Die Schatten von Weißenbach - Linda Budinger - E-Book
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Die Schatten von Weißenbach E-Book

Linda Budinger

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Beschreibung

Welches mysteriöse Vermächtnis verbirgt sich in den Irrgängen von Weißenbach?
Ein spannendes Familiengeheimnis mit einem Hauch Mystery

Verena besitzt die außergewöhnliche und unheimliche Gabe die Aura von Menschen zu sehen und zu erkennen, ob diese dem Tode geweiht sind. Genau diese Gabe bringt die junge Medizinstudentin in Schwierigkeiten und sie muss für eine Zeit untertauchen. Darum nimmt sie eine Stelle zur Pflege einer alten Dame an. Verena ist nicht nur fasziniert von dem geheimnisvollen, labyrinthartigen Herrenhaus, sondern auch von dem charismatischen Sohn, der bei seiner Mutter lebt. Doch ihre Gefühle und ihre Gabe sprechen eine unterschiedliche Sprache. Und auch im Haus geht es nicht mit rechten Dingen zu. Verena macht sich auf die Suche nach Erklärungen über die Familie von Hagendorf und stößt dabei auf ein Geheimnis, das ihr Leben komplett aus der Bahn wirft …

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Fluch der Ewigkeit.

Erste Leser:innenstimmen
„Das geheimnisvolle Herrenhaus hat auch mich sofort in den Bann gezogen …“
„Mystische, fesselnde Story, die ich in einem Rutsch weggelesen habe!“
„Eine fantastische Mischung aus Spannung, Liebe und Familiengeheimnis.“
„Kann ich für gemütliche Herbstabende nur empfehlen!“

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Seitenzahl: 326

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Über dieses E-Book

Verena besitzt die außergewöhnliche und unheimliche Gabe die Aura von Menschen zu sehen und zu erkennen, ob diese dem Tode geweiht sind. Genau diese Gabe bringt die junge Medizinstudentin in Schwierigkeiten und sie muss für eine Zeit untertauchen. Darum nimmt sie eine Stelle zur Pflege einer alten Dame an. Verena ist nicht nur fasziniert von dem geheimnisvollen, labyrinthartigen Herrenhaus, sondern auch von dem charismatischen Sohn, der bei seiner Mutter lebt. Doch ihre Gefühle und ihre Gabe sprechen eine unterschiedliche Sprache. Und auch im Haus geht es nicht mit rechten Dingen zu. Verena macht sich auf die Suche nach Erklärungen über die Familie von Hagendorf und stößt dabei auf ein Geheimnis, das ihr Leben komplett aus der Bahn wirft …

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen TitelsFluch der Ewigkeit.

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe September 2022

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-173-9 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-026-4

Copyright © 2018, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH. Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2018 beim dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH, erschienenen Titels Fluch der Ewigkeit (ISBN: 978-3-96087-410-2).

Copyright © 2010, Sieben Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2010 bei Sieben Verlag erschienenen Titels Unter dem Vollmond (ISBN: 978-3-94023-591-6).

Covergestaltung: Emily Bähr unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Nejron Photo, © auralaura, © JORGE RUIZ DUESO, © oradige59 Lektorat: Daniela Pusch Korrektorat: Daniela Guse

E-Book-Version 03.05.2023, 09:54:58.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Die Schatten von Weißenbach

 In liebevoller Erinnerung für meine Mutter Brigitte

Kapitel 1

»Wenn ich am Kopfende des Bettes stehe, wird der Kranke nicht mehr genesen. Siehst du mich aber am Fußende stehen, so wird der Kranke gesund, so schwer sein Leiden auch sein mag.«

Die Herrin des Todes und ihr Patensohn

Märchen aus Frankreich

Frau Melzer würde nicht durchkommen, so viel wusste Verena beim ersten Blick auf die Aura der Patientin. Violette Fäden faserten vom inneren Licht der bettlägerigen Frau ab, der goldene Schein um den Körper verblasste und blutete ins Nichts.

Verena hatte das Dutzende Male erlebt, wenn die Lebenskraft derart abnahm, dass sie sich wie ein ausbrennendes Feuer selbst verzehrte. Sie gab der Patientin noch zwei, drei Stunden und bettete Frau Melzer höher, damit sie besser Luft bekam.

Ihr eigener Kehlkopf verkantete sich. Verenas übernatürliche Gabe half bei der Bestimmung von Krankheiten oder Verletzungen. Sie hatte sogar einen Patienten vor einer falschen Bluttransfusion bewahrt, weil sie auch unterschiedliche Blutgruppen und Reste der persönlichen Aura darin wahrnahm.

Doch den Tod konnte niemand aufhalten. Dem Sterben machtlos ins Auge zu sehen, gehörte zum schwierigsten Teil des Berufs. Die auf unorthodoxe Weise erlangten Erkenntnisse weiterzugeben war ein anderes Problem.

Verena beschränkte sich auf dezente Empfehlungen, um die Kollegen auf die richtige Spur zu bringen und Revierkämpfe mit den Ärzten zu vermeiden. Da ihre Einschätzung der Todeszeit oft stimmte, nannte man sie hinter ihrem Rücken bereits Todesengel.

Getuschel im Schwesternzimmer war das eine. Falls Verena jedoch verriet, wie sie ihr Wissen gewann, drohte ihr die Einweisung in eine Klinik ganz anderer Art.

Im Bus nach Hause döste Verena neben schläfrigen Frühaufstehern dem Bett entgegen.

Zuhause waren dann die Kapitel über Gefäßkrankheiten dran, ehe sie endlich in die Kissen sinken konnte. Sie hoffte auf einen ruhigen Morgen, um Kräfte für die Medizin-Vorlesung um 12 Uhr zu schöpfen. Wenigstens fingen bald die Semesterferien an, da konnte sie sich voll auf das Lernen für die Klausuren konzentrieren. Und ausschlafen, ein rarer Luxus, in der für Nachtarbeiter schlecht eingerichteten Welt.

Es war wohl bitter nötig, nachdem sogar Oberarzt Karden sie vorhin angesprochen hatte. Seine skeptischen Worte klangen ihr noch im Ohr: »So erschöpft, wie Sie aussehen, weiß man ja nie, ob Sie in ein Bett auf Station gehören oder ins Schwesternzimmer, Frau Seiler. Ich begrüße es, wenn Leute mehr aus sich machen wollen. Aber sind Sie der doppelten Belastung wirklich gewachsen?«

Als sie ihm versichert hatte, dass es ihr gut ging, hatte Karden Zähne gezeigt, was wohl Sympathie ausdrücken sollte. Dieser falsche Hund!

Seit durchgesickert war, dass sie sich weiterbildete, um eines Tages Ärztin zu werden, hatte er sie auf dem Kieker. Dabei stammte er selbst aus einer Medizinerfamilie und war, im Gegenteil zu ihr, auf einem weichen finanziellen Polster durchs Studium gerutscht.

Verena gähnte. Der Mond spiegelte sich im Seitenfenster des Busses, und sie lehnte den bleischweren Kopf ans kühle Glas. Zwei Stationen noch. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und nickte ein.

Scheinwerfer zogen vorbei. Regentropfen malten Batikmuster auf die Glasscheiben, doch als die Familienkutsche auf der Autobahn Tempo aufnahm, spülte der Luftzug sie wieder weg. Verena spürte die Beschleunigung im Bauch. Sie äugte zu ihrer jüngeren Schwester im Kindersitz hinüber. Marion war endlich eingeschlafen, nachdem sie gerade erst am Gurtschloss gespielt hatte.

Reifen und Motor erzeugten ein einschläferndes Brummen, Wasser spritzte seitlich hoch.

Plötzlich bockte der VW wie ein Wildpferd, und der Gurt straffte sich. Verena sah vorüberjagende Pfosten und die Leitplanke, dann folgten ein Knall und ein Stoß. Im Rückspiegel blitzte Papas angespanntes Gesicht auf. Er kurbelte wild am Lenkrad, Mama duckte sich auf dem Beifahrersitz.

Ein heftiger Ruck schüttelte den Wagen, und danach geschah etwas mit dem Auto, geschah mit der Welt.

Die Umgebung kippte. Der Sicherheitsgurt drückte Verena die Luft aus dem Brustkorb. Marion purzelte kreischend umher.

Das Autodach verformte sich, wollte sie erdrücken. Entsetzt schrie Verena auf, prallte seitlich gegen das Fenster und schlug sich den Kopf an. Alles drehte sich und versank im Chaos.

Nachdem der VW zur Ruhe gekommen war, herrschte gespenstische Stille. Verena war schwindelig, und sie schmeckte Blut. Im Auto roch es scharf und metallisch. Verena steckte zwischen Sitz und eingedrückter Seitenwand fest.

»Mama?« Ihr Fuß schmerzte, und als sie sich vorbeugen wollte, fühlte es sich auch noch so an, als steche ein Messer durch ihr Bein. Sie tastete vorsichtig die Jeans entlang. Der Stoff war nass und klebrig, und sie spürte darunter Splitter! Schlagartig wurde ihr übel.

»Mama? Papa? Es tut so weh!«

Niemand rührte sich auf den Vordersitzen. Waren sie bewusstlos? Verena kämpfte gegen die Qualen an, aber sie schaffte es nicht einmal, ihre Mutter zu berühren. Sie fing am ganzen Leib zu zittern an.

Im Fußraum auf der anderen Seite weinte Marion. Sie musste aus dem Kindersitz geschleudert worden sein.

Die kleine Gestalt, in rötliches Licht getaucht, war nur eine Umarmung weit fort, doch für Verena war sie unerreichbar. Haarsträhnen verdeckten das Kindergesicht, und darunter sah Verena Blut! Sie reckte sich, aber die Schmerzen im Bein rissen sie brutaler zurück als der verklemmte Gurt.

Grünes Schimmern erfüllte die komplette Wagenfront.

»Mama, Papa, wacht bitte auf! Ihr macht Marion Angst.« Die Panik nistete sich in ihrem Brustkorb ein. Verena biss sich auf die Unterlippe und spähte durch den Spalt zwischen den Vordersitzen. Eine verkrümmte Faust mit Ehering umklammerte die Handbremse. Und war das da Marions zerdrücktes Kuscheltier oder der Kopf ihrer …?

»Nein … nein«, stammelte sie. Das fahlgrüne Licht, das sie für Armaturenbeleuchtung gehalten hatte, umgab die Erwachsenen wie ein phosphorisierendes Leichentuch.

Angst schnürte ihre Kehle zu. Sie zitterte schlimmer als zuvor und schloss die Augen, um das kalte Leuchten auszusperren. Verena wollte sich nur zusammenkauern, sie musste Marion trösten, die aus vollem Hals brüllte.

»Bleib ruhig, Süße!«, sagte sie unter Tränen und zerrte am Gurt, um ihre Schwester wenigstens in die Arme zu nehmen. Vergeblich. »Komm rüber! Ich puste das Aua weg!«

Das Geschrei wurde zu leisen Schluchzern, dann wimmerte das Kind bloß noch. Das eigenartige Licht um Marion wechselte von Rot zu fahlem Grün.

Das kalte Metall und das Leid drückten Verena die Luft ab, und bis die Helfer eintrafen und das Blitzen der Ambulanz alle Farben im Auto überstrahlte, hatte sie ihre Familie sterben sehen.

Etwas berührte Verenas Gesicht, und ruckartig erwachte sie im Bus aus dem Traum vom furchtbaren Tag, der ihr Leben zertrümmert hatte. Sie wischte den großen Nachtfalter weg, der mit ihr im Bus eingesperrt war und nun immer wieder vor die Scheibe flog.

Nur dank langjähriger Verhaltenstherapie hatte sie gelernt, die Fahrt in einem geschlossenen Fahrzeug angstfrei zu überstehen. Sie selbst besaß weder Führerschein noch Wagen.

Als der Bus an ihrer Station hielt, stieg Verena vorsichtig aus, um auf den Stufen nicht zu stolpern. Das lädierte Knie tat nach der ereignisreichen Nachtwache ohnehin weh.

Ihr Heimweg führte am Blankenrainer Park mit den nebeligen Wiesen und dem Wäldchen entlang. Vögel zwitscherten. Ein Kaninchen hoppelte übers Gras und malte einen silbrigen Streifen ins nasse Grün. Es war trächtig, das verriet das warme Orange ums Fell. Tierische Auren waren einfach zu lesen, in menschlichen dagegen konnte Verena sich verlieren. Sie hatte gelernt, den zusätzlichen Sinn größtenteils zurückzunehmen, um nicht von der Fülle an Eindrücken erschlagen zu werden.

In der Hoffnung, ihr Talent besser zu verstehen, hatte Verena sich früher mit Esoterik beschäftigt. Laut Grenzwissenschaft und fernöstlichen Lehren besaßen Menschen ein mystisches Auge auf der Stirn. Bei den meisten Leuten schlief dieses sogenannte Dritte Auge. Manchmal, wie in Verenas Fall, wurden übersinnliche Fähigkeiten durch Krisen aktiviert. Die Erklärung, dass dafür der Autounfall und der Verlust ihrer ganzen Familie verantwortlich waren, erschien ihr zumindest nicht schlechter als andere.

Die Gesundheitsdeutung per Aura hatte Verena sich allein erarbeitet, da ihre Wahrnehmung sehr speziell zu sein schien.

Die Gegend war wie ausgestorben. Um die Straßenlaternen flatterten allerhand späte Nachtfalter, angelockt vom hellen Licht, dass ihnen Mondschein hinter Glas vorgaukelte. Die Nachtschwärmer sollten langsam schlafen gehen, genau wie sie. Verena ertappte sich dabei, wie sie beim Gähnen die Augenlider immer ein wenig länger geschlossen hielt. Als es in den Holunderbüschen neben ihr raschelte, schrak sie daher zusammen. Doch es flatterte bloß eine Amsel heraus.

Der Weg rückte näher an den bewaldeten Teil der Anlage. Verena gelangte an ein Drängelgitter, das Radfahrern den Zugang erschweren sollte. Ausgerechnet an dieser Stelle lagen die Reste eines Trinkgelages. Als sie versuchte, Glasscherben und Bierdosen auszuweichen, verhakte sich die Handtasche an einer Metallstrebe. Aus dem Tritt gebracht, prallte Verena mit der Hüfte gegen die Stange. Au, verdammt!

Ihr Atem beschleunigte sich instinktiv. Sie steckte fest, wie damals im Auto. Verena zerrte wild an der Tasche, und endlich löste sich der Riemen.

Um sie herum war es totenstill geworden. Wachsam sah sie sich um. Ein seltsamer Ast, dachte sie noch, dann jagte ihr Herz los. Das war kein Holzstück, das da aus dem kahlen Rhododendron ragte, sondern ein menschlicher Arm!

»Hallo?« Brauchte jemand dort Hilfe?

Instinkt und Pflicht stritten kurz miteinander, und schließlich machte Verena ein paar Schritte Richtung Waldrand. Nach einigen Metern über die feuchte Wiese blieb sie stehen.

Der Verstand wollte ihr weismachen, es sei nur Teil einer Schaufensterpuppe, die Spaßvögel versteckt hatten. Aber ihre Gabe nahm ganz deutlich die olivgrüne Leichenaura wahr. Und beim genaueren Hingucken erkannte sie im Gebüsch einen Torso. Und dahinter einen Fuß …

Verena versuchte, den Kloß im Hals loszuwerden. Sie hatte in der Klinik genug Tote gesehen, und im Studium im Präp-Kurs einen menschlichen Leichnam seziert. Meist sahen Verstorbene entspannt aus – gelöst und irgendwie entrückt, nicht nur für ihre geschärften Sinne. Das hier aber war vollkommen anders. Die Teile lagen verstreut wie Glieder einer zerrissenen Puppe.

Sie stieß einen erstickten Laut aus.

Ihre besondere Wahrnehmung zählte die Stücke, die zuvor ein lebendes Wesen gebildet hatten. Ein Rest Bewusstsein registrierte, wie sich feuchte Luft auf dem Mantelkragen niederschlug, und versuchte, den stechenden Geruch nach Fäkalien und Blut auszublenden.

Etwas knackte im Buschwerk. Verena zuckte zusammen, und ihr Blick blieb an einer Spur auf der taugetränkten Wiese hängen. Die Fährte endete vor dem Rhododendron mit der Leiche.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Es führte keine zweite Fußspur über den Rasen zurück. Lauerte der Mörder hier irgendwo?

»Oh Gott!« Beim nächsten Rascheln im Gebüsch verkrampfte sich ihr Magen. Etwas Menschengroßes schob sich durchs Unterholz. Sie war allein mit einer Bestie in Menschengestalt!

So schnell das marode Knie es erlaubte, eilte sie zum Weg und tastete dabei vergeblich nach dem Handy. Hatte sie das Telefon etwa beim Drängelgitter verloren? Ihr Fuß verhakte sich in einem Erdloch. Weiter! Jedes Knistern von altem Laub und Zweigen trieb sie vorwärts. Sie musste fort, unter Menschen, in Sicherheit. Verena konnte kaum Schritt halten mit dem Gedankenkarussell im Kopf.

Bevor sie die Parkanlage verließ, schälte sich eine Sekunde lang eine Silhouette aus den Büschen. Verenas Füße trugen sie wie von selbst zwischen parkende Autos hindurch. Als sie sich gehetzt umdrehte, war die Gestalt untergetaucht.

Gepresst stieß sie den Atem aus und stoppte nicht mehr, um sich umzusehen. Stattdessen legte sie alle Energie in die Flucht. Ihre Sneaker schlugen dumpf auf den Asphalt, doch außerdem hörte sie eine Art Schlurfen und das leise Klicken wie von Krallen. Verenas Hand schloss sich um die Dose Pfefferspray. Die andere suchte immer noch das Handy. Mist!

Ein Stück die Straße hinunter lag ein Kiosk, der vielleicht geöffnet hatte! Etwas kratzte hinter ihr gegen Blech. Im Vorbeihetzen schaute Verena in den spiegelnden Autoscheiben nach dem Verfolger. Im Glas zeichnete sich ein vager Umriss ab, den blaue Blitze umzuckten. Verenas hellwache Sinne versuchten, die Aura zu deuten, und sie übersah die Bordsteinkante. Als sie das Bein zu hart aufsetzte, drang der Stoß bis in den Kiefer. Schlagartig wechselte das Knie vom Sand-im-Gelenk-Gefühl zur Phase Glassplitter über.

Verena zischte schmerzerfüllt, und die Finger stahlen sich automatisch zu der wehen Stelle. Sie verharrte in Deckung des Wagens, die Hand schützend um die Kniescheibe gelegt und spähte umher. Wo steckst du?

Aber sie hatte die Gestalt aus den Augen verloren.

Die Ampel an der Kreuzung schaltete von Rot auf Grün. Das fahle Leuchten erinnerte sie an die Aura der zerfetzten Leiche. Verena unterdrückte ein Würgen. Sie hastete weiter, an einem Abbruchhaus vorbei und schließlich um eine Ecke. Nirgendwo ein Licht, jedermann sonst schlief.

»Internationale Presse« stand in abblätternden Buchstaben an der Wand des Kiosks. Der Rollladen über dem Tresen war geschlossen. Hier würde sie keine Hilfe finden. Auf dem Bordstein vor dem Geschäft lag ein aufgeplatztes Zeitungspaket. »Lumpensammler-Morde ohne jede Spur«, überflog Verena im Vorbeihasten. Sie war auf sich allein gestellt.

Wieder bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine geschmeidige Bewegung, mehr das Huschen eines Tieres als das eines Menschen. Sie wollte lauschen, doch das Rattern eines Zugs übertönte jedes andere Geräusch. Zug! Neuer Plan! Verena lenkte die Schritte zum Bahnhof. Dort wartete zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Taxi. Sie biss die Zähne zusammen und überquerte im Eilschritt das Kopfsteinpflaster.

Zu den Stichen im Knie kam ein dumpfes Drücken im rechten Fuß, den der Unfall zehn Jahre zuvor zerschmettert hatte. Er fühlte sich an, als stecke er in einem viel zu engen Schuh.

Verena hatte das Unglück überlebt, das ihr die Familie genommen hatte, und die Unterbringung bei den strengen Pflegeeltern überstanden. Die Sorge, dass man sie wegen ihrer Gabe für einen Freak hielt, ertragen – eine Befürchtung, die bisher jede Beziehung zerstört hatte. Und sie würde auch die Begegnung mit dem Lumpensammler für sich entscheiden – denn wer sonst könnte für die Leiche im Park verantwortlich sein?

Eine Woge von Energie beflügelte sie.

Verena bog zum Bahnhof ab und war schon einige Meter gelaufen, als ihr der Denkfehler bewusst wurde.

Die Bahnhofsstraße war von Zierkirschen gesäumt. Im Dämmerlicht glichen die Bäume finsteren Säulen, hinter denen sich wer-weiß-was verbergen konnte. War der Verfolger überhaupt noch an ihr dran oder hatte sie ihn abgeschüttelt?

Etwas schepperte bei der Einbiegung, und damit hatte sie ihre Antwort. Verena riskierte einen Blick über die Schulter: Eine rollende Mülltonne. Die kippten nicht von alleine um. Wenn sie jetzt umkehrte, lief sie dem Mörder direkt in die Arme.

Sie hinkte auf den Mittelstreifen, um Abstand zu den Straßenrändern zu gewinnen. Auf der Straße lauerten wenigstens keine Kanten oder Asphaltlöcher.

Ängstlich schaute sie sich abermals um. Eine gedrungene Gestalt bewegte sich von Deckung zu Deckung. Verena konnte nicht genau festmachen, ob sie auf zwei oder vier Beinen lief. So stellte sie sich einen Werwolf vor!

Sie bekam eine Gänsehaut. Die Aura war bis auf die bläulichen Funken matt und kränklich, so eine Kombination war ihr nie zuvor begegnet.

Sie legte trotz des wummernden Knies noch einen Schritt zu. Das wunde Gelenk rieb aufeinander, bis darunter rohes Fleisch zu liegen schien. Der Fuß fühlte sich inzwischen an, als würde er jeden Moment in zwei Teile brechen. Verena setzte den Schuh zur Entlastung stärker mit der Außenkante auf und hinkte deutlicher. Die halbe Strecke war geschafft. Aber der Verfolger kam näher.

Sie bereitete sich auf die Konfrontation vor. Zuerst war das Pfefferspray dran. Dann musste sie improvisieren: Schlüsselbund, Fingernägel. Sie ging im Geiste schon die verwundbaren Stellen des menschlichen Körpers durch, da geriet sie in eine süße Duftwolke.

Natürlich. Sie war nicht die Einzige, die nachts arbeitete!

Angespannt und kampfbereit bog Verena in den Hinterhof der Bäckerei Horn ein. Der wild pochende Herzschlag trieb sie auf die Tür und den Lichtstreifen am Durchgang zu.

Sie trat ins helle, warme Licht der Backstube, wo drei mehlbestäubte Angestellte sie verblüfft ansahen.

»Ich brauche Hilfe«, stieß sie atemlos hervor.

Kapitel 2

Gazette: Blutbad im Park

Küstennachrichten: Lumpensammler schlägt wieder zu

Hernberger Rundschau: Rätselhafte Mordserie geht weiter

Blankenrain – In den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages entdeckte die 23-jährige Verena S. im Stadtpark von Blankenrain den grausam zugerichteten Körper eines Helmstädter Geschäftsmannes. Die Polizei schließt einen Zusammenhang zu den anderen Morden im Landkreis (wir berichteten) nicht aus.

Sucht der wegen seiner abgerissenen Erscheinung im Volksmund Lumpensammler genannte Serienmörder nun auch im beschaulichen Blankenrain nach Opfern?

Über die genauen Hintergründe der Tat gibt es noch keine Informationen. Wir ermitteln in alle Richtungen, so der Polizeipräsident.

Gazette: Ihm (Rainer D.) konnte auch Schwester Verena nicht mehr helfen

Abendbote: Nachtschwester findet zerstückelte Leiche

Wie erst nach Redaktionsschluss bekannt wurde, arbeitet Verena S., die gestern früh auf dem Heimweg wortwörtlich über eine Leiche stolperte, als Krankenschwester in der Klinik von Blankenrain. Nachdem sie auf die sterblichen Überreste von Rainer D. stieß, rief sie, eigenen Angaben zufolge, umgehend die Polizei. Trotz eingeleiteter Großfahndung konnte im Park niemand angetroffen werden. Lesen Sie weiter im Innenteil.

Gazette: Nichts Neues im Park-Mord

Die Behörden haben auch nach drei Tagen keine Ergebnisse vorzuweisen. Langsam erkaltet die Spur. Verena S., die angeblich so couragierte Krankenschwester, weigert sich, mit der Presse zu sprechen. Hat sie etwas zu verbergen? Oder hat die junge Frau mehr gesehen, als sie zugeben möchte? In unserem Interview mit Bäckermeister Horn erfahren wir, wie er die Nacht des Mordes erlebte …

Ein leises Klirren schreckte Verena auf, und die Zeitung rutschte ihr aus der Hand.

»Scht, alles in Ordnung.« Martina stellte die Tasse auf den Glastisch und hinterließ eine mittlere Überschwemmung. »Du brauchst jetzt eine Teepause.«

»Danke, Tina!« Verena wärmte sich die Finger am Porzellan.

»Mir ist schleierhaft, wieso du dir das antust.« Tina wies auf den mit Zeitungen übersäten Tisch. »Die schreiben jeden Tag mehr Unfug über dich. Nun haben sie sogar ein Foto von dir aufgetrieben. Nicht mal ein Schmeichelhaftes.«

»Das war gestern schon bei Twitter.« Verena zuckte die Achseln. »Von den lieben Kolleginnen geteilt.« Auf ihr Handy, das sie in jener Nacht so verzweifelt gesucht hatte, war sie schließlich ganz unten in der Tasche gestoßen. Nun war der Akku so gut wie leer, weil sie sich von der inneren Unruhe ablenken wollte, indem sie jede Mitteilung online verfolgte.

»Nun lass doch mal gut sein, Verena.«

»Irgendwas muss ich ja tun. Die Klinik hat mich freigestellt, und ab nächster Woche sind Semesterferien. Eigentlich will ich von der Sache nichts mehr hören, ich müsste für die Klausuren lernen. Aber das ist wie mit einem lockeren Zahn. Man wackelt dauernd mit der Zunge dran.«

»Die verbreiten nur Gerüchte, weil es über den Lumpensammler wenig zu berichten gibt. Wenn du die Gazette zusammenrollst, kannst du bei dem schaurigen Verbrechen und Promischmalz glatt Blutwurst daraus machen.«

Lachend zog Verena Tina neben sich aufs Sofa. Die Freundin erstrahlte in einem gelben Licht, das sie als gesund zu deuten gelernt hatte.

»Danke«, sagte sie. »Für die Einladung, ein paar Tage bei dir zu verbringen, bis das Schlimmste vorbei ist.«

»Na, hör mal! Du hast doch sonst niemanden. Und die Polizei weigerte sich ja, dich in Schutzhaft zu nehmen.«

»Schutzverwahrung«, meinte Verena mit gespieltem Vorwurf. »Leider bin ich keine Kronzeugin aus einem US-Krimi. Ich hatte halt nur das Pech …«

»… über eine Leiche zu stolpern. Stell dir den Rummel vor, wenn du zu Hause geblieben wärst.«

»Ich will dich da nicht reinziehen. Es könnte gefährlich werden.« Verena wies auf das Phantombild des Verdächtigen, das kaum mehr hergab als ein Paar glühender Augen in einer Kapuze, die in einen zerfetzten Mantel überging. »Der sieht alles andere als freundlich aus.«

Jetzt war es Tina, die empört dreinblickte. »Hey, du hast doch ausgesagt, dass du niemanden gesehen hast.«

Verena schluckte.

In Wahrheit hatte sie der Polizei berichtet, dass ihr jemand gefolgt war, den sie für den Mörder hielt. Die Beamten hatten sie jedoch angewiesen, aus ermittlungstaktischen Gründen über dieses Detail Stillschweigen zu bewahren. Sogar Tina gegenüber. Man hatte ihr Polizeischutz angeboten. Aber der Gedanke an eine Zelle im Polizeirevier oder dem wochenlangen Eingesperrtsein in der eigenen Wohnung war unerträglich.

Tina deutete ihr Schweigen falsch. »Außerdem ist dieser Lumpensammler nur hinter Männern her«, betonte sie. »Siehst du hier irgendwelche Männer? Unter dem Tisch? Im Schrank? Oder etwa im Schlafzimmer?« Sie sah einen Moment lang traurig aus, und das gelbe Licht um sie flackerte. »Wir sind ja beide solo!«

Mit einem lag Tina goldrichtig: Bei den vier bisherigen Opfern des Lumpensammlers handelte es sich durchweg um ältere Männer. Trotzdem wurde Verena das unheimliche Gefühl nicht los, dass mehr hinter den Morden steckte. Vor allem wegen der seltsamen Aura des Verfolgers.

Eine wachsende Unrast plagte Verena. Sich im winzigen Appartement ihrer einzigen Freundin zu verstecken, war eine Sache. Wie eine Klette an ihr zu hängen, eine andere.

»Heute Abend gehe ich arbeiten!«, sagte sie. »Ich kann mich nicht die ganze Zeit hier verkriechen und romantische Kostümfilme gucken.«

»Hast du dir das gut überlegt? Uns fehlen noch zwei Staffeln von Downton Abbey.«

Kopfschüttelnd meinte Verena: »Mein Ladegerät fürs Handy liegt in der Klinik, und dann kann ich auch gleich nach dem Rechten schauen.«

»Ich bring dich hin. Und zurück nimmst du ein Taxi!«

Tina fuhr so übervorsichtig, dass man sich in ihrem Auto halbwegs sicher fühlte. »Ja, Mama.«

Sie lachten beide. Doch das von der Zimmerdecke zurückgeworfene Gelächter klang wie Spott. Plötzlich war Verena nicht mehr zum Lachen zumute.

Verena hängte das Mobiltelefon ans Ladegerät und streifte den Schwesternkittel über. Endlich wieder auf Station. Es roch nach Desinfektionsmitteln, Plastik von den Abdeckhauben der Abendbrotteller, dazu ein Hauch von Schweiß und krankem Mensch. Der übliche Krankenhausmief. Während der Nachtschicht herrschte in der Klinik eine beruhigende Atmosphäre, als färbe der Schlaf der Patienten ab. Und Ruhe war genau das Richtige für ihre überreizten Nerven.

Als Verena an einer angelehnten Tür vorbeikam, hörte sie die vertraute Stimme von Dr. Karden und verdrehte unwillkürlich die Augen. Natürlich hatte ausgerechnet er heute Dienst. Doch das war ein Krankenzimmer, nicht der Bereitschaftsraum. Gab es einen Notfall?

»Ja. Wir sind so nahe dran wie nie.« Kein Patientengespräch, es sprach nur einer. Der Oberarzt musste sich für ein vertrauliches Telefonat zurückgezogen haben.

»Was glaubst du?« Irgendetwas an dem Tonfall veranlasste sie, stehenzubleiben.

»Ich vergesse nie, was er Helene angetan hat. Der Gedanke an das Salamanderbuch motiviert mich jeden Tag.« Pause.

»Ja, ich habe den Standort verlegt. Aus Sicherheitsgründen. Ganz in deren Nähe. Was das Löwen-Projekt angeht … GU-28, AD-12 und vor allem CY-15 zeigen Fortschritte.«

Als Karden Faktoren aus irgendeinem Experiment aufzählte, setzte sich Verena wieder in Bewegung. Es ging um seine Familienfirma Panazee-Pharma.

Sie betrat das Schwesternzimmer, eine Lichtinsel inmitten abgedunkelter Räume. Die Kolleginnen blickten überrascht hoch. Ärzte pflegten vorher anzuklopfen und natürlich erwartete sie niemand.

»Sieh an, unsere Berühmtheit«, bemerkte Katja spitz. »Aus dem Rampenlicht zurück an die Bettpfanne.«

»Wir haben das von dir gehört. Was tust du denn hier?«, fragte Mila. Sie musste gerade aus der Raucherpause gekommen sein, der Grauschleier um ihre Aura löste sich schon auf.

Blauer Dunst und schwarzer Kaffee trugen das Personal durch die Nachtschicht. Verena mochte gar nicht wissen, was Ärzte einwarfen, um Bereitschaftsdienste, Rufdienste oder die Verantwortung für eine ganze Station und die Notaufnahme durchzustehen. Allerdings würde sie nie verstehen, wieso ausgerechnet Leute im Medizinbetrieb Raubbau am eigenen Körper betrieben. »Ich wollte mich nützlich machen. Mir fällt die Decke auf den Kopf.«

»Der Warteraum der Ambulanz ist voll«, bemerkte Katja. »Es gab einen Notfall auf der U6. Bei nur einem Arzt auf Station stapeln sich die Patienten.«

Das war ja kein Wunder, wenn Karden telefonierte, statt zu arbeiten.

Im Wartebereich der Ambulanz empfing sie Alkoholgeruch, allerdings nicht von Desinfektionsmitteln. In einer Glaskabine am Ende der Stuhlreihe teilte ihre Kollegin Elvan die Patienten nach Dringlichkeit der Behandlung ein. Zwei Männer sahen aus, als kämen sie von einer Prügelei. Ein älterer Herr saß schnaufend da. Für Verenas inneres Auge wirkten die Beschwerden seiner verschleppten Bronchitis nicht sonderlich ernst. Eine Frau hielt sich den Arm, der verstaucht zu sein schien.

Verena musterte das Pärchen genauer, von dem der Geruch nach Schnaps stammte. Der Betrunkene hockte ungelenk auf dem viel zu niedrigen Stuhl und schob die Beine ruhelos vor und zurück. Beide Auren waren am Rand leberrot getönt, typisch für Alkoholrausch. Außerdem zeigte die Aura der Frau einen feinen Riss auf Schädelhöhe, und sie war in diesem Bereich verschoben.

Beim Anblick von Verenas Kittel wetterte der Mann los. »Wo bleibt’n der Doktor? Wir warten seit ’ner Stunde!«

Verena musste die Kollegin unbedingt auf den kritischen Zustand der Frau aufmerksam machen. Rasch schlüpfte sie in die Kabine. »Hallo, Elvan.«

Die riss die Augen auf. »Gut, dass du da bist. Der Kerl randaliert gleich.«

Hinten ging eine Tür auf. Köpfe ruckten hoch, und Bewegung kam in die Menge. »Herr Doktor!« Der Betrunkene sprang schwankend auf die Füße. »Meine Frau ist die Treppe ’runtergefallen. Sie hat wahnsinnige Schmerzen.«

»Ich seh mir eben die Papiere an.« Karden wollte die Tür zum Glaskasten öffnen, doch überraschend flink packte ihn der Mann am Kittel.

»Es is’ dringend, Herr Doktor. Die wird verrückt vor Kopfweh.«

Die Frau kauerte benommen da, und ihr liefen Tränen über das Gesicht. Ihr Aurariss war in dem kurzen Moment bereits größer geworden. Wütend pulsierte ein rötliches Strahlen um die Fissur.

»Wenn Sie ausfallend werden, helfen Sie Ihr auch nicht.« Karden griff nach den Krankenblättern. Die Hand des Betrunkenen glitt vom steif gestärkten Arztkittel wie ein totes Gewicht. »Ich mein’ doch nur – tun Sie was!«

Karden wich vor seiner feuchten Aussprache zurück und wäre dabei beinahe in Verena gelaufen. »Wir kümmern uns darum. Ich muss sehen, ob es dringendere Fälle gibt, Herr …«

»Noviak.«

Erst mal abwiegeln. Typisch Karden. Verena äugte noch einmal zu der Verletzten und räusperte sich. »Soll ich alles zum Röntgen vorbereiten?«

Sie wählte einen neutralen Tonfall, um nicht eigenmächtig zu erscheinen. Sonst musste am Ende die Patientin unter ihrem Vorpreschen leiden. Karden brachte es fertig, das genaue Gegenteil zu tun, um zu zeigen, wer das Sagen hatte.

Der Arzt blickte sie an, als sähe er ein Gespenst. »Frau Seiler«, sagte er mit gespitzten Lippen. »Was machen Sie denn hier?«

»Ich bin eingesprungen, weil so viel los war!«

Kardens Blick sengte eine Brandspur durch den Raum. Elvan schüttelte rasch den Kopf. »Ich hab niemanden angefordert!«

»Sie haben keine Berechtigung mehr für die Klinik, Frau Seiler. Das wissen Sie doch.«

»Wo liegt denn das Problem?« Was sollte schlimm daran sein, wenn sie mal freiwillig zum Dienst erschien? Personal war immer knapp.

»Seit Sie in diese unselige Mordgeschichte verwickelt wurden, wimmelt die Klinik vor Reportern.«

Als wäre sie mit Absicht einem Mörder in die Quere gekommen. Verena errötete. »Wenn ich erklären …«

»Das Patientenwohl geht vor, Frau Seiler, das verstehen Sie gewiss. Ihre Anwesenheit stört die betrieblichen Abläufe. Gestern ist ein Boulevard-Schnüffler bis ins Schwesternzimmer vorgedrungen. Hat Fragen über Sie gestellt.« Er blinzelte.

»Ich bedauere, dass Sie es auf diesem Wege erfahren …«

Verena wurde heiß und kalt. Gar nichts tut dir leid. Ihr fehlten vor Empörung die Worte.

Der Arzt bürstete sich ein Staubkorn vom Ärmel. »Das Kündigungsschreiben hätte längst …«

Ein Brief der Vermittlerfirma wäre an ihre Postadresse gegangen. Die Sendungen der vergangenen Tage hatte Verena bisher nicht abgeholt.

»Den Resturlaub bekommen Sie voll ausbezahlt. Ich bin sicher, eine andere Institution …«

Verena hasste die Vorstellung, doch sie musste betteln. Und ausgerechnet bei Karden. »Ich bin auf die Stelle angewiesen, um das Studium zu finanzieren. Wenn ich jetzt nach einem neuen Job suchen muss, kann ich die Klausuren vergessen.« Sie brauchte die Semesterferien zum Lernen und Geld verdienen. Und nun sollte sie sich in der knappen Zeit die Hacken bei der Arbeitssuche ablaufen. Das war unfair!

»Die Entscheidung habe nicht ich gefällt«, stellte Karden klar. »Der Betriebsrat hat der Kündigung zugestimmt. Da Sie nur über die Zeitarbeit angestellt sind, ging das fix. Entschuldigen Sie mich, es warten Patienten!« Er hob die Krankenblätter wie einen Schild vor die Brust.

Verena warf einen letzten Blick auf die zusammengesunkene Patientin im Warteraum. Sie hörte ihr Weinen bis hierher.

»Wir waren fachlich nicht immer einer Meinung, Doktor. Aber bitte sehen Sie sich Frau Noviak genauer an. Ich vermute, sie hat eine schwere Gehirnerschütterung, vielleicht sogar einen Schädelbruch.«

Kardens Mund verzog sich abschätzig. »Wer saufen kann, der muss auch die Folgen tragen. Im Übrigen bin ich ausgebildeter Arzt mit Berufserfahrung, Sie hingegen nur eine Pflegekraft. Von einem fachlichen Austausch auf gleichem Niveau dürfte also keine Rede sein.«

In Verena kochte es. »Wir werden ja sehen, was die Presse zu Ihrer Behandlung von Notfällen sagt. Und das bei Ihrem familiären Hintergrund!«

Er fletschte die Zähne und erinnerte sie an einen Hai. »Wenn ich wollte, setzten Sie keinen Fuß mehr in ein deutsches Krankenhaus, auch nicht als Ärztin. Dann können Sie ewig beim Pflegedienst versauern. Haben wir uns verstanden, Frau Seiler?«

Verena versteifte sich. Die Wände des gläsernen Kastens rückten näher. Sie spürte, wie ihre Stirn feucht wurde. Ihr Herz galoppierte, Übelkeit erfüllte ihren Bauch.

Karden beäugte sie misstrauisch. »Machen Sie bloß keine Szene. Also gut …« Er winkte Elvan herbei. »Bringen Sie die Patientin zum MRT. Einen schönen Abend, Frau Seiler.«

Verena flüchtete aus der Glaskabine, ehe ihre Kehle zu eng für den nächsten Atemzug wurde.

Ihre Zukunft stürzte gerade ein wie ein Kartenhaus. Sie geriet zwar regelmäßig mit Ärzten aneinander, weil ihre Gabe genauere Einblicke verschaffte als jedes Gerät. Aber sie hatte sich in den letzten Jahren ebenso einen soliden Ruf erworben. Nun war sie unverschuldet den Job los.

Sie ballte die Fäuste. Verfluchte Klatschpresse! Verdammter Lumpensammler. Hätte sie den Toten bloß nie entdeckt!

Die kühle Nachtbrise trieb die drückenden Sorgen auseinander wie Regenwolken, als eine Wahrnehmung durch Verenas abflauende Panik drang: Tritte von schweren Schuhen. Sofort schlug ihr das Herz wieder bis zum Hals, und sie lief schneller. Zu dumm! Aus purer Gewohnheit hatte sie nach dem aufgebrachten Abgang den gewohnten Weg zur Bushaltestelle eingeschlagen. Die offene Station gegenüber vom Parkplatz war keine Zuflucht.

Jemand folgte ihr. Und das Handy hing noch am Ladegerät beim Spind, weil sie sich nicht einmal umgezogen hatte. Wenn etwas schiefging, dann gründlich!

Verena blickte sich hektisch um, konnte in der Dunkelheit aber niemanden erkennen. Doch sie war im hellen Kittel leicht auszumachende Beute.

»Frau Seiler?«, rief eine Männerstimme. »Bitte warten Sie, wir müssen reden.«

Karden hatte ja davon gesprochen, dass die Presse das Krankenhaus umlagerte. Ein Journalist war das Letzte, worauf Verena Lust hatte.

Oder versuchte der Lumpensammler, sie hier zu erledigen?

Aber nicht mit ihr! Der Mann war mindestens zehn Meter zurück. Sie knöpfte im Gehen den Kittel auf. Hinter der ausladenden Kiefer ein Stück weiter würde er sie für einen Moment aus den Augen verlieren. Verena zog das Oberteil aus und hängte das helle Kleidungsstück in eine Berberitze. Dann schlug sie sich seitlich in die Büsche.

Für den Verfolger sah es hoffentlich so aus, als wäre sie stehen geblieben. In Wahrheit huschte Verena über den Rasen zurück zur Klinik. Immer wieder sicherte sie nach allen Seiten. Der Kittel hing wie ein Gespenst zwischen den dornigen Zweigen.

Als sie endlich das Krankenhaus erreichte, sah sie sich ein letztes Mal um. An der Stelle, wo sie das Kleidungsstück zurückgelassen hatte, stand eine schattenhafte Gestalt, zu weit weg, um die Aura zu deuten. Wild flatterten die Kittelärmel, und es sah beinahe aus, als tanze der Verfolger damit. Verena steuerte schaudernd auf das Pförtnerhäuschen zu.

Muffiger Geruch schlug Verena am nächsten Tag aus der Wohnung entgegen. Raschelnd schoben sich Briefe mit dem Türblatt über die Fliesen. Sie sammelte die Post auf und fächerte die Umschläge in der Hand auf wie ein wenig aussichtsreiches Pokerblatt.

Werbung. Handyrechnung. Zweimal Firma Holzmann. Das wird die Kündigung sein. Verena hatte nicht übel Lust, der Klinik und dem treulosen Vermittler ihren Anwalt auf den Hals zu hetzen. Vielleicht war ja eine Abfindung drin. Und wovon träumst du nachts? Zahnarzt-Erinnerung, Reklame. Nanu! Inmitten trostloser Umschläge steckte ein dickes cremefarbenes Kuvert. Ein richtiger Brief!

Verena klemmte die Post zwischen Zeige- und Mittelfinger und fischte das interessante Schreiben heraus. Die Anschrift war handgelettert, und der Absender in Gold in das Papier geprägt. Wolf von Hagendorf. Der Name sagte ihr nichts, und die Adresse noch weniger.

Sie ließ die Tasche mit der Schmutzwäsche von der Schulter gleiten und riss im Gehen die Lasche auf. Das steife Kuvert enthielt einen Bogen mit schwungvoller Handschrift.

Sehr geehrte Frau Seiler,

Sie kennen mich nicht, und damit Ihnen dieser Umstand nicht zum Nachteil gereicht, erlaube ich mir, mich und mein Anliegen etwas ausführlicher vorzustellen. Mein Name lautet Wolf von Hagendorf. Ich bin Privatgelehrter, den die Studien vor einigen Jahren auf den Familienstammsitz Weißenbach bei Richtstetten geführt haben. Zurzeit bin ich auf der Suche nach einer probaten Pflegerin für meine Mutter Sidonie, die ebenfalls im Hause wohnt. Sie ist körperlich leidend, geistig aber völlig klar.

Es beträfe einen Zeitraum von ungefähr 6 Wochen – dann wird sie zu einer Kur ins Ausland aufbrechen, die ihr Linderung verschaffen soll.

Sie wurden uns als zuverlässige und einfühlsame Pflegekraft empfohlen, und ich habe bereits bei Ihrer Arbeitsvermittlung Erkundigungen eingezogen. Dort versicherte man mir, dass Sie momentan ohne Anstellung seien. Ihre Pflichten werden Sie kaum länger als 4 Stunden am Tag beanspruchen, und Sie können auf die Hilfe der Haushälterin zurückgreifen. Ich hoffe, es ist Ihnen möglich, so kurzfristig zu disponieren.

Daher erlaube ich mir, einen Scheck beizufügen, der Ihre Reisekosten decken wird, und erwarte Ihre positive Antwort.

Kopfschüttelnd ließ Verena das Blatt sinken. Die Worte, antiquiert wie Dialoge in einem Kostümfilm, erzeugten Bilder aus einem vergangenen Jahrhundert. Sie wunderte sich so sehr über die gestelzten Ausdrücke, dass ihr die Bedeutung der Zeilen erst langsam bewusst wurde: ein Arbeitsangebot.

Wie war dieser von Hagendorf ausgerechnet auf sie gekommen? Sie hatte zwar vor der Krankenhauszeit im Bereich häuslicher Pflege gearbeitet, allerdings mehr im Umkreis von Blankenrain. Hatte einer ihrer ehemaligen Kunden sie empfohlen? Sie googelte und fand den Ort Richtstetten weit weg Richtung Lüneburger Heide.

Verena griff zum Telefon. »Tina, bin gerade zu Hause und hab meine Post gelesen.«

»Die Kündigung?«

»Ja. Holzmann schreibt, dass die Klinik das Arbeitsverhältnis beendet. Wie erwartet.«

»Tut mir leid.« Tina klang so zerknirscht, als wäre das ihre Schuld.

»Das ist aber nicht alles. Sie erwähnen ein neues Angebot. Der Kunde hat sich bei mir gemeldet wegen einer befristeten Stelle mit Kost und Logis.«

»Das würde ja perfekt in deine Planung passen.«

Allerdings. Das war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Verena glaubte, den Angelhaken in der Kehle kratzen zu fühlen. Aber es war ein in jeder Hinsicht verführerisches Angebot – auch die Polizei hatte ihr geraten, eine Weile von der Bildfläche zu verschwinden.

»Die alte Dame, die ich pflegen soll, lebt bei ihrem Sohn in einem Herrenhaus. Scheint weitab vom Schuss zu liegen, der Kasten.« Vor dem inneren Auge sah Verena einen typisch englischen Landsitz inmitten von sturmgepeitschter Heide. Als könne Tina ihre Gedanken lesen, rief sie begeistert: »Mit einem auf düstere Weise gutaussehenden Hausherrn wie Mr Rochester bei Jane Eyre.«

»Du bist hoffnungslos!«, sagte Verena kopfschüttelnd.

»Hoffnungslos romantisch«, korrigierte Tina. »Hauptsache, du entkommst diesem gruseligen Verfolger. Vom Lumpensammler gar nicht zu reden.«

Jemand klingelte an der Tür, und Verena beendete rasch das Gespräch. Sie sah durch den Türspion Frau Holm, die agile Rentnerin aus der gleichen Etage und öffnete.

»Lange nicht gesehen, Frau Seiler«, grüßte die Nachbarin. »Man las ja so einiges über Sie in der Zeitung.«

»Danke, der Nachfrage«, sagte Verena bloß ironisch und ließ Frau Holm auflaufen. Sie würde dem Klatsch keine Nahrung bieten. »Was ist denn?«

»Ich wollte Sie warnen. Da war neulich dieser seltsame Kerl, der hier im Treppenhaus herumlungerte. Er hatte einen Stapel Käseblättchen dabei. Hat getan, als wäre er der Austräger. Aber damit kann er jemanden wie mich nicht täuschen. Der hat auf Sie gelauert.«

Verena stockte der Atem. »Wann war das?«, brachte sie heraus. Folgte der Mörder ihr etwa? War sie zu leichtsinnig gewesen, so dass er längst wusste, wo sie wohnte?

»Och, vor drei oder vier Tagen. Er wollte wissen, ob Sie bald nach Hause kämen.« Sie kicherte. »Der hat mich für senil gehalten. Natürlich habe ich nichts über Sie erzählt.« Sie warf sich in Positur, als hätte sie einem hochnotpeinlichen Verhör der Inquisition standgehalten.

»Können Sie den Kerl beschreiben?« Verenas Herzklopfen wurde stärker. Gab es endlich einen Augenzeugen?

»Ich hab den hier noch nie gesehen. Er wirkte ein bisschen verlottert. Aber die jungen Leute sind heute ja alle gammelig angezogen.«

»Würden Sie bei der Polizei darüber eine Aussage machen?«, bat Verena.

Der Mund, der bis gerade kaum stillgestanden hatte, schloss sich wie eine Auster. Frau Holm schüttelte den Kopf, und ihr Kinn schlackerte. »Ich möchte keinen Ärger.«

»Vielleicht können Sie wertvolle Hinweise liefern!«

»Och, meine Serie fängt jetzt an.« Schon wollte sich die Rentnerin davonschlängeln.

Verena war binnen weniger Tage zweimal verfolgt worden. Und nun, wo ein Fremder hier herumschnüffelte, war ihr Zuhause kein sicherer Hafen mehr. Ihr Türschloss war ein Witz. Und mit einem Sicherheitsschloss wäre es nicht getan, denn der Verfolger brauchte sie ja bloß bei den Mülltonnen abzupassen oder ihr im Hauseingang aufzulauern.

Bis alles geklärt war, konnte sie sich unmöglich in Tinas Einraum-Apartment einquartieren. Außerdem musste sie für die Prüfung lernen.

Sie wollte so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und diesen Kerl bringen! Und sie benötigte den Job. Es gab nur eine Lösung. »Ich bin wohl einige Wochen nicht da. Würden Sie in der Zeit bitte ein Auge auf die Wohnung halten? Eine Freundin kommt zum Blumengießen vorbei.«

Der bescheidene Wunsch beruhigte die Nachbarin. Sie nickte. »Ach ja. An seinem Rucksack war ein Namensanhänger dran. Ich hatte die falsche Brille auf, doch ich glaube, es stand etwas wie L. Fichte drauf.«

»Danke!« Wenigstens ein Hinweis. »Und rufen Sie am besten sofort die Polizei, wenn der Kerl wieder auftaucht! Ich will Ihnen keine Angst einjagen, aber das wäre in Ihrem eigenen Interesse. Der Mann hat Sie gesehen und weiß, wo Sie wohnen.«

Die Nachbarsfrau erbleichte.