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Mario Puzo

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Beschreibung

Im Fadenkreuz der Mafia Sizilien 1950: Die Zeit des Exils auf Sizilien neigt sich für Michael Corleone dem Ende zu. Sein Vater, der mächtige Don, hat ihn beauftragt, den jungen sizilianischen Mafioso Salvatore Giuliano nach Amerika zu begleiten. Für das sizilianische Volk ist Giuliano ein Held, doch mit seinem Kampf gegen die korrupte Regierung in Rom hat er sich einflussreiche Feinde geschaffen. Nicht nur die Polizei ist ihm auf den Fersen, sondern auch der mächtige Mafiaboss Don Croce. Wird es Michael gelingen, den Auftrag seines Vaters auszuführen?

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Mario Puzo

Der Sizilianer

Roman

Übersetzt von Gisela Stege

Über dieses Buch

Im Fadenkreuz der Mafia

Sizilien 1950: Die Zeit des Exils auf Sizilien neigt sich für Michael Corleone dem Ende zu. Sein Vater, der mächtige Don, hat ihn beauftragt, den jungen sizilianischen Mafioso Salvatore Giuliano nach Amerika zu begleiten. Für das sizilianische Volk ist Giuliano ein Held, doch mit seinem Kampf gegen die korrupte Regierung in Rom hat er sich einflussreiche Feinde geschaffen. Nicht nur die Polizei ist ihm auf den Fersen, sondern auch der mächtige Mafiaboss Don Croce. Wird es Michael gelingen, den Auftrag seines Vaters auszuführen?

Vita

Mario Puzo wurde 1920 als Sohn armer italienischer Einwanderer geboren. Seine Mafiaromane machten ihn weltberühmt. Er starb 1999 auf Long Island.

Weitere Veröffentlichungen:

Der Pate

Der letzte Pate

für Carol

Erstes Buch

MICHAEL CORLEONE

1950

Erstes Kapitel

Michael Corleone stand auf einer langen Holzpier in Palermo und sah dem Ozeanriesen nach, der nach Amerika auslief. Mit diesem Schiff hätte er heimkehren sollen, doch dann waren neue Befehle vom Vater gekommen.

Er winkte den Männern in dem kleinen Fischerboot zu, das ihn zu dieser Pier gebracht hatte, den Männern, die in den letzten zwei Jahren seine Leibwächter gewesen waren. Das Fischerboot schwamm auf dem weißschäumenden Kielwasser des Ozeanriesen wie ein Entlein hinter der Mutter. Die Männer an Bord winkten zurück: Er würde sie nie wiedersehen.

Die Pier wimmelte von geschäftigen Männern in ausgebeulter Arbeitskleidung; sie löschten die Ladung anderer Schiffe und beluden Lastwagen – kleine, drahtige Männer, die eher arabisch als italienisch wirkten, mit Schirmmützen, die ihre Gesichter verbargen. Unter ihnen würden sich neue Leibwächter befinden, die dafür sorgten, dass ihm nichts zustieß, bis er von Don Croce Malo empfangen wurde, dem Capo di Capi der «Freunde der Freunde», wie sie in Sizilien genannt wurden. Presse und Außenwelt nannten sie Mafia, doch einem Normalbürger in Sizilien kam dieses Wort nicht über die Lippen. Genau wie Don Croce Malo nie Capo di Capi genannt wurde, sondern stets nur «die gute Seele».

Während seiner zwei Exiljahre in Sizilien hatte Michael zahlreiche Geschichten über Don Croce gehört, einige davon so phantastisch, dass er kaum an die Existenz eines solchen Mannes glauben konnte. Die Befehle seines Vaters jedoch waren eindeutig: Er sollte heute bei Don Croce zu Mittag essen und dabei mit ihm die Vorkehrungen für die Flucht des größten Banditen Siziliens, Salvatore Giuliano, besprechen. Ohne Giuliano durfte Michael Corleone Sizilien nicht verlassen.

Unten, am Ende der Pier, nicht mehr als fünfzig Meter entfernt, parkte in einer engen Straße ein großer schwarzer Wagen. Davor standen drei dunkle Gestalten – Silhouetten, aus der gleißenden Lichtfläche geschnitten, die wie eine goldene Wand von der heißen Sonne herabfiel. Michael ging auf die Männer zu. Einen Augenblick blieb er stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden und einen Blick auf die Stadt zu werfen.

Palermo lag in einem Talkessel, der von einem längst erloschenen Vulkan geschaffen worden war: auf drei Seiten von hohen Bergen, auf der vierten vom glitzernd blauen Mittelmeer begrenzt. Schimmernd lag die Stadt im goldenen Schein der sizilianischen Mittagssonne. Rote Lichtbalken zogen sich auf die Erde hinab, als reflektierten sie das Blut, das so viele Jahrhunderte lang auf Siziliens Boden vergossen worden war. Die goldenen Strahlen badeten die stattlichen Marmorsäulen griechischer Tempel, zierliche byzantinische Türmchen, reichverzierte Fassaden spanischer Kathedralen und – an einem fernen Berghang – die dräuenden Zinnen einer uralten normannischen Burg. Alles hinterlassen von den verschiedenen grausamen Heeren, die seit der Zeit vor Christi Geburt Sizilien beherrscht hatten. Die kegelförmigen Berge dahinter hielten die etwas verweichlichte Großstadt Palermo in einer erstickenden Umarmung, als legten sie der Stadt eine Schlinge um den Hals und sänken gemeinsam mit ihr graziös in die Knie. Hoch oben schossen winzige rote Falken durch den strahlend blauen Himmel.

Michael ging weiter, auf die drei Männer zu, die am Ende der Pier auf ihn warteten. Aus den schwarzen Silhouetten wurden erkennbare Körper und Gesichter. Mit jedem Schritt sah er sie deutlicher; sie schienen sich voneinander zu lösen, als wollten sie ihn zur Begrüßung umringen.

Jeder dieser drei Männer war mit Michaels Geschichte vertraut. Jeder wusste, dass er der jüngste Sohn des großen Don Corleone, des Paten, war, dessen Macht sich bis nach Sizilien erstreckte. Dass er bei der Hinrichtung eines Feindes des Corleone-Imperiums einen hohen Polizeibeamten von New York City ermordet hatte. Dass er sich wegen dieser beiden Morde im sizilianischen Exil versteckt hatte und dass er sich jetzt, nachdem alles «arrangiert» worden war, auf dem Rückweg in die Heimat befand, um seinen Platz als Kronprinz der Corleone-Familie wieder einzunehmen. Sie beobachteten Michael, die Art, wie er sich schnell und leicht bewegte, seine misstrauische Wachsamkeit, sein Gesicht – das Gesicht eines Mannes, der Leid und Gefahr erlitten hatte, eines Mannes, der Respekt verdiente.

Als Michael von der Pier heruntertrat, begrüßte ihn als Erster ein Priester von weltlicher Fülle, die plumpe Gestalt mit einer Soutane bekleidet, der Kopf gekrönt von einem schmierigen, fledermausförmigen Hut. Der weiße Priesterkragen war vom roten sizilianischen Staub verschmutzt.

Das war Pater Benjamino Malo, der Bruder des großen Don Croce. Er gab sich zwar bescheiden und gottesfürchtig, war seinem berühmten Verwandten jedoch treu ergeben und scheute vor dem Gedanken, den Teufel in so großer Nähe zu haben, niemals zurück. Böse Zungen flüsterten sogar, er gebe Beichtgeheimnisse an Don Croce weiter.

Pater Benjamino lächelte nervös, als er Michael die Hand schüttelte, und schien erleichtert zu sein über dessen freundliches, schiefes Grinsen, das so gar nicht zu einem berüchtigten Mörder passte.

Der zweite Mann war nicht so herzlich, immerhin aber höflich: Inspektor Frederico Velardi, Chef der sizilianischen Sicherheitspolizei und der Einzige von den dreien, der sich nicht zu einem Begrüßungslächeln herabließ. Er war hager, viel zu elegant gekleidet für einen Mann, der ein Beamtengehalt bezog, und seine kalten blauen Augen verschossen Blicke wie genetische Kugeln längst vergangener normannischer Eroberer. Inspektor Velardi hatte nichts übrig für einen Amerikaner, der hohe Polizeibeamte umbrachte. Das sollte er mal in Sizilien versuchen! Velardis Händedruck glich dem Kreuzen zweier Klingen.

Der dritte Mann war größer und bulliger; neben den anderen beiden wirkte er riesig. Er ergriff Michaels Hand und zog ihn zu einer liebevollen Umarmung an sich. «Cousin Michael!», sagte er. «Herzlich willkommen in Palermo.» Dann trat er zurück und betrachtete Michael mit aufmerksamer Zuneigung. «Ich bin Stefan Andolini. Dein Vater und ich sind zusammen in Corleone aufgewachsen. Ich habe dich in Amerika kennengelernt, als du noch klein warst. Erinnerst du dich?»

Seltsamerweise erinnerte sich Michael genau. Denn Stefan Andolini war eine Seltenheit in Sizilien: ein Rotschopf. Und das stellte ein Problem für ihn dar, denn die Sizilianer glauben, Judas sei rothaarig gewesen. Auch sein Gesicht war unvergesslich: der Mund groß und unregelmäßig, die wulstigen Lippen an blutiges Hackfleisch erinnernd; darüber lagen behaarte Nasenlöcher und tief in den Höhlen versteckte Augen. Er lächelte, aber dieses Gesicht weckte Albträume von Mord.

Die Art der Verbindung mit dem Priester verstand Michael sofort. Inspektor Velardi jedoch war eine Überraschung für ihn. Andolini übernahm die Pflichten eines Familienmitglieds und erklärte Michael die offizielle Position des Inspektors. Michael war misstrauisch. Was hatte der Mann hier zu suchen? Velardi stand in dem Ruf, einer von Salvatore Giulianos unerbittlichsten Verfolgern zu sein. Außerdem war offensichtlich, dass der Inspektor und Stefan Andolini sich nicht ausstehen konnten; sie behandelten einander mit der ausgesuchten Höflichkeit zweier Männer, die sich auf ein tödliches Duell vorbereiteten.

Der Chauffeur hatte den Wagenschlag geöffnet. Pater Benjamino und Stefan Andolini dirigierten Michael mit höflichem Schulterklopfen auf den Rücksitz. In frommer Bescheidenheit bestand Pater Benjamino darauf, Michael müsse den Fensterplatz nehmen, um die Schönheiten Palermos zu sehen. Andolini ließ sich auf dem anderen Rücksitz nieder. Der Inspektor war bereits vorn beim Chauffeur eingestiegen. Es fiel Michael sofort auf, dass Velardi den Türgriff festhielt, um die Tür jederzeit blitzschnell öffnen zu können. Es schoss Michael der Gedanke durch den Kopf, dass Pater Benjamino vielleicht den mittleren Platz gewählt hatte, um nicht direkt als Zielscheibe zu dienen.

Wie ein großer schwarzer Drache glitt der Wagen langsam durch Palermo. Entlang dieser Prachtstraßen erhoben sich graziöse, maurisch wirkende Häuser, wuchtige öffentliche Gebäude mit griechischen Säulen, spanische Kirchen. Privathäuser in Blau, Weiß und Gelb, alle mit blumengeschmückten Balkonen, die in der oberen Etage eine Art zweite Straße bildeten. Ein hübscher Anblick – bis auf die Gruppen der Carabinieri, der italienischen Polizei, die überall mit ihren Gewehren patrouillierten. Sogar auf den Balkonen standen sie.

Der große Wagen ließ alle anderen Fahrzeuge winzig erscheinen, vor allem die bäuerlichen Eselskarren, die den größten Teil der frischen Landprodukte anlieferten. Diese Karren waren bis auf den letzten Quadratzentimeter bis hinab zu den Radspeichen und Deichseln in fröhlichen, bunten Farben bemalt. Die Seitenwände vieler Karren zeigten behelmte Ritter und gekrönte Könige in dramatischen Szenen aus den Sagen von Karl dem Großen und Roland, dem alten Helden der sizilianischen Folklore. Auf einigen Karren jedoch entdeckte Michael unter dem Bild eines hübschen jungen Mannes in Moleskin-Hose und ärmellosem weißem Hemd, Pistolen im Gürtel, Gewehr über der Schulter, eine zweizeilige Inschrift, die jeweils mit dem in großen roten Buchstaben gemalten Namen GIULIANO endete.

Während seiner Exiljahre in Sizilien hatte Michael viel über Salvatore Giuliano gehört. Sein Name war ständig in den Zeitungen erschienen. Überall wurde von ihm gesprochen. Michaels junge Frau Apollonia hatte gestanden, dass sie, wie fast alle sizilianischen Kinder und Jugendlichen, jeden Abend für Giulianos Sicherheit betete. Sie bewunderten ihn, er war einer von ihnen, er war so, wie sie alle werden wollten. Jung, in den Zwanzigern, galt er bereits als großer General, weil er die nach ihm ausgesandten Truppen der Carabinieri besiegt hatte. Er sah gut aus, und er war freigebig, denn den größten Teil seiner durch Verbrechen erworbenen Beute verteilte er an die Armen. Er war tugendhaft, und seine Banditen durften weder Frauen noch Priester belästigen. Wenn er einen Spitzel oder Verräter hinrichtete, ließ er dem Opfer stets Zeit genug, um zu beten und seine Seele zu erleichtern, damit er vor dem Herrscher der nächsten Welt in günstigem Licht erschien. Als sie von der großen Straße abbogen, fiel Michaels Blick auf eine Hauswand, an der ein riesiges Plakat mit dickem schwarzem Aufdruck klebte. Ganz oben konnte er gerade noch das Wort GIULIANO erkennen. Pater Benjamino, der sich zum Fenster hinübergebeugt hatte, erklärte: «Eine von Giulianos Bekanntmachungen. Bei Nacht beherrscht er Palermo trotz allem.»

«Und was steht da?», erkundigte sich Michael.

«Er erlaubt den Einwohnern von Palermo, wieder die Straßenbahn zu benutzen», antwortete Pater Benjamino.

«Er erlaubt es ihnen?», fragte Michael lächelnd. «Ein Bandit erlaubt etwas?»

Stefan Andolini, auf der anderen Seite des Rücksitzes, lachte. «Die Carabinieri fahren mit der Straßenbahn, also jagt Giuliano sie in die Luft. Aber erst, nachdem er die Öffentlichkeit gewarnt hat. Jetzt verspricht er, sie nicht mehr zu sprengen.»

«Und warum hat Giuliano Straßenbahnen voll Polizisten in die Luft gejagt?», fragte Michael trocken.

Inspektor Velardi drehte sich um und funkelte Michael mit seinen blauen Augen an. «Weil Rom so dumm war, seine Eltern wegen Umgangs mit einem bekannten Kriminellen – ihrem eigenen Sohn – zu verhaften. Ein Faschistengesetz, das von der Republik nicht aufgehoben wurde.»

Pater Benjamino sagte mit ruhigem Stolz: «Don Croce, mein Bruder, hat für ihre Entlassung gesorgt. O ja, mein Bruder war sehr, sehr verärgert über Rom.»

Großer Gott!, dachte Michael. Don Croce war verärgert über Rom? Wer zum Teufel war dieser Don Croce eigentlich, außer ein pezzonovante der Mafia?

Der Wagen hielt vor einem langen, rosafarbenen Gebäude. Blaue Minarette krönten die Ecken. Zwei Portiers in prächtiger, mit Goldknöpfen besetzter Uniform bewachten den Eingang. Doch Michael ließ sich von diesem Glanz nicht beeindrucken.

Geübten Blickes musterte er die Straße vor dem Hotel und entdeckte mindestens zehn Leibwächter, die zu zweit vorbeischlenderten oder zigarillorauchend an den Eisengeländern lehnten. Diese Männer versuchten gar nicht erst, ihre Funktion zu leugnen. Offene Jacketts ließen umgeschnallte Waffen sehen. Zwei dieser Männer verstellten Michael, als er ausstieg, ganz kurz den Weg und musterten ihn aufmerksam – nahmen Maß für einen Sarg. Inspektor Velardi und die anderen beachteten sie nicht.

Als die Gruppe das Hotel betrat, riegelten die Wachen hinter ihnen den Eingang ab. In der Halle tauchten weitere vier Leibwächter auf und begleiteten sie durch einen langen Korridor. Sie gaben sich stolz wie die Palastdiener eines Kaisers.

Der Korridor endete vor einer schweren Eichentür. Ein Mann auf einem hohen, thronähnlichen Stuhl stand auf und öffnete die Tür mit einem Bronzeschlüssel. Er verneigte sich, wobei er Pater Benjamino verschwörerisch zulächelte.

Sie betraten eine luxuriöse Suite; offene Terrassentüren boten Ausblick auf einen üppigen Garten und ließen den Duft von Zitronenbäumen herein. Auch hier waren zwei Leibwächter postiert. Michael fragte sich, warum Don Croce so schwer bewacht wurde. Er war Giulianos Freund, er war der Vertraute des Justizministers in Rom und deshalb sicher vor den Carabinieri, die überall in Palermo herumliefen. Wen also und was fürchtete der große Don? Wer war sein Feind?

Die Möbel im Salon der Suite waren ursprünglich für einen italienischen Palazzo gedacht: gewaltige Sessel, Sofas, so lang und tief wie ein kleines Schiff, massive Marmortische, die aussahen, als seien sie aus einem Museum gestohlen. Wahrlich ein passender Rahmen für den Mann, der jetzt aus dem Garten hereinkam, um sie zu begrüßen.

Er blieb stehen, die Arme nach Michael Corleone ausgestreckt. Don Croce war beinahe so breit wie hoch. Dichtes graues Haar, kraus wie bei einem Farbigen, sorgfältig gepflegt, krönte ein schweres Löwenhaupt. Die Augen, eidechsendunkel, lagen wie zwei Rosinen über den schweren, fleischigen Wangen. Und diese Wangen glichen zwei Mahagoniplatten, die linke Seite glatt gehobelt, die rechte uneben von wucherndem Fleisch. Den überraschend zierlichen Mund schmückte ein schmales Bärtchen. Die kräftige, spitzzulaufende, majestätische Nase war der Bolzen, der dieses Gesicht zusammenhielt.

Unterhalb dieses eindrucksvollen Hauptes war Don Croce jedoch ein Bauer. Eine weite, schlechtsitzende Hose, gehalten von breiten, hellen Hosenträgern, umfing seinen enormen Bauch. Das voluminöse Hemd war zwar schneeweiß und frisch gewaschen, aber nicht gebügelt. Er trug weder Krawatte noch Jackett und stand mit nackten Füßen auf dem Marmorboden.

Er sah nicht aus wie ein Mann, der überall seine Finger im Spiel hatte, in jedem geschäftlichen Unternehmen von Palermo, bis hinab zu den Marktständen. Unglaublich, dass er für tausend Morde verantwortlich sein sollte! Dass er in Westsizilien mehr Macht besaß als die Regierung in Rom. Und dass er reicher war als die Herzöge und Barone, denen die großen Besitzungen Siziliens gehörten.

Er begrüßte Michael mit einer flüchtigen Umarmung und sagte: «Ich kannte deinen Vater schon, als wir noch beide Kinder waren. Es freut mich, dass er einen so prachtvollen Sohn hat.» Dann erkundigte er sich bei seinem Gast, ob er eine angenehme Reise gehabt habe und ob er vielleicht etwas brauche. Michael antwortete lächelnd, er hätte gern einen Bissen Brot und einen Schluck Wein. Sofort führte Don Croce ihn in den Garten hinaus, denn wie alle Sizilianer nahm er seine Mahlzeiten, wenn möglich, im Freien ein.

Unter einem Zitronenbaum stand ein gedeckter Tisch. Er glänzte von blitzblank poliertem Glas und feinem weißem Leinen. Breite Korbsessel wurden von Dienern zurechtgerückt. Don Croce überwachte das Einnehmen der Plätze mit einer munteren Höflichkeit, die zu einem Jüngeren gepasst hätte; er war inzwischen über sechzig. Er ließ Michael zu seiner Rechten Platz nehmen, seinen Bruder, den Priester, zu seiner Linken. Inspektor Velardi und Stefan Andolini platzierte er auf die gegenüberliegende Tischseite und musterte sie mit einer gewissen Kälte.

Alle Sizilianer sind kräftige Esser, und einer der wenigen Witze, die man über Don Croce zu reißen wagte, deutete an, dass er lieber gut aß, als einen Feind zu töten. Jetzt saß er da, mit einem gütigen, freundlichen Lächeln, Messer und Gabel schon in der Hand, und wartete, während die Diener das Essen brachten. Michael warf einen Blick auf den Garten. Er war von einer hohen Steinmauer umgeben, und an mehreren kleinen Tischen saßen verteilt mindestens zehn Leibwächter, jedoch nie mehr als zwei pro Tisch und weit genug entfernt, um Don Croce mit seinen Gästen nicht zu stören. Der Garten war erfüllt vom Duft der Zitronenbäume und des Olivenöls.

Don Croce legte Michael persönlich vor, häufte ihm Brathuhn und Kartoffeln auf den Teller, überwachte den Diener, der einen kleinen Teller Spaghetti mit Käse bestreute, und füllte sein Glas mit einheimischem Weißwein. Das alles tat er mit großem Eifer und in der aufrichtigen Überzeugung, dass es für seinen neuen Freund wichtig sei, gut zu essen und gut zu trinken. Michael war hungrig, er hatte seit Tagesanbruch nichts mehr zu sich genommen, und der Don hörte nicht auf, ihm vorzulegen. Auch die anderen Gäste behielt er im Auge und winkte, falls nötig, einem der Diener, ein Glas oder einen leeren Teller zu füllen.

Erst als sie fertig gegessen hatten und einen Espresso tranken, war der Don zu geschäftlichen Gesprächen bereit.

«Du willst also unserem Freund Giuliano zur Flucht nach Amerika verhelfen», sagte er zu Michael.

«So lauten meine Anweisungen», antwortete Michael. «Ich soll dafür sorgen, dass er Amerika ohne Zwischenfall erreicht.»

Don Croce nickte; sein schweres Mahagonigesicht zeigte den schläfrigen, liebenswürdigen Ausdruck der Beleibten. Die kraftvolle Tenorstimme, die aus diesem Gesicht, aus diesem Körper kam, war eine Überraschung. «Es wurde alles zwischen mir und deinem Vater arrangiert: Ich sollte dir Salvatore Giuliano übergeben. Aber im Leben geht nicht immer alles so glatt; es kommt oft etwas dazwischen. Es ist unerwarteterweise schwierig geworden, meinen Teil der Abmachung einzuhalten.» Er hob die Hand, damit Michael ihn nicht unterbrach. «Ohne meine Schuld. Ich habe meine Meinung nicht geändert.Aber Giuliano vertraut niemandem mehr, nicht einmal mir. Seit Jahren, fast von dem Tag an, da er Bandit wurde, habe ich ihm zu überleben geholfen; wir waren Partner. Mit meiner Hilfe stieg er zum größten Mann Siziliens auf, obwohl er erst siebenundzwanzig Jahre alt ist. Aber seine Zeit ist vorbei. Fünftausend italienische Soldaten und Polizisten durchkämmen die Berge. Und trotzdem will er sich mir nicht anvertrauen.»

«Dann kann ich nichts für ihn tun», erklärte Michael. «Ich habe Anweisung, höchstens sieben Tage zu warten. Dann muss ich nach Amerika abreisen.»

Er wusste nicht, warum es sein Vater für so wichtig hielt, dass Giuliano nach Amerika entkam. Nach zwei langen Jahren des Exils wollte Michael so schnell wie möglich nach Hause zurück. Er machte sich Sorgen um die Gesundheit seines Vaters. Als Michael aus Amerika floh, hatte der Vater schwer verletzt im Krankenhaus gelegen. Nach seiner Flucht war sein älterer Bruder Sonny ermordet und die Corleone-Familie in einen verzweifelten Kampf ums Überleben gegen die Fünf Familien von New York verwickelt worden – in einen Kampf, der von Amerika bis mitten ins Herz von Sizilien reichte, wo Michaels junge Frau getötet worden war. Zwar hatten Boten des Vaters ihm die Nachricht überbracht, dass der alte Don sich von seinen Verletzungen erholt, Frieden mit den Fünf Familien geschlossen und dafür gesorgt habe, dass die Anklagen gegen Michael fallengelassen wurden. Aber Michael wusste genau, dass der Vater auf ihn wartete, weil er seine rechte Hand werden sollte. Ja, dass jedes Familienmitglied ihn sehnlichst erwartete: seine Schwester Connie, sein Bruder Freddie, sein Ziehbruder Tom Hagen und seine arme Mutter, die bestimmt noch immer um Sonny trauerte. Flüchtig musste Michael auch an Kay denken: Ob sie wohl immer noch an ihn dachte, nachdem er seit zwei Jahren verschwunden war? Die Hauptfrage aber lautete: Warum verzögerte der Vater seine Heimkehr? Dafür konnte es nur einen äußerst schwerwiegenden Grund geben, der mit Giuliano zusammenhing.

Auf einmal merkte er, dass Inspektor Velardi ihn mit seinen kalten blauen Augen musterte. Das schmale, aristokratische Gesicht war so verächtlich verzogen, als hätte Michael plötzlich Feigheit gezeigt.

«Nur Geduld», mahnte Don Croce. «Unser Freund Andolini fungiert immer noch als Kontaktmann zwischen mir und Giuliano und seiner Familie. Wir werden alle zusammen beraten. Du wirst Giulianos Eltern in Montelepre besuchen, das liegt auf dem Weg nach Trapani.» Er hielt einen Augenblick inne und lächelte – ein Lächeln, das den schweren Wangen nichts von ihrer Massigkeit nahm. «Man hat mir von deinen Plänen berichtet. Von allen.» Das sagte er mit besonderer Betonung. Und doch, dachte Michael, konnte er unmöglich von allen Plänen Kenntnis haben. Der Pate erzählte nie jemandem alles.

«Wir alle, die wir Giuliano lieben», fuhr Don Croce fort, «sind uns in zwei Dingen einig. Er darf nicht länger in Sizilien bleiben, er muss nach Amerika auswandern. Sogar Inspektor Velardi ist dieser Meinung.»

«Das ist merkwürdig, selbst für Sizilien», stellte Michael lächelnd fest. «Schließlich ist der Inspektor Chef der Sicherheitspolizei, die darauf eingeschworen ist, Giuliano zu fangen.»

Don Croce lachte; es war ein kurzes, automatisches Lachen. «Wer kann schon Sizilien begreifen? Aber diese Sache ist ziemlich einfach. Rom will Giuliano lieber glücklich in Amerika wissen, als ihn in Palermo vor Gericht belastende Aussagen machen zu lassen. Das ist Politik.»

Michael war verwirrt. Er empfand ein ausgesprochenes Unbehagen. Die Sache lief überhaupt nicht nach Plan. «Warum ist Inspektor Velardi an Giulianos Entkommen interessiert? Als Toter wäre er doch keine Gefahr.»

Inspektor Velardi antwortete verächtlich: «Ich sähe ihn auch lieber tot. Aber Don Croce liebt ihn wie einen Sohn.»

Stefan Andolini starrte den Inspektor hasserfüllt an. Pater Benjamino nahm einen Schluck und zog den Kopf dabei ein. Don Croce aber antwortete dem Inspektor streng: «Wir sind hier alle Freunde, wir müssen Michael die Wahrheit sagen. Giuliano hat eine Trumpfkarte: ein Tagebuch, das er als sein Testament bezeichnet. In diesem Buch liefert er die Beweise dafür, dass die Regierung in Rom, das heißt bestimmte Beamte, ihm in den Jahren seines Banditentums geholfen haben – aus persönlichen Gründen, zu politischen Zwecken. Wenn dieses Dokument veröffentlicht wird, stürzt die christdemokratische Regierung, und Sozialisten und Kommunisten würden Italien regieren. Inspektor Velardi stimmt mir zu, dass das unbedingt verhindert werden muss. Darum ist er bereit, Giuliano zu helfen, mitsamt seinem Testament zu entkommen – unter der Bedingung, dass nichts darüber veröffentlicht wird.»

«Haben Sie dieses Testament gesehen?», erkundigte sich Michael. In seinen Anweisungen hatte der Vater kein derartiges Dokument erwähnt.

«Ich kenne den Inhalt», antwortete Don Croce.

«Wenn ich zu bestimmen hätte, ich würde sagen, bringt Giuliano um, und zum Teufel mit seinem Testament», sagte Inspektor Velardi scharf.

Stefan Andolini sah den Inspektor mit einem Hass an, so nackt und glühend, dass Michael zum ersten Mal erkannte, wie gefährlich dieser Mann war – nicht weniger gefährlich als Don Croce selbst. «Giuliano wird sich niemals ergeben», betonte Andolini, «und Sie sind nicht gut genug, um ihn ins Grab zu bringen. Sie sollten sich lieber in Acht nehmen.»

Langsam hob Don Croce den Kopf, und plötzlich herrschte Schweigen am Tisch. Leise, ohne die anderen zu beachten, sprach er zu Michael. «Es könnte sein, dass ich das Versprechen, das ich deinem Vater gegeben habe – das Versprechen, dir Giuliano zu übergeben –, nicht halten kann. Warum Don Corleone sich mit dieser Angelegenheit befasst, kann ich dir nicht sagen. Aber du darfst sicher sein, dass er seine Gründe hat und dass es triftige Gründe sind. Nur, was kann ich tun? Heute Nachmittag wirst du Giulianos Eltern besuchen und sie überzeugen, dass ihr Sohn mir vertrauen muss, wirst diese lieben Menschen daran erinnern, dass ich es war, der sie aus dem Gefängnis geholt hat.» Er machte eine kleine Pause. «Dann können wir ihrem Sohn vielleicht helfen.»

In den Jahren des Exils und des Versteckens hatte Michael einen animalischen Instinkt für Gefahr entwickelt. Er mochte Inspektor Velardi nicht. Vor dem mörderischen Stefan Andolini hatte er Angst, und Pater Benjamino war ihm unheimlich. Aber vor allem war es Don Croce, der Alarmsignale in Michaels Kopf schrillen ließ.

Alle Männer, die am Tisch saßen, senkten die Stimme, wenn sie mit Don Croce sprachen, sogar sein Bruder, Pater Benjamino. Mit höflichgeneigtem Kopf beugten sie sich ihm zu, wenn er sprach, ja, sie hörten sogar auf zu kauen. Die Diener umschwirrten ihn, als sei er die Sonne, die Leibwächter strichen ständig und ohne ihn aus den Augen zu lassen durchs Gelände, immer bereit, auf seinen Befehl hinzuzuspringen und jemanden in Stücke zu zerreißen.

Behutsam erklärte Michael: «Don Croce, ich bin gekommen, um jeden Ihrer Wünsche zu befolgen.»

Der Don neigte gnädig sein mächtiges Haupt, faltete die wohlgeformten Hände über dem Bauch und sagte mit kraftvoller Tenorstimme: «Wir müssen ganz und gar offen sein zueinander. Sag mir, wie sehen deine Pläne für Giulianos Flucht aus? Du kannst freimütig mit mir sprechen.»

Michael warf einen raschen Blick auf Inspektor Velardi. Nie würde er vor dem Chef der sizilianischen Sicherheitspolizei offen sprechen! Don Croce begriff sofort. «Inspektor Velardi befolgt stets meinen Rat», sagte er. «Du kannst ihm genauso vertrauen wie mir.»

Michael hob sein Glas Wein an den Mund. Über den Rand hinweg konnte er sehen, dass die Leibwächter sie beobachteten wie Zuschauer im Theater. Er sah Inspektor Velardis missbilligende Grimasse angesichts der diplomatischen Antwort des Don, die deutlich verriet, dass Don Croce ihn und seine Dienststelle in der Hand hatte. Er sah das Stirnrunzeln des mörderischen, wulstlippigen Stefan Andolini. Nur Pater Benjamino mied seinen Blick und senkte den Kopf. Michael trank das Glas mit dem Weißwein leer, und sofort erschien ein Diener, der es ihm wieder füllte. Plötzlich wirkte der Garten gefährlich.

Er spürte es in den Knochen, dass das, was Don Croce gesagt hatte, nicht wahr sein konnte. Warum sollte auch nur ein Einziger von denen, die an diesem Tisch saßen, dem Chef der sizilianischen Sicherheitspolizei trauen? Würde Giuliano das tun? Die Geschichte Siziliens ist durchsetzt von Verrat; Michael dachte an seine ermordete Frau. Warum also war Don Croce so vertrauensselig? Und warum war er so schwer bewacht? Don Croce war der mächtigste Mann der Mafia. Er hatte einflussreiche Verbindungen in Rom und war ihr inoffizieller Vertreter in Sizilien. Wovor fürchtete sich Don Croce also? Es konnte nur Giuliano sein.

Aber der Don beobachtete ihn. Michael versuchte möglichst aufrichtig zu sprechen. «Mein Plan ist einfach. Ich soll in Trapani warten, bis mir Salvatore Giuliano übergeben wird. Von Ihnen und Ihren Leuten. Ein schnelles Schiff wird uns nach Afrika bringen. Von Afrika fliegen wir nach Amerika, wo alles arrangiert wird, damit wir ohne die üblichen Formalitäten einreisen können. Ich hoffe, dass alles so einfach verläuft, wie es klingt.» Er hielt einen Moment inne. «Es sei denn, Sie haben andere Vorschläge.»

Der Don seufzte und trank einen Schluck Wein. Dann richtete er den Blick seiner Eidechsenaugen auf Michael. Er sprach langsam und nachdrücklich. «Sizilien ist ein tragisches Land», sagte er. «Hier gibt es kein Vertrauen. Und keine Ordnung. Nur überall Gewalt und Verrat. Du siehst misstrauisch aus, mein junger Freund, und du hast allen Grund dazu. Genau wie unser Giuliano. Lass mich dir Folgendes sagen: Turi Giuliano hätte ohne meine Protektion nicht überlebt; er und ich waren wie zwei Finger an einer Hand. Und jetzt hält er mich für seinen Feind. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das bekümmert! Ich träume davon, dass Turi Giuliano eines Tages zu seiner Familie zurückkehren kann und zum Helden von ganz Sizilien erklärt wird. Er ist ein wahrer Christ und ein tapferer Mann. Mit einem Herzen, so weich, dass er die Liebe aller Sizilianer gewonnen hat.» Don Croce hielt inne und trank ein ganzes Glas Wein. «Aber die Zeit hat sich gegen ihn gewendet. Er ist allein in den Bergen, mit einer Hand voll Männer gegen die Armee, die Italien gegen ihn aufbietet. Bei jeder Gelegenheit ist er verraten worden. Deswegen vertraut er keinem, nicht einmal sich selbst.»

Der Don maß Michael einen Moment lang mit kaltem Blick. «Wenn ich ganz ehrlich sein soll», sagte er, «und wenn ich Giuliano nicht so sehr liebte, würde ich dir einen Rat geben, den ich dir nicht schulde. Dann würde ich dir vielleicht in aller Fairness raten, ohne ihn nach Amerika heimzukehren. Denn wir gehen dem Ende einer Tragödie entgegen, die dich in keiner Hinsicht betrifft.» Der Don schwieg einen Moment, dann seufzte er abermals. «Aber du bist natürlich unsere einzige Hoffnung, deswegen muss ich dich bitten, hierzubleiben und uns in dieser Sache beizustehen. Ich werde dich dabei in jeder Hinsicht unterstützen; ich werde Giuliano niemals im Stich lassen.» Don Croce hob sein Weinglas. «Möge er tausend Jahre leben!»

Sie tranken, und Michael überlegte dabei: Wollte der Don, dass er blieb oder dass er Giuliano im Stich ließ? Dann sagte Stefan Andolini: «Vergessen Sie nicht: Wir haben Giulianos Eltern versprochen, dass Michael sie in Montelepre besucht!»

«Aber gewiss», antwortete Don Croce freundlich. «Wir müssen seinen Eltern Hoffnung machen.»

Pater Benjamino ergänzte ein wenig zu demütig: «Und vielleicht wissen sie etwas über das Testament.»

Don Croce seufzte. «Ja, ja, Giulianos Testament. Er glaubt, es wird sein Leben retten oder wenigstens seinen Tod rächen.» Jetzt wandte er sich direkt an Michael. «Eins darfst du nicht vergessen: Rom fürchtet das Testament, ich nicht. Erkläre seinen Eltern, dass alles, was auf Papier geschrieben steht, zwar die Geschichte beeinflusst, aber nicht das Leben. Das Leben ist eine andere Geschichte.»

 

Die Fahrt von Palermo nach Montelepre dauerte nicht länger als eine Stunde. In dieser Stunde jedoch gelangten Michael und Andolini von der Zivilisation einer Großstadt in die primitive Kultur des ländlichen Sizilien. Stefan Andolini fuhr den winzigen Fiat, und auf seinen glattrasierten Wangen und seinem Kinn leuchteten in der Nachmittagssonne die scharlachroten Haarwurzeln. Er fuhr langsam und vorsichtig wie ein Mann, der das Autofahren erst spät im Leben gelernt hat. Der Fiat keuchte atemlos, als er sich in die weite Berglandschaft emporarbeitete.

Mehrmals wurden sie durch Straßensperren der Polizei aufgehalten, Abteilungen von mindestens zwölf Mann, unterstützt von maschinengewehrbestückten, gepanzerten Mannschaftswagen. Dank Andolinis Papieren wurden sie anstandslos durchgelassen.

Michael hatte nicht gewusst, dass eine Landschaft in so geringer Entfernung von der Großstadt so wild und primitiv sein konnte. Sie kamen durch winzige Dörfer mit Steinhäusern, die gefährlich dicht an steilen Abhängen standen. Doch diese Abhänge waren sorgfältig zu Terrassen geformt, auf denen in sauberen Reihen magere Grünpflanzen gediehen. Kleine Hügel waren übersät mit zahllosen großen, weißen, halb von Moos und Bambus überwucherten Steinen; aus der Ferne wirkten sie wie riesige ungepflegte Friedhöfe.

Immer wieder standen am Straßenrand Heiligenschreine, hölzerne Kästen mit Statuen der Mutter Gottes oder eines Heiligen. Vor einem dieser Schreine sah Michael eine betende Frau knien, während ihr Mann auf dem Eselskarren wartete und dabei aus einer Flasche Wein trank. Der Schädel des Esels hing herab wie der Kopf eines Märtyrers.

Stefan Andolini legte Michael tröstend die Hand auf die Schulter. «Es tut meinem Herzen gut, dich zu sehen, mein lieber Cousin. Wusstest du, dass die Giulianos mit uns verwandt sind?»

Michael war überzeugt, dass das eine Lüge war; es lag so etwas Gewisses in diesem fuchsroten Lächeln. «Nein», antwortete er. «Ich wusste nur, dass die Eltern in Amerika für meinen Vater gearbeitet haben.»

«Genau wie ich», gab Andolini zurück. «Wir haben beim Bau des Hauses für deinen Vater auf Long Island geholfen. Der alte Giuliano war ein hervorragender Maurer und ist, obwohl dein Vater ihm eine Stellung in seinem Olivenölhandel anbot, bei seinem Handwerk geblieben. Achtzehn Jahre lang hat er geschuftet wie ein Nigger und gespart wie ein Jude. Dann ist er nach Sizilien zurückgekehrt, um hier wie ein Engländer zu leben. Aber der Krieg und Mussolini haben dafür gesorgt, dass die Lira wertlos wurde, und deswegen gehört ihm jetzt nur noch das Haus und ein kleines Stück Land. Er verflucht den Tag, an dem er Amerika verlassen hat. Sie hatten gedacht, ihr Sohn würde aufwachsen wie ein Prinz, und nun ist er Bandit geworden.»

Der Fiat wirbelte eine Staubwolke auf; die Feigenkakteen neben der Straße wirkten gespenstisch, schienen menschlichen Händen zu gleichen. In den Tälern sah man Olivenhaine und Weingärten. Plötzlich sagte Andolini: «Turi wurde in Amerika gezeugt.» Er sah Michaels fragenden Blick. «Jawohl, er wurde in Amerika gezeugt, aber in Sizilien geboren. Ein paar Monate hätten sie nur zu warten brauchen, und er wäre amerikanischer Staatsbürger geworden.» Er schwieg einen Moment. «Davon redet Turi ununterbrochen. Glaubst du wirklich, du kannst ihm bei seiner Flucht helfen?»

«Ich weiß nicht», antwortete Michael. «Nach dem Mittagessen mit dem Inspektor und Don Croce weiß ich überhaupt nichts mehr. Wollen sie wirklich, dass ich helfe? Mein Vater sagte, dass Don Croce es will. Den Inspektor hat er nicht erwähnt.»

Andolini strich sich das gelichtete Haar zurück. Unwillkürlich trat er aufs Gaspedal, dass der Fiat einen Satz vorwärts tat. «Giuliano und Don Croce sind Feinde geworden», erklärte er. «Aber wir haben Pläne ohne Don Croce gemacht. Turi und seine Eltern zählen auf dich. Sie wissen, dass dein Vater noch nie einen Freund hintergangen hat.»

«Und auf welcher Seite stehst du?», wollte Michael wissen.

Andolini seufzte. «Ich kämpfe für Giuliano», antwortete er. «Seit fünf Jahren sind wir jetzt Kameraden. Aber ich lebe in Sizilien und kann Don Croce daher keinen offenen Widerstand leisten. Ich balanciere auf einem Hochseil zwischen den beiden, aber Giuliano werde ich niemals verraten.»

Verdammt nochmal, was will der Mann sagen?, fragte sich Michael. Warum bekomme ich niemals eine direkte Antwort? Vielleicht weil dies Sizilien ist.

Die Sizilianer fürchteten sich vor der Wahrheit.Tyrannen und Inquisitoren hatten sie Tausende von Jahren hindurch gefoltert, um die Wahrheit aus ihnen herauszupressen. Nun verlangte die Regierung in Rom mit ihren Formularen die Wahrheit von ihnen, verlangten die Priester in den Beichtstühlen die Wahrheit unter Androhung ewiger Verdammnis. Aber die Wahrheit ist eine Quelle der Macht – warum sie also umsonst geben?

Ich muss selbst eine Möglichkeit finden, dachte Michael, oder den ganzen Auftrag fallenlassen und sofort heimkehren. Hier jedenfalls befand er sich auf gefährlichem Boden: Eindeutig herrschte eine Art Vendetta zwischen Giuliano und Don Croce, und sich in der Zange einer sizilianischen Blutrache fangen zu lassen, war Selbstmord. Denn die Sizilianer glaubten, dass gnadenlose Vergeltung die einzige Gerechtigkeit sei. Auf dieser katholischen Insel, mit den Statuen des weinenden Jesus in jedem Haus, war christliche Vergebung ein verachtenswerter Ausweg für Feiglinge.

«Warum wurden Giuliano und Don Croce Feinde?», wollte Michael wissen.

«Wegen des tragischen Zwischenfalls an der Portella della Ginestra», antwortete Andolini. «Vor zwei Jahren. Danach war plötzlich alles anders. Giuliano gab Don Croce die Schuld.»

Auf einmal schien der Wagen nahezu senkrecht hinabzufahren, die Straße fiel steil ins Tal hinunter. Sie kamen an der Ruine einer normannischen Burg vorbei, deren Bewohner vor neunhundert Jahren die ganze Umgebung terrorisiert hatten, die jetzt jedoch nur mehr harmlose Eidechsen und ein paar verirrte Ziegen beherbergte. Tief unten sah Michael das Dorf Montelepre.

Es lag verborgen in den umgebenden Bergen, wie ein Eimer, der in der Tiefe eines Brunnens hängt. Angelegt war es in perfekter Kreisform, einzelne, außenliegende Häuser gab es nicht, und die Spätnachmittagssonne übergoss die Steine seiner Mauern mit dunkelrotem Feuer. Der Fiat rollte jetzt eine schmale, gewundene Straße hinab, und Andolini bremste vor einer Barrikade, an der eine Abteilung Carabinieri postiert war. Einer befahl ihnen mit einem Wink des Gewehrlaufs, den Wagen zu verlassen.

Michael beobachtete, wie Andolini der Polizei seine Papiere zeigte. Er sah den rotumrandeten Sonderpassierschein, der, wie er wusste, nur vom Justizminister in Rom ausgestellt werden konnte. Auch Michael besaß so einen Pass, den er jedoch, laut Befehl, nur als letzten Ausweg vorzeigen sollte. Wie kam ein Mann wie Andolini zu einem so wichtigen Dokument?

Dann saßen sie wieder im Wagen und fuhren durch die schmalen Straßen von Montelepre – so eng, dass nirgends zwei Wagen aneinander vorbeifahren konnten. Alle Häuser hatten elegante Balkone und waren in verschiedenen Farben gestrichen. Sehr viele waren blau, ein paar weiß, manche rosa, einige wenige gelb. Zu dieser Tageszeit waren die Frauen im Haus mit dem Kochen für ihre Ehemänner beschäftigt. Aber es waren auch keine Kinder zu sehen. Dafür patrouillierten an jeder Straßenecke zwei Carabinieri. Montelepre wirkte wie eine besetzte Stadt, in der das Kriegsrecht ausgerufen worden war. Nur ein paar alte Männer starrten mit steinernen Mienen von ihren Balkonen herab.

Der Fiat hielt vor einem leuchtend blau gestrichenen Haus; das Gitterwerk des Eingangstors bildete den Buchstaben «G». Dieses Tor wurde ihnen von einem kleinen, drahtigen Sechzigjährigen in amerikanischem, dunklem gestreiftem Anzug, schneeweißem Hemd und schwarzer Krawatte geöffnet: Giulianos Vater. Er begrüßte Andolini mit einer kurzen, doch liebevollen Umarmung. Michael dagegen klopfte er beinahe dankbar auf die Schulter, als er sie beide ins Haus führte.

Auf dem Gesicht von Giulianos Vater lag ein Ausdruck, wie ihn Menschen haben, die voller Leid den Tod eines unheilbar kranken, geliebten Menschen erwarten. Man spürte, dass er seine Gefühle streng unter Kontrolle hatte, aber er hob die Hand ans Gesicht, als müsse er seine Züge zwingen, nicht zu zerfallen. Er hielt sich aufrecht, bewegte sich steif und schwankte dennoch fast unmerklich.

Sie betraten ein großes Wohnzimmer, ein Luxus für ein sizilianisches Haus in diesem Dorf. Beherrscht wurde das Zimmer von der riesigen Vergrößerung eines Fotos – zu unscharf, um es genau zu erkennen – in einem ovalen, cremeweißen Holzrahmen. Michael wusste sofort, dass das Salvatore Giuliano sein musste. Darunter stand auf einem schwarzen runden Tischchen ein Votivlicht. Auf einem anderen Tisch entdeckte er eine etwas schärfere Fotografie: Vater, Mutter und Sohn posierten vor einem roten Vorhang, der Sohn hatte der Mutter besitzergreifend den Arm um die Schultern gelegt. Salvatore Giuliano blickte direkt und fast herausfordernd in die Kamera. Sein Gesicht, außerordentlich hübsch, glich dem einer griechischen Statue, die Züge waren wie in Marmor gehauen, ein wenig schwer, die Lippen voll und sinnlich, die Augen oval und weit gestellt, mit halbgeschlossenen Lidern. Es war das Gesicht eines sehr selbstbewussten Mannes, der fest entschlossen ist, die Welt zu beeindrucken. Michael war überrascht von der liebenswürdigen Gutmütigkeit, die aus diesem hübschen Gesicht sprach.

Es gab noch andere Bilder von ihm, mit seinen Schwestern und deren Männern, doch die standen beinahe versteckt auf dunklen Ecktischchen.

Giulianos Vater führte sie in die Küche. Giulianos Mutter, am Herd, drehte sich um und begrüßte sie. Maria Lombardo Giuliano wirkte viel älter als auf dem Foto im Wohnzimmer, sah eigentlich aus wie eine ganz andere Frau. Ihr höfliches Lächeln wirkte wie ein Riss in der beinharten Erschöpfung, die ihr Gesicht mit seiner schuppigen, rauen Haut verriet. Das Haar, das ihr lang und dicht über die Schultern fiel, war reichlich von grauen Strähnen durchzogen. Auffallend waren ihre Augen: fast schwarz, und sie verrieten einen unpersönlichen Hass auf diese Welt, die sie und ihren Sohn zu vernichten drohte.

Ihren Mann und Stefan Andolini ignorierend, wandte sie sich an Michael. «Werden Sie meinem Sohn helfen oder nicht?» Die beiden anderen Männer waren peinlich berührt von dieser direkten Frage, doch Michael schenkte der Frau ein ernstes Lächeln.

«Sicher. Ich bin auf Ihrer Seite.»

Etwas von der Spannung in ihr löste sich, und sie senkte ihren Kopf in die Hände, als hätte sie einen Schlag erwartet. Andolini sagte in beruhigendem Ton: «Pater Benjamino wollte mitkommen, aber ich habe ihm erklärt, dass Sie das nicht wollen.»

Maria Lombardo hob den Kopf, und Michael sah staunend, dass ihre Miene jetzt all ihre Gefühle verriet: die Verachtung, den Hass, die Angst, die Ironie ihrer Worte, die zu dem harten Lächeln passte. «O ja, Pater Benjamino hat zweifellos ein gutes Herz», sagte sie. «Und mit seinem guten Herzen gleicht er der Pest, er bringt einem ganzen Dorf den Tod. Er ist wie die Sisalagave: Streift man sie, beginnt man zu bluten. Außerdem trägt er seinem Bruder Beichtgeheimnisse zu, verkauft die ihm anvertrauten Seelen dem Teufel!»

Gelassen und vernünftig, als müsse er eine Wahnsinnige beruhigen, sagte Giulianos Vater: «Don Croce ist unser Freund. Er hat uns aus dem Gefängnis geholt.»

«Ach ja, Don Croce!», fuhr Giulianos Mutter auf. «‹Die gute Seele›, wie freundlich er doch immer ist! Aber ich sage euch, Don Croce ist eine Schlange! Er zielt mit dem Gewehr nach vorn und mordet die Freunde an seiner Seite. Mit unserem Sohn zusammen wollte er Sizilien beherrschen, und nun versteckt sich Turi allein in den Bergen, und ‹die gute Seele› lebt frei wie ein Vogel mit seinen Huren in Palermo. Don Croce braucht nur zu pfeifen, und Rom leckt ihm die Füße, obwohl er mehr Verbrechen begangen hat als unser Turi. Er ist schlecht, und unser Sohn ist gut. Ach, wenn ich ein Mann wäre wie ihr, ich würde Don Croce umbringen. Ich würde ‹die gute Seele› zur letzten Ruhe betten.» Sie machte eine angeekelte Geste. «Aber ihr Männer versteht ja nichts!»

Ungeduldig warf Giulianos Vater ein: «Wie ich höre, muss unser Gast in wenigen Stunden weiterfahren und sollte noch etwas essen, bevor wir miteinander reden.»

Auf einmal wurde Giulianos Mutter ganz anders. Fürsorglich sagte sie: «Sie Ärmster! Den ganzen Tag sind Sie gefahren, um uns zu besuchen, und mussten sich Don Croces Lügen und mein Gerede anhören. Wo fahren Sie hin?»

«Morgen früh muss ich in Trapani sein», antwortete Michael. «Dort werde ich, bis Ihr Sohn kommt, bei Freunden meines Vaters wohnen.»

Es wurde still in der Küche. Michael spürte, dass sie alle seine Geschichte kannten. Sie sahen die Wunde, mit der er seit zwei Jahren lebte, die eingedrückte Gesichtshälfte. Giulianos Mutter kam auf ihn zu und nahm ihn herzlich in den Arm.

«Trinken Sie ein Glas Wein», schlug sie vor. «Und dann machen Sie einen Spaziergang durchs Dorf. In einer Stunde steht das Essen auf dem Tisch. Bis dahin werden auch Turis Freunde da sein, und wir können uns vernünftig unterhalten.»

Andolini und Giulianos Vater nahmen Michael in die Mitte und schlenderten mit ihm durch die engen, holprigen Straßen Montelepres, deren Steine jetzt, da die Sonne den Himmel verlassen hatte, schwarz glänzten. In der dunstigen, blauen Atmosphäre kurz vor der Dämmerung bewegten sich ringsum nur die Gestalten der Carabinieri. An jeder Kreuzung gingen schlangengleiche Gassen von der Via Bella ab wie Rinnsale von Gift. Der Ort wirkte verlassen.

«Dies war einst eine von Leben erfüllte Stadt», erklärte Giulianos Vater. «Schon immer sehr arm, wie ganz Sizilien, mit viel Elend, aber voll Leben. Jetzt sitzen über siebenhundert Einwohner im Gefängnis, verhaftet wegen Verschwörung mit meinem Sohn. Sie sind unschuldig, jedenfalls die meisten, aber die Regierung lässt sie verhaften, um die anderen einzuschüchtern, damit sie gegen meinen Turi aussagen. Über zweitausend Carabinieri sind hier in der Stadt, und weitere tausend machen in den Bergen Jagd auf Turi. Deswegen essen die Leute nicht mehr im Freien, deswegen dürfen die Kinder nicht mehr auf der Straße spielen. Die Polizisten sind so große Feiglinge, dass sie schon schießen, wenn nur ein Karnickel über die Straße läuft. Nach Einbruch der Dunkelheit herrscht Ausgehverbot, und wenn eine Frau ihre Nachbarin besucht und erwischt wird, überschütten sie sie mit Beleidigungen. Die Männer werden in die Kerker von Palermo gebracht und dort gefoltert.» Er seufzte. «In Amerika könnte so etwas niemals passieren. Ich verfluche den Tag, an dem ich Amerika verlassen habe.»

Stefan Andolini blieb stehen und steckte sich ein Zigarillo an. Paffend sagte er mit einem Lächeln: «Ehrlich gesagt, die Sizilianer riechen lieber den Dreck ihres Dorfes als das kostbare Parfüm von Paris. Was mache ich hier? Genau wie einige andere hätte auch ich nach Brasilien fliehen können. Ach ja, wir lieben das Land, in dem wir geboren sind, wir Sizilianer, aber Sizilien liebt uns nicht.»

Giulianos Vater zuckte mit den Achseln. «Es war töricht von mir zurückzukommen. Hätte ich nur noch ein paar Monate gewartet, dann wäre mein Turi als Amerikaner geboren. Aber die Luft jenes Landes muss in den Schoß seiner Mutter eingedrungen sein.» Bedrückt schüttelte er den Kopf. «Warum musste mein Sohn sich immer um die Schwierigkeiten anderer Menschen kümmern, sogar derer, die keine Blutsverwandten sind? Warum musste er für einen Mann kämpfen, den er nicht einmal kannte, einen Mann, den sie von der Arbeit fortgeschickt hatten, weil er sich nicht mit dem niedrigen Lohn zufriedengeben wollte? Was ging ihn das an? Er hatte schon immer so großartige Ideen, immer redete er von Gerechtigkeit. Ein echter Sizilianer redet von Brot.»

Als sie die Via Bella hinabgingen, sah Michael, dass sich das Dorf ideal für Hinterhalte und Partisanenkrieg eignete. Die Straßen waren so schmal, dass nur ein einzelnes Motorfahrzeug Platz hatte, und viele waren sogar nur breit genug für die kleinen Eselskarren, mit denen die Sizilianer noch immer ihre Frachten transportierten. Ein paar Männer konnten eine ganze Invasionstruppe aufhalten und dann in die weißen Kalksteinberge fliehen, die die Stadt umgaben.

Sie kamen auf die Piazza. Andolini deutete auf die kleine Kirche, die sie beherrschte. «In dieser Kirche hat Turi sich versteckt, als die Carabinieri ihn zum ersten Mal verhaften wollten. Seitdem ist er wie ein Gespenst.» Die drei Männer starrten auf die Kirchentür, als müsste jeden Moment Salvatore Giuliano erscheinen.

Die Sonne sank hinter die Berge; kurz vor dem Ausgehverbot kehrten sie wieder ins Haus zurück. Drinnen warteten zwei Männer auf sie.

Der eine war ein schlanker junger Mann mit fahler Haut und großen, dunklen, fiebrigen Augen. Er hatte einen sorgfältiggestutzten Schnurrbart und war beinahe mädchenhaft hübsch, wirkte jedoch auf keinen Fall weibisch. Er trug jene stolze Grausamkeit zur Schau, die einen Mann auszeichnet, der um jeden Preis befehlen will.

Als er ihm als Gaspare Pisciotta vorgestellt wurde, wunderte sich Michael. Pisciotta war Turi Giulianos stellvertretender Kommandeur, Cousin und bester Freund und nach Giuliano der meistgesuchte Mann Siziliens. Fünf Millionen Lire waren auf seinen Kopf ausgesetzt. Nach den Geschichten, die Michael gehört hatte, beschwor der Name Gaspare Pisciotta das Bild eines weitaus gefährlicheren und bösartigeren Mannes herauf. Aber da stand er, überschlank und mit der fiebrigen Röte der Schwindsüchtigen im Gesicht, hier, in Montelepre, umzingelt von zweitausend Mann der römischen Militärpolizei!

Der zweite Mann wirkte ebenso erstaunlich, aber aus einem anderen Grund. Beinahe wäre Michael zusammengezuckt: Der Mann war klein wie ein Zwerg, hielt sich aber so würdevoll, dass Michael sofort spürte, ein Zusammenzucken würde einer tödlichen Beleidigung gleichkommen. Er trug einen erstklassig geschnittenen grauen Nadelstreifenanzug und zum cremefarbenen Hemd eine breite, silbrige Krawatte. Sein Haar war dicht und nahezu weiß; trotzdem konnte er nicht älter als fünfzig sein. Er war elegant. Jedenfalls so elegant, wie ein sehr kleiner Mann sein kann. Sein gutaussehendes Gesicht war zerfurcht, sein breiter Mund sinnlich geschwungen.

Er bemerkte Michaels Verlegenheit und begrüßte ihn mit ironischem, doch freundlichem Lächeln.

Vorgestellt wurde er Michael als Professor Hector Adonis.

Maria Lombardo Giuliano hatte den Tisch in der Küche gedeckt. Sie aßen an einem Balkonfenster, wo sie den rotgestreiften Himmel sehen und beobachten konnten, wie das Nachtdunkel die Berge ringsum auslöschte. Michael aß langsam, in dem Bewusstsein, dass sie ihn alle einzuschätzen versuchten. Das Essen war einfach, aber gut: Spaghetti mit fast schwarzer Tintenfischsoße und Kaninchenragout mit einer scharfen Soße aus Peperoni und Tomaten. Schließlich sagte Gaspare Pisciotta in sizilianischem Dialekt: «Sie sind also der Sohn von Vito Corleone, der sogar noch größer sein soll als unser Don Croce. Und Sie wollen unseren Turi retten.»

Sein Ton war kühl und spöttisch, ein Ton, der dazu herausforderte, beleidigt zu reagieren, falls man es wagte. Sein Lächeln schien den Beweggrund jeder Handlung in Frage zu stellen, als wolle er sagen: «Na schön, du tust etwas Gutes, aber was hast du selbst davon?» Dennoch war er keineswegs respektlos. Er kannte Michaels Vorgeschichte: Sie waren alle beide Mörder.

«Ich folge den Anweisungen meines Vaters», gab Michael zurück. «Ich soll in Trapani warten, bis Giuliano kommt. Dann soll ich ihn nach Amerika bringen.»

Pisciotta fragte, jetzt etwas ernster: «Und sobald Turi in Ihrer Hand ist – garantieren Sie dann für seine Sicherheit? Können Sie ihn vor Rom schützen?»

Michael merkte, dass Giulianos Mutter ihn aufmerksam, mit angespannter, besorgter Miene beobachtete. Bedächtig antwortete er: «So gut, wie man eine Garantie gegen das Schicksal geben kann. Jawohl, ich bin zuversichtlich.»

Er sah, wie sich die Miene der Mutter entspannte, Pisciotta aber entgegnete rau: «Ich nicht. Heute Nachmittag haben Sie Ihr Vertrauen in Don Croce gesetzt. Sie haben ihm Ihren Fluchtplan verraten.»

«Warum auch nicht?», gab Michael zurück. Woher zum Teufel hatte Pisciotta so schnell die Details seiner Unterredung mit Don Croce erfahren? «In den Anweisungen meines Vaters heißt es, Don Croce werde dafür sorgen, dass Giuliano zu mir gebracht wird. Außerdem habe ich ihm nur einen Fluchtplan verraten.»

«Gibt es mehrere?», erkundigte sich Pisciotta. Er sah Michael zögern. «Sie können offen sprechen. Wenn man den Menschen in diesem Raum nicht trauen kann, gibt es für Turi keine Hoffnung.»

Jetzt meldete sich Hector Adonis, der kleine Mann, zum ersten Mal zu Wort. Er besaß eine außergewöhnlich volltönende Stimme, die Stimme eines geborenen Redners, eines Menschenverführers. «Mein lieber Michael, Sie müssen wissen, dass Don Croce Turi Giulianos Feind ist. Die Informationen Ihres Vaters sind überholt. Deshalb können wir Turi nicht ohne Vorsichtsmaßnahmen zu Ihnen bringen.» Er sprach das elegante Italienisch der Römer, nicht den sizilianischen Dialekt.

«Ich habe Vertrauen in Don Corleones Zusage, meinem Sohn zu helfen», erklärte Giulianos Vater. «Ich zweifle nicht an seinem Wort.»

«Ich bestehe darauf, dass Sie uns in Ihre Pläne einweihen», betonte Hector Adonis energisch.

«Ich kann Ihnen nur das sagen, was ich auch Don Croce gesagt habe», antwortete Michael. «Warum sollte ich irgendjemandem meine Alternativpläne verraten? Wenn ich Sie fragen würde, wo Turi Giuliano sich jetzt versteckt – würden Sie mir das auch verraten?»

Michael sah Pisciotta bei dieser Antwort anerkennend grinsen. Hector Adonis jedoch entgegnete: «Das ist nicht dasselbe. Sie müssen nicht unbedingt erfahren, wo Turi steckt. Aber um Ihnen helfen zu können, müssen wir Ihre Pläne kennen.»

«Ich weiß überhaupt nichts über Sie», wandte Michael ruhig ein.

Ein strahlendes Lächeln erschien auf Hector Adonis’ gutaussehendem Gesicht. Der kleine Mann stand auf und verneigte sich. «Verzeihen Sie», sagte er, und es klang ehrlich. «Ich war Turis Lehrer, als er noch klein war, und seine Eltern erwiesen mir die Ehre, mich zu seinem Paten zu bestimmen. Heute bin ich Professor für Geschichte und Literatur an der Universität Palermo. Die beste Empfehlung für mich jedoch kann von allen an diesem Tisch bestätigt werden: Ich bin und war immer ein Mitglied von Giulianos Bande.»

Stefan Andolini sagte ruhig: «Auch ich bin Mitglied der Bande. Meinen Namen kennst du und weißt, dass ich dein Cousin bin. Aber ich werde auch Fra Diavolo genannt.»

Das war ebenfalls ein legendärer Name in Sizilien, den Michael immer wieder gehört hatte. Diesen Ruf hat er sich verdient, dachte er. Auch Andolini war also ein Flüchtling, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt war. Und doch hatte er heute Mittag beim Essen neben Inspektor Velardi gesessen.

Alle warteten auf seine Antwort. Michael hatte nicht die Absicht, ihnen von seinen endgültigen Plänen zu erzählen, aber irgendetwas musste er ihnen sagen. Da Giulianos Mutter ihn eindringlich anstarrte, wandte er sich allein an sie. «Es ist ganz einfach», erklärte er. «Zunächst muss ich Sie warnen: Ich kann nicht länger als eine Woche warten. Ich bin schon zu lange von zu Hause fort gewesen, und mein Vater braucht meine Hilfe bei seinen eigenen Problemen. Sie werden sicher verstehen, wie sehr es mich zu meiner Familie zurückzieht. Aber mein Vater wünscht, dass ich Ihrem Sohn helfe. Seine letzten, von einem Kurier überbrachten Anweisungen lauteten, dass ich Don Croce hier besuchen und dann nach Trapani weiterfahren soll. Dort wohne ich in der Villa des einheimischen Don, wo mich Männer aus Amerika erwarten, denen ich hundertprozentig vertrauen kann. Qualifizierte Männer.» Er hielt einen Augenblick inne. Das Wort «qualifiziert» hatte eine besondere Bedeutung in Sizilien: Es wurde zumeist auf hochrangige Mafiakiller angewendet. Dann fuhr er fort: «Sobald Turi zu mir kommt, ist er in Sicherheit. Die Villa ist eine Festung. Und innerhalb weniger Stunden werden wir an Bord eines schnellen Schiffs zu einer afrikanischen Stadt sein. Dort wird uns ein Sonderflugzeug erwarten, das uns geradewegs nach Amerika bringt, wo er dann unter dem Schutz meines Vaters steht, sodass Sie keine Angst mehr um ihn zu haben brauchen.»

Hector Adonis fragte: «Wann sind Sie bereit, Turi Giuliano zu empfangen?»

«Morgen früh werde ich in Trapani eintreffen. Geben Sie mir von da an vierundzwanzig Stunden Zeit.»

Plötzlich brach Giulianos Mutter in Tränen aus. «Mein armer Turi! Niemandem vertraut er mehr. Er wird nicht nach Trapani kommen.»

«Dann kann ich ihm nicht helfen», entgegnete Michael kalt.

Giulianos Mutter schien vor Verzweiflung zu schrumpfen. Seltsamerweise war es Pisciotta, der zu ihr ging, um sie zu trösten. Er küsste sie und nahm sie in den Arm. «Keine Angst, Maria Lombardo», sagte er. «Auf mich hört Turi noch. Ich werde ihm sagen, dass wir alle an diesen Mann aus Amerika glauben. Ist es nicht so?» Fragend sah er die anderen an, und alle nickten. «Ich werde Turi persönlich nach Trapani bringen.»

Damit schienen alle zufrieden zu sein. Michael erkannte, dass es seine eiskalte Antwort gewesen war, die sie bewogen hatte, ihm zu vertrauen. Als Sizilianer waren sie misstrauisch gegen eine allzu herzliche, menschliche Großzügigkeit. Aber Michael hatte jetzt kein Verständnis mehr für ihre Vorsichtigkeit, mit der sie die Pläne seines Vaters durchkreuzten. Don Croce war auf einmal ein Feind, Giuliano kam vielleicht nicht so schnell wie möglich, ja, vielleicht sogar überhaupt nicht. Was ging ihn Turi Giuliano eigentlich an? Und überhaupt, dachte er, was geht Giuliano meinen Vater an?

Sie führten ihn in das kleine Wohnzimmer, wo die Mutter Kaffee und Anisette servierte und sich dafür entschuldigte, dass es nicht auch noch etwas Süßes gab. Der Anisette werde Michael für die lange Nachtfahrt nach Trapani wärmen, erklärte sie. Hector Adonis zog ein goldenes Zigarettenetui aus seinem eleganten Jackett, reichte es herum, steckte sich selbst eine Zigarette in den feingeschnittenen Mund und vergaß sich sogar so weit, dass er sich tief in den Sessel hineinlehnte und seine Füße in der Luft hängen ließ. Einen Moment lang sah er aus wie eine in sich zusammengefallene Marionette.

Maria Lombardo deutete auf das große Porträt an der Wand. «Ist er nicht hübsch?», fragte sie. «Und er ist ebenso gut wie schön. Mir hat es fast das Herz gebrochen, dass er Bandit wurde. Erinnern Sie sich noch an jenen schrecklichen Tag, Signor Adonis? Und an all die Lügen über die Portella della Ginestra? So etwas hätte mein Sohn nie tun können!»

Die anderen Männer waren verlegen. Zum zweiten Mal an diesem Tag fragte sich Michael, was an der Portella della Ginestra geschehen war, wollte seine Neugierde aber nicht offen zeigen.

Hector Adonis sagte: «Als ich Turi noch unterrichtete, war er ein sehr eifriger Leser; die Sagen von Karl dem Großen und Roland kannte er auswendig, und nun ist er selbst ein Mythos geworden. Auch mein Herz brach, als er Bandit wurde.»

«Er kann von Glück sagen, wenn er am Leben bleibt», stellte Giulianos Mutter bitter fest. «Ach, warum wollten wir damals nur, dass unser Sohn hier zur Welt kommen sollte? Weil wir wollten, dass er ein echter Sizilianer wird.» Sie stieß ein hartes, bitteres Lachen aus. «Und genau das ist er geworden. Er ist in ständiger Angst um sein Leben, und auf seinen Kopf ist ein Preis ausgesetzt.» Sie hielt inne und sagte dann heftig: «Dabei ist mein Sohn ein Heiliger!»

Michael bemerkte, dass Pisciotta merkwürdig lächelte – so, wie es Menschen tun, wenn sie zuhören, wie liebende Eltern übertrieben von den Tugenden ihrer Kinder schwärmen. Selbst Giulianos Vater machte eine ungeduldige Handbewegung. Stefan Andolini lächelte auf seine verschlagene Art, und Pisciotta bemerkte liebevoll, aber kühl: «Meine liebe Maria Lombardo, tun Sie nicht, als wäre Ihr Sohn so hilflos! Er hat mehr ausgeteilt als eingesteckt, und seine Feinde fürchten ihn immer noch.»

Etwas ruhiger antwortete Giulianos Mutter: «Ich weiß, dass er oft getötet hat, aber er war nie ungerecht. Und er hat ihnen stets Zeit gelassen, ihre Seele zu erleichtern und ein letztes Gebet zu sprechen.» Plötzlich ergriff sie Michaels Hand und zog ihn in die Küche und auf den Balkon hinaus. «Die kennen meinen Sohn alle nicht richtig», erklärte sie Michael. «Die wissen nicht, wie sanft und freundlich er ist. Vielleicht muss er den Männern gegenüber anders sein, aber bei mir ist er so, wie er wirklich ist. Er gehorcht mir aufs Wort und hat niemals etwas Böses zu mir gesagt. Er war ein liebevoller, pflichtbewusster Sohn. In seiner ersten Zeit als Bandit schaute er von den Bergen herab, ohne etwas zu sehen. Und ich schaute hinauf und konnte auch nichts erkennen. Aber einer spürte die Gegenwart des anderen, einer die Liebe des anderen. Und heute Abend spüre ich ihn auch. Ich denke an ihn, ganz allein ist er jetzt in den Bergen und wird von Tausenden Soldaten gejagt, und es bricht mir das Herz. Sie sind vielleicht der Einzige, der ihn noch retten kann. Versprechen Sie mir, dass Sie warten werden?» Sie hielt seine Hände fest in den ihren, und die Tränen strömten ihr über die Wangen.

Michael sah in die dunkle Nacht hinaus, auf die Stadt Montelepre, eingeschmiegt in die hohen Berge, mit einem einzigen beleuchteten Punkt, der Piazza in der Ortsmitte. Der Himmel war mit Sternen übersät. Von den Straßen unten drangen vereinzelt das Klirren von Waffen und die rauen Stimmen patrouillierender Carabinieri herauf. Es war, als sei die Stadt voller Gespenster. Sie kamen in der lauen Luft der Sommernacht, die erfüllt war vom Duft der Zitronenbäume, dem leisen, aber durchdringenden Zirpen zahlloser Insekten, dem unerwarteten Ruf einer Polizeistreife.

«Ich werde warten, solange es geht», versicherte Michael leise. «Aber mein Vater braucht mich zu Hause. Sie müssen Ihren Sohn überreden, dass er zu mir kommt.»

Sie nickte; dann führte sie ihn zu den anderen zurück. Pisciotta ging ruhelos auf und ab. Er wirkte nervös. «Wir haben beschlossen, alle hier zu warten, bis es Morgen wird und das Ausgehverbot endet», erklärte er. «Da draußen im Dunkeln laufen zu viele schießwütige Soldaten herum; es könnte zu einem Zwischenfall kommen. Haben Sie etwas dagegen?», fragte er Michael.

«Nein», antwortete Michael. «Solange es keine zu große Zumutung für unsere Gastgeber ist.»

Das taten sie als unwichtig ab. Sie waren schon oft die ganze Nacht hindurch wach geblieben, wenn Turi Giuliano sich in die Stadt geschlichen hatte, um seine Eltern zu besuchen.

Und außerdem gab es noch vieles zu besprechen, zahlreiche Einzelheiten festzulegen. Sie machten es sich für die lange Nacht bequem. Hector Adonis legte Jackett und Krawatte ab und wirkte trotzdem elegant. Die Mutter machte frischen Kaffee.

Michael bat die Männer, ihm alles über Turi Giuliano zu erzählen. Die Eltern versicherten ihm abermals, ihr Turi sei ihnen immer ein wunderbarer Sohn gewesen. Stefan Andolini berichtete von dem Tag, an dem Turi Giuliano ihm das Leben geschenkt hatte. Pisciotta erzählte komische Geschichten über Turis Tollkühnheit, seinen Humor und Mangel an Grausamkeit. Wenn er Verrätern und Feinden gegenüber auch unbarmherzig sein konnte, so beleidigte er sie doch niemals in ihrer Männlichkeit, etwa durch Folter oder Demütigung. Und dann schilderte er ihm die Tragödie an der Portella della Ginestra. «Er hat damals den ganzen Tag geweint», sagte Pisciotta. «Vor allen Mitgliedern seiner Bande.»

«Er hätte die Menschen an der Ginestra niemals umbringen können», versicherte Maria Lombardo.

Hector Adonis tröstete sie. «Das wissen wir alle. Er war immer ein sanfter Mensch.» Zu Michael sagte er: «Er liebte Bücher; ich dachte immer, er würde ein Dichter oder Gelehrter werden. Er war jähzornig, aber nie grausam. Weil sein Zorn unschuldig war. Er hasste Ungerechtigkeit. Er hasste die Brutalität der Carabinieri den Armen und ihre Unterwürfigkeit den Reichen gegenüber. Schon als Junge wurde er wütend, wenn er von einem Bauern hörte, der das Getreide, das er anbaute, nicht behalten, den Wein, den er kelterte, nicht trinken, die Schweine, die er schlachtete, nicht essen durfte. Und trotzdem war er ein sehr sanfter Junge.»

Pisciotta lachte. «Heute ist er nicht mehr so sanft. Und Sie, Hector, sollten jetzt nicht den kleinen Lehrer spielen. Zu Pferde waren Sie stets ein ebenso großer Mann wie wir.»

Hector Adonis musterte ihn streng. «Aspanu», sagte er, «dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für deine Witze.»

Pisciotta entgegnete aufgebracht: «Glauben Sie wirklich, ich könnte jemals Angst vor Ihnen haben, Kleiner?» Pisciottas Kosename war also Aspanu, und zwischen den beiden Männern herrschte tiefe Abneigung. Immer wieder spielte Pisciotta auf die Größe des anderen an, und Adonis sprach mit Pisciotta in streng zurechtweisendem Ton. Eigentlich herrschte zwischen allen Anwesenden ein gewisses Misstrauen; die anderen schienen sich Stefan Andolini vom Leib zu halten, Giulianos Mutter vertraute wohl keinem von ihnen ganz und gar. Und doch wurde im Laufe der Nacht klar, dass sie alle Turi liebten.

Vorsichtig erkundigte sich Michael: «Es gibt ein von Turi Giuliano geschriebenes Testament. Wo ist es?»

Alle schwiegen, alle beobachteten ihn aufmerksam. Auf einmal schloss ihr Misstrauen auch Michael ein.

Schließlich sagte Hector Adonis: «Er hat es auf meinen Rat hin zu schreiben begonnen, und ich habe ihm dabei geholfen. Turi hat jede Seite signiert. Er hat alles über die geheimen Bündnisse mit Don Croce, mit der Regierung in Rom und die Wahrheit über die Portella della Ginestra aufgezeichnet. Würde das Testament veröffentlicht, würde die Regierung stürzen. Falls es zum Schlimmsten kommen sollte, ist es Giulianos letzter Trumpf.»

«Liegt es an einem sicheren Platz?», fragte Michael.

Pisciotta antwortete: «Ja. Don Croce würde es nur allzu gern in die Finger kriegen.»

Giulianos Mutter ergänzte: «Wir werden dafür sorgen, dass Ihnen das Testament rechtzeitig übergeben wird. Vielleicht können Sie es mit dem Mädchen nach Amerika schicken.»

Verblüfft sah Michael die anderen an. «Was für ein Mädchen?» Alle wandten verlegen den Blick ab. Sie wussten, dass dies eine unangenehme Überraschung für ihn war, und fürchteten seine Reaktion.