Der siebte Schrei - Linda Budinger - E-Book
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Der siebte Schrei E-Book

Linda Budinger

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Beschreibung

Welche Musik spielt das Böse?

Sechs Jungen sind verschwunden. Fünf von ihnen wurden ermordet aufgefunden - immer eine Woche nach ihrem Verschwinden. Nur das letzte Opfer, der neunjährige Steve Wells, konnte dem Mörder entkommen. Als Special Agent Deacon Hamilton den Jungen auf einer Pferderanch in Idaho befragen will, spürt er sofort: Steve kennt die Wahrheit und kann das FBI zu dem Serienmörder führen. Aber der Junge ist nicht nur tief traumatisiert, sondern auch stumm. Gemeinsam mit Steves Reitlehrerin Marina River versucht Deacon, das Vertrauen des Jungen zu gewinnen. Doch die Zeit läuft gegen sie, denn ein weiteres Kind wird vermisst ...

Ein atemberaubend spannender Thriller mit einem verblüffenden Ansatz, der auch in seinen leisen Tönen überzeugt. Spannung bis zur letzten Seite.

ERSTE LESER-STIMMEN ZUM BUCH

"Mit 'Der siebte Schrei' ist Linda Budinger ein atemberaubender Thriller gelungen." (LittleSparrow, Lesejury)

"Ein rundum gelungener Thriller mit charakterstarken Figuren und interessanten Details." (Clematis, Lesejury)

"Ich habe selten so ein tolles Buch gelesen, was bis zum Schluss noch eine Spannung aufrechterhalten konnte und bis zur letzten Seite noch neue Erkenntnisse liefert." (Buchwurmmarie, Lesejury)

"Ein wahnsinnig gut gelungener Thriller!" (Jasminleon, Lesejury)

eBooks von beTHRILLED - Mörderisch gute Unterhaltung.

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

1.   Kapitel

2.   Kapitel

3.   Kapitel

4.   Kapitel

5.   Kapitel

6.   Kapitel

7.   Kapitel

8.   Kapitel

9.   Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Epilog

Danksagung

Über dieses Buch

Sechs Jungen sind verschwunden. Fünf von ihnen wurden ermordet aufgefunden – immer eine Woche nach ihrem Verschwinden. Nur das letzte Opfer, der neunjährige Steve Wells, konnte dem Mörder entkommen. Als Special Agent Deacon Hamilton den Jungen auf einer Pferderanch in Idaho befragen will, spürt er sofort: Steve kennt die Wahrheit und kann das FBI zu dem Serienmörder führen. Aber der Junge ist nicht nur tief traumatisiert, sondern auch stumm. Gemeinsam mit Steves Reitlehrerin Marina River versucht Deacon, das Vertrauen des Jungen zu gewinnen. Doch die Zeit läuft gegen sie, denn ein weiteres Kind wird vermisst …

Über die Autorin

Linda Budinger ist seit mehr als 20 Jahren freie Autorin und Übersetzerin, hauptsäch-lich im Bereich der Fantasy und Phantastik (Schattenreich). Bei der Arbeit an der Cotton Reloaded-Reihe mit ihren speziellen Fällen hat sie (Thriller-) Blut geleckt, wie man auch an ihrem Kurz-Thriller "Im Keller des Killers" für beTHRILLED sehen kann. In ihrem Regal mit eigenen Werken findet man auch Romane für das Rollenspiel »Das schwarze Auge«, einige Jugendbücher sowie CDs und Hörspiele.

LINDA BUDINGER

DER SIEBTESCHREI

beTHRILLED

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Arno Hoven

Lektorat/Projektmanagement: Stephan Trinius

Titelbild: © Benjamin Harte/Arcangel

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6699-0

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Der Motor erstarb. Eine Autotür krachte zu, und eine andere öffnete sich. Steves Gefängnis wurde bewegt. Er wurde wie ein Paket umgeladen und über einen holprigen Weg gekarrt. Sein Kopf schlug heftig gegen die Wand der Kiste. Nur der Knebel verhinderte, dass seine Zähne klapperten. Irgendwann hatte er sich die Lippe aufgeschlagen, und der Riss brannte.

Man hatte ihn entführt, und je mehr er über seine Situation nachdachte, desto größer wurde seine Angst.

Keiner wusste, wo er war!

Keiner würde ihm helfen!

1. Kapitel

Bloomingvale, Oregon, ein Jahr zuvor

Irgendwo plärrte ein Radio durch ein gekipptes Bürofenster. »… der Einsatzkräfte bleibt der in Lewiston, Idaho, verschwundene Junge auch nach zwei Tagen vermisst …«

Special Agent Deacon Hamilton horchte auf und lauschte den Worten des Nachrichtensprechers, erfuhr aber nichts Neues. Die ersten achtundvierzig Stunden waren in einem Vermisstenfall besonders wichtig, wie er nur zu gut wusste: Wenn man in diesem Zeitraum auf keine heiße Spur stieß, sanken die Chancen auf ein gutes Ende rapide.

Dean wandte sich wieder seiner Maschine zu. Er stellte die Dampfdüse aus und kippte das Milchgefäß. Zu früh! Statt flockigem Milchschaum tröpfelte weiße Brühe in den Becher.

Sein Partner Miles Nash gackerte überdreht los.

Als Dean den Becher auf den Tresen stellte, warf der Kunde einen ungläubigen Blick auf das Getränk; dennoch nahm er es und ging kopfschüttelnd weg.

Die beiden FBI-Agenten betrieben zur Tarnung ihrer Observation einen halb offenen Getränkewagen mit Kaffeespezialitäten. Ihre Ermittlungen waren fast abgeschlossen; die Festnahme würde bloß noch eine Formsache sein. Ein kleines Agententeam unter der Leitung von Benfield, dem Agent in Charge, arbeitete im Hintergrund an den letzten Vorbereitungen für ihren Zugriff.

Dean und Miles hatten ihren Wagen an einer Ecke des Perennial Parks geparkt, wo sie den Eingang des Lagerhauses stets im Blick behalten konnten. Hinter ihnen breitete sich eine Rasenfläche aus, die von Stauden und Roteichen unterbrochen wurde. Die Grünanlage wurde überwiegend von den Angestellten der umliegenden Büros und Lagerhäuser während ihrer Pausen genutzt. An diesem sonnigen Maivormittag drehten außerdem Jogger ihre Runden und junge Eltern schoben Kinderwagen spazieren.

Die Geschäfte des kriminellen Unternehmens, das sich im Gewerbegebiet von Bloomingvale angesiedelt hatte, liefen gut. Kleine Umprogrammierungen und weggeätzte Nummern machten aus minderwertigen Computerchips mit geringer Leistung gefälschte »Formel-1-Chips«. Die brachten nicht im Mindesten die auf den Verpackungen angegebene Performance, aber dafür den vielfachen Gewinn.

Miles war Dean letztes Jahr als Spezialist für Computerkriminalität zugeteilt worden. Sein Juniorpartner war noch ein wenig grün hinter den Ohren, das FBI hatte ihn erst vor relativ kurzer Zeit angeworben. Als Student war Miles öfter in zwielichtiger Gesellschaft unterwegs gewesen, hatte sich aber selbst nichts Gravierendes zu schulden kommen lassen und war bereitwillig auf das Angebot eingegangen, seine Fähigkeiten in den Dienst des Gesetzes zu stellen, statt eine Karriere als Betrüger einzuschlagen. Der Kaffeewagen war Miles’ Idee gewesen, und er genoss die Rolle als Barista etwas zu sehr. »Das ist schon der dritte ruinierte Macchiato«, tadelte er seinen Kollegen. »Vergiss nie – ein guter Kaffee kann Leben retten.« Er schob Dean beiseite. »Lass mich das in Zukunft machen. Das ist eine Aufgabe für das Hirn des Teams.«

»Du meinst – für das Reptilienhirn, Koffeinjunkie!«, entgegnete Dean, räumte aber gern den Platz an der Maschine. Kaffee war für Miles ein heiliges Sakrament.

»Weißt du …«, setzte Miles an. Die Düse zischte. »Mein alter Herr sagt immer: ›Ein Latte macchiato ist wie das Leben.‹«

Dean lachte. »Wie einer von deinen – oder wie einer von meinen, du Schaumschläger?«

Gekonnt verteilte Miles die cremige Masse auf die Pappbecher. »Er sollte wie ein Baby mit Liebe gemacht werden. Zu Anfang seines Daseins ist der Macchiato verheißungsvoll süß und fluffig. Der Mittelteil kühlt rasant ab und schmeckt fade und am Schluss wird alles dann schwarz und bitter.« Miles wies auf den von Kaffeesatz überquellenden Mülleimer. »Bis du mit Krümeln im Schlund in einer Kiste endest.« Er stieß ein verächtliches Prusten aus: bei ihm ein untrügliches Zeichen dafür, dass seine Stimmung umschlug. »Apropos Kiste! Frauen sind die reinsten Totengräber: Ich hab alles für Nicole getan, und dann so was.«

Dean überlief es kalt bei den Worten. Miles’ unterschwellige Wut gewann in letzter Zeit schnell die Oberhand. Vielleicht musste Dean seinen Partner mal darauf ansprechen, bevor das noch dem »Dachs«, ihrem Vorgesetzten Benfield, unangenehm auffiel. Miles durchlebte mit gerade mal Ende zwanzig eine schmerzhafte Scheidung. Das Thema beherrschte direkt oder indirekt einen Großteil seiner Konversation. Zumal sie über ihren eigentlichen Job – die kriminelle Bande und die gefälschten Computer-CPUs – an diesem öffentlichen Ort natürlich fast nie reden konnten.

»Du vertreibst mit deinem Zynismus die Kundschaft«, murmelte Dean. Dass vor ihrem Kaffeemobil im Moment wenig los war, hatte möglicherweise einen anderen Grund. Vielleicht aber hatte sich auch die ausgesprochen bescheidene Qualität seiner Macchiatos herumgesprochen.

Miles bereitete trotzdem einen Kaffee nach dem anderen zu, anscheinend nur um zu beweisen, wie gut er es konnte. Trotz der präzisen Bewegungen wirkte er abgelenkt – wie so oft in den vergangenen Wochen.

Nachdem auch der letzte Kunde bedient war, nahm sich Dean einen der verwaisten Becher. Er dachte unwillkürlich an den Vermisstenfall in Idaho. Er mochte nicht mit den Kollegen dort tauschen. Kinder, die länger als einige Stunden vermisst wurden – das endete selten gut. Wahrscheinlich war der Junge einem Verbrechen zum Opfer gefallen …

Dean war froh, dass er in einem Ressort arbeitete, wo er eher mit frisierten Zahlen als mit verschwundenen oder verletzten Menschen zu tun hatte.

»Wird Zeit, dass -«

In diesem Moment explodierte der Pappbecher in seiner linken Hand, und ein Knall blendete alle anderen Geräusche aus. Ein Schuss! Deans Herzschlag setzte einen Moment aus.

Er duckte sich blitzschnell und griff zur Pistole. Die Finger waren verbrüht, aber ansonsten wie durch ein Wunder unverletzt. Dean lugte über den Tresen, um den Schützen auszumachen, doch er sah bloß Fußgänger, die weiter entfernt im Park herumliefen. »Bist du okay, Miles? Ruf Verstärkung!«

»Alles klar«, bestätigte sein Partner grimmig, als eine weitere Kugel in den Wagen einschlug.

Verdammt, wo versteckte sich der Heckenschütze?

Erneut spähte Dean vorsichtig umher. Doch er sah nur Parkbesucher, die mit blassen, entsetzten Gesichtern zum Kaffeemobil starrten. »FBI!«, rief Dean. »Kommen Sie mit erhobenen Händen raus!«

Und dann bemerkte er aufblitzendes Mündungsfeuer in einem weiß blühenden Busch vielleicht vierzig Meter tiefer im Gelände. Noch ein Schuss.

»Da drüben!«, rief er Miles zu und zeigte in die Richtung. Das kaffeegetränkte Hemd klebte ihm am Leib.

»Gib mir Deckung!«, brüllte sein Partner.

Ehe Dean ihn aufhalten konnte, sprang Miles mit gezogener Pistole aus der hinteren Tür des Fahrzeugs und sprintete mit langen Sätzen von Baum zu Baum.

»Verdammter Idiot!«, schimpfte Dean, während er rasch eine bessere Position zum Schießen suchte. Dann feuerte er, um Miles Deckung zu geben, mit seiner Glock einige Male über das Gebüsch hinweg, in dem er den Angreifer vermutete. Die Erschütterung zerriss einige der schneeballartigen Blüten, und es schneite weiße Blütenblätter. »FBI – geben Sie auf!«

Jetzt rannten von dem Schusswechsel aufgeschreckte Menschen schreiend durcheinander.

Miles geriet außer Sicht. »Waffe fallen lassen, Arschloch!«, hörte Dean ihn brüllen. Miles klang überreizt wie ein wütender Stier. Sein unausgeglichener Gemütszustand machte ihn leichtsinnig.

Dem ziehe ich nachher das Fell über die Ohren, dachte Dean. Ohne Absprache loszustürmen!

Kurz erblickte er seinen Partner und verlor ihn gleich wieder aus dem Auge, als Miles sich in das Gebüsch stürzte. Dean verfolgte das Vorrücken vage anhand des verräterischen Schüttelns im Blattwerk.

Fluchend steckte Dean das aufgeklappte Etui mit der FBI-Marke an die Brusttasche und verließ nun ebenfalls den Wagen. Er durfte Miles nicht im Stich lassen! Außerdem musste er verhindern, dass der Schütze durch den Park flüchtete und sich womöglich den Weg freischoss, sollten Leute ihm dabei in die Quere kommen.

Dean huschte hinter mehreren Bäumen in Richtung des Dickichts, wo sein Partner verschwunden war.

Die Waffe des Angreifers schwieg jetzt. War es Miles gelungen, den Heckenschützen auszuschalten? Mit hochgepeitschten Sinnen und hämmerndem Herzen pirschte sich Dean auf das Gebüsch zu. Er ging hinter einem großen Abfalleimer in die Hocke. Hatte Miles nun Verstärkung angefordert oder nicht? Dean betätigte selbst die entsprechende Kurzwahltaste seines Telefons.

Anschließend schaute er suchend nach seinem Partner. »Miles?«, zischte er.

Dort, wo er den Schützen vermutete, hörte er Geräusche. Hatte Miles den Mistkerl gestellt? Dean verließ die Deckung und wollte den vor ihm liegenden Pfad überqueren.

In dieser Sekunde bog ein Schatten um die Ecke und lief direkt in ihn hinein.

Steve rannte in einem Zickzackkurs durch den Wald. Die Äste der Balsam-Tannen wischten ihm durchs Gesicht und durch sein verschwitztes Haar. Unregelmäßig hob und senkte sich seine Brust. Jedes Luftholen endete in krampfhaftem Keuchen. Der Junge sprang über Hindernisse hinweg wie ein aufgescheuchtes Reh, doch bei der Landung taumelte er stets unwillkürlich zur Seite: Es dauerte dann zwei, drei Momente, bis er das Gleichgewicht wieder fand und weiterrennen konnte.

Geronnenes Blut verklebte eines seiner Augen und verstopfte seine Nase. Der Rotz, der in Steves Mund lief, schmeckte nach Rost. Die frischen Kratzer auf der Haut waren bedeutungslos verglichen mit den schwereren Wunden, die der Maskenmann ihm zugefügt hatte.

Steves verletzter Arm hing wie ein totes Gewicht an ihm herunter, und nur der Schmerz bei jeder Bewegung verriet, dass er noch Teil seines Körpers war. Steve musste ihn schließlich mit der anderen Hand festhalten, um die Qualen beim Laufen aushalten zu können. Nur die entsetzliche Angst vor seinem Peiniger zwang seine Beine vorwärts.

Die Bäume sperrten das Licht fast vollständig aus, sodass Steve nicht wusste, in welcher Richtung er unterwegs war. Nur weg von dem Grauen.

Er versuchte, das Bild des Maskenmannes abzuschütteln, aber es verfolgte ihn. Steve sah seine Gestalt in nahezu jedem Baumstumpf und Gestrüpp und schreckte unzählige Male zusammen.

Ein Rascheln! Steve riss instinktiv die Hand hoch, um sich zu schützen. Hektisches Flattern ließ die Blaufichte vor ihm erzittern, ein Zwitschern drang aus den Zweigen.

Nur ein Vogel. Erleichtert schluchzte Steve auf. Weiter! Seine Kräfte schmolzen dahin, und die Verzweiflung wollte sich Bahn brechen. Nichts in seinem neunjährigen Leben hatte ihn auf so etwas vorbereitet.

Während er durch die Wildnis irrte, geriet er immer häufiger ins Stolpern und stürzte zweimal. Schließlich blieb Steve völlig erschöpft im Farnkraut liegen. Er wollte sich zusammenrollen und alles vergessen. Doch allein die Erinnerung an die Kiste des Maskenmannes ließ seine Muskeln erbeben. Da drang von fern das lang gezogene Hupen eines Trucks an sein Ohr.

Steve kämpfte sich wieder auf die Beine. Vermutlich war ein Highway ganz in der Nähe.

Jetzt hatte er endlich ein konkretes Ziel!

2. Kapitel

Washington D.C., 17. Mai

Der Jogger, gegen den Dean geprallt war, schaute ihn verwirrt an. Neben dem Pochen des eigenen Herzens vernahm Dean das laute Gewummer der Bässe aus den Kopfhörern des Mannes. Beim Anblick der Pistole hob der Läufer abwehrend die Hände. »Nein«, formten seine Lippen, und er schüttelte den Kopf. »Nicht!«

Dean ließ den Jogger stehen.

»FBI. Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«, rief er, als ein verschwörerisches Wispern seine Aufmerksamkeit fesselte. Er schob sich an das Gebüsch mit den faustgroßen Blüten heran.

Dean erkannte Miles’ Stimme. Leise. Aufgebracht. Was wollte er ihm mitteilen? War er verletzt? Brauchte er Hilfe? Dean drückte die schweren weißen Blütenzweige beiseite, um einen Durchgang zu finden.

Die Äste über ihm bildeten ein Dach, durch das kaum Licht fiel, wie in einer Art Tunnel. Dean überkam das Gefühl eines Déjà-vus, doch er fühlte sich gefangen in einer Endlosschleife. Auf- und abschwellende Bässe, so laut, dass ihm schwindelig wurde. Der Strudel aus Schwärze ließ ihm nur einen Weg – und der sah aus wie eine sich langsam schließende Blende. Trotz der Gewissheit, dass er besser umkehren sollte, tat Dean den ersten Schritt hinein, als tauche ein Surfer unter eine gewaltige Welle teerfarbener Gischt.

Er spürte, wie die Zweige sich in seinem Hemd verhakten. Sein Fuß verfing sich in einer Wurzel. Er geriet ins Stolpern und wäre beinahe gestürzt.

Das Gespräch wurde hitziger. Dean versuchte den Tonfall zu deuten, verstand aber keine Worte. Als würde ihn ein Echo streifen.

Er war zu langsam.

Dean fing an zu laufen – doch so schwerfällig, dass er glaubte, nicht von der Stelle zu kommen. Trotzdem gelangte er zum Rand des Buschwerks und hechtete im letzten Moment durch die verbliebene Öffnung, wie in einen schwarzen Schlund. Und die Falle schnappte zu. Diesem Gedanken folgte die jähe Erkenntnis: Er hätte nicht herkommen sollen!

Miles schaute auf, öffnete bei seinem Anblick den Mund. Dean roch den verspritzten Milchkaffee auf dem Hemd. Da sah er aus dem Augenwinkel auch schon die bedrohliche Gestalt hinter seinem Partner aufragen. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, zielte Dean an Miles vorbei auf den Mann. Etwas blitzte auf, am Rande seines Gesichtsfelds, und wurde zu einem überwältigenden blendenden Licht – weißer als Schnee im grellen Sonnenschein.

Ein Lavastrom floss unerbittlich durch seinen Schädel und verbrannte alle Wahrnehmung, wie ein versengtes Foto …

Dean erwachte.

Wieder der gleiche Traum – zuverlässig wie ein Uhrwerk! Dean wischte sich den Schweiß von der Stirn und streifte die im Haaransatz verschwindende Narbe vom letzten Jahr.

Die pulsierende Hitze auf der Kopfhaut musste Einbildung sein, ein andauerndes Fragment des Traums. Die Narbe war schließlich kaum noch zu ertasten, und die Hirnverletzung von damals war zur Verwunderung der Ärzte unerwartet gut geheilt. Wenigstens äußerlich.

Dean setzte sich auf die Bettkante und machte eine Atemübung. Er visualisierte den Schmerz und ließ ihn dann wie eine Wolke über seinem Körper aufsteigen und verschwinden. Es half … ein wenig.

Heute stand das Gespräch zur Wiedereingliederung an. Verquollene, blutunterlaufene Augen würden dabei Assistant Director Hong ganz bestimmt nicht entgehen.

Dean biss die Zähne aufeinander, und jäh kehrte das Pochen zurück. Er war es leid, zwischen Physiotherapie und Gutachtern hin- und herzuwandern wie ein gekritzelter Brief unter dem Schultisch. Er wollte wieder arbeiten! Dean betrat die Duschkabine des Hotelzimmers und regulierte den Wasserstrahl. Eisige Tropfen prasselten auf seinen Rücken wie Hagelkörner und zogen die Kopfschmerzen aus der Schädeldecke.

Zuletzt brauste er vorsichtig die dunkelbraunen Haare mit geringerem Druck und lauwarmem Wasser ab. Er fühlte sich erfrischt und sah auch so aus. Gut! Heute durfte er keine Schwäche zeigen.

»Setzen Sie sich, Agent Hamilton. Darf ich Ihnen einen …« – Assistant Director Hong stockte nur einen winzigen Moment – »auch ein Wasser anbieten?«

»Danke, gern.«

Hong wies auf einen bequemen Stuhl, in dem Dean zuletzt vor fünf Monaten gesessen hatte. Als seine Vorgesetzte ihm nach dem Klinikaufenthalt den Ruhestand angeboten hatte, hätte er beinahe eingewilligt. Aber damals waren die Nachwirkungen seiner Verletzung noch weitaus schlimmer gewesen. Und als Zivilist hätte er das Vorhaben vergessen können, die Hintergründe von Miles’ Tod aufzuklären. Also hatte Dean um Bedenkzeit gebeten, das verdammte Schießtraining wieder aufgenommen, sein Work-out aufgestockt und sogar mit Yoga angefangen, wie vom betreuenden Psychologen empfohlen. Schließlich war er zu den Tests angetreten, um deren Ergebnisse es heute ging.

Der Laptop mit seiner Akte war so gedreht, dass er nur vom Platz hinter dem Schreibtisch aus lesbar war.

Dean ahnte, was in der Datei stand.

»Sie sehen besser aus«, befand Hong.

»Es geht mir auch besser, Ma’am.« Meistens jedenfalls. Wenn ihm nicht unvermittelt Kaffeeduft in die Nase stieg und einen Flashback auslöste. Oder ein unerwartetes Geräusch die mühsam aufrechterhaltene Fassade der Normalität einstürzen ließ. Hong musterte ihn unverwandt – eine Taktik, die ihr Gegenüber subtil zum Reden ermunterte.

Dean kannte die Psychotricks, doch er wollte seinerseits etwas in Erfahrung bringen. »Gibt es neue Erkenntnisse zu der Sache im Park?«

Es brachte wenig, um die Angelegenheit herumzutänzeln.

Hong zuckte die Achseln. »Nein, tut mir leid. Alle verfügbaren Spuren liefen ins Leere. Ihr ehemaliger Agent in Charge Benfield und ich sind uns da einig: Wir müssen bis auf Weiteres von einem zufälligen Zusammentreffen ausgehen. Wie sieht es bei Ihnen aus?«

Sie löste den Blick und schob das Foto gerade, das auf dem Schreibtisch stand. Auf dem Bild war sie in einem Segelboot zu sehen.

Deans letzte zusammenhängende Erinnerung endete beim Zusammenstoß mit dem Jogger; die Minuten danach waren ausgelöscht.

Von Hongs Empfehlung hing seine Zukunft ab. Was sollte er ihr antworten? Er hatte den eigenen Partner erschossen. Wie zum Teufel konnte er erwarten, dass das FBI einfach so darüber hinwegging?

Zwischen den Meldungen über Schüsse und dem Eintreffen der angeforderten Einsatzkräfte klaffte eine etwa fünfminütige Lücke. Sämtliche Spuren und Hinweise wie der mutmaßliche Schusswinkel wiesen auf den folgenden wahrscheinlichen Tathergang hin:

Während Dean die Waffe auf den Kerl hinter Miles gerichtet hatte, war er angeschossen worden und bewusstlos mit einer Schädelverletzung zu Boden gegangen. Er musste im Reflex den Abzug der Glock betätigt und Miles direkt in die Brust getroffen haben.

Der Notarzt hatte Dean gerettet. Für Miles hatte er nichts mehr tun können, er war wenige Momente nach dem Schuss ins Herz gestorben. Der Angreifer konnte entkommen.

»Ihr mentaler Zustand ist also unverändert?«, unterbrach Hong seine Erinnerungen. »Die vorliegenden Ergebnisse sind zwei Wochen alt.«

Ja, wollte Dean schreien. Die entscheidenden Momente vor und während des Schusswechsels hatte das Schädel-Hirn-Trauma aus Deans Gedächtnis gelöscht. Retrograde Amnesie.

Alles, was ihm blieb, waren Eindrücke, vage miteinander verknüpfte Bilder oder Szenarien, die seine Träume immer wieder aufgriffen.

Dean hatte diverse Theorien durchgespielt. Angefangen von dem Zusammenstoß mit einem Amokläufer über einen missglückten Überfall auf den Kaffeestand bis hin zu einer Verbindung zum CPU-Fall. Aber nichts davon ließ sich erhärten. Die Geschehnisse blieben ungeklärt.

Der Blick aus Hongs dunklen Augen bohrte sich in die seinen, als könnte sie so in Deans Schädel vordringen.

Er bot wohl gerade keinen Eindruck, der für seine Diensttauglichkeit sprach. Dean räusperte sich. »Leider. Das ist das Schlimmste, Ma’m!«, gestand er offen. »Dass Miles tot ist und ich nicht genau sagen kann, wieso.«

Hong wischte die Worte mit einer Handbewegung weg. Sie hatte für Selbstmitleid wenig übrig. »Die offizielle Untersuchung hat Sie von jeder Schuld freigesprochen, Agent Hamilton. Das genügt mir, und es sollte auch Ihnen genügen.«

Einen Moment lang war Dean sprachlos. Die Rückendeckung bedeutete ihm einiges. Wie viel, wurde ihm gerade erst klar. Noch vor der Anhörung hatte er sich mit Anfeindungen auseinandersetzen müssen: Kritik an der Durchführung der Aktion, die sein Versagen als Seniorpartner betraf. Anspielungen darauf, dass mehr als nur ein Fehler zu dem katastrophalen Ausgang einer Routinesituation geführt haben musste …

Später folgten finstere Blicke der Kollegen auf dem Schießstand und Begegnungen auf dem Flur, bei denen sie verächtliche Bemerkungen fallen ließen.

Und wie sollte Dean sich selbst freisprechen, auch wenn es das FBI tat? Hätte er damals Miles besser unter Kontrolle gehalten, dessen desolaten Zustand ernster genommen oder die Auffälligkeiten gemeldet, wäre es vielleicht nicht in selbstzerstörerischem Leichtsinn gegipfelt.

Er hätte nie gedacht, dass Hong ihn rehabilitieren wollte. Sein Mund war schlagartig trocken. Dean nahm einen Schluck Wasser. »Dann kann ich wieder einsteigen?«

Hong wiegte den Kopf. »Die Gutachten sind widersprüchlich. Auch wenn Sie körperlich überraschend fit sind, trotz der Wochen im Koma, gibt es Bedenken: Die Experten legen nahe, dass Sie jederzeit mit neurologischen Ausfallerscheinungen aufgrund des posttraumatischen Belastungssyndroms rechnen müssten! Das ist uns zu heikel für den aktiven Dienst. Wir dachten daher, dass Sie zuerst in der Verwaltung neu eingegliedert werden.«

Hongs Ausdruck wurde milder. Wollte sie jetzt Mitleid ausdrücken? »Nur, bis wir Ihren Zustand besser beurteilen können, Deacon.«

Niemand, der ihn näher kannte, nannte ihn so. Aber das konnte sie nicht wissen. Daher schätzte er diese persönliche Geste.

»Sie haben fünfzehn Jahre mustergültigen Dienst hinter sich. Fünf weitere Jahre im Innendienst, und sie könnten regulär in allen Ehren pensioniert werden.«

Nur das nicht. Er war gerade erst neununddreißig Jahre alt. Es hatte Dean so viel Überwindung gekostet, wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen und sich den Vorwürfen der anderen Agents zu stellen – und denen des eigenen Gewissens. Und wer sollte Miles Gerechtigkeit angedeihen lassen?

»Ich soll Akten hin und her kopieren? Dafür bin ich nicht zum FBI gegangen«, stellte Dean klar. »Machen Sie mich meinetwegen zum Juniorpartner, aber …« Jetzt versagte ihm die Stimme. In seinen Ohren setzte ein leises Brummen ein. Er schluckte und atmete gegen die aufwallende Attacke an. Hier am Schreibtisch zusammenzubrechen, konnte genau das entscheidende Zünglein an der Waage sein, das seine Zukunft endgültig besiegelte. Schemen wirbelten vor seinen Augen. Wie von fern vernahm er Hongs Worte.

»Ich kann Ihre Lage nachvollziehen. Aber die verfügbaren Mitarbeiter Ihres Bereichs sind momentan in kritischen Phasen der jeweiligen Ermittlung. Selbst wenn wir wollten – im Augenblick haben wir keinen neuen Partner für Sie, Deacon.«

Scham überwältigte Dean und drängte alles andere in den Hintergrund. Seine Schultern sackten nach vorne. Wer würde schon mit einem Mann zusammenarbeiten wollen, der seinen Partner erschossen hat? Einem Partnerkiller. Er musste sich eingestehen, dass die Chancen von Anfang an gering gewesen waren.

»Wenn das so ist …«, sagte er tonlos und fühlte sich wie abgekoppelt vom eigenen Körper.

»Wir möchten Sie nicht verlieren«, beteuerte Hong. »Aber die Gutachten raten zur Geduld, und mir sind da die Hände gebunden.«

Na los, dachte er, zermürbt vom Donnergrollen im Kopf, sag Ja. Schließlich hast du bei Wind und Wetter am Kaffeestanddoch von einem netten Bürojob mit festen Arbeitszeiten geträumt. Ein bitteres Lachen kratzte in seiner Kehle.

»Aber vielleicht gibt es eine Alternative«, fügte Hong hinzu. »Ihre psychologische Beurteilung nennt überdurchschnittliche Empathiewerte. Die sind sogar besser als vor der Verletzung. In der Vergangenheit haben Sie sich sehr geschickt bei Vernehmungen gezeigt.«

Dean blickte hoch, und ein Anflug von Hoffnung keimte in seiner Brust auf.

»Ich suche jemanden für eine Stelle bei den ungelösten Fällen. Wie Sie wissen, erinnern sich Zeugen mitunter erst nach einiger Zeit an bestimmte Details.«

»Ich soll Zeugen in offenen Ermittlungen befragen?«, vergewisserte er sich. Ihm schwindelte.

»Sie würden als Special Agent auf sich allein gestellt arbeiten. Klären Sie Ungereimtheiten, versuchen Sie, neue Aspekte zu den Verbrechen herauszufinden. Sie wären viel unterwegs, müssten sich eng mit den Behörden vor Ort abstimmen. Aber es ist kein Schreibtisch-Job, und wenn Sie sich bewähren, können wir binnen Jahresfrist eine weitere Beurteilung der Diensttauglichkeit vornehmen.«

Das alles klang zu gut, um wahr zu sein. Dean verstand den Sinn der Maßnahme. Es war ein Posten, bei dem er in erster Linie Flugmeilen sammeln konnte, ohne durch seine Anfälle zu einer Gefahr für sich oder andere zu werden.

»Also, ich …«, murmelte er und brach ab. Dunkle Flecken tanzten ihm vor den Augen. Er legte eine Hand an die Tischkante, um sich zu stabilisieren.

Dean konzentrierte sich auf einen Punkt im Bauch, stellte sich vor, wie sein Solarplexus Arme bildete, die das Unbehagen einfingen. Der Anfall zog sich wie ein Wolf zurück in die finsteren Winkel seines Gehirns und ließ nur Kopfschmerzen übrig. Deans Blick wurde wieder klar, und der Druck auf den Ohren verschwand.

Wenn Assistant Director Hong seine Probleme bemerkt hatte, so zeigte sie es nicht. Sie war am Rechner beschäftigt.

»Ich kopiere Ihnen aktuelle Akten«, meinte sie; es klang ein wenig ironisch. »Studieren Sie das Material und geben Sie mir bis heute Nachmittag Bescheid, ob Sie das Angebot annehmen möchten.«

Zurück im Hotelzimmer, legte sich Dean hin. Einen Anfall zurückzudrängen, kostete immense Energie. Wenigstens war er nicht gleich wieder im Krankenhaus gelandet. Sieben Wochen Koma und die anschließenden Monate in Klinik und Reha genügten.

Dean wollte schlafen, aber sein Geist blieb ruhelos. Mehr denn je kreisten seine Gedanken um die Vergangenheit.

Natürlich hatte er Miles’ Beerdigung verpasst. Vermutlich wäre er bei der Zeremonie ohnehin unerwünscht gewesen. Und dass Miles’ Eltern die Entscheidung ihres Sohnes fürs FBI stets missbilligt hatten, war dabei nur der geringste Grund.

Dean musste sich eingestehen, dass er es nach Kräften vermieden hatte, den Angehörigen sein Beileid auszusprechen. Es hätte ausreichend Gelegenheit gegeben, doch er hatte die Anrufe vor sich hergeschoben, weil er dazu psychisch einfach nicht imstande gewesen war. Feigling! Vermutlich gingen die Nashs inzwischen davon aus, dass er ein schlechtes Gewissen hatte – weil er trotz gegenteiliger Beteuerungen mitschuldig am Tod ihres Sohnes war.

Dean drehte sich auf die andere Seite und massierte die Schläfen. Bis jetzt hatte er seine offene Zukunft als schwerelosen Zustand empfunden, ein Vakuum von Pflichten. Aber er sollte endlich aufhören, seine Verfassung als Ausrede dafür anzuführen, sich so wenig wie möglich mit den Konsequenzen des Unfalls zu beschäftigen. Wenn er beim FBI bleiben wollte, musste er mit der Vergangenheit abschließen; und das ging nur, wenn er sich ehrlich mit ihr auseinandersetzte.

Sobald der Entschluss stand – und egal, wie er ausfiel – würde Dean wenigstens Miles’ Exfrau Nicole anrufen. Das war er ihr ebenso wie dem Toten schuldig.

Zwei Stunden später loggte sich Dean bei einem Glas Cola in sein Konto beim FBI ein und zog die Akten auf den Laptop.

Er überflog die ersten der »kalten Fälle« und kam zu dem Schluss, dass er dabei auf der Ersatzbank landen würde.

Eine Schmugglerbande, die vor über einem Jahrzehnt einen Wachmann erschossen hatte.

Ein bei einem Trip verschollenes Touristenpaar. Unklar war, ob die zwei überhaupt das angegebene Gebiet bereist hatten oder einer anderen Route gefolgt waren.

Ein Serienvergewaltiger, der seit fünf Jahren nicht mehr in Erscheinung getreten war.

Zwei Fälle von Totschlag, die einer aufgelösten Rockerbande angelastet wurden.

Die letzte Datei, wie spontan angefügt, trug einen Dringlichkeitsvermerk.

Sechs Jungen, alle vor der Pubertät, waren in aufeinander folgenden Jahren im Nordwesten der USA verschleppt worden. Jeweils im Frühjahr. Fünf hatte man auf gleiche Weise erdrosselt aufgefunden! Einer war entkommen.

Ein weiterer Junge aus Oregon wurde seit vorgestern Abend vermisst: Gabriel Konic, Vorsitzender des Buchklubs seiner Schule und mit zehn Jahren das bisher älteste Entführungsopfer.

Falls Gabriel nicht bloß ausgerissen war, worauf bei dem Einser-Schüler wenig hindeutete, gab es nur eine Hoffnung, um ihn rechtzeitig zu finden: Steve, das einzige Opfer, das dem Mörder entkommen war, musste vor dem Hintergrund der jüngsten Entführung noch einmal gezielt befragt werden.

Dean überflog den Text, und dann stockte er, als sein Blick an einem Datum hängen blieb.

Ein Trucker hatte Steve in der Nacht vom 12. auf den 13. Mai auf dem Highway 95 aufgelesen.

Dean konnte sich sogar daran erinnern, dass er kurz vor dem verhängnisvollen Schusswechsel im Park von dem Fall in Idaho gehört hatte. Welch ein Hohn, dass er diese Tatsache genau wusste, während …

Verdammte Grübelei! Dean vertiefte sich wieder in die Unterlagen.

Außer dem Armbruch hatte Steve noch Platz- und Schürfwunden, Hämatome sowie Verbrennungen erlitten. Aber wenigstens gab es keinerlei Anzeichen für sexuellen Missbrauch. Doch er war stark traumatisiert und konnte nur wenig zur Aufklärung beitragen. Seine Psychologin hatte empfohlen, auf Zeit zu setzen und ihn später noch einmal zu befragen.

Aber jetzt – nach einem weiteren Entführungsfall – sah die Situation völlig anders aus: Die Zeit wurde knapp für Gabriel Konic. Die übrigen Opfer hatte man rund eine Woche nach ihrem Verschwinden tot aufgefunden.

Dean schluckte. Er spürte, wie etwas in ihm erwachte, das über das Streben nach Gerechtigkeit für Miles hinausging. Eine Art Jagdfieber, gepaart mit dem unbedingten Wunsch, Unschuldige zu beschützen. Eine fast verschüttete Mahnung daran, was ihn überhaupt zum FBI gebracht hatte. Er brauchte keine Bedenkzeit. Je eher er unterwegs war, umso besser.

Er griff zum Smartphone, um Assistant Director Hong seine Antwort mitzuteilen.

3. Kapitel

Appaloosa Angels Ranch, Lewiston, Idaho, 17. Mai

Donna Galverton saß auf einem dünnen Sattelpad, nicht viel mehr als eine Satteldecke. Ihre Beine hingen ohne Steigbügel locker herab. Marina und Donnas Vater gingen nebenher und stabilisierten Donna behutsam von beiden Seiten.

Ohne Vorwarnung wirbelte die Hand des Mädchens ziellos herum und streifte Marinas Kiefer.

Au! Marina stieß einen überraschten Laut aus und packte fester zu. Sie spürte, wie sich der Muskeltonus des Mädchens änderte. Donna krampfte.

Die feinfühlige Clover stand still, noch ehe Joe, der sie durch den Round-Pen führte, reagierte.

Der Anfall war kurz, aber heftig, und die Panik des Mädchens gewann die Oberhand. Donna rief ängstlich ihren Vater.

»Alles in Ordnung, Goldstück!«, versicherte er ihr.

Seit einem schweren Fahrradunfall litt die Zwölfjährige an Spastiken. Deswegen waren ihre Muskeln oft schmerzhaft verspannt. Die Reittherapie half, sie zu lockern. Clovers Wärme unter dem Fell und das Muskelspiel entspannten Donnas ganzen Körper. Sie genoss die Reitstunde. Doch so sehr Donna Pferde mochte, sie konnte die Angst vor Stürzen nie ganz abschütteln. Es ging vom Therapiepferd fast einen Meter vierzig hinunter. Ohne verlässliche Beine, um sich festzuklammern, erschien das wie ein Abgrund.

Der Anfall ging vorüber, und sie setzten im Schritttempo ihre Runde durch den Round-Pen fort. Langsam gewann der Spaß an der Bewegung die Oberhand. Donna saß nun vollkommen gelöst auf dem Rücken des Pferdes, und Clovers Ohren waren ganz auf sie ausgerichtet.

»Tracy, guck mal!«, rief das Mädchen.

Donnas Freundin, die am Tor des Round-Pens lehnte, winkte und sah ein bisschen neidisch aus. Sie schob den Drahtbügel des Tors spielerisch rauf und runter.

Marina ließ Donna mit einer Hand los, um sich den schmerzenden Kiefer zu reiben.

Plötzlich nieste Mr Galverton explosionsartig in Clovers Ohr.

Die erschreckte Appaloosa-Stute riss sich aus Joes Griff los und zog vorbei an Marina und Mr Galverton, die ihre Hände von Donna nahmen, um sie nicht herunterzureißen.

Auf sich allein gestellt, kippte das Mädchen prompt seitwärts.

Tracy hatte den Bügel fallen gelassen, und durch den Druck ihres Gewichtes schwang das Tor auf.

Der offene Pferch war für Clover das Zeichen, dass sie Feierabend hatte. Sie trottete los. Donna schrie auf und rutschte fast herunter.

Marina machte einen Satz. Sie schwang sich hinter Donna auf Clovers Rücken, ehe das Pferd auf den Hof laufen konnte. Marina hielt das Mädchen mit beiden Armen fest und bedeutete Clover gleichzeitig, stehen zu bleiben.

»Alles gut!«, sagte sie, um die zwei zu beruhigen, und atmete selbst erleichtert auf, dass nichts passiert war. »Mach das Tor zu, Tracy! Und Finger weg vom Bügel.«

Wie um ihren Fehler wettzumachen, stand Clover wie eine Eins. Nur der Wind zerzauste ihre Mähne.

»Willst du weitermachen, Goldstück?«, fragte Mr Galverton und kratzte sich schuldbewusst am Kopf.

»Ja!«, antwortete Donna.

Eigentlich war die Zeit vorüber, aber Marina wollte, dass das Mädchen mit einem guten Gefühl nach Hause fuhr. Daher hängte sie noch ein paar Minuten an.

Der kleine Vorfall hatte einen Neugierigen herausgelockt. Marina bemühte sich, nicht zu sehr hinzusehen.

Der Junge baute aus alten Pfosten und Cavalettis so etwas wie eine Rampe. Sie bemerkte, dass er das Holz nur mit dem rechten Arm trug, der Linke kam überhaupt nicht zum Einsatz.

Beide Hände zu benutzen, wäre praktischer gewesen, aber er konnte oder wollte offenbar nicht. Der Junge bewegte sich wie mit Lasten beschwert, die über das Gewicht der Holzstangen hinausgingen.

Marina ahnte den Grund und schluckte. Ein Kind seines Alters sollte sich bewegen wie Yankee, der Einjährige, der gerade auf der Koppel übermütige Sprünge machte.

Kurz darauf beendete sie die Therapiestunde; und Donna wurde von ihrem Vater wieder in den Rollstuhl gesetzt.

Das Mädchen wollte selbst in den Stall, um das Tuch zum Abreiben von Clover zu holen. Tracy schloss sich an.

»Aber denkt dran – nicht bis nach hinten durch«, erinnerte Marina sie. »Das ist Sperrgebiet.«

Mr Galverton sah sie fragend an. Meistens kam seine Frau mit, die deshalb die Abläufe besser kannte.

»Da verstecke ich die Beute aus den Banküberfällen«, sagte Marina, ohne mit der Wimper zu zucken.

Donna lachte.

Dean konnte am gleichen Abend bereits in Lewiston sein, wo Steve lebte. Gut, dass er den Koffer nicht erst ausgepackt hatte. Ein Bote brachte ihm die erforderlichen Flugpapiere, Dienstausweis und die Waffe ins Hotel.

Das ließ ihm eine selbst auferlegte Pflicht übrig. Dean wählte eine Nummer, die er lange gemieden hatte.

»Nicole Hershy.«

Er erkannte die Stimme wieder, als sie sich mit ihrem Mädchennamen meldete.

»Dean hier. Dean Hamilton.« Er hoffte fast, dass sie einfach auflegte.

»Puh!« Nicole klang eher verblüfft als ärgerlich. »Mit dir hätte ich ja als Letztes gerechnet.«

»Ich hätte längst …« Er wartete kurz, damit sich ihre Überraschung ein wenig legte, bevor er mit seiner Entschuldigung begann. »Es tut mir leid. Ich kann nicht im Mindesten ausdrücken, wie sehr ich mir wünsche, ich könnte das alles ungeschehen -«

»Es war ein Unfall, oder? Schon okay.«

Nichts war okay, aber wenn Miles’ Exfrau das so sehen wollte …

»Ja. Ich begreife bis heute nicht …« Wieso war Miles vorschriftswidrig losgestürmt und hatte sich zur Zielscheibe gemacht? Sie hätten den Schützen gemeinsam stellen und Schlimmeres verhindern können – bis Verstärkung gekommen wäre.

»Da sind wir schon zu zweit.« Sie seufzte. »Er war nicht mehr der Mann, in den ich mich verliebt hatte. Ich glaube, der Job hat ihn ausgelaugt.«

Das war das Problem, wenn man mit dem Beruf verheiratet war. Am Ende lag man einsam im Bett.

»Kann passieren«, antwortete er lapidar, obwohl während seiner Rekonvaleszenz allein der Gedanke, irgendwann wieder arbeiten zu können, seine Lebensgeister aufrechterhalten hatte. Ohne Struktur in den Tag hineinzuleben und bis zur blanken Erschöpfung zu kämpfen, um zurückzuerlangen, was er zuvor für selbstverständlich gehalten hatte, war dabei die schwierigste Herausforderung gewesen.

»Wie geht es dir, Dean?«, fragte Nicole in sein Schweigen hinein. »Ich hab gehört, du lagst im Koma und alle dachten, du würdest sterben.«

Dean gab eine kurze Zusammenfassung ab, die er insgeheim die öffentliche Verlautbarung nannte. Er suhlte sich ungern in seiner Krankengeschichte. Nicole machte mitfühlende Bemerkungen an den richtigen Stellen und hörte sich an, als würde ihr diese Version genügen.

»Wo wir gerade reden, Dean – möchtest du dein Telefon zurück?«

»Bitte?«

»Bei uns lag ein Handy rum. Miles sagte, das hättest du wohl vergessen. Ich hab ihm deswegen in den Ohren gelegen, aber er hat immer verschwitzt, das Ding einzustecken. Schließlich hab ich es in eine Schublade getan.«

»Wann war das?«, fragte Dean.

»Vielleicht zwei, drei Wochen bevor Miles Hals über Kopf ausgezogen ist. Ich wollte es dir nach seinem … Tod längst schicken, aber ich dachte nicht, dass …«

Dass du es noch brauchen würdest, ergänzte Dean still. »Natürlich, das alte Telefon. Ich bin während der Ermittlungen so oft umgezogen, dass mir manchmal selbst kaum klar war, wo ich gerade wohne.« Er bemühte sich um einen lockeren Tonfall, doch eines wusste Dean genau: Er vermisste kein Telefon. Was hatte es damit auf sich?

»Am besten, ich schicke es dir per Post zu. Ich hoffe, es funktioniert noch, der Akku ist bestimmt längst leer.«

»Die nächsten Tage bin ich in Lewiston. Du kannst das Telefon ja dorthin senden.« Dean gab ihr Adresse und Zimmernummer des Red Lion Hotel Grand.

»Also arbeitest du wieder?«, fragte Nicole.

»So ungefähr«, antwortete er ausweichend.

»Das ist gut. Miles würde das wollen, weißt du. Ich glaube, du warst sein Vorbild. Pass auf dich auf, jetzt, wo er nicht mehr da ist, um dir den Rücken freizuhalten.«

Die Worte brannten ein Loch in Deans Selbstbeherrschung. »Er war ein feiner Kerl«, sagte er mit erstickter Stimme. »Ich wüsste gerne, wer uns in die Schießerei hineingeritten hat!« Statistisch gesehen wurden FBI-Agenten eher selten in Schusswechsel verwickelt. Miles und er hatten wohl Pech gehabt. In mehrfacher Hinsicht.

»Schlimme Dinge geschehen einfach. Ich bin auch aus allen Wolken gefallen, als Miles mir eröffnete, dass seine Gefühle für mich … verschwunden waren. Das war heftig. Ich bin nicht mehr zu ihm vorgedrungen. Er schien mich regelrecht von sich wegstoßen zu wollen.«

So unerwartet war diese Entwicklung für Dean nicht gekommen. Er hatte seinen Partner mehrmals dabei ertappt, wie er angeblich »nach Hause« fahren wollte, die Nacht in Wahrheit aber nicht mit Nicole verbrachte, wie Dean bisweilen durch zufällige Bemerkungen herausfand. Doch Dean hatte sich aus Miles’ Privatangelegenheiten heraushalten wollen. Hätte er mal besser darin herumgeschnüffelt! Vielleicht der erste Fehler in einer ganzen Kette von Versäumnissen.

Im Flugzeug versenkte sich Dean in die Akte Steve Wells.

Äußerlich ähnelte Steve den übrigen Opfern, was dafür sprach, dass der Täter ein bestimmtes Schema bevorzugte. Ein beigefügtes Foto zeigte einen dunkelblonden Jungen mit hellen Augen in einer blauen Jacke der Lewiston-Warriors-Baseball-Mannschaft, ein Waveboard in der Armbeuge. Er war klein für sein Alter, doch mit dem offenen Ausdruck im Gesicht glich er einem Abenteurer, der sich anschickte, die Welt zu erobern.

Das Polizeifoto von Steve, das man am Tag seiner Rückkehr aufgenommen hatte, war nach diesem so alltäglichen Porträt ein Schock.

Der leere Blick des Jungen jagte Dean einen Schauer über den Rücken. Von Neugier und Entdeckerfreude, die das erste Foto eingefangen hatte, war keine Spur mehr zu finden. Steve hockte zusammengesunken da, als wolle er mit der Stuhllehne verschmelzen. Frische Kratzer leuchteten rot auf seiner Haut. Das zugeschwollene rechte Auge war von einem dunklen Hämatom umgeben. Eine Platzwunde befand sich auf der Stirn. Der linke Arm war an der Elle gebrochen – eine typische Abwehrverletzung.

Von den Brandwunden am Arm gab es eine eigene Aufnahme.

Die auf unterschiedlichen Höhen mit festem Abstand zueinander platzierten, punktförmigen Verbrennungen der Opfer waren kennzeichnend für die Vorgehensweise des Täters. Man hatte die Presse aus ermittlungstaktischen Gründen nicht darüber informiert. Es schien so etwas wie sein Markenzeichen zu sein. Bei allen anderen Opfern waren es sieben Stellen. Bei Steve allerdings hatte sich der Killer regelrecht ausgetobt.

Dean wandte den Blick von den Foltermalen ab und las das Gutachten des Profilers. Amos Nazeel hatte dem Täter in Steves Fall eine große Wut attestiert, die sich völlig vom planvollen Vorgehen der anderen Entführungen unterschied. Es stand zu befürchten, dass er den Modus Operandi geändert hatte und die Qualen der Opfer nun steigern würde.

Dean überflog die übrigen Daten und blieb dann an einer Bemerkung zu Steves besonderen Merkmalen hängen.

Er stutzte und ließ die Luft langsam aus der Brust entweichen. Also, das konnte problematisch werden.

4. Kapitel

Das Ding liegt ganz still da, als ich den Koffer öffne. Ich erkenne nicht, ob sich seine Brust hebt und senkt. Die Abläufe sind anders, und der Weg zu meiner neuen Zuflucht dauert länger.

Ich winde einen Strick um die schmalen Handgelenke und ziehe es aus dem Koffer heraus, in einer Hand den Elektroschocker. Schlaftrunken murmelt es ein paar Worte.

Die Erleichterung treibt mir Tränen in die Augen. Es scheint lediglich benommen vom Sauerstoffmangel. Wie günstig!

Ich bugsiere das Ding vor mir her zu der Ecke mit der Eisenkette und mache es dort fest.

Fehler können tödlich sein, und ich werde keine weiteren begehen! Es hat gedauert, mich von dem Desaster des letzten Jahres zu erholen. Genau genommen hat es sich ausgezahlt, dass ich gezwungen war, alles bis ins Kleinste neu zu planen, statt eine günstige Gelegenheit zu ergreifen, wie bei dem Fehlschlag. Ich wollte an eine glückliche Fügung glauben. Aber letztlich war es nichts als purer Leichtsinn. Und ich habe dafür bezahlt. Oh, ja! Nicht nur, dass das sinnestaumelnde Crescendo ausgeblieben ist – die Belohnung für meine Mühe, wenn ich auf den Wogen des Nektars hinaustreibe.

Nein, die Flucht des unseligen Dings hatte mich gezwungen, meinen Waldeinsamkeitstempel eigenhändig zu zerstören, damit weder Haare noch Hautfetzen noch andere Spuren blieben, die zu mir hätten führen können.

Mir ist zu Ohren gekommen, dass es sich trotz psychologischer Hilfe an nichts erinnert. Auch wenn ich jede Vorsichtsmaßnahme ergriffen habe, ist dies ein nützlicher Umstand.

Der Fehlschlag hat mich gelehrt, sorgsamer auszuwählen. Mich nicht von Äußerlichkeiten blenden zu lassen, wo es doch auf die inneren Werte ankommt.

Er war ein Pfauhahn. Prachtvolle Federn und Gestalt, aber bloß ein Katzenschrei an Stimme. Gestammel, nicht mehr als pechschwarze Blasen, die über mir zerbarsten und meine Wahrnehmung mit ihrer Klebrigkeit überzogen. Abscheulich. Ein warnendes Beispiel, mich in Geduld zu fassen und beim nächsten Mal alles besser zu machen.

Übung macht den Meister. Und der Mühe Lohn klingt süß! Es ist eine Weile her, dass mein Geist sich in höhere Sphären schwingen konnte – viel zu lange.

5. Kapitel

Salt Lake City, Utah, 17. Mai

Nach fast fünfstündigem Flug schlängelte sich Dean durch den Salt Lake City International Airport. Aufrufe fürs Boarding, Schritte, Klappern von Rollkoffern, Schweißgeruch und Parfüm, ein Dutzend verschiedener Gespräche in ebenso vielen Sprachen und scheinbar Hunderte von Klingeltönen schufen eine überwältigende Kulisse.Er versuchte, die auf seine Sinne einstürmenden Eindrücke abzublocken, und steuerte eine ruhige Ecke an. Mehr als eineinhalb Stunden bis zum Weiterflug. Von einem stehen gelassenen Tablett stieg das schale Aroma von Kaffeeresten auf.

Lichtblitze zuckten vor Deans Augen. Er verlor kurz die Orientierung und begab sich fluchtartig auf die andere Seite des Raumes. Er musste immer noch ziemlich angeschlagen sein, wenn der leiseste Auslöser ihn derart aus der Bahn warf.

Nachdem Dean einige Minuten ruhig dagesessen hatte, griff er zum Smartphone und wählte die Nummer des Verbindungsmanns bei der Polizei von Lewiston.

»Brenner hier.«

»Special Agent Hamilton.«

»Ah, der Spezialist vom FBI.« Es hörte sich an, als würde Police Officer Brenner gerade essen.

»Ich werde gegen neunzehn Uhr in Lewiston landen. Vor dem Hintergrund der neuerlichen Entführung würde ich den Zeugen gerne so schnell wie möglich treffen.«

»Welche neue Entführung?« Brenner klang misstrauisch und verärgert.

Dean hätte sich wegen des Lapsus am liebsten auf die Zunge gebissen. War der Officer aus einem bestimmten Grund nicht eingeweiht? »Es gab eine weitere Kindesentführung …«

»Wo?«

»Gestern in Oregon. Tut mir leid, ich dachte, Sie wüssten Bescheid«, sagte Dean beschwichtigend. Es wunderte ihn sehr, dass man die Angelegenheit bisher vor der Presse hatte verbergen können.

»Ich bin schließlich nur ein Hinterwäldler-Cop und kein Anzugträger aus Washington.« Brenner schnaubte. »Aber Danke für die Info.« Er legte auf.

Dean steckte das Smartphone weg. Die Kontaktaufnahme war ja großartig gelaufen.

John Brenner wartete am Lewiston Nez Percé County Airport. Er war ein mittelgroßer, kräftig wirkender Mann, trug eine Polizeiuniform und hatte Haare, die so rot wie ein Fuchsschwanz waren. Brenner sah hinreichend zerknirscht aus, als er Dean zur Begrüßung die Hand entgegenstreckte.

»Hören Sie, tut mir leid wegen vorhin. Sie haben mich überrumpelt.« Wenn man nahe vor ihm stand, sprangen seine Sommersprossen ins Auge, die ihn jünger erscheinen ließen. Er hatte wahrscheinlich noch nicht viele Dienstjahre auf dem Buckel.

»Fangen wir doch einfach neu an.« Es brachte bloß Ärger, wenn man es sich mit den Behörden vor Ort verscherzte. Dean unterdrückte den Impuls, sich über die Stirn zu streichen. Nach dem langen Tag mit dem insgesamt siebenstündigen Flug einmal quer über den Kontinent holte ihn die Erschöpfung ein. Früher hatte er mühelos mal eine Nacht durchgearbeitet, doch jetzt …

»Ist mir recht«, sagte Brenner. »Wollen Sie vielleicht schnell einen Kaffee …« – er sah auf die Uhr – »… oder gleich ein Bier?«

Dean lehnte beides ab. »Ich habe mich im Flugzeug versorgt.« In Wahrheit hatte er bloß ein Sandwich und einen Energy-Drink zu sich genommen. Er brachte auf Reisen nie viel herunter.

Brenners Polizeifahrzeug stand neben dem Terminal auf der Sperrfläche.

Dean hob beim Anblick des widerrechtlich geparkten Wagens die Augenbrauen wohl einen Moment zu lange.