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Es ist ihr Urlaub. Sarah und John Winston nehmen ihr kleines Baby Marvin, packen ihren alten Campingbus und machen sich auf den Weg, den Spuren eines Serienkillers nachzufolgen. John hat sich dieses Jahr durchgesetzt. Er war dran, das Reiseziel zu bestimmen. Nicht wirklich begeistert, lässt sich seine Frau Sarah darauf ein und sie schließen sich einer Reisegruppe an, die dem berüchtigten Serienkiller Abcott nachfährt. Dieser sitzt immer noch im Hochsicherheitsgefängnis ein. Doch die Gerüchte, dass er bei seinen Taten nicht allein war, sind nie verstummt. Und ihr Alptraum beginnt. Sarah wird wach und erlebt, wie die halbe Gruppe skalpiert und massakriert wird. Und wie der Täter mit ihrem Campingbus flüchtet. Mit dem Baby hinten drin. Ihr Baby gerät in die Hand eines völlig verrückten Mörders. Es bleibt nicht viel Zeit, ihren Kleinen zu finden. Doch das müssen sie. Sie müssen den Täter finden. Sie müssen ihr Baby retten.
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Alle Handlungen, Geschehnisse, Personen und zum Teil auch einige Ortsangaben in diesem Roman sind frei erfunden und beruhen nicht auf wahren Begebenheiten.
Prolog: Freitagabend
Teil 1: 96 Stunden früher
Montag
1. Kapitel: Reisebeginn
2. Kapitel Der erste Campingplatz
Dienstag
3. Kapitel Die Reisegruppe
4. Kapitel Der erste Tatort
5. Kapitel Der zweite Campingplatz
Mittwoch
6. Kapitel Der zweite Tatort
7. Kapitel Der dritte Campingplatz
Donnerstag
8. Kapitel Abcotts Haus
9. Kapitel Die Rückfahrt
Freitag
10. Kapitel Der Morgen
11. Kapitel Der Mittag
Teil 2
Gegenwart
12. Kapitel 03.00-04.30 Uhr
13. Kapitel 4.30 – 6.00 Uhr
14. Kapitel 06.00 – 08.00 Uhr
15. Kapitel 08.00-10.00 Uhr
16. Kapitel 10.00-11.00
17. Kapitel 11.00-12.00 Uhr
18. Kapitel 12.00-13.00 Uhr
19. Kapitel 13.00 -15.00 Uhr
20. Kapitel 15.00-16.00 Uhr
21. Kapitel 16.00 – 17.00 Uhr
22. Kapitel 17.00 – 18.00 Uhr
23. Kapitel 18.00 – 19.00 Uhr
24. Kapitel 19.00 – 24.00 Uhr
25. Kapitel 00.00 – 01.00 Uhr
26. Kapitel 01.00 – 06.00 Uhr
27. Kapitel 06.00 – 08.00 Uhr
28. Kapitel 08.00 – 10.00 Uhr
29. Kapitel 10.00 – 18.00 Uhr
30. Kapitel 18.00 – 19.00 Uhr
31. Kapitel Abcotts Sohn
32. Kapitel FBI Büro Dawson
33. Kapitel Station 3a
34. Epilog
Noch bevor sie richtig wach wurde, schmeckte sie das Blut. Sie konnte es fühlen. Mit jeder Faser ihres Körpers. Sie schmeckte Eisen, roch Kupfer und spürte die Wärme. Den undefinierbaren Geschmack nach Blut. Benommen schüttelte sie den Kopf. Sie hatte gewaltige Kopfschmerzen. Was hatte sie bloß getrunken, dass sie so einen gewaltigen Kater hatte?!
Sarah schüttelte erneut den Kopf. Sie hatte keinen einzigen Tropfen Alkohol angerührt. Sie stillte doch noch. Seit über einem Jahr hatte sie noch nicht einmal einen Schluck Sekt zu Sylvester getrunken. Was war hier los?
Die Augenlider waren schwer wie Blei. Unmöglich sie zu heben. Ihre Zunge fühlte sich doppelt so dick an. Wieder der metallische Geschmack. Sie wusste, dass es Blut war. Nur Blut roch so eigentümlich. Sie musste ihre Lider mit den Händen öffnen. Aber wo waren sie? Sarah fühlte ihre Hände in ihrem Rücken, die Handflächen gegeneinander. Ihre Handgelenke eingeschnürt. Sie versuchte ihre Hände zu bewegen, aber es ging nicht. Sie zerrte hin und her. Sie waren gefesselt! Die Erkenntnis durchschoss sie wie ein Blitz. Die Hände waren auf dem Rücken gefesselt! Was ging hier vor?
Mit höchster Anstrengung gelang es ihr, die Augenlider zu heben. Mit dem Gefühl in einem Albtraum zu stecken, betrachtete sie die surreale Szene. Ihr Lagerfeuer brannte unverändert. Ein Indianer tanzte blutbeschmiert um das Feuer herum. Bekleidet mit einem Lendenschurz und einem hängenden Kopfschmuck aus Federn, sah der Mann wenigstens wie ein Indianer aus. Auch sein Tanz ähnelte einem Indianertanz. Nur das gewaltige Messer in seiner rechten Hand störte die Szenerie. Und dass sein kompletter Oberkörper über und über mit Blut besudelt war.
Sarah sah umher. Es waren alle da. Alle Mitglieder ihrer Reisegruppe. Ihr Mann saß neben ihr mit dem Kopf auf der Brust, die Hände auf dem Rücken. Nur Elisa sah irgendwie anders aus, dachte Sarah. Irgendwas fehlte. Auf einmal fiel es ihr auf: Elisa hatte keine Haare mehr. Und einen Knebel im Mund. Und überall Blut. Und ihre weit aufgerissenen Augen leuchteten klar in der Dunkelheit. Sarah betrachtete den Mann am Feuer. Das war kein Federschmuck. Er trug Elisas Haare mit wenigen Vogelfedern.
Nun war Sarah hellwach. Das Entsetzen durchströmte sie. Ein gewaltiger Schrei bahnte sich seinen Weg. Aber sie brachte keinen Ton heraus. Selbst ohne Knebel war alles gelähmt in ihr. Sie steckte mitten in einem Albtraum und war doch wach. Entsetzen, Angst und Horror wechselten sich ab. Panisch blickte sie zu ihrem Mann. Er schien zu schlafen. Oder war er betäubt?
Mein Baby! Mit voller Wucht durchzuckte sie die Erkenntnis, dass ihr geliebtes kleines Baby nirgend zu sehen war. Mein süßer Sohn! Nun völlig in Panik zuckte ihr Blick hin und her. Ihre Hände zerrten an den Fesseln, genau wie ihre Füße. Es war keine Bewegung möglich. Sie war an einem Baum festgebunden. Nur ihren Kopf konnte sie bewegen. Wild schoss er hin und her. Wo war ihr Baby?
Im Bus! Sie gab sich die Antwort selber. Marvin schlief im VW-Bus. Sie suchte das Babyfone. Der Empfänger stand neben ihrem Rucksack im Schatten. Er war offensichtlich umgefallen, die grüne Diode war nicht zu sehen. Dafür jedoch deutlich das weiße Gehäuse. Sarah sah zu ihrem umgebauten Bus. Ihr Sohn musste da drin sein. Hinten, im Schlafbereich. In seiner kleinen Wiege. Schlafend. Hoffentlich!
Immer noch panisch suchte sie die Umgebung ab. Alle Erwachsenen saßen gefesselt um das Feuer herum. Elisa hing wie eine leblose Puppe in den Seilen. Tänzelnd kam der Mann auf sie zu, drückte ihren Kopf nach hinten, stach wie selbstverständlich sein Messer in ihren Bauch und zog es langsam hoch. Sein indianischer Gesang wurde lauter und lauter. Immer noch tänzelnd zog er das Messer heraus, steckte es in eine Scheide und griff mit beiden Händen in Elisas Wunde. Voll Blut zog er seine Hände heraus, schaukelte mit seinem Körper, sang mit voller Lautstärke die eintönigen Silben und leckte das Blut von seinen Händen. Elisas Körper zuckte im Schein der Flammen.
Sarah konnte nicht den Blick abwenden. Elisas Körper kämpfte gegen den drohenden Tod. Nur ihr Kopf hob sich nicht. Irgendwann hing sie wieder schlaff in den Seilen. Ihr Blut sickerte in einem düsteren Rinnsal Richtung Lagerfeuer.
Das nackte Entsetzen durch strömte Sarah. Das war alles unbegreiflich. Mein Baby?! Ihr Kind durchbrach den nackten Horror. War ihr Baby im Bus? Sarah blickte hektisch prüfend in die Runde. Hier waren nur die Erwachsenen. Und ihre Sachen standen im Schatten wie jeden Abend. Marvin musste im Bus sein und schlafen. Hoffnung durchströmte sie. Sie musste ihn retten!
Wütend zerrte sie an ihren Fesseln. Mit dem Resultat, dass das Seil nur tiefer in die Haut einschnitt. Schmerz fühlte sie nicht. Das Adrenalin in ihrer Blutbahn unterdrückte alles. Trotzdem gewann nach einiger Zeit die Erkenntnis Raum, dass sie mit wildem Hin-und-Her-Gefuchtel nicht freikäme. Verzweifelt versuchte sie, nachzudenken. Voll Entsetzen sah sie, dass der Mann einen neuen Haarschmuck hatte. Die Federn waren nun wie bei einem Irokesen gesteckt. Louis wimmerte blutend in seinen Knebel. Sarah hoffte für ihn, dass er rasch sein Bewusstsein verlieren würde. John, Ihr Mann, war mittlerweile wach. Sie sah seine weit aufgerissenen starren Augen. Er reagierte nicht auf ihre Blicke, er war wie paralysiert.
Sarah zwang sich, den Blick abzuwenden. Sie musste sich befreien. Ihr Baby brauchte sie! Sie nötigte sich dazu, ihre Fesselung zu erspüren. Es handelte sich um ein Seil, eindeutig. Kein Plastik. Sie konnte den groben harten Knoten ertasten. Und wusste sofort, dass sie diesen niemals aufknüpfen könnte. Sie prüfte den Spielraum, den sie hatte. Sie konnte ihre Handgelenke verschieben. Und ihre Arme minimal seitlich bewegen. Aber eine Hand bekäme sie nicht frei. Der Daumen war im Weg, erkannte sie. Und sie wusste auf einmal, wie sie freikäme. Sie musste sich den Daumen auskugeln. Das hatte sie als Kind immer wieder gemacht, bis ihre Eltern und ihr Arzt es verboten hatten, mit einer OP gedroht hatten und sie damit aufgehört hatte.
Nun war es ihre einzige Chance. Sie verdrehte die linke Hand, umfasste den Daumen mit der rechten und zog die Hände auseinander. Sie hörte das vertraute Klacken, als das Gelenk aus der Pfanne sprang. Und spürte den Schmerz. Den hatte sie früher nicht registriert. Nun konnte sie den Daumen beliebig einklappen und den Durchmesser der Hand verkleinern. Damit müsste sie freikommen. Mit aller Kraft zog sie den linken Arm hoch. Das Seil schnitt wieder in ihre Haut. Gleichzeitig fühlte sich aber, wie das Seil diesmal weiterrutschte. Es war schon über ihrem Handgelenk!
Ein lauter Singsang lenkte sie ab. In Erwartung weiterer Horrorbilder hob sie ihren Kopf. Louis hing nun ebenfalls wie eine Puppe in dem Seil. Blut floss aus seiner Bauchwunde. Der Mann leckte seine blutigen Hände ab. Widerwärtig sah sie zu ihrem Mann hinüber. Und bemerkte, dass er nicht mehr wie paralysiert in den Seilen hing. Er bemühte sich, mit seinen Füßen unauffällig an die seitlich neben ihm stehende Propan-Gasflasche zu kommen. Was hatte er vor? Und warum konnte er seine Beine bewegen?
Sarah zog erneut kräftig mit dem linken Arm an ihren Fesseln und war auf einmal frei. Ihr Daumen schmerzte höllisch, doch ohne zu zögern, renkte sie das Gelenk wieder ein. Jetzt konnte sie die Fesseln an ihren Füßen lösen. Misstrauisch sah sie zum Feuer. Der Verrückte schrie in Ekstase unverständliche Worte, die Arme zum Himmel hin ausgestreckt. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Sie zog die Beine an und befühlte die Knoten. Sie musste sie aufkriegen.
Ohne den Blick vom Feuer abzuwenden, zogen ihre Finger am Seil. Ihr Mann versuchte immer noch, an das Gas zu kommen. Und erstarrte plötzlich in seinen Bewegungen. Der Mann am Feuer hatte seinen Kopfschmuck abgenommen. Voller Konzentration zog er die Federn aus dem blutigen Skalp und hängte die Haare an seinen Lendenschurz. Vier Federn waren es. Behutsam strich er sie glatt und steckte sie um sein nächstes Opfer in den Boden. Paul, ihr einheimischer Reiseführer, saß nun in der Mitte von vier Federn. Mit panischem Blick betrachtete er das riesige Messer, welches der Mann singend hin und her schnellen ließ.
Der erste Knoten war auf.
Er machte seinen ersten Schnitt. Blut floss über Pauls Gesicht. Der Mann packte die Kopfhaut beginnend bei der Stirn und zog sie mit geübten Schnitten ab. Paul schrie wie am Spieß, selbst mit dem Knebel im Mund war er deutlich zu hören.
Der zweite Knoten war auf.
Der Irre schwenkte den Skalp. Paul hatte wohl die Besinnung verloren, sein Kopf hing leblos hinunter, der blutige Schädel glänzte im Schein der Flammen. John, ihr Mann, versuchte wieder an das Propan Gas zu kommen. Mit einem Lachen, das Sarah durch Mark und Bein ging, zog sich der Verrückte den Skalp auf den Kopf und steckte die vier Federn fest. Er begann wieder mit seinem Gesang und tanzte um das Feuer. Sarah dachte erneut, dass das alles nicht real wäre. Das konnte unmöglich die Wirklichkeit sein. Unmöglich.
Der dritte Knoten war auf.
John bearbeitete immer noch den Gascontainer. Er versuchte offensichtlich, diesen zu kippen und ihn auf seine Beine zu legen. Erst jetzt bemerkte Sarah, dass das Gelände vor ihm abschüssig war. Der Container würde direkt ins Feuer rollen, wenn John ihn richtig platzieren könnte.
Plötzlich hörte der Mann auf zu tanzen. Er blieb still stehen und musterte Sarah intensiv. Hatte er eine Bewegung wahrgenommen? Immer wenn er mit dem Rücken zu ihr tanzte, arbeitete sie an den Knoten. Da er so langsam tanzte, war dies ausreichend. Aber trotzdem schob sie ihre Arme immer erst im letzten Moment zurück auf den Rücken. Hatte er dies bemerkt? Sarah wagte nicht, zu atmen. Auch ihr Mann war erstarrt. Dies fühlte sie mehr, als dass sie es sehen konnte.
Der Irre stand immer noch still und starrte in ihre Richtung. Dann setzte er sich in Bewegung. Ihr Herz setzte aus. Er kam in ihre Richtung! Wenn er ihre Fessel überprüfen würde, wäre alles aus. Sarah ballte die Faust. Und streckte die Finger aus. Mit einer Faust kam sie hier nicht weit. Sie musste schnell sein und seine Augen treffen. Das wäre ihre einzige Chance.
Plötzlich hörte sie neben sich etwas rascheln. Eine Schlange brach durch das dichte Untergehölz. Sie musste in ihrer Nachtruhe gestört worden sein. Sichtbar schlängelte sie sich den Abhang hinunter und verschwand im tiefen Dunkel. Der Irre hatte sie ebenfalls bemerkt. Er war stehen geblieben und sah der Schlange nach. Nach einem kurzen Blick auf Sarah drehte er sich wieder um und setzte seinen Tanz ums Feuer fort.
Sarah atmete aus. Sie hatte die ganze Zeit die Luft angehalten. Auch ihr Herz schlug wieder. Ihr war es so vorgekommen, als hätte es die ganze Zeit stillgestanden. Sie wagte es nicht mehr, weiter am Knoten zu arbeiten. Sie musste warten, bis die Gelegenheit günstiger wäre.
Der Mann beendete seinen Tanz und hob sein Messer gen Himmel. Schaurig heulte er den sichtbaren Mond an. Er war völlig durchgeknallt! Ein eiskalter Schauer zog über Sarahs Rücken. Aber immerhin stand er wieder mit dem Rücken zu ihr. Zumal leider klar war, was jetzt kommen würde. Auch John bewegte sich wieder. Es war die letzte Chance. Wenn er mit Paul fertig wäre, käme John dran. Sie bemerkte, wie John unvorsichtig und seine Bewegungen deutlich sichtbarer wurden.
Sarah meinte Schaum vor dem Mund erkennen zu können, als der Irre sich wieder Paul zu wandte. John und Sarah erstarrten in ihren Bewegungen. Sie mussten warten, bis er sich an Pauls Blut berauschte. Er rammte Paul sein Messer in den Bauch und zog es scheinbar mühelos nach oben. Paul wurde nicht mehr wach. Gierig schob er seine Hände in den Bauch und zog sie triefend wieder hinaus. Das Blut rann aus seinem Mundwinkel, als er es von seinen Händen saugte. Sarah hörte den lauter werdenden Gesang, den Tanz sah sie schon nicht mehr.
Der letzte Knoten war auf.
Erleichtert aber mit kontrollierten Bewegungen streifte sie das Seil ab. Jetzt nur keinen Fehler machen. Langsam ließ sie sich auf die Seite sinken und robbte in den rettenden Schatten. Sie warf einen kurzen Seitenblick zu John. Aber sie konnte ihm nicht helfen. Sie musste ihr Baby retten, Marvin war im Bus. Sie sah, dass auch John es geschafft hatte. Der Gascontainer lag auf seinen Beinen und unendlich langsam bewegte er seine Beine in die richtige Richtung. Richtung Lagerfeuer. Das Feuer selbst brannte in einer Kuhle, das Gas würde automatisch ins Feuer fallen.
Sarah richtete sich auf. Der Schatten war ihre Rettung. Sie musste unbedingt zum Bus. Die Ersatzschlüssel lagen unter der Beifahrerfußablage. Sie musste ihr Baby in Sicherheit bringen. Auf halbem Weg trat sie auf einen trockenen Ast. Unnatürlich laut knackte es, als der Stock brach. Panik kroch wieder in Sarah hoch und ohne sich umzusehen, begann sie zu rennen. Sie musste zu Marvin. Sie erreichte den Bus. Hastig griff sie nach dem Griff der Fahrertür. Der Ersatzschlüssel nützte ihr nichts, wenn die Tür nicht offen war. Doch sie war es. Mit voller Wucht riss sie die Tür auf.
Und mit voller Wucht wurde sie wieder zu geschlagen. Der Irre stand direkt vor ihr, völlig mit Blut beschmutzt. Seine dunklen Augen lagen tief in seinen Höhlen und starrten sie hasserfüllt an. Sie hatte sein Ritual gestört.
„Dämliche Fotze!“ zischte er und packte sie an der Kehle. Sein Griff war stahlhart. „Dafür lass ich mir mit dir mehr Zeit!“ Er zog sie zurück, als die Welt um sie herum explodierte. John hatte es offensichtlich geschafft. Die Druckwelle erfasste beide und schleuderte sie mehrere Meter weit. Sämtliche Scheiben im Bus zerbarsten, doch er fiel nicht um. Ein riesiger Feuerball stach gen Himmel.
Mit dem Geschmack von Blut kam Sarah wieder zu sich. Diesmal war es ihr eigenes Blut. Mit tauben Ohren versuchte sie, sich zu orientieren. Das Feuer brannte wieder in normaler Stärke, der Bus stand an seinem Platz, nur ohne Scheiben. Sarah dachte an den Kleinen. Aber er hatte ein Himmelszelt über seiner Wiege, er hatte hoffentlich kein Glas abbekommen. Auch wenn es Sicherheitsglas war.
Sarah kam mühsam auf alle viere. Sie musste zu ihrem Baby. Langsam krabbelte sie los.
Und sah voll Entsetzen, wie der Irre bereits den Bus erreicht hatte. Unfähig sich schneller zu bewegen, erblickte sie das Öffnen der Fahrertür. Schwerfällig zog der Mann sich auf den Sitz. Sie musste unbedingt zu ihrem Baby.
Der Horror kehrte zurück, als sie hörte, wie die Fahrertür zuknallte und der Motor gestartet wurde. Er hatte natürlich den Schlüssel. Sarah schrie. Mit letzter Kraft kam sie auf die Beine und schwankte auf den Bus zu.
Und erlebte schreiend, wie der Bus in einer Staubwolke davon fuhr.
„Marvin! Mein Baby!“ schrie sie, bis sie keine Stimme mehr hatte. Und der Bus längst nicht mehr zu sehen war. „Mein Baby!“, schrie sie in die menschenleere Ödnis.
„Mein Baby!“, schrie sie, als sie in tiefe Ohnmacht versank, das Feuer verlosch und die Dunkelheit der Nacht alles bedeckte.
„In Urlaub zu fahren war ohne Baby irgendwie einfacher!“, seufzte John und betrachtete den Haufen Gepäck der vor ihm stand und in den ausgebauten VW-Bus sollte. Immerhin hatte er es rechtzeitig geschafft, einen Teil der Sitzbank auszubauen und eine Wiege mit Himmelszelt einzupassen. Das Dach des Busses hatte eine Ausbuchtung für das kleine Doppelbett. Unterhalb waren eine schmale Küchenzeile, eine geschlossene Nasszelle mit Dusche und die Essecke eingebaut, Letztere nun mit Wiege. Erfreulicherweise hatte John sich damals beim Umbau durchsetzen können und so viele Schränke wie nur irgend möglich eingebaut.
„Sei froh, dass ich noch stille!“ erwiderte Sarah. „Sonst wäre es noch mehr Zeug!“ Gläschen mit Babynahrung, Milch, Breis, all das entfiel. Es musste nur noch Fencheltee mit. Sie sah ihren Mann liebevoll an. Er sah gut aus. Mittlerweile mit Bauchansatz aber immer noch passabel in Form. Und vor allem sorgte er gut für seine kleine Familie.
„Haben wir denn jetzt alles? Oder fehlt noch was?“ John musterte Sarah zweifelnd. Da käme bestimmt noch was hinzu. Irgendwas fehlte doch immer. Sarah war zwar in allem gut organisiert, aber seitdem das Baby da war, fiel ihr immer noch etwas ein, was noch nötig wäre zu kaufen oder mitzunehmen. Aber sie war eine tolle Mutter. Er hätte es nicht anders gewollt. Lange braune Haare, grüne Augen, Sommersprossen und ein niedliches Muttermal unter dem linken Mundwinkel. Vor allem, dass sie seinen Musikgeschmack teilte, war fantastisch. Inklusive der entsprechenden Bekleidung. Schwerpunkt schwarze Färbung. Aber auch das hatte seit dem Baby nachgelassen. Was aber nicht schlimm war.
Sarah schüttelte den Kopf. „Nein, das müsste alles sein!“ Windeln konnten nachgekauft werden, Utensilien zum Waschen ebenfalls. Nur Kleidung. Diese für alle Wetterlagen auszuwählen war immer schwierig. Auch wenn es sicherlich warm werden würde. Der Frühling war im vollen Gange.
„Gut! Dann lass uns doch noch mal die Route durchgehen, solange der Kleine schläft. Anschließen kannst du in Ruhe stillen und ich packe den Kram ein. Versuche es zu mindestens.“ John lächelte schief. Gelobt seien die vielen Schränke. Der Wagen würde daraufhin mindestens das Doppelte wiegen. Aber egal. Es war Urlaub.
„Okay. Wo hast du die Karte?“ Sarah sah sich um. Hier draußen war sie nicht.
„Drüben im Wohnzimmer. Sie liegt schon ausgebreitet auf dem Tisch.“ John zeigte mit dem Finger in ihre Wohnung. Er hatte die Route eingezeichnet und im Kopf, aber sicher war sicher. Mit einem Baby an Bord war es blöd sich zu verfahren.
„Dann komm!“
Sarah ging vor und verließ den Haufen Gepäck auf ihrer Terrasse. Ihr kleines Häuschen am Stadtrand war klein aber fein. Wer hätte das gedacht, als sie sich vor sechs Jahren auf einem Gothic Festival kennengelernt hatten, dass sie mal so spießig enden würden?! Besonders dass sie mal das Geld haben würden, sich ein eigenes Häuschen zu legen zu können. Auch wenn sie zu dem Haus wie die Jungfrau zum Kind gekommen waren. Es wurde ihnen auf dem silbernen Tablett serviert. Eine Kunde Johns hatte Erfolg mit seiner Musik. Selbstverständlich musste dann ein größeres und vorzeigbares Anwesen her. Aus Dankbarkeit darüber, dass John damals der Einzige gewesen war, der an ihn und seine Musik geglaubt und ihm eine Chance gegeben hatte, bot er ihnen sein altes Haus zu einem Spottpreis an. Das hätten sie unmöglich ausschlagen können.
John verdiente mit seinem Independent Musik Label mittlerweile tatsächlich echtes Geld und konnte sogar zwei seiner drei Nebenjobs kündigen. Auch den letzten Nebenjob, das Taxifahren, hätte er schon längst aufgeben können, aber es machte ihm einfach zu viel Spaß. Es war für ihn der perfekte Ausgleich zu Beruf und Familie. Und all das reichte nicht nur für ein Haus, sondern auch dafür, dass Sarah weiterhin nur in Teilzeit bei ihrer Versicherung arbeiten konnte. So konnte sie sich ganz um Marvin kümmern und ihn sogar mit ins Büro nehmen.
Das Leben war schön! Besonders wenn man nicht viele Ansprüche stellte. Ein teurer Urlaub mit Flugzeug und exquisiten Zielen kam für sie nicht infrage. Sie blieben lieber bei ihrem altbewährten VW-Bus und tourten quer über den Kontinent. Immer jedoch mit ausgefallenen Zielen.
Dieses Jahr hatte sich John durchgesetzt und sie folgten seiner morbiden Ader. Er hatte vom Highway des Todes gelesen und keine Ruhe gelassen. Ein gefasster Serienkiller hatte gestanden, mehrere Menschen entlang des Highways verschleppt und getötet zu haben. Inklusive einer vorhergehenden Skalpierung.
Sarah war mittlerweile an Johns schwarze Ader gewöhnt, hatte bei dieser Tour trotzdem Bauchschmerzen. Immerhin waren echte Menschen getötet worden. Schlussendlich hatte sie Johns Drängen nachgegeben, da er dieses Jahr auch dran war, ihr Urlaubsziel zu bestimmen. Nächstes Jahr würde sie wieder bestimmen.
So aber standen beide im Wohnzimmer und blickten auf die ausgebreitete Karte. Der Highway zog sich wie eine Schlange durch die Prärie.
„In Dawson treffen wir Paul und die anderen.“ John deutete auf einen Punkt nördlich des Highways. Paul und die anderen waren die kleine Reisegruppe, mit der sie dem Serienkiller nachspüren wollten. Es gab tatsächlich ein Reiseunternehmen, dass eine geführte Tour zu den Stationen des Highwaykillers anbot. Voller Begeisterung hatte ihr John die Homepage präsentiert und direkt Kontakt aufgenommen. Der Urlaub würde dadurch etwas teurer werden, aber dafür waren sie eine fünfköpfige Gruppe. Sarah hatte zwar immer noch leichte Bauchschmerzen, der Gedanke mit einer Gruppe unterwegs zu sein, besänftigte sie aber ausreichend, um Johns Drängen nachzugeben.
„Wie lange brauchen wir dahin?“ Sarah maß mit zwei Fingern den Abstand von ihrem Heimatort zu Dawson.
„Heute Abend sind wir da. Die Campingplätze dort sind aber nicht so prickelnd. Daher habe ich diesen hier herausgesucht.“ John tippte auf das Zeltsymbol oberhalb von Dawson. „Der Platz liegt am Fluss, ist gut bewertet und eine Stunde von der Stadt entfernt. Morgen treffen wir uns um 11 Uhr, können also gemütlich frühstücken, den Kleinen versorgen und locker um halb zehn, zehn losfahren. Kein Stress! Wir beginnen ganz in Ruhe unseren Urlaub.“
Sarah nickte. Das hörte sich gut an. „Okay, einverstanden. Und dann? Dass wir mit Baby kommen, hattest du Paul gesagt, nicht wahr?“
John nickte. Wie mindestens schon zwanzigmal vorher. Wie oft wollte sie ihn das noch fragen? „Von Dawson aus fahren wir dann los“, sagte er stattdessen, „den Highway runter. Bei welchen Stationen wir halten, entscheidet Paul. Im Prinzip kommt fast jeder fünfte Ort infrage!“
Sarah schüttelte den Kopf. Verrückt! Sie folgten einem realen Serienkiller und wollten die Tatorte besuchen. Aber vielleicht war sie seit Marvins Geburt einfach etwas zimperlicher. Früher hätte sie keine Bauchschmerzen gehabt.
John beobachtete sie lächelnd. Er bemerkte ihr Unbehagen. „Ich pass schon auf dich auf, Baby! Und auf unseren kleinen Sohn!“ Er nahm sie in den Arm. „Wirst schon sehen, das wird ein toller Urlaub. Berge, Wildwasser, Prärie, Wüste und on Top der gewisse Kick. Das wird super!“
„Ich weiß“, antwortete sie, „ich bin diesmal einfach etwas zimperlich. Liegt bestimmt an Marvin.“ Sie lächelte John an. „Aber jetzt lass uns mal starten, sonst überleg ich es mir doch noch anders!“
John lachte und machte sich an die unmögliche Aufgabe, ihr Gepäck zu verstauen. Sarah warf noch einen letzten Blick auf die Karte, seufzte und freute sich dann auf das Lachen ihres Sohnes, wenn sie ihn gleich wecken würde. Zeit zu essen.
Der Campingplatz war tatsächlich sehr schön. Fast schon idyllisch mit seiner Lage direkt am Fluss. Auch die sanitären Anlagen waren sauber wenn auch einfach. Diesmal hatten die Bewertungen gestimmt.
John hatte erfreulicherweise alles verpackt bekommen. Der Bus war nun bis zum Rand mit allem möglichen Kram voll. Kaum zu glauben, wie viel Gepäck so ein kleines Baby verursachte. Obwohl ihm das völlig egal war. Hauptsache er bekam seine Milch. Ob sein Body nun grün, schmutzig oder frisch gewaschen war, das alles juckte ihn nicht. Aber Mama juckte es. Doch John war froh darüber, dass sie das alles so gut im Griff hatte. Dafür packte er gerne den Bus bis zum Dach voll und zur Not auch noch einen Hänger. Dies war jedoch nicht nötig gewesen. Der Bus war so schon langsam genug. Mit einem Anhänger wäre die Fahrt eindeutig schlimmer geworden.
Sechs Stunden waren sie gefahren. Wobei eine Stunde drauf ging, erst mal aus der Stadt raus zu kommen. Danach war die Strecke fast schon einsam. Marvin schlief friedlich in seiner Wiege, animiert durch das regelmäßige Brummen des Motors. Nach drei Stunden hatten sie Pause gemacht und Sarah seinen Hunger gestillt. John hatte Fast Food geholt. Auf Reisen war dies die einfachste Verpflegung. Seit Marvin jedoch selten geworden. Sarah achtete auf die Ernährung. Das Kind bekam durchs Stillen schließlich alles mit. Aber heute war ihr erster Urlaubstag. Und einen Urlaub begann man am besten mit Fast Food.
Sarah blickte sich um. Der Platz war halb leer. Im Grunde hatten sie über zwei Parzellen für sich. Die sichtbaren Parzellen in ihrem Umkreis waren von zwei Rentnerpaaren belegt, von zwei Familien und von einem allein reisenden Mann mit Hund. Alle waren mit Campingwagen unterwegs. Eine Familie war bereits fertig mit dem Grillen und winkte Sarah begrüßend zu. Der Frühling zeigte sich von seiner besten Seite. Es war bis abends angenehm warm. Am Himmel stand die Abendsonne und versank langsam hinter den Bergen. Die Gipfel erstrahlten im rötlichen Licht.
John war damit beschäftigt, das Abendessen für sie beide vorzubereiten, Marvin saß in seinem Tragegestell direkt vor ihrer Brust und betrachtete mit großen Augen seine Umwelt. Sie war froh, dass er die Fahrt so gut mitgemacht hat. Ein wahrlich unkompliziertes Kind. Das wird noch kommen, hörte sie ihre Schwiegermutter unken.
Sarah holte ihre Rucksäcke aus dem Bus. Den Grill hatte John inzwischen aufgebaut ebenso wie ihren Klapptisch. Fertigsalate standen bereits parat und das Fleisch lag wartend in seiner Plastik Verpackung. Zwei Liegestühle standen neben dem Tisch. Eine Tischdecke aus dunkelrotem Wachs, gelbe Servietten rundeten das Bild ab. Ihr erster Urlaubsabend begann perfekt.
„Highway des Todes“ las Sarah aus den Augenwinkeln, als sie die Rücksäcke abstellte. John seiner war offen und ein Buch lag oben drauf. Mit einem schwarzen Einband durchzogen von einer blutroten Straße. Ein dickes Buch. Sie nahm es in die Hand und drehte es.
„Es gibt schon ein Buch über den Serienkiller?“, fragte Sarah, nachdem sie die Buchbeschreibung gelesen hatte. Die bestialischen Morde des John Walter Abcott. Mit Bildern von seinem Wohnhaus. Offensichtlich ein sehr hochwertiges Buch. Sarah musste grinsen, als sie den Text las.
„Ganz frisch“, antwortete John. „Habe es mir gestern noch schnell geholt. Mit einem Original Interview.“ Ein Interview mit der Bestie. Der Hinweis prangte als separater Aufkleber verkaufsfördernd unter dem Buchtitel. Auch das wird sicherlich vom hohen qualitativen Wert sein. Wenn das Buch mal nicht den Pulitzer Preis gewinnt, wollte Sarah fragen, verkniff es sich aber. John war anscheinend beeindruckt von dem Werk. Immerhin hatte es über zweihundert Seiten.
Sarah schüttelte den Kopf. „Abcott. John Walter Abcott. So heißt der Killer?” Sie drehte es in ihren Händen.
John nickte. “Ja. Er ist nicht weit von hier im Hochsicherheitsgefängnis. Der Prozess war letzten Monat. Allein die Zeitungsberichte waren schon unglaublich gruselig. Jedes kleine Dorfblättchen hat darüber berichtet. Highway des Todes … Das wird noch voll die Touristenattraktion werden, glaube es mir. Ein Wunder, dass wir nur so eine kleine Gruppe sind. Paul hat gesagt, wir wären so etwas wie eine Pilotgruppe. Na ja. Auf jeden Fall trieb Abcott jahrzehntelang sein Unwesen. Immer entlang des Highways. Und er hat alle seine Opfer skalpiert. Stell dir vor, seine Hütte war voll mit Skalps. Echt krank! Die Polizei hat Ewigkeiten gebraucht, alles zu sichern.“
„Hat er sie gesammelt?“ Sarah blätterte im Buch. Es gab tatsächlich Bilder mit nackten und blutigen Köpfen. Hinten im Anhang fand sie Erklärungen zum Begriff und zur Technik des Skalpierens. Inklusive Geschichte und Bedeutung. Sehr informativ das Buch! Ekelig war es trotzdem.
„Ja, er hat sie gesammelt. Als Trophäen. Hast du davon nichts mit bekommen? Die Zeitungen haben über nichts anderes berichtet. Horrorindianer, Skalpsammler, Kopfhautjäger. Sie haben ihm viele Namen verpasst. Und viel spekuliert. Abcott hatte es wohl mit der indianischen Mythologie. Darauf fuhr er voll ab. Sein Haus war aber trotzdem der reinste Horror. Wie in einem schlechten B-Movie. Er hat die Skalps mit Chemikalien behandelt, im Grunde also gegerbt und seinen Keller damit ausstaffiert. Überall Blutspuren. Rostige Messer an den Wänden. Eine große Wanne als Säurebassin. Ganz übel. In dem Buch gibt es ein Bild von dem Haus. Sieht von außen schon krass aus.“
Sarah schlug das Buch in der Mitte bei den Bildern auf. Ein düsteres Holzhaus starrte sie an. Das Haus des Bösen las sie als Untertitel. Es würde tatsächlich in jeden Horrorfilm passen. Eine baufällige Veranda, verhangene Fenster, einsam gelegen mit Verschlag, Brunnen und verrammeltem Kellereingang. Selbst ein Holzklotz mit Beil war auf dem Bild zu sehen. Sarah blätterte weiter. Bilder von innen waren keine dabei. Die Polizei wird keine freigegeben haben.
„Und dort hat er seine Opfer getötet?“
John schwenkte die rechte Hand. „Einige hat er verschleppt und dann in seinem Keller skalpiert und getötet. Die meisten aber hat er direkt am Highway massakriert! Einige tagsüber, einige nachts. Dann aber abseits vom Highway an geschützten Orten. Er hat wohl immer ein Feuer gemacht. Brauchte das für sein Ritual oder so. Ganz genau weiß man es nicht. Die Opfer waren stundenlang in seiner Gewalt, einige wenige sogar mehr als ein Tag. Was er in der ganzen Zeit gemacht hat, darüber wird viel spekuliert.“
„Aber das Buch gelesen hast du noch nicht, oder?“ Sie blätterte durch die Seiten. Bilder waren nur in der Mitte. Und es ging nur um seine Taten. Über Kindheit und Jugend ist leider nichts bekannt, hieß es lapidar am Anfang.
„Angefangen.“ John grinste. „Zum Glück stehen die blutrünstigsten Details schon im Vorwort. Weiter muss man gar nicht lesen. Und das Interview habe ich kurz überflogen. Was die Bestie sagt. Muss man gelesen haben.“ Er fletschte die Zähne. „Kaum zu glauben, dass das alles legal ist. Ein Serienkiller, der mit seinen Taten Geld verdient.“ Wie viel Geld hat er wohl dafür bekommen? Und was macht er jetzt damit? Im Knast? Aber vielleicht hat es ja sogar umsonst gegeben. Damit seine krude Ideologie verbreitet wird.
„Wie wurde er gefasst?“ Sarah betrachtete den Einband. Der blutrote Highway war irgendwie einfallslos. Erweckte den Eindruck, dass das Buch ein Schnellschuss war. Den anderen Verlagen zuvor kommen. Die Geschichte runter schreiben. Das Interview als pikantes und verkaufsförderndes Detail präsentieren und mit einem platten Cover garnieren. Nicht sehr kreativ.
„Durch Zufall. Er hatte ein defektes Rücklicht und nicht bemerkt. Und wie es halt so ist, begegnete ihm tatsächlich eine der wenigen Highway Patrols. Sie hielten ihn an und bumm: Völlig blutverschmiert saß er da im Auto. Er ließ sich widerstandslos festnehmen. Er fing auch sofort an, alles zu gestehen. So als wäre er froh, endlich gefasst worden zu sein.“ Er pustete in die Kohlen. So langsam kam die richtige Glut. Es wurde auch Zeit! Er hatte einen Bärenhunger. Er hatte schon überlegt, der Familie nebenan kurz Hallo zu sagen. Sie hatten noch fertige Bratwürstchen auf dem Tisch liegen und keinen Appetit mehr.
„Das stand alles im Vorwort?“ Sie betrachtete ein Bild von Abcott. Schwarzes Haar, Brille, blasse Haut. Er sah aus wie ein langweiliger Englischlehrer. Sein Blick war irgendwie tot. Seelenlos. Die Augen eines Monsters. Ohne jegliche Empathie.
„Nee. Das stand in den Zeitungen. Wurde im Herbst alles noch mal aufgekocht wegen des Prozesses. Und weißt du was?“ John sah sie geheimnisvoll an. „Mindestens eine Zeitung stellte die Frage, ob er das alles alleine machen konnte, so viele Menschen töten.“ John holte genüsslich das erste Steak aus der Verpackung. Jetzt ging es endlich los. Es zischte, als er es auf den Grillrost legte. Es war bereits fertig mariniert. Feurige Paprika stand auf dem Etikett. Egal. Hauptsache es war bald fertig. Dazu kamen noch zwei unmarinierte Steaks.
Sarah runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“
John legte zusätzlich Spare Ribs auf und schnupperte am aufkommenden Rauch. „Vielleicht gibt es einen Partner. Der noch auf freiem Fuß ist! Es gab einige Fälle, die für einen einzigen Täter fast nicht machbar waren. Oder aber er war ein Organisationsgenie. Auf jeden Fall gibt es plausible Indizien dafür, dass Abcott nicht alleine war. Und auch Spuren, die nicht aufgeklärt werden konnten. So gab es zum Beispiel einen Fall, in Jackson, glaube ich. Zwei Paare waren mit zwei Autos unterwegs. Sie starteten von ihrem Zeltplatz und fuhren weiter nach Jackson. Angekommen sind sie aber nie. Gefunden wurden sie zwanzig Kilometer vor der Stadt, fern des Highways in einem alten Steinbruch. Übel zugerichtet und natürlich skalpiert. Kräftige Ehemänner, toughe Frauen. Alle tot. Kaum zu glauben, dass Abcott dies alleine geschafft hat. Vor allem weil beide Autos am Steinbruch gefunden wurden.“ Er begoss die Spare Ribs mit seinem Bier und zuckte vor dem hochsteigenden Rauch zurück. „Ich persönlich bin sicher, dass er nicht allein war. Auch wenn seit seiner Festnahme keine skalpierten Opfer aufgetaucht sind. Kann ja noch kommen …“
Ein Schauder erfasste Sarah. Da war er wieder, der gewohnte Kick in ihren Urlauben. Besonders wenn John an der Reihe war, ihr Ziel zu bestimmen. Ein Serienkiller, der tot war, war eine Sache. Aber einem Psychopathen zu folgen, der hier in der Nähe quicklebendig im Gefängnis saß und zudem vielleicht noch einen Partner hatte, das war eine ganz andere Nummer.
„Wir folgen einem Serienkiller, der noch auf freiem Fuß ist?“, fragte sie etwas ungläubig.
„Möglich.“ John sah sie an und musste schließlich grinsen. „Aber wie gesagt, es gab seit seiner Festnahme keine Morde mehr. Und das ist jetzt drei Jahre her. Aber – wer weiß!“ John senkte seine Stimme. „Wer weiß! Vielleicht war er nicht allein. Und dann ist sein Partner noch auf freiem Fuß!“ Er pfiff leise die Titelmelodie von Akte X.
Sarah boxte ihm in auf den Arm. „Ach sei still! Und wenn es nicht gleich was zu essen gibt, werde ich hier zur Serienkillerin. Bitte schön blutig mein Steak!“
John lachte. Er nahm ein rohes Stück Fleisch hoch. „So? Blutig genug?“ Er wedelte mit der Grillgabel vor ihrer Nase.
„Mach jetzt. Sonst kommt dein Skalp auf den Grill!“ Sarah legte das Buch weg, strich Marvin übers Haar und verteilte Teller und Besteck auf dem Tisch. In die Salate kamen Löffel. Das Auge aß schließlich mit.
„Aber nur mit der echten Tennessee Barbecue Sauce bitte! Mein Skalp ist schließlich nur beste Qualität gewohnt.“ John strich sich über die Haare. Er hatte glücklicherweise immer noch dichtes Haar. Sein Vater hatte in seinem Alter bereits eine Halbglatze gehabt.
„So wie mich?“ Sarah drückte sich an ihn. John sah ihren leicht geöffneten Mund und küsste sie. „Ich glaube, hier ist, noch was ganz anderes am Brennen!“, stammelte, er und presste sie seitlich an sich.
Es war Urlaub.
Der Vorteil bei einem Baby war, dass ein Wecker völlig unnötig wurde. Es weckte alle, sobald es hungrig wach wurde. Nachteil war natürlich, dass dies immer viel zu früh war. An Ausschlafen war nicht zu denken. Sarah kletterte von ihrem Bett unter dem Dach herunter. Sie schob das Himmelszelt zur Seite und freute sich über Marvins Lächeln. Das entschädigte für die unchristliche Uhrzeit. Es war schön, so freudig begrüßt zu werden. Auch wenn es das Lächeln nicht lange andauerte und der Hunger durchschlug. Es wurde Zeit zum Stillen. Sie sah schnell nach der Windel und machte es sich auf der Bank mit ihrem Stillkissen so gemütlich wie möglich. Marvin war es egal, wie sie saß, Hauptsache er bekam seine Milch.
Sie hörte, wie John sich oben drüber auf die andere Seite legte. Er nutzte die Zeit, um noch länger zu schlafen. Aber sie hatten keine Eile. Bis zu ihrem Treffpunkt war es nicht weit. Sie konnten in Ruhe frühstücken, einpacken und losfahren. Allerdings sah es eher nach einem Frühstück drinnen aus. Für draußen war es noch zu kalt. Dies würde auch das Einpacken erleichtern.
Ihr Treffpunkt in Dawson war der Walmart-Parkplatz am Ortseingang. Er war nicht zu verfehlen. Hinten, am kleinen Kinderspielplatz mit Rutsche, hatte Paul geschrieben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden sie um die Zeit die Einzigen sein, die so weit entfernt vom Eingang des Supermarktes parkten. Er käme mit einem schwarzen Truck, hatte er ihnen noch geschrieben.
Und sie hatten tatsächlich keine Mühe den Treffpunkt zu finden. Der Parkplatz war gewohnt riesengroß und nah am Eingang voll. Weiter hinten war alles leer. Der schwarze Truck stand am kleinen Spielplatz, neben ihm ein Toyota. Drei Erwachsene standen vor den Autos.
Paul war ihr direkt unsympathisch. Er war der geborene Verkäufer. Künstlich gut gelaunt, überschwänglich begrüßend, Dauergrinsen. Sonnengebräunt und in Markenklamotten. Mit manikürten Händen. Was für ein Affe dachte Sarah. Er war sicherlich nicht nur ihr Reiseführer, er war bestimmt der Eigentümer der kleinen Reisefirma. Angewiesen auf gute Bewertungen.
Das andere Paar war in ihrem Alter. Mitte zwanzig, aber ohne Kind. Elisa und Louis. Seit 6 Monaten fest zusammen, wie Elisa sofort berichtete. Und dies war ihr erster gemeinsamer Urlaub. Sie war glühender CSI Fan (Navy CIS geht auch noch, CSI Miami ist aber am besten), kurze, dunkle Haare, etwas pummelig aber mit wohlproportionierten Formen, gekleidet in Bluejeans und Bluse. Louis war offensichtlich ihr stiller Gefolgsmann. Stumm reichte er allen die Hände, während Elisah in nur zwei Minuten ihre gesamte Beziehung breit erörtert hatte.
John verstand sich sofort mit Paul. Es war Sarah nach wie vor ein Rätsel, warum John augenblicklich mit diesen oberflächlichen Typen Freundschaft schließen konnte. Oder Bekanntschaft. Oder auf gute Kumpels machen. Wie immer er das auch nennen würde. Bereits nach wenigen Minuten war eine hitzige Diskussion entbrannt, ob der der Killer einen Partner hatte oder nicht. Paul befeuerte die These mit möglichen Ungereimtheiten. So waren an einem Tatort wohl Abdrücke von zwei Autos gefunden worden. Das war Öl auf Johns Mühlen. Er berichtete von dem Steinbruch, wo nicht nur Abdrücke, sondern tatsächlich zwei Autos gefunden waren. Elisah erzählte von einer CSI-Folge, bei der die Reifenspuren entscheidend waren bei der Lösung des Falles. Louis stellte hin und wieder eine Verständnisfrage. Das Buch hatte er wohl nicht gelesen, dachte Sarah und lächelte in sich hinein.
Sie wandte sich ab und lief zu ihrem Bus. Ihr Babyfone hatte sich gemeldet. Es war Zeit zu stillen. Marvin war am Quaken. Nach seinen Essenszeiten konnte man tatsächliche die Uhr stellen. Er wurde fast immer pünktlich wach.
„Wo ist denn mein kleiner Süßer?“, rief sie, als sie den Bus betrat. „Hast du genug geschlafen?“ Marvin lag friedlich in seiner Wiege und spielte quakend mit dem Holzmobile. Bunte Fische drehten sich im Kreis. Hoch genug, dass Marvin sie mit den Fingerspitzen erreichen aber nicht runter reißen konnte. Ein Geschenk ihrer Schwiegermutter. Trotzdem sehr schön.
Sarah positionierte ihr Stilkissen auf der Sitzbank, hob den kleinen Schatz vorsichtig heraus und musste lachen, als Marvin prompt sein Schnütchen aufmachte. Zeit für die Raubtierfütterung.
Sie hatte gerade alles richtig geordnet und Marvin schmatzte behaglich, als es an ihrer seitlichen Bustür klopfte.
„Herein!“, rief sie. Wer war das denn? John würde nicht klopfen, das wäre albern.
Louis steckte seinen dunkelbraunen Haarschopf hinein. „Ich wollte mich nur … Oh!“ unterbrach er sich, als er sah, dass Sarah am Stillen war.
„Komm ruhig rein, das stört mich nicht“, forderte ihn Sarah auf. Was wollte er hier?
Etwas verschämt kam Louis näher und blieb mit abgewandtem Blick in der Türöffnung stehen. „Ich wollte mich nur erkundigen, ob es dir gut geht. Die anderen sind so mit ihrer Diskussion beschäftigt …“
„Ja, doch, danke. Alles in Ordnung.“ Sarah lächelte. „Es war nur Fütterungszeit.“ Sie deutete auf ihr Baby.
„Oh, okay.“ Louis stockte. „Ja, das Baby. Seid ihr fest zusammen? Also, ich mein, seid ihr verheiratet oder so?“
Sarah runzelte erstaunt die Stirn. „Ja, sind wir“, antwortete sie. „Glücklich verheiratet. Seit zwei Jahren.“
„Ah, okay.“ Stille trat ein. „Dann also ... Wenn es dir gut geht und ich nichts für dich tun kann?“
„Nein, alles gut.“
„Dann… Bis nachher.“ Louis schloss leise die Tür und verschwand.
Was war das denn? Sehr bizarr. Ein stiller Gefolgsmann, der doch nicht so still war? Aber was sollte man auch erwarten, wenn man so eine Tour bucht. Unheimlich. Vor allem war es ein kräftiges Kerlchen, wie Sarah feststellen musste. Klein aber gut gebaut. Nur die kleine Hasenscharte und sein Stottern störten den Gesamteindruck.
Sarah seufzte. Egal. Sie war den Umgang mit schrägen Vögeln gewöhnt. Auf ihren Reisen trafen sie sie regelmäßig. Besonders wenn John das Ziel aussuchte. Vor zwei Jahren waren sie an der Grenze zu Kanada einer obskuren Sekte nach spioniert. Sie stand in dem Verdacht, tatsächlich Menschenopfer dargebracht zu haben. Vielleicht sogar Kinder. Nachgewiesen waren auf jeden Fall Tieropfer. Geschlachtet und geopfert an sogenannten heiligen Stellen. John war sofort begeistert und wollte unbedingt diese Orte erkunden. Das Böse erforschen, sagte er damals. Und vielleicht der Sekte beitreten, hatte er augenzwinkernd hinzugefügt, sie würden die Vielehe erlauben.
Klar hatte Sarah damals geantwortet, das ist ja Sinn und Zweck einer Sekte. Hauptsache die Männer haben genügend Frauen. Die Reise selbst wäre aber fast schon langweilig gewesen, wenn sie nicht auch auf der Tour lauter schräge Vögel kennengelernt hätten. Die sogenannten heiligen Orte erwiesen sich als harmlose Lichtungen im Wald mit selbst gebauten, krummen Steinaltären. Diese fielen schon um, wenn man sie nur scharf ansah. Nichtsdestotrotz sind einige von ihnen zu Wallfahrtsstätten für alle möglichen Sorten von Spinnern geworden. Die mit Hippiekleidung und Gitarre kräftig Joints rauchten und von Aliens und Weltuntergang faselten. John war natürlich Feuer und Flamme und verteilte haufenweise Promo-CDs von all seinen Bands, die er unter Vertrag hatte. Ein Weltuntergang benötigte schließlich passende Musik.
John erschien prompt an der Tür und stieg in den Bus.