt das Robin nicht davon ab, weiterhin sexuelle Anspielungen zu machen. Und sie liebte ihre Wortgefechte. Doch in den letzten Tagen hatte sich irgendetwas geändert.
Je mehr Sabrina an Robin dachte, wie er mit einer anderen Frau Sex hatte, fragte sie sich, wie er wohl im Bett war. Und diese Gedanken lösten ungeahnte Gefühle in ihr aus. Sofort schob sie die auftauchenden Bilder von sich und zog die Decke bis an ihren Hals.
Sie konnte sich nicht vorstellen, Robin körperlich näherzukommen. Er galt als Playboy, die Presse forcierte stets dieses Image. Die Geschichten, die er ihr während ihrer Treffen offenbart hatte, sprachen dieselbe Sprache: Da ein One-Night-Stand mit einem Fan, dort ein Date mit der Ex-Freundin eines Mitspielers kurz nach der Trennung. Dennoch waren sie unterhaltsam, solange Sabrina sich nicht vorstellte, dass sie in der Haut der Damen steckte. Sie wollte keinesfalls ein Nagel in seinem Bettpfosten werden.
Sabrina stellte ihren leeren Teller auf dem Wohnzimmertisch ab und lehnte sich wieder bequem in der cremefarbenen Couch zurück. Robin besaß einen 65-Zoll-Flachbildfernseher, der auf einem Glastisch stand. Es gab eine Menge technischer Finessen. Sie wusste selbst nicht, was die Rekorder und Konsolen darunter alles hergaben, aber sie schätzte Robin nach den letzten Wochen als sehr technikaffin ein.
Das erste Drittel des Films war erreicht und Sabrina konnte sich jetzt schon nicht mehr erinnern, worum es ging. Zu sehr hatte sie ihren eigenen Gedanken nachgehangen. Robin saß stumm neben ihr und betrachtete stoisch den Bildschirm. Er hatte verhältnismäßig wenige Kommentare in den letzten Minuten abgegeben. Für gewöhnlich ließ er sich lang und breit über die Dialoge und Handlungen der Schauspieler aus.
Nachdem er einen Schluck seiner Cola getrunken hatte, lehnte er sich zurück in die Kissen und wandte ihr das Gesicht zu. Ein Bein hatte er angewinkelt und eine Hand lässig darauf abgelegt. Seine Mimik ließ keinerlei Aufschluss über seine Gedanken zu.
»Du denkst immer noch an die DVD, hm?«
»Wer ist darauf zu sehen?«, fragte sie.
»Ist das wichtig?«
Sabrina schwieg und dachte angestrengt nach. Sie wusste, dass er viele Ex-Freundinnen und One-Night-Stands hatte.
»Das Tape hat außer mir noch niemand gesehen, nicht einmal meine besten Freunde.«
»Ich würde das nie öffentlich machen«, versprach sie mit Nachdruck. »Aber sehen würde ich es schon gern.«
Robin sah hinab auf den Couchbezug, bevor seine wachen Pupillen sie wie Pfeile durchbohrten.
»Willst du das wirklich?«
Sie nickte, aber er sah sicher die Zweifel. Einerseits war sie neugierig, was sich auf der ominösen Disk befand, andererseits konnte sie nicht einschätzen, wie sich ihre Beziehung dadurch verändern würde.
Dabei wusste sie nicht einmal, was ihr mehr Sorgen bereitete: dass sie sein Aussehen anmachen oder doch eher anekeln würde. Konnte sie Robin danach noch ins Gesicht sehen?
Sein Blick wanderte von ihren Augen zu ihren Lippen und wieder hinauf. Dann veränderte er seine Position auf der Couch und Sabrina beobachtete jede einzelne Bewegung unruhig. Er stemmte seinen linken Ellenbogen in die Couchlehne und ließ sein Kinn in die Handfläche sinken.
»Ich lass ihn dich nicht ohne Gegenleistung sehen.«
»Was willst du?«
»Weißt du.« Er senkte kurz den Kopf, um sie dann wieder zu taxieren. »Ich fühle mich gerade ziemlich nackt. Immerhin wirst du mich nackt sehen, wenn du diese DVD siehst.«
»Als wenn du damit ein Problem hättest. Du hast dich damals auch ausgezogen. Ich hoffe, es war kein One-Night-Stand.«
»Nein, war es nicht.«
»Kenne ich sie?«
Robin zögerte etwas zu lang. »Nein. Ich denke nicht.«
Eine kurze Pause entstand, dann fragte Sabrina erneut: »Was willst du? Soll ich mich auch ausziehen?«
»Ich will etwas über dich wissen, das du noch niemandem erzählt hast.«
»Was soll das sein?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Vielleicht mit wie vielen Männern du schon geschlafen hast?«
Sabrina musste auflachen. »Das willst du wissen?«
»Wie viele waren es?«, fragte er ernst.
Ihr Lachen erstarb und sie sah ihm tief in die Augen.
»Ich hab noch nie mit einem Mann geschlafen.«
Erstaunt sah er sie von Kopf bis Fuß an. Sie fühlte sich entblößt, obwohl sie eine schwarze Caprihose und ein graues Shirt trug.
»Reicht das?«, fragte sie.
»Nein. Ich hätte gern pikante Details aus deinem Sexleben.«
»Ich darf doch bitten!«
Im selben Moment wurde ihr bewusst, dass dieses Sextape eindeutig ein pikantes Detail aus seinem Sexleben darstellen musste, also verkniff sie sich den Rest ihres Satzes. Wenn dieses Band an die Öffentlichkeit gelangen sollte, würde Robins Karriere mit Sicherheit einen erheblichen Dämpfer kassieren. Immerhin war er erst vor wenigen Wochen in den Kader des örtlichen Drittligisten aufgenommen worden.
»Hast du auch noch niemanden geküsst?«, fragte er.
»Wenn meine Schwester und meine Mutter nicht zählen, dann nicht. Nein.«
»Okay. Dann erzähl doch etwas über deine Schwester!«
Das Herz gefror in ihrer Brust wie ein Eiswürfel im Gefrierfach. Wie hatte sie so dumm sein und ihre Schwester ins Gespräch bringen können? Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er wollte pikante Details erfahren und hatte sie hiermit gefunden.
Robin wechselte in den Schneidersitz. Er lehnte sich interessiert vor und verschränkte die Hände im Schoß. Sein wachsamer Blick fixierte sie und plötzlich fühlte sie sich splitterfasernackt. Sie hatte das Gefühl, dass er durch ihre Augen direkt in ihr Gehirn und von dort ihr Herz sehen konnte. Es war unmöglich, ihn anzulügen. Er würde die Lüge erkennen, auch wenn sie von Haus aus eine gute Lügnerin war.
Der Druck in ihrem Innern stieg ins Unermessliche und ein Band aus Erinnerungen schnürte ihre Kehle zu. Tränen traten in ihre Augen. Sie wollte sie zurückhalten, doch es war zu spät. Der erste Tropfen bahnte sich seinen Weg in Richtung Kinn und Robin sah ihm nach, wie er auf den Lederbezug tropfte. Seine Stirn legte sich in Falten.
Sabrina wollte etwas sagen, ihn beruhigen oder behaupten, dass alles gut sei. Aber sie wusste nicht, wie sie sich erklären sollte. Noch niemand hatte sie in den letzten Jahren auf ihre Schwester angesprochen. Niemand außer Alina. Aber Alina kannte die Wahrheit. Sie war dabei gewesen. Sie wusste, was passiert war. Robin wusste es nicht. Und Sabrina war sich nicht sicher, ob sie es ihm bereits erzählen konnte. Und plötzlich verstand sie, wie er sich fühlte.
Durch heftiges Blinzeln versuchte sie, das restliche Wasser aus ihren Augenwinkeln zu bekommen, und wischte sich dann mit dem Handrücken über das Gesicht. Wahrscheinlich verwischte sie damit ihren Eyeliner und sah aus wie ein Panda, aber das war ihr egal. Sie wollte diese Tränen loswerden, die sie so schwach aussehen ließen – ausgerechnet vor Robin.
Dieser hatte ihr mittlerweile eine Hand aufs Knie gelegt. Alina wischte ihr in solchen Momenten immer die Tränen aus dem Gesicht. Sabrina hasste das. Sie war froh, dass Robin ihr nicht unnötig nahekam.
»Ich, ähm … meine Schwester …«
»Tut mir leid«, sagte er rasch. »Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst.«
Sie wollte widersprechen; sagen, dass sie es doch musste. Aber im Grunde tat sie es nicht. Sabrina wollte nicht über ihre Schwester reden, auch nicht über ihre Mutter oder ihren Vater. Nicht heute, nicht hier, nicht mit Robin. Sie hatte sich extra mit ihm verabredet, damit sich ihre Gedanken zerstreuten und sie nicht an ihre Schwester dachte.
Abrupt stand Robin auf und griff nach ihrer Tasse. »Ich mach dir einen Tee.«
Schon war er in der Küche verschwunden. Sabrina war sich nicht sicher, ob er ihr nur die Gelegenheit geben wollte, allein zu sein, oder ob er vor der Situation floh. Aber sie war unendlich dankbar dafür. Sie lief ins Bad und stellte im Spiegel fest, dass ihr Lid schwarz war. Mit einem angefeuchteten Stück Klopapier versuchte sie, das Nötigste zu beheben bis Robin wenig später das Bad durch die offene Tür betrat.
»Ich hab keinen Eyeliner dabei«, sagte sie frustriert.
Ohne zu antworten, stellte er sich in dem kleinen Raum neben sie vor den Spiegelschrank. Außer einer Badewanne hatten noch ein Spülbecken, eine Kloschüssel und die Waschmaschine Platz gefunden. Er umfasste ihre Taille sacht und schob sich an ihr vorbei. Dabei rutschte ihr Shirt hoch und er berührte ihre nackte Haut, was wiederum einen Schauer über ihren Rücken fahren ließ. Gekonnt setzte er sich auf den Wannenrand und beugte sich vor, um die Spülschranktür zu öffnen. Daraus zog er eine pinkfarbene Waschtasche.
»Darf ich vorstellen: die Luderbox«, sagte er. »Sie enthält alle lebensnotwendigen Dinge für jede Gelegenheit.«
»Woher hast du die?«
»Ach, ein Freund hat da so ein Geschäftsmodell.«
Sie zog eine Augenbraue hoch und er schmunzelte.
»Nein, Quatsch. Das sind Sachen, die Frauen hier liegengelassen haben.«
Sabrina öffnete den Reißverschluss und fand neben Handcreme auch eine Dose Haarspray und -klammern. Schließlich verzog sie angewidert das Gesicht und Robin zuckte mit dem Mundwinkel.
»Die Frauen vor dir fanden es hilfreich und keine kam je, um ihren Kram abzuholen.«
»Also bin ich wie diese Frauen?«
»Nein«, rief er etwas zu laut.
Sie wich erschrocken zurück. Robin legte eine Hand auf ihren Oberarm. Dann sah er auf seine eigene Hand und drückte einmal sacht zu.
»Der Tee steht in der Stube«, sagte er und verließ das Bad.
Kapitel 2
Robin
Mit karierten Boxershorts bekleidet, verließ er das Schlafzimmer. Er schlich in die Küche und schaltete den Kaffeeautomaten an, nur um festzustellen, wie ohrenbetäubend laut dieser die morgendliche Stille durchbrach. Dennoch brauchte er jetzt dringend eine Tasse voll von diesem koffeinhaltigen Getränk, um endlich die Augen offenhalten zu können.
Während der Automat dröhnte, ging er auf die Toilette. Und wie das oft bei ihm vorkam, fiel ihm beim morgendlichen Geschäft etwas Wichtiges ein. Fahrig fuhr er sich durchs ungekämmte Haar und verfluchte sich erneut dafür, dass es keine Uhr im Bad gab und sein Smartphone noch auf dem Couchtisch lag.
Er eilte in das angrenzende Wohnzimmer und schaute zur Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Halb Neun. Sein Blick sank hinab auf die Couch und er sah Sabrina noch immer tief und fest schlummern. Robin besaß ein ausziehbares Sofa, da öfter Freunde bei ihm übernachteten. Außerdem bot es genügend Platz für Gäste, was es zusehends in Mitleidenschaft gezogen hatte.
Sabrina hatte die hellblaue Decke lose über sich geworfen, umklammerte sie wie ein Stofftier, wobei ihre Reize völlig offen hervortraten. Lediglich eine schwarze Panty bedeckte ihren apfelrunden Po, die Brüste umhüllte ein knappes Shirt, das über Nacht verrutscht war und mehr freigab als beabsichtigt.
Seine Hand zuckte leicht in ihre Richtung, doch er hielt sich zurück. Er hielt für einige Sekunden die Luft an. Dennoch konnte er das Bild von seiner Hand, die zärtlich über ihren Po strich, nicht aus seinem Kopf verbannen.
Nachdem sie ›Cowboys vs. Dinosaurs‹ beendet hatten, war Sabrinas letzte Straßenbahn längst weg. Robin wollte sie nach Hause bringen, doch sie hatte abgelehnt. Also schlug er vor, dass sie bei ihm schlafen konnte. Wider Erwarten hatte sie eingewilligt.
Das war der größte Fortschritt nach den letzten zwei Monaten. Sabrina hatte zwar mehrmals erwähnt, dass sie keine Beziehung wollte, doch wenn er in ihre Augen sah, las er darin dasselbe, was er spürte. Er konnte sich vorstellen, es mit dieser Frau ein letztes Mal zu versuchen.
Robin eilte zurück in die Küche, wusch sich die Hände und trug eine Tasse wohlriechenden Kaffees ins Wohnzimmer. Er setzte sich vor Sabrina auf die Couch und stellte den Kaffee auf dem runden Glastisch ab.
»Hey! Wach auf!«
Sacht wiegte er sie an der Schulter, doch sie reagierte nicht.
»Sabrina. In einer Viertelstunde kommen zwei meiner Kumpels. Steh auf!«
»Hmmm«, grummelte sie nur.
»Wenn du jetzt nicht aufstehst, dann sehen sie dich. Ich weiß nicht, ob du das willst.«
»Hmmm. Okay.«
»Echt?«, fragte er erstaunt.
Es kam keine Antwort mehr. Selbst wenn sie hierbleiben wollte und das Risiko eingehen würde, dass seine Freunde sie für eine neue Errungenschaft halten könnten. Sie konnte nicht hier auf der Couch bleiben. Nicht in diesem Zustand.
Er wollte die Decke über sie legen, doch sie riss sie ihm aus der Hand und rollte sich stattdessen darin ein. Perfekt. So konnte sie bleiben. Wenn seine Freunde und er erst zockten, würde sie ohnehin wach werden.
Eine Viertelstunde später kamen Frederico und Lukas. Robin bat sie zunächst in die Küche, in der Hoffnung Sabrina würde in der Zwischenzeit erwachen. Doch auch mit Kaffee vor der Nase rührte sich nichts. Kein Huschen ins Bad oder Schlafzimmer. Also gingen die Freunde nichts ahnend in Richtung Wohnzimmer und blieben erstaunt in der Tür stehen.
»Alter!«, rief Lukas für Robins Empfinden zu laut aus und zeigte auf die nach wie vor Schlafende. »Dein Betthüpferl?«
Anerkennend klopfte Frederico ihm auf die Schulter. »Good Job! Wurde auch mal wieder Zeit.«
Ohne weiteren Kommentar gingen die beiden zur Couch und sahen sich Sabrina genauer an. Robin wurde das immer unangenehmer. Wenn sie jetzt aufwachte, würde sie sicher komplett ausrasten. Doch noch immer schlief sie tief und fest, als hätte sie nicht einmal wahrgenommen, dass jemand den Raum betreten hatte. Wie konnte das sein?
Er selbst hatte einen so leichten Schlaf, dass er schon aufgewacht wäre, wenn nur jemand den Raum betreten hätte. Manchmal war es Fluch, manchmal Segen. Doch auch seine Ex-Freundin Antonia hatte damals so tief geschlafen, dass sie nicht einmal erwacht war, als direkt vor ihrer Haustür ein Feuerwehreinsatz stattfand. Drei Wagen hatten mit Blaulicht und Sirene vor dem Nachbarhaus gehalten und eine ganze Familie evakuiert. Antonia hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Genauso wie Sabrina jetzt.
»Wir können auch draußen Fußball spielen«, schlug Robin vor und zeigte auf die Wohnungstür.
»Vergiss es! Wir sind zum Zocken gekommen, nicht zum Bolzen.«
»Ja«, bestätigte Frederico seinen Freund. »Wir müssen diese vorlauten Vollpfosten fertigmachen. Deshalb das Treffen bei dir zu dieser unchristlichen Zeit. Du hast den besten Kaffee und im Team machen wir die Penner platt.«
Robin war sich dessen bewusst. Er verfluchte sich, Sabrina nicht frühzeitig ins Schlafzimmer geschafft zu haben. Dort, am offensichtlichsten Ort, suchte niemand ein halbnacktes Mädchen von letzter Nacht.
»Ja, klar. Packen wir’s an!«
Die beiden setzten sich auf die vordere Kante der Couch, musterten die Frau hinter sich dabei einmal ausgiebig. Robin holte die angefangenen Chipstüten von gestern Nacht raus und legte sie auf den Tisch. Seine Freunde zogen die mitgebrachten Notebooks aus ihren Taschen und schalteten sie ein. Zuletzt setzte er sich zwischen seine Gäste und startete seinen eigenen Laptop.
Sein Desktop-PC im Schlafzimmer war um einiges komfortabler, doch zu dritt hatten sie dort nicht genügend Platz zum Zocken. Deshalb spielten sie vorwiegend im Wohnzimmer. Natürlich hätten sie sich auch online verabreden können, doch sie wollten dieses Spiel mit einem gemeinsamen Essen ausklingen lassen.
Die verstohlenen Blicke seiner Freunde huschten immer wieder über die Schulter und er musste sich ernsthaft zusammenreißen, nicht auch pausenlos zu kontrollieren, ob Sabrina nach wie vor in vollem Maße bedeckt war.
»Jungs«, sagte er vorwurfsvoll. »Wollen wir jetzt zocken oder gaffen?«
»Du schleppst echt immer die geilsten Weiber ab«, kommentierte Lukas kopfschüttelnd. »Moment. Ist das …? Nein!«
Er schaute wieder über seine Schulter und versuchte so, die Frau genauer in Augenschein zu nehmen. Frederico stieß ihn hinter Robins Rücken in die Seite. Lukas gluckste und sprach dann im Flüsterton weiter.
»Das ist Sabrina, oder? Die du schon so lange datest.«
Robin wollte einwenden, dass es keine Dates im eigentlichen Sinne gewesen waren. Doch er war sich bewusst, was seine Freunde darauf antworten würden. Sie kannten es nicht von ihm, dass er sich mit einer Frau traf, mit der er nicht schlief.
»Hast du sie … ich meine … hast du’s … geschafft?«
»Sie hat auf der Couch geschlafen«, stellte Frederico fest. »Was denkst du?«
»Dass Robin ein Schelm ist. Wozu ins Bett, wenn man direkt …«
»Nein«, unterbrach er die Spekulationen seiner Freunde. »Wir haben nicht miteinander geschlafen. Und jetzt Ruhe!«
Er flüsterte die Worte nur aus Angst, Sabrina könne erwachen und ihn hören. Wer sagte, dass sie nicht nur so tat, als würde sie schlafen und sie bereits belauschte?
»Dass sie auch nicht aufwacht«, sagte Lukas. »Faszinierend. Kathrin wäre schon längst wach gewesen und hätte mir die Hölle heiß gemacht.«
Sie wählten ihre Charaktere aus und versanken alle Drei im Spielgeschehen. Ihre Gegner waren drei Jugendliche im Alter von wohl vierzehn Jahren. Gegen solche Halbstarken würden sie auf keinen Fall verlieren.
Das Ziel des Spiels war es, als Team eines Sondereinsatzkommandos in ein Gebäude einzudringen, eine Bombe zu entschärfen oder das gegnerische Team zu eliminieren. Der Vorreiter ihres gegnerischen Teams trug den überaus kreativen Namen fantasticphil_11, vermutlich weil er mit elf Jahren seinen Account erstellt hatte. Dass das Spiel erst ab achtzehn Jahren freigegeben war, ignorierten sie geflissentlich.
Die Drei waren so in ihrem Element, dass sie laut Hasstiraden auf das gegnerische Team von sich gaben, wenn einer von ihnen aus dem Spiel gekickt wurde. Das letzte Mal hatten sie sich dermaßen aufgeregt bei ›Mario Kart‹ im heimischen Kinderzimmer.
Zwei Runden waren beendet und es stand unentschieden. Die letzte Runde würde die Entscheidung bringen. Angespannt nach vorn gelehnt, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln abgelegt, hämmerten sie auf ihren Tastaturen herum, und rissen die Mouse übers Pad. In einer stillen Minute, in der sich die Drei vollkommen auf ihre Mission konzentrierten, erklang eine leise Stimme hinter ihnen.
»Rechts sitzt noch einer hinter der Kühltruhe.«
Die Männer zuckten unwillkürlich zusammen, als ihnen die vierte Person im Raum wieder ins Gedächtnis kam. Robin drückte schnell eine Taste, woraufhin seine Figur sich erneut hinhockte. In exakt dieser Sekunde rauschte ein Geschoss über ihn hinweg und verfehlte seine Figur knapp. Er erwiderte das Feuer. Der Angreifer war erledigt.
Seine Freunde starrten ein paar Sekunden zu lang die Frau hinter sich an, weshalb Robin sie ermahnen musste, den Bildschirm im Auge zu behalten. Sie schauten nach vorn. Lukas’ Figur kassierte einen Headshot und ging zu Boden.
»Ja, läck mir am Tschöpli!«, rief Lukas mit starkem schweizer Akzent. »Gaggi.«
»Selbst schuld, wenn du lieber Frauen angaffst als Soldaten.«
Frederico kicherte über Sabrinas Kommentar. Mit Wucht hüpfte Lukas einmal auf. Die Sitzpolster knarzten. Derweil nahm Robin die Verfolgung seines Angreifers auf, um ihn zu rächen. Während er seine Figur in voller Montur über den Boden kriechen ließ und Fredericos Anweisungen folgte, legten sich Sabrinas Hände auf Robins Nacken.
Sie lehnte sich vor und ließ ihr Kinn auf seiner rechten Schulter ruhen. Robin fuhr ein wohliger Schauer über die Haut, die unter ihren Händen kribbelte. Er schielte kurz zu Lukas hinüber, der die beiden unverhohlen beobachtete.
Zwischen Fredericos Kommentaren hindurch flüsterte Sabrina: »Wenn du rechts in den Speisesaal gehst und dich hinterm Tresor versteckst, müsstest du genügend Sicht haben, um ihn im Büro zu erwischen.«
Sie zeigte auf den Bildschirm und Frederico schob seine Brille hoch. Er schnitt fantasticphil_11 den Weg ab, weshalb er durchs Büro genau in den Speisesaal ging, in den sich Robin gerade begab. Seine Figur positionierte sich neben dem Tresor und lugte um die Ecke. Als der Gegner die Türschwelle übertrat, versetzte sein Charakter ihm den finalen Treffer. Triumphal rissen alle – einschließlich Sabrina – die Fäuste in die Luft und schrien durcheinander Siegesrufe.
»Yeah, Mann«, rief Frederico.
Lukas schlug in die erhobene Hand seines Freundes ein. Sabrina stand von ihrem Platz auf und quetschte sich zwischen Frederico und Robin hindurch, um in Richtung Tür zu laufen.
»Ich mach mir ’nen Kaffee. Wollt ihr auch einen?«
Da keine konkrete Antwort kam, verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich. Frederico wies ihr mit dem Zeigefinger nach und sah seine Freunde mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Heirate dieses Mädchen!«
Robin lachte auf und die anderen stimmten ein. Dann erhob er sich und ging Sabrina hinterher.
»Genau. Mach ihr direkt jetzt den Antrag!«, rief Frederico ihm nach. »Dann hast du’s hinter dir.«
»Halt’s Maul!«, erwiderte Robin, während er die Tür hinter sich schloss.
Auf dem Weg in die Küche checkte er noch einmal das Bad, ob auch genügend Zahnbürsten und Hygieneartikel da waren. Danach betrat er die Küche, in der Sabrina gerade versuchte, den Kaffeeautomaten zu bedienen. Sie deutete mit einem stummen Hilferuf auf ihre immer noch leere Tasse und er trat neben sie. Robin legte eine Hand an ihre Taille, um sie näher zu sich zu ziehen. So sah sie genau, was er tat. Mit zwei Knopfdrücken hatte er das Gerät in Gang gebracht und lächelte sie an.
»Was möchtest du essen?«, fragte er beim Gang zum Brotfach.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
Er nickte bestimmt. »Das hab ich.«
»Wirklich?«, fragte sie. »Oh, nein. Neben meinem Bett könnte ein Mörder stehen und ich würde es erst merken, wenn ich tot bin.«
Robin nahm zwei Toasts aus dem Fach und schüttelte beschwichtigend den Kopf, während Sabrina sich eine Hand vor den Mund legte.
»Das war so peinlich.«
»Kam nicht so rüber«, sagte er.
Robin hatte bei diversen Gelegenheiten gemerkt, dass Sabrina ein Talent hatte: selbstsicheres Auftreten bei vollkommener Ahnungslosigkeit. Sie hätte während eines Studiums die perfekte Performance in den Prüfungen abgegeben. Ihm fiel das teilweise sehr schwer. Dafür hatte er genügend Charme, um durch jedes Gespräch zu kommen.
»Du kannst ruhig ins Bad gehen. Du siehst nämlich irgendwie durchgevögelt aus.«
Sabrina blieb der Mund offen stehen. Sie sah an sich hinab. Ihre wenigen Klamotten lagen unordentlich, von den zerzausten Haaren gar nicht erst zu reden. Da sie sehr kurz waren, musste sie mit Sicherheit duschen, um die Nester rauszubekommen.
»Soll ich dir deine Sachen aus der Stube holen?«, fragte er.
»Das wär echt nett.«
Sie strich sich eine weiße Strähne aus dem geröteten Gesicht. Wahrscheinlich hatte sie keine Ahnung, wie erotisch das auf ihn wirkte, zumal sie ihn mit ihren bambibraunen Augen unsicher ansah. Er atmete einmal tief ein und aus.
»Ich mach dir dein Toast fertig. Was magst du draufhaben?«
»Honig?«
»Alles klar. Geh schon mal ins Bad!«
»Danke«, sagte sie, als sie an ihm vorbeilief und seinen Arm sacht streifte.
Sein Herzschlag machte einen Satz, doch er ignorierte diese Körperreaktion und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dort blafften seine Freunde sich gerade an. Schnell sammelte er alle nötigen Kleidungsstücke ein und stopfte sie in Sabrinas Tasche. Im Bad hatte Sabrina bereits ihre Haare angefeuchtet und mit seinem Kamm einigermaßen in Ordnung gebracht. Die geöffnete Luderbox stand auf der Badewannenarmatur.
»Deine Freunde denken, ich bin eine deiner Eroberungen, oder?«
Empört wandte er seinen Blick von ihr ab und fokussierte den Duschkopf über der Wanne. An ihm hing ein rosafarbener Schwamm, den er nicht gekauft hatte. Gewiss gehörte er seiner Ex-Freundin Antonia oder seiner Schwester Edna. Er sollte ihn baldmöglichst entsorgen.
»Wenn ich mit dir geschlafen hätte, …«
Sabrina brach mitten im Satz ab und Robin stutzte. Fragend sah er sie an und setzte sich auf den Wannenrand.
»Wäre das so schlimm für dich?«
»Ein One-Night-Stand von dir zu sein?« Sie lachte nervös auf. »Ja.«
»Du wärst kein einfacher One-Night-Stand für mich.«
»Stimmt. Ich wäre eine Freundin mit Bonusleistungen.«
»Was? Nein.« Er griff nach ihrer Hand. »Du wärst … du wärst …«
Sabrina wollte ihm ihre Hand entziehen, doch er hielt sie beharrlich fest. Schließlich gab sie ihr Vorhaben auf. Stattdessen sah sie ihn erwartungsvoll an. Ihre Iris schimmerte golden und plötzlich entfiel ihm seine Antwort.
Er hatte sagen wollen, dass sie seine feste Freundin wäre. Doch jetzt hatte er Angst, dass sie das noch mehr von ihm wegtrieb als diese sinnlose Diskussion über seine Ex-Freundinnen. Er blinzelte mehrmals, dann senkte er den Kopf.
»Ich habe noch nie einfach nur zur Befriedigung mit einer Frau geschlafen. Sie haben mir immer etwas bedeutet. Mehr oder weniger. Und du«, er sah ihr wieder in die Augen. »Du bedeutest mir zu viel, als dass ich einfach so mit dir schlafen würde. Und vor meinen Freunden prahlen, dass ich dich rumgekriegt hätte. Oder was auch immer du von mir denkst.«
Er verspürte das dringende Bedürfnis, sie zur Bestätigung seiner Worte zu küssen. Doch er wusste, dass das der falsche Moment war. Außerdem entfachte ihre vorwurfsvolle Miene eine Wut in ihm, die er noch nie einer Frau gegenüber verspürt hatte. Also stand er auf und legte seine Hand auf ihre Schulter. Dann nickte er ihr zu und verließ das Bad, um seine Gefühlsregung vor ihr zu verbergen.
Zurück in der Küche beschmierte er die beiden getoasteten Scheiben Weißbrot mit Honig und wartete, bis Sabrina aus dem Bad kam. Endlich war sie vollständig bekleidet. Doch statt sich mit ihm an den Tisch zu setzen, griff sie prompt nach ihrer Tasche und schulterte sie.
»Ich sollte besser heimfahren«, sagte sie.
»Wenn du meinst.«
Er erhob sich, um sich von ihr zu verabschieden, doch sie machte keine Anstalten, ihn zu umarmen. So klappte er das Toastbrot zusammen und reichte es ihr. Robin ging voraus zur Wohnungstür und öffnete sie. Als Sabrina hindurchgehuscht war, lächelte sie ihn schüchtern an und eilte die Treppe hinab. Robin blieb noch eine Weile stehen und sah ihr nach. Dann seufzte er und schloss die Tür wieder.
In letzter Zeit verspürte er immer häufiger das Bedürfnis, Sabrina zu küssen. Zu gern hätte er ihr gestern durchs Haar gestrichen und ihr die Tränen von den Wangen geküsst, doch gleichzeitig wusste er, dass er damit eine unsichtbare Grenze überschritten hätte. Und er wollte Sabrina unter gar keinen Umständen bedrängen. Also hatte er nur ihre Hand gehalten und war schnellstmöglich in der Küche verschwunden, um sich abzulenken.
Was genau der Auslöser für Sabrinas Gefühlsausbruch war, hatte er nicht erfahren. Insgesamt wusste er bedeutend wenig über ihre Familie. Wenn sie zur Sprache kam, wechselte sie gekonnt das Thema. Sabrina schien geübt darin, dieses Kapitel ihres Lebens auszusparen. Auch ihre Mitbewohnerin Alina hatte er noch nie getroffen. Er wusste nicht einmal, wo genau sie wohnten. Immerhin kannte er ihren Nachnamen, das war schon viel wert.
Dass ausgerechnet die Luderbox in seinem Bad der Auslöser für ihre Flucht sein würde, hätte er nicht erwartet. Die Frauen waren sonst immer sehr dankbar für das Make-up gewesen. Aber Sabrina war nicht wie andere Frauen. Ihm aber vorzuwerfen, er würde mit jeder beliebigen Tussi ins Bett steigen, das war höchst verletzend gewesen.
Der Job als Fußballer forderte Robins gesamte Aufmerksamkeit, da blieb nicht viel Zeit für eine feste Partnerschaft. Also hatte er sich mit One-Night-Stands begnügt und Ein-Wochen-Beziehungen. Dann hatte er Antonia kennen und lieben gelernt. Als es nach einem Jahr auseinanderging, war er in ein tiefes Loch gefallen. So hart hatte eine Trennung ihn noch nie mitgenommen. Sonst war er meist derjenige gewesen, der die Beziehung beendet hatte.
Doch in diesem Fall war sie es gewesen, weil er angeblich mit einer ihrer Freundinnen geschlafen haben sollte. Es war eine offensichtliche Lüge gewesen, aber sie hatte ihr mehr geglaubt als ihm. Es hatte schließlich ins Bild gepasst. Er konnte es Antonia nicht verübeln. Und dennoch schmerzte ihr Vertrauensbruch mehr als die Tatsache, dass er seitdem allein war.
Robin lief zurück ins Wohnzimmer, wo seine Freunde gerade eine weitere Runde gewannen, die sie mit zufällig ausgewählten Spielteilnehmern gestartet hatten.
Als sie sich entspannt zurücklehnten, sagte er: »Sie ist gegangen.«
»Was? Warum?«, fragte Lukas.
»Hast du ihr deine Pornosammlung gezeigt?«
Robin sah Frederico vielsagend an.
»Scheiße, nein. Robin …«, sagte Lukas.
Robin nickte zur Bestätigung.
»Sie hat es aber nicht gesehen, oder?«
»Wovon redet ihr?«, fragte Frederico.
Die beiden Freunde sahen Frederico abwartend an, während Robin sich auf den Hocker ihnen gegenübersetzte. Dann erzählte Robin in knappen Worten von dem Sextape. Er hatte es am Anfang seiner Beziehung mit Antonia gedreht. Sie wusste bis heute nichts davon. Es war ein spontaner Einfall gewesen, aber er war sich damals sicher gewesen, dass sie seine Idee abartig finden würde. Irgendwie fand er es im Nachhinein auch abartig, aber diese DVD war die einzige wirkliche Erinnerung an ihre Beziehung. Sämtliche Fotos hatte er entsorgt, genauso wie die Originaldatei. So gab es keine Kopien, nur diese eine gebrannte Aufzeichnung.
»Und davon erfahre ich erst jetzt? Krasser Scheiß. Du weißt gar nicht, wie stolz ich auf dich bin, Alter.«
Frederico hob eine Hand zum High Five, doch Robin schlug nicht ein.
»Warte, bis du von seinem Studentenjob erfährst«, sagte Lukas.
Robin warf ihm einen tadelnden Blick zu.
»Ach, komm! Als wenn es das jetzt schlimmer machen würde. Wie wird Sabrina erst reagieren, wenn sie davon erfährt?«
»Studentenjob?«, hakte Frederico nach.
Während seines BWL-Studiums hatte Robin gekellnert. Auf einer Messe war er mit einem Mann ins Gespräch gekommen, der nebenberuflich als Stripper arbeitete. Zuerst hatte er es lediglich interessant gefunden, doch nachdem der Mann ihm erzählt hatte, wie gut man dabei mitunter verdienen konnte, hatte er begonnen, sein Studium damit zu finanzieren. Das Geld seiner alleinerziehenden Mutter hatte nicht gereicht und Stipendien waren heiß begehrt. Außerdem hatte es ihm nach anfänglichen Schwierigkeiten viel zu viel Spaß gemacht, jedes Wochenende Junggesellinnen glücklich zu machen. Dass ausgerechnet das nicht herausgekommen war, aber dafür sein Erotikvideo mit Antonia, war äußerst ärgerlich.
Bis auf Lukas, der zu jener Zeit sein Mitbewohner gewesen war, und seine Schwester, die seine Kostüme im Kleiderschrank gefunden hatte, wusste niemand von seinem Nebenverdienst. Es wäre auch nicht förderlich für seine Karriere. Er wollte im Kader bleiben und negative Publicity war dafür hinderlich. Unabhängig von der sportlichen Leistung war dem Fußballverein wichtig, wie seine Spieler nach außen und vor allem der Presse gegenüber wirkten. Ein ehemaliger Stripper war nicht das, was ein Profifußballer sein sollte. Auch wenn strippen an sich auch nichts anderes war als Sport.
»Ach, ich hab eine Zeit lang gestrippt«, sagte Robin mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Frederico riss die Augen weit auf und knallte seine Hand neben dem Mousepad auf den Tisch. Dann sah er seine Freunde abwechselnd vorwurfsvoll an.
»Warum bin ich immer der Letzte, der von solchen Dingen erfährt?«
»Weil du Robin pausenlos damit aufziehen würdest?«
»Guter Einwand, Lukas«, sagte Frederico und wandte sich wieder Robin zu. »Aber Alter, im Ernst: Wie läuft das so ab? Wie viel kriegt man da so? Und sind die Weiber echt so geil auf Stripper?«
»Du bist unfassbar«, sagte Lukas kopfschüttelnd.
»Sabrina ist gegangen, weil sie denkt, ich wäre ein Aufreißer; dass ich sie nur ins Bett kriegen will«, beantwortete Robin Lukas’ eingehende Frage. »Ich hab ihr gestern die Luderbox gezeigt.«
»Das ist vorbei, Mann«, versuchte ihn Lukas zu beschwichtigen.
»Wenn Sabrina erfährt, dass Antonia nichts von dem Tape weiß und dass ich Stripper war … Ich weiß nicht, ob sie sich dann von mir trennt.«
»Alter, ihr seid nicht mal zusammen«, wandte Frederico ein.
»Aber ich wäre es gern. Ganz im Ernst.«
Kapitel 3
Sabrina
»Kannst du mich vom Campus abholen? Er ist hier. Im Hörsaal.«
Sabrinas Blick fiel auf ihr Smartphone. Alina befand sich mitten in einer Vorlesung. Schnell tippte sie eine Antwort in den Messenger.
»Bin unterwegs. Bis wann geht die Vorlesung?«
»Noch eine halbe Stunde«, schrieb Alina.
»Bis gleich.«
Sabrina erhob sich von ihrem Arbeitsplatz im Fotostudio. Gerade war sie damit beschäftigt gewesen, einige Fotos des letzten Newborn Shootings zu bearbeiten. Das Baby war mit Abstand das schönste Motiv, das sie seit langem vor der Linse gehabt hatte. Sie eilte zu ihrer Kollegin hinter der Kasse.
»Könnte ich für eine Stunde verschwinden?«
»Wieso das denn?«
»Ich muss leider noch zu einem Termin«, log Sabrina. »Es geht um meine Versicherung. Der Wechsel war ultraschwierig und das Büro hat nur noch bis fünfzehn Uhr offen.«
»Und das kann nicht warten? Hast du keine Termine mehr?«
»Nein. Das Fotoshooting mit der Kleinen war mein einziger Auftrag für heute.«
»Okay«, sagte ihre Kollegin. »Aber du kommst nochmal wieder.«
»Klar. Ich kann heute Abend auch abschließen, wenn du willst.«
Ihre Kollegin verabschiedete sie in die Pause und Sabrina machte sich auf den Weg zur Universität. Von hier mochte sie etwa zwanzig Minuten zu Fuß brauchen. Auf der Straße wich sie geschickt allen Passanten aus. Am Hauptcampus angelangt, benötigte sie einen Moment, um sich zu orientieren. Überall hingen Schilder und sie wusste nicht genau, wohin sie musste, also fragte sie noch einmal per Messenger nach.
Sie kam zu früh am Hörsaal an, die Tür war noch geschlossen. Auf dem beleuchteten Schild neben dem Eingang las sie, dass in fünf Minuten eine Vorlesung zum Strafrecht stattfinden sollte. Eine Handvoll Jurastudenten stand bereits mit ihr vor der Tür und wartete auf den Einlass.
Ein etwa Gleichaltriger trug einen Anzug. Solch einen Aufzug hätte sie eventuell bei einer mündlichen Prüfung oder der Verteidigung einer Doktorarbeit erwartet, aber in Anbetracht einer Reihenvorlesung war das ihrer Meinung nach übertrieben.
Er erinnerte sie an ihren Vater. Der war von der Arbeit auch immer in maßgeschneidertem Anzug heimgekehrt und hatte diesen bis zur Nacht nicht ausgezogen. Er verbrachte die meiste Zeit in seinem Arbeitszimmer. Sehen konnte sie ihn nur, wenn sie wie seine Klienten zuvor einen Termin mit ihm vereinbart hatte.
Sabrina sah nervös auf ihr Smartphone hinab. Dort drin hielten sich zwei Personen auf. Eine geliebte und eine verhasste. Sie wusste, wie sie sich der einen gegenüber verhalten würde, bei der anderen hatte sie keinen blassen Schimmer.
Schließlich öffnete sich die Tür und ein Pulk Menschen trat heraus. Sabrina achtete darauf, ob sie jemanden in der Menge erkannte, doch wurde nicht fündig. Letztlich verebbte die Flut und die Jurastudenten betraten den Raum.
Wo war Alina?
Sabrina sah auf ihr Smartphone Display und las die verpasste Nachricht ihrer Mitbewohnerin.
»Ich bleib im Saal. Kommst du rein?«
Sie folgte einem Studenten, der prompt stehenblieb, um ihr die Tür aufzuhalten. Ihr Blick streifte durch den Raum. Vermutlich blieben einige Studenten die Zeit bis zur nächsten Vorlesung sitzen oder nahmen im Anschluss daran teil. Die Jurastudenten setzten sich auf die freien Plätze. In dem Durcheinander waren schwer einzelne Personen auszumachen. Im rechten vorderen Bereich erkannte sie jedoch ein vertrautes Gesicht. Es gehörte nicht zu der Person, die sie liebte.
Timo trug seine blonden Haare wie früher lang und zum Zopf gebunden. Seine blauen Augen funkelten, zumal sie nicht wie früher durch Brillenglas kaschiert wurden. Als Sabrina seinem Fokus folgte, fand sie Alina im mittleren Block sitzen. Sie lief zu ihr und merkte, dass Timo auf sie aufmerksam wurde. Alina hatte ihr Gesicht gesenkt, ihre braunen Haare hingen in ihrem Schoß. Als Sabrina die Schulter ihrer Mitbewohnerin leicht berührte, schrak sie hoch. In ihrem Gesicht spiegelte sich blankes Grauen.
»Er ist hier«, flüsterte Alina.
»Ich weiß.«
Alina erhob sich und drängte sich dabei in Sabrinas Arme, die sie widerwillig um ihre Freundin schloss. Sie durfte Timo nicht das Gefühl geben, verletzlich zu sein. Doch das war sie. Ihre Mitbewohnerin blickte ängstlich an ihr vorbei in seine Richtung. Zu gern hätte sie sich umgewandt, um zu sehen, ob er noch immer dort saß oder sich mittlerweile ebenso erhoben hatte. Es war aber strategisch klüger, ihn gar nicht zu beachten. Stattdessen sah sie zum Ausgang, durch den weitere Studenten strömten.
»Lass uns gehen!«
»Und wenn er uns folgt?«
»Dann schubs ich ihn die Treppe runter«, sagte Sabrina und Alina entschlüpfte ein verhaltenes Glucksen. »Nein, im Ernst: Ich bin bereit, diesem Mistkerl Gewalt anzutun, wenn er dir weiterhin nachstellt.«
Alina spähte an Sabrina vorbei zu Timo, der seinen Platz noch immer nicht geräumt hatte, dann zur Tür. Sabrina griff die Tasche ihrer Freundin und drückte sie ihr gegen den Bauch, sodass Alina sie ergriff. Dann nahm sie ihre Hand und führte sie aus dem Saal. Alina lugte über ihre Schulter. An ihrer Miene und den hektischen Schritten erkannte Sabrina, dass Timo ihnen folgte.
Nachdem sie den Raum verlassen hatten, blieb Sabrina neben der Treppe stehen. Sie konnten unmöglich eine Verfolgungsjagd riskieren. Timo hatte sich seit Wochen nicht mehr gezeigt. Warum tauchte er ausgerechnet jetzt auf, ausgerechnet hier in diesem Gebäude? Er war lange kein Student mehr. Oder unterrichtete er mittlerweile Mathematik an der Uni? Welcher perfide Plan steckte dieses Mal dahinter?
Reichte es nicht, dass er Alina unentwegt Pakete und Blumen schickte? Obwohl sie ihn auf allen Sozialen Medien geblockt hatte, umging er die Sicherheitsfunktion einfach, indem er Fake-Accounts anlegte. Er war ein waschechter Stalker geworden. Obwohl er ähnlich dubiose Dinge auch während ihrer Beziehung vollbracht hatte. So hatte Sabrina ihn einmal auf einer Party dabei erwischt, wie er in Alinas Handtasche gekramt hatte, während sie auf der Toilette gewesen war.
Allgemein hatte er Alina immer an der kurzen Leine gehalten. Alleingänge waren für sie tabu gewesen. Er musste überall dabei sein und wollte immer wissen, mit wem sie unterwegs war. Zu Sabrina hatte sie den Kontakt mehr und mehr eingeschränkt, bis sie vor einem halben Jahr plötzlich vor ihrer Haustür stand. Die gebückte Haltung, die Blessuren, das angeschwollene Lid, die Tränen. All das hatte sich in Sabrinas Gedächtnis gebrannt.
Ohne Worte hatte Alina ihre Wohnung betreten und war prompt zum Sofa gegangen, wo sie sich in eine dicke Decke eingekuschelt hatte. Auf Sabrinas vorsichtige Frage, was passiert sei, hatte Alina zunächst mit Schweigen geantwortet. Erst nach einiger Zeit war sie mit der Sprache herausgerückt. Nach einer Silvesterfeier mit Freunden wäre ein Streit eskaliert. Timo hätte behauptet, sie hätte mit einem fremden Mann geflirtet. Schließlich hätte er auf sie eingeschlagen – mehrmals. Die Schilderung hatte Alina die Tränen in die Augen getrieben. Sabrina hatte sie in den Arm genommen und angeboten, sie könne wieder bei ihr einziehen, egal für wie lange.
Sabrina fixierte ihre Freundin und sammelte sich. Als sie Alinas flüchtigen Blick in Richtung Vorlesungssaal sah und die aufflammende Angst, wandte sie sich abrupt um. Kurz setzte ihr Herzschlag aus. Timo trat auf sie zu, blieb nur wenige Meter von ihnen entfernt stehen. Kühl sah er sie an.
Alina griff nach Sabrinas Hand. Timos abschätziger Blick wanderte an Sabrinas Körper hinab und wieder hinauf, dann sah er an ihr vorbei zu Alina und lächelte.
»Wie geht’s dir?«, fragte er.
Bevor Alina antworten konnte, sagte Sabrina betont langsam: »Geh! Sofort.«
Um Timos Mundwinkel spielte noch immer dieses herablassende Lächeln, das sie schon an ihrem Vater verachtet hatte. Ohne weitere Worte nickte er ihr zu, wandte sich ab und lief leichtfüßig die Treppenstufen hinunter.
Erst als sie ihn nicht mehr sehen konnte, erschlafften ihre Schultern. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie sie angespannt hatte. Die gelöste Miene ihrer Freundin offenbarte, dass die Gefahr fürs Erste vorüber war. Er konnte jedoch an jeder beliebigen Straßenecke auf sie warten.
Timo war unberechenbar. Wahrscheinlich steckte er hinter den verschwundenen Briefen und Zeitschriften. In den letzten Monaten hatten sie auffallend selten Post erhalten. Nachforschungen beim Kundenservice der Deutschen Post hatten auch nichts ergeben.
Sabrina traute ihm mittlerweile so einiges zu. Deshalb hatten Alina und sie auch die Übereinkunft getroffen, sich gegenseitig immer zu versichern, dass sie gut Zuhause angekommen waren, und sich mitzuteilen, wo sie sich aufhielten oder ob sie die Nacht woanders verbrachten.
»Ich denke, die Luft ist rein«, sagte Alina leise.
Während sie nebeneinander in verhältnismäßig langsamen Schritt die Treppen hinabliefen, sagte Sabrina: »Diese Treppen sind unfassbar hoch. Das läufst du jeden Tag?«
Sie versuchte mit aller Macht ihre Freundin von Timos potenzieller Anwesenheit abzulenken, doch sie war nicht dumm. Genauso wie sie schaute Alina sich in den Gängen um, beäugte jede Kurve, die sie nehmen mussten, um zum Ausgang zu gelangen. Einerseits fielen sie selbst auf den weitläufigen Fluren nicht auf, andererseits konnten sie nicht jeden einzelnen Studenten im Detail erkennen, denn zu viele von ihnen tummelten sich auf dem Gelände. Unmöglich zu sagen, ob Timo sich noch immer im Gebäude aufhielt oder nicht.
Als sie auf den Innenhof hinaustraten, hatte Sabrina das untrügliche Gefühl beobachtet zu werden. Alinas verstärkter Handdruck bestätigte ihren Verdacht. Die ganze Zeit über hatte sie ihre Freundin nicht losgelassen. Selbst als ein Student ihnen die Tür aufhielt, quetschten sie sich zu zweit hindurch.
»Wir nehmen die nächste Straßenbahn«, sagte Sabrina.
Alina nickte nur.
»Hat er irgendwas gemacht?«, fragte Sabrina, bevor wieder Schweigen zwischen ihnen herrschte.
»Nein. Er kam zu spät und hat sich ganz außen hingesetzt. Eigentlich hat er nichts gemacht. Er hat mich nur angestarrt … Eigentlich hat er nichts gemacht.«
Alina sah zu Boden und Sabrina stoppte abrupt, um ihrer Freundin eine Hand auf die Schulter zu legen und sie zu massieren.
Dann sagte sie in eindringlichem Tonfall: »Er hat deine Privatsphäre missachtet. Er ist kein Student. Er hat kein Recht, in dieser Vorlesung zu sein.«
Ihre beste Freundin nickte verhalten.
»Und jetzt lass uns von hier verschwinden!«
An der Hauptverkehrsstraße angelangt, blickte sich Sabrina noch einmal um. Zwei schwarze Autos parkten in unmittelbarer Nähe, doch das Kennzeichen stimmte nicht mit Timos überein. Zu oft hatte sie seinen Wagen in der Nähe ihrer Wohnung gesehen.
Sie nahmen die nächste Straßenbahn.