Du fürchtest den Falschen - Krid Korwa - E-Book

Du fürchtest den Falschen E-Book

Krid Korwa

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Beschreibung

Ein brutaler Frauenmord erschüttert Köln. Doch der Täter scheint schnell gefunden. Ein Stalker. Nur der Kölner Kommissar Lukas Schlegel hegt zusammen mit seiner Partnerin Linda Endres ernste Zweifel. Und beginnt gegen den Widerstand seines Vorgesetzten auf eigene Faust zu ermitteln. Eine erzwungene Versetzung nach Berlin führt ihn schließlich auf die Spur eines Serientäters, der Stalker als perfekte Verdächtige benutzt, um seine Spuren zu verwischen. Doch in der Zwischenzeit werden noch zwei weitere Frauen Opfer des bestialischen Mörders. Und das nächste Opfer ist bereits im Visier des Täters. Den beiden Kölner Kommissaren läuft die Zeit davon...

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Seitenzahl: 274

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Alle Handlungen, Geschehnisse, Personen und zum Teil auch einige Ortsangaben in diesem Roman sind frei erfunden und beruhen nicht auf wahren Begebenheiten.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Köln

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Teil 2: Berlin

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Epilog

41. Leseprobe Der Skalpsammler

Teil 1

Köln

1. Kapitel

Der Mann war direkt hinter ihr. Sie hörte seine Schritte auf dem nassen Asphalt, roch seinen Knoblauchatem, spürte seine ausgestreckte Hand. Gleich hatte er sie. Dann wäre ihr Leben zu Ende. Aus und vorbei. Alles. Der Schmerz in ihrer Brust wurde immer schlimmer. Der pure Horror griff mit kaltem Griff nach ihrer Seele. Lähmte ihren Körper.

Sie wurde langsamer.

Das Entsetzen presste sie umbarmherzig zusammen, umgab sie wie eine Wand, vergiftete ihre Glieder und lastete tonnenschwer auf ihren Muskeln.

Dann hörte sie das Geräusch.

Und wurde wach.

Entsetzensstarr riss sie die Augen auf. Es war nur ein Albtraum, versuchte sie sich zu beruhigen. Nur ein Albtraum. Sie spürte das Adrenalin durch ihren Körper rauschen, hörte das Pochen ihres Blutes im Ohr, fühlte die Lähmung ihrer Beine. Und Arme. Sie konnte sich keinen Millimeter bewegen. Das Flackern des Fernsehers erhellte die Dunkelheit der Nacht. Sie war schon wieder auf der Couch eingeschlafen.

Ein Zug fuhr gerade über eine Brücke. Mächtige Pfeiler erhoben sich wie Riesen aus Stein vom Grund der Schlucht und zeugten von menschlicher Ingenieurskunst. Ein Steinadler drehte seine Kreise hoch oben am Himmel. Und aus dem Lautsprecher ertönte leise die Stimme des Sprechers.

Es war eine Dokumentation.

So ganz langsam fühlte sie, wie der Horror wich. Sie bewegte die Finger ihrer rechten Hand. Es ging.

Die Augen immer noch weit aufgerissen veränderte sie die Position ihrer Beine und winkelte sie an. Mit der Bewegung verschwand allmählich das Entsetzen. Bald wäre der Traum nur noch eine blasse Erinnerung. Bis sie ihn ganz vergessen hätte.

Bis zum nächsten Albraum.

Mit der linken Hand griff sie nach hinten und tastete nach der Fernbedienung.

Dann fiel ihr das Geräusch wieder ein. War es im Traum gewesen? Sie kannte dieses Geräusch.

Die Haustür.

An der Haustür hing über der Klinke ein kleines Schild aus Emaille. Hotel Mama stand drauf. Ihre Tochter hat es ihr nach dem ersten Semester geschenkt. Beim Öffnen der Tür schlug es gegen das Schutzblech und ergab diesen blechernen Klang.

So wie in ihrem Traum.

Das Entsetzen war mit einem Schlag zurück.

War das möglich? Hatte sie nicht was ganz anderes gehört?

Die Stimme des Erzählers erklang wieder aus dem Fernseher. Mit zitternder Hand fühlte sie das harte Plastik der Fernbedienung. Wo war nur die Mute-Taste? Ganz ausmachen wollte sie nicht. Dann wäre es stockdunkel.

Sie wusste nicht mehr, wo sich die Taste befand. Ihr Blutdruck pochte wie ein monströser Güterzug auf ihrem Trommelfell. Sie fühlte die Zwillingstaste für die Lautstärke und drückte mit erstarrtem Zeigefinger krampfhaft drauf. Bis die Null auf dem Bildschirm erschien und der Ton aus war.

Zum zweiten Mal lag sie schreckensstarr still. Doch diesmal konzentrierte sie sich völlig auf ihr Gehör. Der Mund öffnete sich, als wolle sie schreien. Sie stellte das Atmen ein. Die Schleimhäute waren staubtrocken.

Es blieb alles ruhig.

Das Laminat im Flur knarzte immer. Egal, welche Schuhe man trug. Egal, wie man auftrat. Es war nicht möglich, den Hausflur ohne Geräusch zu betreten.

Und es knarzte.

Mein Gott, mein Gott, mein Gott! Hatte sie das wirklich gehört? Es war minimal gewesen, als hätte jemand ganz leicht sein Gewicht verlagert. War das wirklich gewesen?

Wenn sie jetzt anfing zu schreien und es war nichts, würde sie sich einmal mehr lächerlich machen. Wie letztes Jahr als sie die Kerzen der Nachbarn gegenüber für ein Feuer in der Wohnung gehalten hatte und die Feuerwehr umsonst gerufen hatte. Und das ganze Haus aus dem Schlaf gerissen hatte.

In der Küche sprang der Kühlschrank an. Als stünde er hier im Wohnzimmer, hörte sie das Gluckern des Kompressors.

Alles andere blieb still. Hatte sie sich die Geräusche nur eingebildet? Der Bücherschrank knackte. Es war wie jede Nacht. Wirklich?

Die Beine waren bleischwer, ein Krampf durchzuckte ihre linke Wade, doch sie hatte keine Wahl. Sie musste nachsehen. Völlig verkrampft schwang sie die Beine auf den Boden und setzte sich auf. Ihr Körper war anderer Meinung. Er wollte fliehen, sich unter die Decke verkriechen, aus dem Fenster springen. Sie musste sich abstützen, sonst wäre sie auf den Boden gerutscht.

Ihr Handy lag auf dem Couchtisch. Sie griff danach, aktivierte den Bildschirm und tippte auf Notruf. 110. Jetzt musste sie noch den grünen Hörer drücken.

Sie war bereit.

Bereit wofür?

Das Handy in der linken Hand, den Daumen auf dem Rahmen unter dem Hörersymbol, stand sie mühsam auf. Sie fühlte sich wie in einem Schraubstock. Jede Zelle stand unter Spannung. Wie elektrisiert. Nur das Rauschen in ihren Ohren wurde immer lauter.

Das Laminat knarzte wieder. Aber diesmal kam es von ihr. Mit kleinen Schritten bewegte sie sich Richtung Flur. Der Fernseher flackerte und tauchte die Bücherregale in bläuliches Licht.

Sie trat durch die offene Tür in den Flur.

Am Ende war die Haustür und davor der Garderobenständer. Völlig überfüllt. Sah es aus wie immer? Sie tastete nach dem Lichtschalter.

Nichts geschah.

Siedend heiß fiel ihr ein, dass die Lampe kaputt war. Das hatte sie heute Nachmittag festgestellt. Als sie vom Einkaufen wiedergekommen war. Die Birne war durchgebrannt. Und sie hatte keine neue im Haus gehabt. Obwohl sie eigentlich gedacht hatte, sie hätte noch paar im Vorrat.

Sie kniff die Augen zusammen. Der Fernseher erhellte das erste Drittel des Flurs. Ganz hinten am Garderobenständer hing ihr Mantel. Er ging bis zum Boden.

War es ihr Mantel? Ein brauner Wildledermantel? Er sah völlig schwarz aus. War es überhaupt ein Mantel?

Bewegungslos blieb sie stehen und starrte ins Dunkle. Der Kühlschrank verstummte. Die Wohnung wurde totenstill.

Dann bemerkte sie das Licht. Eine winzige rote Diode. Auf dem Hutregal. Über der Garderobe. Sie blinkte schwach aber regelmäßig. War es ihr Rauchmelder? Vor wenigen Wochen war er von der Decke gefallen. Der Kleber hatte sich gelöst. Hatte sie ihn einfach aufs Regal gelegt? Und die Batterie? Hatte sie sie wieder eingelegt?

Sie glaubte schon. Sicher war sie sich aber nicht.

Also war alles in Ordnung? So wie immer? War das wirklich nur ihr Mantel?

Sie hob das Handy und hielt es wie eine Pistole vor sich. Sie drückte den mittleren Knopf und das Display leuchtete auf. Mit gestrecktem Arm hielt sie es weit von sich.

Es war ihr Mantel.

Mit zusammengepressten Lippen entwich die Luft aus ihren Lungen. Sie hatte nicht einmal geatmet. Ganz langsam löste sich der Horror. Ihre verkrampfte Wade begann, sich zu entspannen.

Es war alles in Ordnung.

Sie drückte erneut die mittlere Taste und ging mit ausgestrecktem Arm vorwärts.

Die Haustür war geschlossen.

Erleichtert ließ sie das Handy sinken, drückte sicherheitshalber die Türklinke runter und rüttelte an der Eingangstür. Sie blieb verschlossen.

Hinter ihr ging wieder der Kompressor des Kühlschranks an.

Im selben Moment, als das Laminat knarzte.

Mit einem Ruck drehte sie sich um.

In der Küchentür stand ein Mann. Völlig in Schwarz. Mit Motorradmaske. Dunkle Augen starrten sie erwartungsvoll an. Auf der linken Schulter blinkte eine zweite rote Diode. Eine Actioncam. Dieselbe kleine Kamera, die ihr Bruder an sein Mountainbike installiert hatte. Sie war mit einem Schulterriemen fixiert und direkt auf sie gerichtet.

Der Horror überschwemmte ihre Synapsen mit voller Wucht. Urin rann ihre Beine hinunter. Die warme Flüssigkeit durchtränkte ihre weiße Jogginghose und floss an den butterweichen Knien vorbei. Völlig nutzlos hob sie ihr Handy und hielt es abwehrend vor sich. Sie öffnete den Mund, doch heraus kam nur ein krächzendes Röcheln. Sie hatte keine Luft mehr. Instinktiv nahm sie einen tiefen Atemzug. Füllte ihre Lungen mit dem Stoff zum Schreien. Ihre Schultern hoben sich, die völlig ausgetrocknete Kehle schluckte ein letztes Mal und machte den Weg frei für ihre einzige Chance. Zu schreien.

Zwei Arme hoben sich und schwarze Lederhandschuhe umfassten unbarmherzig ihren Hals. Drückten alles ab. Blut und Luftzufuhr. Ließen nichts durch. Wie ein Schraubstock. Aus dem Schrei wurde ein räudiges Winseln. Die Kraft in den Händen war ungeheuer. Gleich würde ihr Hals brechen. Das Pochen in ihren Ohren hörte auf. Panik drängte das Entsetzen beiseite. Schummrige Panik, verschwommene Angst. Die Dunkelheit löste sich langsam auf, wurde pixelig, neblig, schwammig.

War das das Ende? Würde ihr Leben so zu Ende gehen? Nach all den Entbehrungen? Erwürgt in ihrer eigenen Wohnung?

Das Handy fiel polternd zu Boden. Und löste ihre Erstarrung. Ihre Hände schossen nach oben und griffen nach den Handgelenken des Mannes. Sie fühlte den rauen Lederstoff, zog mit aller Gewalt, sah hektisch umher.

Doch es war zu spät. Die Dunkelheit kroch in ihre Glieder, peitschte durch ihren Geist, verdunkelte ihren Blick. Und umgab sie am Ende ganz.

Bewusstlos erschlaffte sie. Die schwarzen Handschuhe hielten sie nun aufrecht, verringerten den Druck und ließen das Blut wieder pulsieren. Der Mann bückte sich, griff mit links unter ihre Kniekehlen und hob sie mühelos hoch. Mit rechts positionierte er ihren Oberkörper, sodass die Kamera genau auf ihr Gesicht gerichtet war. Schwere Springerstiefel ließen den Laminat im Flur ohne Rücksicht auf Geräusche erzittern und gingen in die Wohnung hinein. Als würde er hier wohnen, öffnete er die Tür zum Schlafzimmer, ging ein wenig in die Hocke und legte sie in ihr Bett. Seine Bewegungen waren langsam und kontrolliert. Immer darauf bedacht, der Kamera ein gutes Bild zu bieten.

Ihre Hände kettete er mit Handschellen an den massiven Metallrahmen des großen Bettes, die Fußknöchel mit dünnen Bergsteigerseilen und präsentierte der Kamera schließlich einen Mundknebel mit rotem Ball. Er presste ihn in ihren Mund, verschloss die Lederriemen hinter ihren Kopf und richtete sich zufrieden auf. Er rüttelte ein letztes Mal an ihren Händen und Füssen.

Jetzt war sie ihm ausgeliefert.

Er ging zurück in den Flur und griff nach oben. Die rote Diode auf dem Hutregal verschwand in seiner Hand.

Es war kein Rauchmelder. Es war eine zweite Kamera.

Er ging zurück ins Schlafzimmer, legte die Kamera auf dem Frisiertisch ab und streifte seinen schwarzen Rucksack ab. Er griff hinein und holte ein schmales Stativ heraus. Mit geübten Bewegungen löste er die Schraubverbindungen, zog es auf eine Höhe von einem Meter, befestigte die zweite Kamera darauf und stellte sie mit dem Stativ auf den Frisiertisch. Die Linse war direkt aufs Bett gerichtet.

Er holte ein Smartphone hervor, tippte wenige Male aufs Display, korrigierte den Winkel der Kamera, nickte zufrieden und legte das Handy neben das Stativ. Ein geteilter Bildschirm war zu sehen. Oben die Kamera auf dem Stativ, unten die Kamera auf seiner Schulter.

Als wäre das alles ein Film.

Die Frau regte sich. Der Zeigefinger ihrer rechten Hand zuckte. Die Handschelle klirrte und schabte knirschend am Metallpfosten. Ihre Gedanken waren deutlich zu erkennen. Wieso konnte sie ihre Hand nicht frei bewegen? Als sich ihre Augen öffneten, präsentierten sie Verwirrung.

Bis sie den schwarzen Mann erblickte und den Knebel im Mund fühlte. Das Entsetzen kam mit voller Wucht zurück. Ihr Kopf schlug hin und her und endlich schrie sie. Schrie sie nach Hilfe. Doch es war zu spät. Der Knebel erstickte alle Töne.

Der Mann stand reglos neben dem Frisiertisch und ließ sie an ihren Fesseln zerren. Sie wussten beide, dass die Oma über ihnen völlig taub war. Als sie die Sinnlosigkeit ihrer zuckenden Bewegungen einsah, kamen die Tränen. Könnte sie reden, würde sie ihn nun um Gnade bitten. Ihm alles anbieten, was sie hatte, nur dass er sie wieder freiließ.

Das taten sie alle.

Und was sie alle nicht verstanden, war, dass er genau jetzt das hatte, was er wollte.

Eine wehrlose Frau. Mit der er alles machen konnte.

Es gab nichts, was sie ihm anbieten konnte.

Genüsslich griff er erneut in seinen Rucksack und holte eine zusammen-gerollte, schwarze Tasche heraus. Er löste den Klettverschluss und entrollte sie langsam vor ihren Augen.

Die Tränen versiegten. Denn der Horror kannte keine Tränen. Ihre Augen weiteten sich und folgten schreckenstarr den silbernen Instrumenten. Als Erstes erschien ein Skalpell, als Zweites ein Metallstab mit Stromkabeln, als Drittes eine gezackte Zange. Danach blieben ihre Augen stehen. Sahen die anderen Instrumente, ohne ihnen Namen geben zu können.

Ein Albtraum kümmerte sich nicht um Namen. Doch aus einem Albtraum konnte man erwachen. Aus diesem gab es kein Entrinnen.

Denn der Horror hatte gerade erst begonnen.

2. Kapitel

Kriminalkommissar Lukas Schlegel griff ungläubig nach dem Monitor. Als könnte er die pdf-Datei in Papierform herausziehen. Er wurde nach Berlin abkommandiert. Für fünf Tage. Montag früh um acht musste er da sein.

Er drehte den Bildschirm mehr nach links. Vielleicht war es die Sonne, die den Brief verzerrte. Aber die Buchstaben änderten sich nicht. Am Wochenende gab es zwei Fussbalderbys, der erste Mai stand bevor und die kurzfristig anberaumte Sicherheitskonferenz der EU-Finanzminister in Berlin fraßen sämtliches Bereitschaftspersonal auf. Polizisten aus ganz Deutschland wurden herbeigerufen. Ansonsten würde Berlin brennen.

Und er wurde nach Berlin geordert, um die Koordinatoren zu unterstützen. Er konnte das kalte Lächeln seines Vorgesetzten förmlich spüren. Es leuchtete aus jeder Textzeile. Die letzten Abordnungen hatte er mithilfe seiner Gewerkschaft verhindern können. Bei dieser würde es schwierig werden. Denn er sollte entsprechend seines Dienstranges eingesetzt werden. Mit plausibler Begründung. Schon jetzt reisten die ersten Randalierer aus den Nachbarländern in die Hauptstadt. Der Kongress war reinster Zündstoff. Bediente alle Klischees des bösen Kapitalismus und einer Politik, die breitwillig die Beine breitmachte, wenn sie nur ordentlich geschmiert wurde.

Er schüttelte den Kopf. Und das alles nur wegen dieses Einbruches.

Vor einem Jahr hatte er sonntags Dienst und wurde zu einem Delikt in ein Einfamilienhaus gerufen. Eines von vielen. Da sie alle Hände voll zu tun hatten, kamen sie erst mit zweistündiger Verspätung an den Tatort. Das Opfer war ein junges Paar, frisch verheiratet. Beide Ärzte. Sie schwanger, er leicht körperbehindert. Das Haus hatten sie erst vor zwei Monaten gekauft.

Sie hatten ihm leidgetan. Normalerweise ließ er seine Arbeit nicht so nah an sich herankommen. Aber die Frau hatte ihn mit ihren traurigen, grünen Augen gefesselt. Als wäre sie eine verlorene Welpe, die dringend Schutz brauchte.

Der Mann hatte ihn schließlich gefragt, wie sie sich zukünftig gegen Einbrecher schützen könnte. Auch wenn er eigentlich bei der Mordkommission war, bekam er in seinen Diensten am Wochenende genügend Einbrüche zu sehen. Und er kannte die üblichen Schwachstellen. Er zeigte dem Mann die Terrassentür, die Kellerfenster, die Haustür und alle anderen Einstiegspunkte und wie er sie sichern konnte. Und am Ende gab er ihnen den verhängnisvollen Rat. Die Frau hatte ihn mit ihren grünen Augen direkt angesehen. Und ihn gefragt, wie die Polizei sie besser schützen könnte.

Ziehen sie nach Bayern, hatte er gesagt. Dort gibt es deutlich mehr Polizisten und mehr Sicherheit.

Am nächsten Tag stand er in einer Kölner Boulevardzeitung. Kommissar rät als Einbruchsschutz zum Umzug nach Bayern. Dort sei es sicherer.

Danach war das sowieso schon angespannte Verhältnis zu seinem Vorgesetzten völlig im Arsch. Er wurde suspendiert. Und bekam seinen Job ironischerweise nur durch die Presse wieder zurück. Polizeipräsident will die Wahrheit suspendieren, war nur eine der Schlagzeilen. Dieselbe Presse, die seine Suspendierung verursachte, rettete ihm am Ende seine Stelle.

Was aber nicht bedeutete, dass seine Arbeit danach dieselbe war. Er bekam die beschissensten Fälle, wurde ständig mit Abordnungen konfrontiert und verbrachte mehr Zeit bei der Gewerkschaft als an Tatorten.

Doch diese Abordnung nach Berlin würde er wohl nicht umgehen können. Der erste kleine Erfolg für seinen Chef, Sebastian Graumüller.

Was für eine Scheiße. Er fuhr sich mit der rechten Hand über seinen schwarzen Kinnbart. Der schon erste graue Haare aufwies. Einer der Gründe für seine Glatze. Die er jeden Morgen ordentlich rasierte. Damit seine stahlblauen Augen besser zur Geltung kamen.

Seine Vorgesetzten verstanden leider einen wesentlichen Punkt nicht. Er war nicht hier, weil er den Job brauchte. Er war hier, weil er es wollte. Seine Familie hatte genug Geld. Er bräuchte nicht einen Tag arbeiten zu gehen. Allein die Mieteinnahmen der beiden Häuser in der Kölner Innenstadt übertrafen sein Gehalt um Längen. Und dabei war er gerade mal 32. Er würde hier gehen, wenn er es wollte, nicht wenn sie es wollten.

Er schloss die Datei und seufzte. Einfach zu kündigen stellte im Moment tatsächlich eine Versuchung da, kam aber nicht infrage. Diesen Triumph würde er seinem Chef nicht gönnen.

Dabei verstand jeder, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Bayern war definitiv sicherer. Das wusste auch jeder. Nur sagen durfte man es nicht. War politisch nicht korrekt.

»Wir haben einen neuen Fall!« Linda Endres stand vor seinem Schreibtisch und sah ihn durchdringend an. Ihre braunen Haare waren auf Militärlänge gestutzt, die schwarzen Augen hart und undurchdringlich, ihr Körper bis in die letzte kleine Zelle durchtrainiert. Sie war seine Partnerin. Schon immer gewesen. Und hatte auch nach seiner Suspendierung niemals in Erwägung gezogen, um einen anderen Partner zu bitten. Nicht dass sie irgendwie sauer war auf ihn oder so. Aber ein Partnerwechsel hätte ihr berufliches Leben einfacher gemacht. Mit ihm an ihrer Seite war eine schnelle Karriere ausgeschlossen.

Nur gut, dass beide keine Karriere machen wollten. Sie wollen einfach nur ihren Job machen. Verbrechen aufklären.

»Eine üble Sache«, sprach sie weiter.

»Eine wirklich üble Sache«.

Er sah überrascht hoch. Zitterte ihre Stimme? Das hatte er noch nie erlebt.

»Die Streife hat eine Wohnung aufbrechen müssen. Anonymer Hinweis auf eine Straftat. Gefunden haben sie eine zu Tode gefolterte Frau, Ende dreißig. Geknebelt und ans Bett gefesselt. Der erste Streifenpolizist hat mitten ins Schlafzimmer gekotzt, der Zweite hat es immerhin in den Hausflur geschafft. Eine ganz üble Sache!«

Er lehnte sich zurück, rubbelte über seine Glatze und schloss sein E-Mail Postfach. »Okay.« Mit einem Ruck stand er auf. »Dann mal los, Linda. Dann mal los.«

Sie nickte unmerklich, reichte ihm seine Jacke, die sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, und konnte das leichte Zittern ihrer Hand nicht verbergen. Er nahm die schwarze Lederjacke entgegen, zog sie an und blickte sie prüfend an.

»Ist es so übel?«

»Schlimmer, Luke. Viel schlimmer.« Sie gehörte zu den wenigen, die ihn Luke nannte.

Er nickte grimmig, prüfte seine Dienstwaffe und verließ zielstrebig seinen Arbeitsplatz. Linda folgte ihm. Sie war direkt hinter ihm, so wie immer. Bereit, ihm den Rücken frei zu halten.

Auch wenn dieser Fall das Potenzial dazu hatte, dass er sie stützen musste.

Eine üble Sache.

3. Kapitel

Luke betrat den Hausflur im ersten Stock und roch sofort das Blut. Es zog durch seine Nase, belegte seinen Gaumen mit einem metallenen Geschmack und verdrängte alles andere. Er blieb stehen. Es war der Gestank des Verbrechens. Selbst im Krankenhaus roch es nicht so. Dieser schwere Geruch war das Merkmal eines Tatorts.

Er blickte Linda ernst an. Sie runzelte die Stirn, presste die Lippen zusammen und sah ihn regungslos an. Sie bereitete sich auf das Kommende vor. Er senkte leicht den Kopf und schaltete um. Hier hatten seine Emotionen nichts zu suchen. Er war Ermittler. Das war sein Job. Deswegen war er hier.

Die Haustür stand offen, ein Polizist stand seitlich daneben. Er war weiß wie die Wand. Luke nickte ihm nur kurz zu und ging in die Hocke. Das Türschloss war nicht aufgebrochen, die Tür selbst völlig intakt. Keine Kratzer, keine Hebelspuren, keine Anzeichen auf gewaltsames Eindringen. Aus der Hocke blickte er in die Wohnung. Vor ihm ragte ein überladener Garderobenständer auf, links und rechts daneben zwei Regale, beide vollgestopft mit Hüten, Mützen und Kappen. Bei dem linken Regal ragte ein weißer Brandmelder hervor. Luke konnte von unten das leere Batteriefach erkennen. Weniger Millimeter mehr und der Melder würde herunterfallen. Zwei Mützen lagen auf dem Boden, eine Jacke hing halb über den seitlichen Heizkörper, eine umgefallene Pflanze hatte ihre Erde auf dem glatten Boden verstreut. Als wäre hier gekämpft worden.

Schräg vor ihm war die Tür zur Küche, während der Flur nach rechts abging. Beigebrauner Laminat bedeckte den Boden, unter der Garderobe stapelten sich Frauenschuhe.

Kein Schuhschrank. Hier standen also nur die Schuhe, die regelmäßig benutzt wurden. Alle anderen mussten woanders sein. Vielleicht im Schlafzimmer. Die Wände waren weiß gestrichen.

Luke ging einen Schritt in die Wohnung hinein und hörte das Knarzen des Laminats. Nicht gerade die beste Qualität.

Die Küche war intakt. In der Spüle standen ein Teller und eine Teetasse vom Abendbrot, alles andere war tipptop. Hier konnte man vom Boden essen. Die Küche war nicht die neuste, genau so wie die Geräte. Gehörte wahrscheinlich zur Wohnung. Ein runder Esstisch mit sechs Stühlen stand vor dem Fenster, in der Mitte eine gut gefüllte Obstschale. Die Küche war sehr gemütlich. Ein Platz zum Verweilen und schwätzen. Bereit, Gäste zu empfangen. Die Spurensicherung war mit der Arbeitsfläche beschäftigt und begrüßte die beiden Kommissare knapp. Reden wollte hier erst mal niemand.

Der Flur war lang und schmal. Kein Teppich. An den Wänden viele kleine Bilder. Zwei Frauen. Mal alleine, mal zusammen. Kein Mann. Luke stellte sich vor das größte Bild und fixierte die beiden blonden Frauen. Es waren unverkennbar Mutter und Tochter. Ende dreißig und Anfang zwanzig. Die Mutter mit Lachfältchen um die Augen und weggeschminkten Falten um die Wangen, die Tochter mit festem Blick, langen Haaren und dezent geschminkten Augen. Sie waren beide unglaublich hübsch. Ihre Augen verrieten Pragmatismus und durchlittene schwere Zeiten. Als hätten sie schon viel zu viel gesehen.

Luke strich sich über das Gesicht und fixierte den Türrahmen vor ihm. Es war die Tür zum Schlafzimmer. Wie aus weiter Ferne nahm er den säuerlichen Geruch nach Erbrochenem wahr. Den Geruch des Blutes hatte er schon ausgeblendet. Er hörte, wie Linda hinter ihm tief Luft holte und ging dann weiter.

Die Frau lag blutüberströmt auf dem Bett. Arme und Beine an die Bettpfosten gefesselt. Als wäre sie gekreuzigt worden. Die Nase war ein schwarzer, versengter Klumpen, Fingerkuppen und Zehen lagen abgetrennt auf der blutgetränkten Bettdecke. Am schlimmsten sahen die Oberschenkel aus. Sie waren eine rohe Masse Blut. Große Nägel waren in die Knochen gehämmert, großflächige Hautlappen fein säuberlich über den Bettrahmen gehängt.worden.

Das einzig Intakte an ihrem Körper waren die Augen. Und sie hatten alles gesehen. Selbst im Tod spiegelten sie das Grauen wider. Es war eingebrannt in ihre Pupillen.

Luke nahm das alles in wenigen Augenblicken wahr. Es war viel schlimmer, als er erwartet hatte. Und er hatte schon üble Sachen gesehen. Linda griff nach seiner Schulter und hielt sich fest. Sie war hart im Nehmen, härter als er selber. Aber das hier war die reine Hölle. Der Schauplatz eines Dämons. Ein Albraum in Wirklichkeit.

Der Polizeifotograf knipste und knipste. Unablässig. Sein blasses Gesicht versteckte sich hinter dem Objektiv. Nur nicht aufhören. Immer weiter Fotos schießen.

Ich habe dich gewarnt, Schlampe, stand in roten Lettern an der weißen Wand über dem Bett.

Beide Fußknöchel waren zerdrückt. Als wären sie mit einer Schraubpresse bearbeitet worden. Die kleinen hängenden Brüste waren von unten hochgeklebt und standen bizarr zu Berge. Das rechte Ohr fehlte ganz, das linke war mehrmals eingeschnitten. Das Bettlaken war ein Meer aus getrocknetem Blut und Exkrementen.

Vor dem rechten Bettpfosten war die Pfütze aus Erbrochenem. Immerhin hatte kein anderer Polizist den Tatort weiter verunreinigt. Luke schloss die Augen, knetete sich die Glatze und drehte sich um.

»War der Gerichtsmediziner schon hier?«

Linda schüttelte den Kopf. Ihr Blick war starr auf den Boden gerichtet. Er griff ihren rechten Oberarm und deutete auf den Flur.

»Lass uns für einen Moment in die Küche gehen.«

Sie nickte und drehte sich um. Wortlos gingen sie den Flur zurück, durchquerten die Küche und blieben vor dem großen Fenster stehen. Der Kollege von der Spurensicherung war immer noch mit der Arbeitsfläche beschäftigt. Die Wohnung war viel zu still.

»Erzähl mir was von der Frau. Wie heißt sie?« Luke sah in den Innenhof. Es war eine graue Betonwüste. Verrostete Wäscheständer stützten vergammelte Leinen, Plastikmüll und Tüten lagen verstreut herum, ein platter Ball zeugte von besseren Zeiten.

Diese Wohnanlage konnte wahrlich nicht als gepflegt bezeichnet werden.

»Anna Kasinski. 39 Jahre alt, eine Tochter, 22 Jahre.«

»Ist sie schon informiert?«

Sie runzelte die Stirn. »Nein, noch nicht.«

»Das mache ich.« Er verschränkte die Arme. »Beruf?«

»Krankenschwester. Auf der Intensivstation. Die Tochter studiert Medizin. Hier in Köln.«

»Irgendwelche Einträge?«

Linda nahm ihren Notizblock zur Hand. »Anna Kasinski war vor vier Wochen im Hauptpräsidium wegen eines Stalkers.«

Er sah sie an. »Meinst du das ernst?« Sie nickte. »Igor Krasnic. Facharzt für innere Medizin. Nach einer Klinikfeier landeten die beiden im Bett. Für Anna ein One-Night-Stand, für ihn nicht. Seitdem hatte sie keine Ruhe mehr. SMS, E-Mails, Anrufe, plötzliche Besuche, das volle Programm. Als sie es nicht mehr aushielt, ging sie ins Präsidium und erstatte Anzeige.«

»Die ihr geraten haben, sich an den Opferschutzbeauftragten zu wenden?«

Sie nickte.

»Das müssen wir überprüfen. Ihn kannst du schon mal zur Vernehmung holen lassen.«

»Schon geschehen.«

»Gut!« Er holte tief Luft und sah sie ernst an. »Dann gehen wir jetzt wieder rein. Bereit?«

Ihr Gesicht hatte wieder minimal Farbe. »Nein, dafür werde ich nie bereit sein. Nicht für so was. Aber ich schaffe das.«

»Okay.« Mit einem Ruck drehte er sich um. »Dann los!«

Sie betraten erneut das Schlafzimmer. Luke fühlte, wie der Anblick der Frau neue Schockwellen durch seine Synapsen schickte. Aber sie waren schon deutlich schwächer. Und wichen schließlich seinem klinischen Blick. Er war hier, um ein Verbrechen aufzuklären. Dazu musste er hinsehen. Die Augen aufmachen. Den Täter fühlen, den Hergang rekonstruieren. Es war wie ein Schalter in seinem Kopf. Er war Ermittler.

Er verschränkte die Arme und blieb neben der Tür stehen. Sein Schutzkittel knisterte, seine blauen Überschuhe raschelten und seine Handschuhe klebten vor Schweiß. Doch darum ging es nicht. Jetzt ging es um den Täter. Wo war er gewesen?

Die schweren Nägel in den Oberschenkel und Schienbeinen waren von rechts eingeschlagen worden. Der Mann hatte vor dem Fenster gestanden, seitlich hinter dem Bett. Er wird sich mit einem Knie auf dem Bett abgestützt haben. Das linke Ohr fehlte, das rechte nicht. Es war mehrmals eingeschnitten aber nicht abgetrennt worden.

Warum?

Das rechte Bein war längs gehäutet worden, mit einer Tendenz nach innen.

Als hätte der Täter die ganze Zeit rechts neben dem Bett gestanden.

Luke ging langsam vorwärts. Neben dem Bett blieb er stehen. Hier wird der Täter gestanden haben. Er blickte umher. Genau gegenüber war die Frisierkommode. Neben dem Kleiderschrank und den beiden Nachttischchen das einzige Möbelstück im Raum. Der Kleiderschrank umfasste die gesamte Zimmerbreite und ging vom Boden bis zur Decke. Mit einem Abstand von einem Meter zum Bettende. Die beiden Nachttische waren kleine Regale, die rechts und links neben dem Kopfende hingen. Zwei Bilder, ein Wecker und vier Bücher. Liebesromane.

Die Frisierkommode war im tadellosen Zustand. Ein Handspiegel stand auf der Arbeitsfläche, eine Schatulle mit Ohrringen daneben und zwei Cajalstifte davor. Alles andere musste in den Schubladen sein.

Er ging wieder zurück, stellte sich vor die Kommode und ging langsam in die Hocke. Bis seine Augen genau auf Höhe der Arbeitsplatte waren. Die Kommode war völlig staubfrei, das Holz vor Kurzem geölt worden und der Lack erneuert. Anna Kasinski wird diese Kommode geliebt haben.

Um so verwunderlicher war das kleine schwarze Plastikteil am hinteren Rand der Fläche. Er drückte seinen Schutzkittel gegen die Brust und beugte sich vorsichtig über die Platte. Es war ein kleiner keilförmiger Plastiksplitter, offensichtlich herausgebrochen.

Luke war sich völlig sicher, dass dieser Splitter vom Täter war. Er musste irgendetwas mitgebracht haben, auf die Kommode gestellt haben und dabei diesen Splitter abgebrochen haben.

Er rief Linda und den Kollegen der Spurensicherung herbei und zeigte ihnen den Fund. Was hatte hier gestanden? Er drehte sich um und sah in den Raum hinein. Das Bett lag direkt vor ihnen, rechts der Kleiderschrank, am Raumende das Fenster. Das nachts mit Jalousien verdunkelt war.

»Eine Kamera!« Linda war neben ihn getreten und erfasste als Erste die perfekte Perspektive. »Er hat eine Kamera mitgebracht. Und auf die Kommode gestellt. Mit einem Stativ oder so. Und hat dabei was abgebrochen.«

Luke nickte langsam. Das machte Sinn. »Ja, das würde auch erklären, warum er die ganze Zeit rechts neben dem Bett geblieben war. Er wollte die Sicht nicht blockieren.«

»Perverses Schwein!« Linda sprach aus, was sie alle dachten. »Damit will er sich aufgeilen. Immer und immer wieder.«

»Vermutlich!« Luke strich sich über den Bart. »Aber fällt dir was auf?« Er deutete auf die blutigen Hautlappen über dem Bettgestell. »Unser Mann hat auf die richtige Inszenierung geachtet. Kontrolliert. Wie ein Regisseur. Als hätte er ein Publikum gehabt.«

Sie sah ihn entsetzt an. »Du meinst, es haben andere zugeschaut?«

Er drehte sich um. »Ja, das wäre möglich. Das habe ich zwar nicht gemeint, aber das wäre tatsächlich möglich. Das müssen wir mit der IT besprechen.«

»Und die Botschaft? Hört sich nicht sehr kontrolliert an.« Linda deutete auf die blutigen Buchstaben an der weißen Wand.

»Ja, die Botschaft.« Luke folgte ihrem Finger. »Passt irgendwie nicht ins Bild. Hat mich von Anfang an gestört.«

»Wenn wir mit der Kamera richtig liegen.«

»Und mit dem Publikum.«

»Ja«, stimmte sie zu. »Und mit dem Publikum.«

Er seufzte. »Na gut.« Vom Hausflur hörten sie die dröhnenden Schritte des Gerichtsmediziners. »Lassen wir dem Doc seine Arbeit machen. Wir müssen mit der Tochter reden. Weißt du, wo sie ist?«

»Es sind Semesterferien. Wir sollten es erst mal bei ihr zu Hause probieren. Sie wohnt in Klettenberg, in einer WG. Nicht weit von hier.«

»Okay. Dann mal los!« Luke warf einen letzten Blick ins Zimmer. Diesen Tatort würde er nie vergessen.

»Nicht schön, nicht schön.« Dr. Aaron Schmidt stand im Türrahmen und versperrte ihnen den Weg nach draußen. Der Gerichtsmediziner stand kurz vor der Rente, hatte schlohweißes Haar, eine altmodische Brille und keine Augenbrauen. Das irritierte Luke jedes Mal, wenn er ihn traf.

»Wirklich nicht schön«, brummelte der Doktor erneut. In seiner rechten Hand trug er eine altmodische schwarze Arzttasche, sein weißer Kittel war wie immer glattgebügelt.

»Sind sie hier fertig?« Mit der Brille auf der Nasespitze sah er die beiden Kommissare über den oberen Rand der Brille hinweg an. Jetzt kamen seine fehlenden Augenbrauen erst recht zur Geltung.

Luke nickte. »Fürs Erste, Doktor, fürs Erste. Machen sie ihre Arbeit! Wir lassen sie in Ruhe.«

»Fein.« Er trat einen Schritt vor, stellte die Arzttasche auf den Boden und holte das erste Paar Handschuhe heraus. »Dann mal ans Werk.« Der Doktor arbeitete am besten, wenn man ihn völlig in Ruhe ließ. Das hatte Luke von Anfang an respektiert. Kollegen, die ihn bei der Untersuchung bedrängten, bekamen echte Probleme. Auch wenn der Doktor eher wie ein friedlicher Hausarzt aussah, würde er selbst den Polizeipräsidenten in Grund und Boden stampfen, wenn dieser ihn bei der Arbeit stören würde. Was er auch schon getan hatte. Die Schimpftirade war bis in den nächsten Stadtteil zu hören gewesen.

Luke warf einen letzten Blick auf die glücklichen Bilder im Flur, ehe er Linda folgte. Das Gespräch mit der Tochter würde hart werden. Besonders wenn er bedachte, dass sie ihre Mutter nicht noch mal sehen konnte. Diesen Anblick konnte er auf keinen Fall ermöglichen.

Sie sollte ihre Mutter so in Erinnerung behalten, wie sie auf den Bildern waren: glücklich.

4. Kapitel

Luke drückte auf den Knopf der Kaffeemaschine und hörte, wie das Wasser durch die Kapsel rauschte. Das schwarze Lebenselixier tropfte in die bereitgestellte Tasse. Das Gespräch mit der Tochter war sehr schwierig gewesen. Immerhin hatten sie sie noch im Studentenwohnheim angetroffen. Ein schmuckloser weißer Kasten, dessen Klingelbrett größer war als sein Flachbildfernseher. Mit überraschend komfortablen Zimmern. Jedes mit eigenem kleinen Bad. Gemeinschaftsküche.

Die Tochter brach zusammen, als sie ihr die Nachricht überbrachten. Und beschuldigte sofort den Stalker ihrer Mutter. Dr. Krasnic.

Luke drehte sich um und sah auf den breiten Monitor am Ende des Raumes. Selbst aus dieser Entfernung konnte er den verkniffenen Mund des Arztes sehen. Beginnende Glatze, Brille, glatt rasiert, das Gesicht leicht aufgeschwemmt. Tabletten, vermutete Luke. Ärzte nahmen häufig Tabletten.

Der Monitor stand auf einem breiten Schreibtisch und zeigte das Kamerabild im Verhörraum. Es wurde alles aufgezeichnet. Linda stand neben dem Schreibtisch und sprach mit dem Techniker. Es gab noch ein Problem mit der zweiten Kamera. Sobald alles geklärt war, konnten sie starten.

Der Arzt war inzwischen zu ihrem Hauptverdächtigen mutiert. Die Tochter hatte ihnen die Zugangsdaten zum E-Mail-Account ihrer Mutter gegeben. Und sie waren fündig geworden. Anna Kasinski hatte alle Stalkingmails gespeichert. Es waren unendlich viele. Gefühlt Tausende. Sie hatten die ersten zwanzig geöffnet. In jeder Nachricht gab es eine konkrete Drohung. Er käme nachts zu ihr, unerwartet, würde sie kriegen, es ihr heimzahlen, Schmerzen zufügen und so weiter. Einige E-Mails waren mitten in der Nacht geschrieben und völlig konfus. Als wäre der Absender sturzbetrunken.