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Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! SPIEGEL-Bestsellerautorin Eva Völler mit ihrem persönlichsten Roman Ein dunkles Familiengeheimnis auf Borkum, ein Trauma, das Familien über Generationen hinweg beeinflusst und eine große Liebe: Bestseller-Autorin Eva Völler erzählt einen bewegenden Familiengeheimnis-Roman und verbindet Spannung mit einer großen Liebe, die dunklen Geheimnissen trotzt. Es soll der persönlichste Artikel ihres Lebens werden – beharrlich verfolgt die Journalistin Hanna ihren Plan, über die traumatischen Erfahrungen früherer Verschickungskinder auf Borkum zu berichten, denn auch ihre Mutter hat dort bei einer solchen Kinderkur einst Schlimmes erlebt. Doch vor Ort erhebt sich Widerstand, als Hanna die damaligen Missstände aufdecken will. Nur der Inselarzt Ole steht ihr bei ihren Nachforschungen zur Seite, beide verlieben sich Hals über Kopf. Dann wird Hanna das alte Tagebuch einer ehemaligen Kinderbetreuerin zugespielt, aus dem sich Hinweise auf ein vertuschtes Verbrechen ergeben. Dabei gerät Hanna in ein verstörendes Dilemma, denn nach und nach zeichnet sich ab, dass in Oles Familie ein schreckliches Geheimnis gehütet wird ... Eindringlich, erschütternd, hoffnungsvoll: Zeitgeschichte trifft auf eine wunderschöne Liebesgeschichte Mit viel Empathie für ihre Figuren holt Eva Völler ein lange verdrängtes Kapitel der Geschichte der Nachkriegszeit ans Licht und zeigt, dass manchmal erst der Blick in die Vergangenheit hilft, das Leben zu leben, das man sich wünscht. Ihr Familienroman ist dabei ebenso sorgfältig recherchiert wie persönlich: Auch Familienmitglieder der Bestseller-Autorin waren von der Verschickung betroffen. Entdecken Sie auch Eva Völlers andere SPIEGEL-Bestseller bei Droemer: - Helle Tage, dunkle Schuld - Alte Taten, neuer Zorn
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Seitenzahl: 499
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eva Völler
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Es soll der persönlichste Artikel ihres Lebens werden – beharrlich verfolgt die Journalistin Hanna ihren Plan, über die traumatischen Erfahrungen früherer Verschickungskinder auf Borkum zu berichten, denn auch ihre Mutter hat dort bei einer solchen Kinderkur einst Schlimmes erlebt. Doch vor Ort erhebt sich Widerstand, als Hanna die damaligen Missstände aufdecken will. Nur der Inselarzt Ole steht ihr bei ihren Nachforschungen zur Seite, beide verlieben sich Hals über Kopf. Dann wird Hanna das alte Tagebuch einer ehemaligen Kinderbetreuerin zugespielt, aus dem sich Hinweise auf ein vertuschtes Verbrechen ergeben. Dabei gerät Hanna in ein verstörendes Dilemma, denn nach und nach zeichnet sich ab, dass in Oles Familie ein schreckliches Geheimnis gehütet wird …
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MOTTO
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PROLOG
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IN DER WOCHE DANACH
EPILOG
NACHWORT
Für meinen Bruder, der Nummer 16 war.
Für meine Schwester, die zu klein war, um sich zu erinnern.
Wenn du dich diesem Orte näherst, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.(Annette von Droste-Hülshoff)
Triggerwarnung: Der vorliegende Roman enthält Beschreibungen von bestimmten Zuständen in früheren Kindererholungsheimen, durch die ehemalige Verschickungskinder retraumatisiert werden könnten.
Manchmal, wenn sie mit den Nerven am Ende war, marschierte sie einfach los, mit wehenden Haaren und keuchendem Atem, geradewegs hinaus ins Watt. Dort wanderte sie immer weiter, so lange, bis ihr ein allzu tiefer Wasserlauf im Weg war oder sie stehen bleiben musste, weil ihr die Puste ausging. Spätestens dann wurde es Zeit, umzukehren. Sie wusste genau, wie gefährlich es hier draußen war, auch wenn der Gezeitenkalender einem sagte, wann die nächste Flut kam.
Doch sie brauchte diese endlose Leere vor sich, die vollständige Einsamkeit. Kein Mensch sollte in ihrer Nähe sein, wenn sie das tat, wonach es sie mit solcher Macht verlangte: laut schreien, damit all das Böse, das sie tief in ihrem Inneren verwahren musste, wenigstens vorübergehend herauskonnte.
Und so stand sie inmitten der bleifarbenen, gewellten Ebene aus Sand und Schlick und schrie sich die Seele aus dem Leib, bis ihr die Stimme brach und endlich wieder so etwas wie Frieden in ihr einkehrte, auch wenn es nur zeitweilig war. Dann konnte sie zurückstapfen, mit schweren Füßen, über diesen nachgiebigen Boden, der es darauf anzulegen schien, sie hinabzusaugen.
Wenn man nicht genau hinsah, gewann man den Eindruck, über Wasser zu schreiten, über das vom Wind gekräuselte Meer, das seinen Abdruck auf dem Untergrund hinterlassen hatte. Zwischendurch bemerkte man Mengen in sich verschlungener Sandhäufchen, die zahllose Strandwürmer aus ihren Höhlen geschoben hatten. An manchen Stellen war die gerillte Ebene mit Muscheln übersät, an anderen wuchsen Seegras und Blasentang. Aufpassen musste man dort, wo der Boden eine schwärzliche Färbung aufwies, da konnte man für immer versinken.
Es gab Tage, da kehrte sie nicht schnell genug um, dann füllten sich die Priele rasant, und plötzlich war das steigende Wasser überall. Ein paarmal hatte sie es nur mit knapper Not auf festen Grund geschafft, und einmal war es fast zu spät gewesen. Ein Fischer hatte sie in letzter Sekunde rausgezogen, und hinterher hatte er sie zum Arzt gebracht. Es war einer der besten Tage ihres Lebens gewesen, und sie wünschte sich, ihn immer und immer wieder neu zu erleben.
Doch das war nur ein völlig verrückter Traum, also riss sie sich zusammen und beschränkte sich auf ihre Ausflüge ins Watt, die wahrscheinlich nicht minder verrückt waren, wenn auch auf eine andere Art.
Trotzdem gab sie die Hoffnung nicht auf, dass die Dinge sich änderten, irgendwann. Sie durfte bloß nicht aufhören, daran zu glauben.
*August, Gegenwart
Hier war ich schon mal. Auf so einem Schiff, auf der Überfahrt nach Borkum.
Hanna blinzelte und versuchte, das Gefühl aus diesem seltsamen Déjà-vu festzuhalten, doch es war so flüchtig wie die Wellen, die sich schäumend vor dem Bug des Schiffes teilten und binnen Augenblicken zerflossen.
Natürlich war sie nicht zum ersten Mal auf einer Fähre, sie hatte schon zu etlichen anderen Inseln übergesetzt. Aber nicht nach Borkum. Als Urlaubsziel war die Insel für Hanna nie in die engere Wahl gekommen. Direktflüge gab es nur von Emden aus, folglich nahm die Anreise entsprechend viel Zeit in Anspruch. Sie und Katie waren am Morgen um kurz nach acht in Frankfurt aufgebrochen, mit dem Zug, weil um diese Jahreszeit das Autofahren auf der Insel fast überall verboten war. Mittlerweile war es drei Uhr nachmittags, und vor ihnen lag immer noch eine gute Stunde auf See.
Wäre es nach Katie gegangen, hätten sie für die Überfahrt ab Emden Außenhafen den Katamaran genommen, der war doppelt so schnell wie die Fähre, nur hätten sie dafür einen happigen Aufpreis berappen müssen, und das sah Hanna nicht ein. Ihren Anteil an den Reisekosten konnte sie als Spesen abrechnen, doch für die Zusatzausgaben musste sie selbst aufkommen. Dass sie ihre Tochter mitnahm, fiel unter Privatvergnügen. Soweit von Vergnügen überhaupt die Rede sein konnte.
Katie hatte sich bis zum letzten Tag gegen diese Reise gesperrt. Am Vorabend hatte Hanna sie nur mühsam bewegen können, wenigstens das Nötigste zu packen, und am Ende hatte sie den meisten Kram eigenhändig in Katies Rucksack gestopft – die Benutzung eines Koffers hatte ihre Tochter rundheraus abgelehnt, das war ihr zu boomermäßig. Zu dem Zeitpunkt hatte Hanna es bereits aufgegeben, mit Katie zu diskutieren. Sie wollte bloß noch ihre Ruhe, und auch Katie hatte keine Lust mehr auf irgendwelche Grundsatzgespräche gehabt – folglich hatten sie einander stundenlang angeschwiegen. Jedenfalls bis zu dem Moment, als Hanna in der Tür stand, fix und fertig zum Ausgehen. Sie wollte mit ein paar guten Freunden und Kollegen in ihren Vierzigsten reinfeiern, das war schon seit Wochen ausgemacht, und natürlich wusste auch Katie davon.
»Du kannst gerne mitkommen«, hatte Hanna angeboten, im vollen Bewusstsein, wie lächerlich das in den Ohren ihrer fast sechzehnjährigen Tochter klingen musste. Katie hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, darauf zu antworten, und Hanna hatte es einfach abgehakt. Danach war sie voller Vorfreude auf einen schönen Abend gewesen – bis Katie dazwischengefunkt hatte.
»Willst du etwa so gehen?«, war es aus ihr herausgeplatzt, und Hanna, schon im Aufbruch begriffen, hatte den Fehler begangen, innezuhalten und verunsichert an sich herabzublicken. Dabei war völlig klar, was Katie meinte. Nicht die engen Jeans und auch nicht die Boots, die hatte Hanna schon öfters getragen, beides hatte bereits Gnade vor den Augen ihrer Tochter gefunden. Aber das Neckholder-Top war neu, und es ließ einen Streifen Bauch überm Hosenbund sehen. Hanna wusste, dass es gut aussah. Sie ging regelmäßig joggen und ins Fitnessstudio und war bestens in Form. Es war nur eine harmlose Handbreit nackter Haut, und draußen war es warm – wo war das Problem? Dennoch hatte sie dicht davorgestanden, in ihr Zimmer zurückzukehren und was anderes anzuziehen. Sehr dicht. Sie hatte diesen Impuls bewusst unterdrücken müssen. Und wäre später nicht ihre gleichaltrige Freundin und Kollegin Helen ebenfalls bauchfrei aufgelaufen, hätte sie sich vermutlich den ganzen Abend über falsch angezogen gefühlt.
Hanna schaute hinüber zu Katie, die sich auf eine der weißen Bänke gefläzt hatte, die langen Beine ausgestreckt und das Handy vor der Nase. Die Welt um sie herum interessierte sie nicht. Weder die grandiose Aussicht noch die übrigen Passagiere, die sich zahlreich am Oberdeck der Fähre tummelten. Und von denen sich nicht gerade wenige ebenfalls auf ihre Handys konzentrierten, wie Hanna bei genauerem Hinsehen feststellte. Die unendlich große Welt hinter den Displays bot ihnen mehr Abwechslung als das Meer und der mit Schönwetterwolken getüpfelte Augusthimmel.
Gegen ihren Willen verspürte Hanna den Drang, ihr eigenes Handy herauszuholen. Nur mal kurz die Tagesnachrichten checken. Und die Mails. Schließlich war das hier für sie keine Urlaubsreise, jedenfalls keine richtige. Sie wollte in erster Linie beruflich nach Borkum. Eine traurige Vergangenheit aufarbeiten. Nicht ihre eigene, sondern die von anderen.
Mit einigen Betroffenen stand Hanna in Mailkontakt. Manche von den Älteren schrieben sogar noch richtige Briefe, mit Kuli oder Tinte auf Papier, teilweise mit altmodisch eingedrucktem Absender auf Bogen und Umschlag.
Hanna gab der Versuchung nach und zog ihr Smartphone aus der Hosentasche. Die App auf dem Display zeigte den Eingang einer Mail an, Hanna rief sie auf. Sie stammte von Sabine, der Frau, mit der sie sich für ein weiteres Interview verabredet hatte. Sie war Ende sechzig, nicht viel älter als Hannas Mutter.
Liebe Hanna, schrieb sie. Morgen Nachmittag um drei würde es gut bei mir passen. Herzliche Grüße, Sabine.
Sie waren per Du, auch ohne es vorher abgesprochen zu haben – der Kontakt war über eine Facebook-Gruppe zustande gekommen, in der alle sich duzten.
Hanna tippte eine kurze Antwort: Liebe Sabine, ich freu mich! Werde dich dann morgen pünktlich um 15 Uhr über WhatsApp anrufen! Herzlichst, Hanna.
Bei dem Gedanken an das Telefonat beschlich sie dasselbe mulmige Gefühl wie vor einer Woche, als Sabine ihr das erste Mal geschrieben hatte.
Ich war im August und im September 1963 zur Kinderkur auf Borkum. Das Erholungsheim hieß Villa Aurelia. In einem persönlichen Gespräch kann ich dir mehr über die Zeit erzählen, die ich dort verbracht habe. Ich trage schlimme Erinnerungen mit mir herum, die mich immer noch belasten.
Hanna hatte eine Menge solcher Nachrichten erhalten, Hunderte hatten sich auf ihren Aufruf hin gemeldet, lauter ehemalige Verschickungskinder, so nannte man das früher. Aber ihre Wahl war auf Sabine gefallen, denn sie war zur selben Zeit und im selben Heim auf Borkum gewesen wie Hannas Mutter. August und September 1963, Villa Aurelia. Hannas Mutter war damals fünf Jahre alt gewesen, Sabine sechseinhalb.
Nach Sabines erster Mail hatte Hanna schon einmal persönlich mit ihr gesprochen, per Videochat. Mit Sabines Erlaubnis hatte sie das Gespräch aufgenommen, um später auf O-Töne zurückgreifen zu können. Die Unterhaltung hatte sich bislang eher um die Zeit vor Beginn der Kur gedreht – der Besuch beim Kinderarzt, die Verordnung, das Kofferpacken, die Reise ins Ungewisse. In Sabines Fall auf eine weit entfernte Nordseeinsel, in ein von Dünen eingerahmtes Haus mit Blick auf das weite Meer. Mutterseelenallein, im wahrsten Sinne des Wortes. Eltern-Kind-Kuren gab es damals noch nicht. Die Kinder mussten allein auf diese Reise gehen, auch die kleinen.
Noch bis in die späten Siebzigerjahre hatten die Krankenkassen Kinder im Alter zwischen vier und dreizehn Jahren zur Erholung in dieses Heim geschickt, bevor nach einem Besitzerwechsel der Betrieb eingestellt worden war. Offizielle Unterlagen über die damaligen Betreuungspersonen oder die im Laufe der Jahre dort untergebrachten Kinder existierten nicht mehr. Hannas Anfragen bei Krankenkassen und Behörden waren im Sande verlaufen, keiner fühlte sich nach der langen Zeit noch zuständig, weder für dieses Kinderkurheim noch für andere, von denen es in Westdeutschland zu jener Zeit mindestens achthundertsiebzig gegeben hatte. Inzwischen existierten zwar Interessenverbände ehemaliger Verschickungskinder, sogar mit Kongressen und Bundestagsinitiativen, und es mehrten sich die Stimmen, die eine Aufarbeitung auf breiter Ebene forderten. Trotzdem hielt sich die öffentliche Anteilnahme in Grenzen. Das schien generell für das Thema Verschickungskinder zu gelten, obwohl es Schätzungen zufolge deutschlandweit zwischen acht und zehn Millionen von ihnen gegeben hatte. Oder genauer: immer noch gab, denn die weitaus meisten lebten noch – sie gehörten zu der Generation von Menschen, die von ihren Kindern Boomer genannt wurden, auf diese nachsichtig-mitleidsvolle, manchmal auch entnervte Art, wenn sie wieder mal Probleme mit dem Internet oder mit den Einstellungen an ihrem Smartphone hatten.
Millionen von Menschen teilten eine Kindheitserfahrung, die für viele von ihnen so leidvoll gewesen war, dass es bis ins Rentenalter nachwirkte. So wie bei Hannas Mutter, die sich zwar kaum noch an ihre Kur als kleines Kind erinnerte, es jedoch seither rigoros ablehnte, je wieder einen Fuß auf eine Nordseeinsel zu setzen. Die Recherchepläne ihrer Tochter erfüllten sie mit Skepsis und Besorgnis. Hanna hatte ihr vorsorglich gar nicht erst verraten, dass sie und Katie im selben Gebäude logieren würden, in welchem sich früher das Kurheim befunden hatte.
Auf dem Display von Hannas Handy erschien ein Anruf, sie ging sofort dran. »Hallo, Mama«, sagte sie. »Ich habe gerade an dich gedacht.«
»Bist du deshalb so schnell in der Leitung gewesen?« Die Stimme ihrer Mutter klang erstaunt. »Ich habe überhaupt kein Freizeichen gehört!«
»Zufällig hatte ich gerade aufs Handy geschaut.«
»Mein Schatz, ich wollte dir doch unbedingt noch persönlich zum Geburtstag gratulieren! Meine Güte, vierzig Jahre, ist es zu fassen? Alles, alles Liebe!«
»Danke, Mama.«
»Meine WhatsApp von heute Morgen hast du bekommen? Es waren zwei blaue Häkchen dran, aber weil du nicht geantwortet hast …«
»Ja, habe ich, danke«, sagte Hanna mit schlechtem Gewissen. Sie hatte schon häufig überlegt, die Funktion zu deaktivieren, es war nervtötend, dass andere sofort sehen konnten, ob und wann man online war. Auf der anderen Seite bestand sie selbst darauf, dass Katie die Lesebestätigung anließ, da konnte sie schlecht mit zweierlei Maß messen. »Als deine Nachricht kam, sind wir gerade in den Zug gestiegen, und dann ist es irgendwie untergegangen. Wir mussten mehrmals umsteigen«, fügte sie hinzu, als wäre das eine ausreichende Erklärung.
»Macht nichts«, meinte ihre Mutter. »Jetzt hab ich dich ja am Telefon. Wie fühlt man sich denn so mit vierzig?«
»Auch nicht anders als mit neununddreißig«, behauptete Hanna, obwohl es nicht stimmte. Als sie um Mitternacht mit Helen und den anderen angestoßen hatte, war es ihr für einen Moment wie ein Abgesang auf ihre Jugend erschienen, beinahe so einschneidend wie damals an ihrem Dreißigsten.
»Hattet ihr gestern eine nette Feier?«
»Ja, es war toll, wir hatten viel Spaß.« Das wiederum war die reine Wahrheit, sie hatten bis in die frühen Morgenstunden gelacht, gesungen und getanzt, und am Ende war es Hanna ganz normal vorgekommen, nun eine Frau in mittleren Jahren zu sein. So hatte Helen es aus Jux bezeichnet, und sie hatten sich alle darüber schlappgelacht.
»Hast du mein Geschenk schon ausgepackt?«
»Welches Geschenk?«, fragte Hanna leicht erschrocken. Hatte sie vor ihrem Aufbruch irgendwas übersehen? »Hast du mir was zugeschickt?«
»Ich hab’s an Katie geschickt, sie sollte es dir eigentlich heute Morgen auf deinen Gabentisch legen. Sie hat doch einen Gabentisch für dich hergerichtet, oder? Ich hatte sie gebeten, das zu machen. Mit Kerzen und so. Und mit meinem Päckchen für dich.«
»Äh … ja«, log Hanna. Sie hatte Katie aus dem Bett werfen müssen, weil sie sonst den Zug verpasst hätten, und dass sie heute Geburtstag hatte, war ihrer Tochter erst im Taxi wieder eingefallen. Gefolgt von einer flüchtigen Umarmung und reuevoller Zerknirschung. »Oops, dein Geschenk hab ich zu Hause vergessen, ist das schlimm?«
»Wir waren heute Morgen unheimlich in Eile«, erklärte Hanna ihrer Mutter. »Zum Geschenkeauspacken bin ich noch gar nicht gekommen.«
»Aber mein Päckchen lag schon da, oder?«
»Ich hab’s nicht gesehen«, räumte Hanna ein.
»Vielleicht hängt es noch irgendwo auf dem Postweg fest«, meinte ihre Mutter.
»Ja, kann sein«, stimmte Hanna wider besseres Wissen zu. »Es taucht garantiert noch auf.« Spätestens in zwei Wochen, wenn sie wieder nach Hause kam. »Jedenfalls schon mal vielen Dank im Voraus, Mama!«
»Gern geschehen.«
Hanna seufzte im Stillen. Dieser Dialog war an Absurdität kaum zu überbieten. Anscheinend waren weder sie noch ihre Mutter in der Lage, laut auszusprechen, dass Katie es vergeigt hatte. Stattdessen einigten sie sich stillschweigend darauf, so zu tun, als hätte die Post geschlampt, obwohl sie es beide besser wussten.
»Was ist es denn?«, erkundigte sie sich. »Also dein Geschenk.«
»Das möchte ich dir lieber nicht verraten, es soll ja eine Überraschung sein. Der Vierzigste ist doch was Besonderes!«
Hanna biss die Zähne zusammen und zwang sich, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen.
»Seid ihr schon angekommen?«, fragte ihre Mutter.
»Nein, wir sind noch auf dem Schiff.«
»Habt ihr viel Seegang?«
»Kein bisschen, hier hat noch niemand über die Reling gereihert.«
Ihre Mutter sog plötzlich scharf die Luft ein.
»Was ist, Mama?«
»Mir ist gerade was eingefallen. Von damals.«
»Was denn?«, fragte Hanna beunruhigt.
»Wie es auf dem Schiff war. Mir war furchtbar schlecht, ich hab die ganze Zeit gebrochen, und jemand hat deswegen mit mir geschimpft. Ich musste allein in einer Ecke sitzen und mich in eine Schüssel übergeben. Die anderen Kinder haben mich ausgelacht. Ich habe geweint, aber niemand hat sich um mich gekümmert.«
»Oh, Mama, das tut mir so leid«, sagte Hanna, erfüllt von hilflosem Mitleid mit dem fünfjährigen Kind, das ihre Mutter damals gewesen war. Der einzige Trost hatte bisher darin bestanden, dass es so gut wie keine Erinnerungen an jenen Kuraufenthalt gab. Nur einzelne Fetzen, garniert mit den Erzählungen von Hannas Großmutter, die zu ihren Lebzeiten immer wieder davon angefangen hatte. Sie hatte sich nie damit abfinden können, was man ihrem kleinen Mädchen auf Borkum angetan hatte, obwohl sie selbst gar nicht wirklich wusste, was da passiert war. Sie hatte nur Rückschlüsse ziehen können. Daraus, dass ihr vorher so fröhliches und verspieltes Töchterchen plötzlich wieder ins Bett machte und schreiend aus Albträumen hochschreckte. Sich regelmäßig irgendwo verkroch und in Tränen ausbrach, wenn man es aufforderte, den Teller leer zu essen.
»Mach dir keine Gedanken, Schätzchen«, meinte ihre Mutter. »Ist ja alles schon sehr lange her. Vielleicht ist es sowieso besser, diese alten Geschichten auf sich beruhen zu lassen.«
Nein, das war nicht besser. Im Gegenteil. Aber Hanna scheute sich, das ihrer Mutter gegenüber zu begründen, sie wollte sie nicht unnötig mit dem Thema belasten.
»Wie geht es Katie?«, kam es betont fröhlich aus der Leitung. »Ist bei ihr auch alles klar?«
Hanna sah zu ihrer Tochter hinüber. Katie hatte ihren Platz auf der Bank geräumt und war an die Reling getreten, ausnahmsweise ohne Smartphone in der Hand. Sogar die sonst ebenso allgegenwärtigen AirPods hatte sie aus den Ohren genommen und weggesteckt. Sie blickte versonnen in die Ferne.
»Ihr geht’s prima«, meinte Hanna aufs Geratewohl.
»Hat sie sich damit abgefunden, dass sie nach Borkum mitfahren muss? Du weißt ja, sie hätte für die letzten zwei Ferienwochen auch gern zu mir nach Wernigerode …«
»Ja, Mama, das war lieb von dir, aber sie wollte nicht«, fiel Hanna ihrer Mutter ins Wort. Der Harz belegte auf Katies Liste aller infrage kommenden Urlaubsziele definitiv den letzten Platz. Wenn es nach ihrer Tochter gegangen wäre, hätte sie den Rest der Sommerferien mit ihrer besten Freundin Bella verbracht. Dagegen war im Grunde nichts einzuwenden, Hanna hatte zuerst auch zugestimmt – bis sich herausgestellt hatte, dass Bellas Eltern im fraglichen Zeitraum mit dem Wohnmobil durch Europa touren wollten. Ohne Bella. Die hatte keine Lust auf Camping und durfte allein zu Hause bleiben, bloß ihre Tante würde ab und zu vorbeischauen. Aus Katies Sicht hätte es super gepasst, die zwei Wochen gemeinsam mit Bella abzuhängen, deren Eltern waren auch damit einverstanden. Nicht jedoch Hanna. Vor ihrem inneren Auge war sofort ein Horrorfilm abgelaufen, mit lauter Schreckensszenarien über all das, was zwei sechzehnjährige Mädchen ohne Aufsicht innerhalb von vierzehn Tagen anstellen konnten.
Sie hatte Katies Wutausbruch standgehalten, auch wenn es sie eine Menge Kraft gekostet hatte, und sie rechnete es Alex hoch an, dass er ihr bei diesem Zwist zur Seite gestanden hatte. Als Vater hielt er sich sonst meist ziemlich im Hintergrund, aber wenn es um wichtige Entscheidungen ging, konnte sie immer auf ihn zählen. Letztlich war er derjenige gewesen, der es geschafft hatte, Katie umzustimmen. Vermutlich hatte er ihr dafür irgendwas versprochen, das gehörte zu seinem väterlichen Repertoire, ebenso wie sein niemals versiegender Charme, mit dem er schon so manches Erziehungsproblem gelöst hatte.
Es war Hanna völlig egal, wie er es diesmal hinbekommen hatte – sie wollte bloß in Ruhe ihr Material sammeln und sich nebenher so gut wie möglich von dem ganzen Alltagsstress der letzten Monate erholen. Zusammen mit Katie. Ein Mutter-Tochter-Team, endlich mal wieder. Jedenfalls war das der Plan.
Die Sommersonne stach vom Himmel und gleißte auf dem Wasser, das sich in einer unendlichen, von Wellen bewegten Fläche bis zum Horizont erstreckte. Obwohl die Fahrt über zwei Stunden dauerte, war immer irgendwo Land zu sehen – anfangs die kilometerlangen Deichanlagen der Emsmündung, später die holländischen Küstenstreifen mit ganzen Wäldern von Windrädern. Und schließlich direkt voraus ihr Reiseziel Borkum. Mittlerweile war es fast vier Uhr nachmittags, in gut zehn Minuten würden sie anlegen.
Hanna beendete das Telefonat mit ihrer Mutter, ging rüber zu Katie und stellte sich neben sie an die Reling. »Alles gut, Schätzchen? Schon ein bisschen Urlaubsfeeling?«
Katie nickte stumm, aber ihr Gesichtsausdruck signalisierte nicht gerade begeisterte Vorfreude. Hanna unterdrückte ein Seufzen und beschloss, das Beste daraus zu machen.
Vom Anleger aus waren es nur ein paar Schritte bis zur Inselbahn, die schon zur Abfahrt bereitstand, ein kleiner Zug aus nostalgisch anmutenden, pastellbunten Waggons, die sich rasch mit Touristen füllten. Es war Hochsaison, die Urlaubsgäste strömten täglich in Scharen auf die Insel. Manche wollten länger bleiben und ihren Jahresurlaub hier verbringen, andere, deren Anreise kürzer war, kamen nur übers Wochenende. Man sah es am Umfang des jeweiligen Gepäcks, das sich überall zwischen und vor den Sitzbänken staute.
Die Fahrt ins Zentrum der Insel dauerte nicht lange, es waren nur wenige Kilometer. Die Schienen führten durch unbewohntes Gelände, vorbei an dichten Hecken, Marschwiesen und Waldstrichen. Dieser Teil Borkums, so viel wusste Hanna bereits aus ihren bisherigen Recherchen, war Naturschutzgebiet. Oder genauer: Weltnaturerbe, vor allem das Wattenmeer, das sich weit in Richtung Festland erstreckte.
Eine Wattwanderung gehörte zu den Freizeitaktivitäten, die auf Hannas To-do-Liste standen. Die ansonsten nicht sehr lang war, denn hier auf Borkum hatte sie in erster Linie das vor, was sie immer machte, wenn sie beruflich unterwegs war: schreiben. Sei es in Form von Notizen, Memos oder einfach Drauflosformulieren von Textpassagen, wenn ihr gerade die richtigen Inspirationen in den Sinn kamen. Darüber konnte sie nur allzu leicht die Zeit vergessen. Und auch alles andere. Grund genug, jeden Tag ganz bewusst ein paar Stunden für Katie zu blocken. Auf der Insel gab es ein umfangreiches Freizeitangebot, und Hanna wollte alles daransetzen, dass ihre Tochter während der restlichen Sommerferien auf ihre Kosten kam.
Sie hatten den Inselbahnhof erreicht, doch statt sanft abzubremsen, kam die Kleinbahn mit einem heftigen Ruck zum Stillstand. Gepäckstücke polterten durch den Gang, und Hanna wurde beinahe aus ihrem Sitz geschleudert. Reflexartig streckte sie den Arm zur Seite aus, um Katie festzuhalten, der Instinkt einer Mutter. Katie schob ihre Hand weg, sie war bestens in der Lage, sich selbst zu fangen und dabei gleichzeitig ihren Rucksack vorm Wegrutschen zu bewahren.
Um sie herum erhoben sich Schreie, und draußen vor der kleinen Lok entstand ein Tumult.
»Oh, mein Gott, da ist einer vor die Bahn gelaufen!«, rief jemand im vorderen Teil des Waggons.
Die Fahrgäste drängten unter entsetzten Ausrufen ins Freie, teils mit, teils ohne Gepäck. Katie schulterte ihren Rucksack und stürmte ebenfalls hinaus auf den Bahnsteig, wo sich bereits ein Menschenauflauf gebildet hatte. Hanna rannte hinterher, voller Sorge, was Katie womöglich zu sehen bekam. Ihre behütet aufgewachsene Tochter, deren Erfahrungen mit Blut und Tod durchweg aus irgendwelchen Serien oder Filmen stammten, die sie bei Netflix und Co. streamte! Hanna musste tief durchatmen und sich klarmachen, dass sie überreagierte. Wieder mal. Katie wurde in ein paar Tagen sechzehn, und sie hatte ihr Betriebspraktikum im Rettungsdienst absolviert, inklusive eines umfangreichen Erste-Hilfe-Kurses. Was vermutlich auch der Grund war, wieso sie derartig überstürzt zur Unfallstelle lief: Sie wollte helfen. Den Rucksack hatte sie auf halbem Weg fallen lassen und schob sich an den Umstehenden vorbei.
Hanna folgte ihr mit zitternden Knien und warf einen vorsichtigen Blick über die Köpfe und Schultern der Leute hinweg, die sich rings um den vorderen Teil der Lok drängten. Da war kein zerquetschter Körper, kein im Tod verkrümmtes Unfallopfer. Nur ein restlos demoliertes Kinderfahrrad. Und daneben eine Frau, die in heller Aufregung einen kleinen Jungen ausschimpfte. Er schaute ein wenig belämmert drein, aber um seinen Mund huschte ein verstohlenes Grinsen, als seine Mutter vor ihm auf die Knie fiel und ihn in ihre Arme riss. Ihr Schimpfen war nahtlos in einen Tränenausbruch übergegangen. Hanna holte tief Luft. Da war wohl ein Schutzengel am Werk gewesen!
»Verflucht, lasst mich durch!«, rief jemand hinter ihr. In der nächsten Sekunde wurde sie hart zur Seite gerempelt. Ein Mann preschte an ihr vorbei. Als er sah, dass niemand zu Schaden gekommen war, sackten seine Schultern herab, er war sichtlich erleichtert.
»Nicht dein Ernst«, sagte er zu der Frau. »Schon wieder? Waren wir uns nicht einig, dass er das Fahrradfahren woanders übt?« Er sprach Hochdeutsch, aber der Klang seiner Stimme war vom inseltypischen Dialekt gefärbt.
»Aber er kann’s doch schon!«, widersprach die Frau. Kleinlaut fügte sie hinzu: »Er ist einfach schon so schnell!« Sie fing erneut an zu weinen. »Gott im Himmel, das war so knapp!«
Der Mann beugte sich zu dem Kleinen hinunter. »Tut dir was weh, Theo?«
Der Junge nickte und zeigte auf sein rechtes Knie, wo ein großes Pflaster klebte.
»Ich weiß, aber das ist von deinem letzten Sturz. Das haben wir ja letzte Woche schön zugenäht. Ich meine, ob dir was Neues wehtut.«
Theo überlegte und nickte erneut.
»Wo denn?«
Theo lächelte und zeigte abermals auf sein Knie.
Der Mann richtete sich auf und tätschelte dem kleinen Jungen die Schulter. »Das wird wieder.« Er wandte sich an die Mutter des Kindes, die mit reumütiger Miene die Schultern hob.
»Kommt nicht wieder vor«, beteuerte sie. Gleich darauf klaubte sie das zerbeulte Rädchen auf und bückte sich dann nach ihrem eigenen Fahrrad, das sie vorhin im Moment der größten Gefahr achtlos fallen gelassen haben musste.. Sie zurrte dem Kleinen den leuchtend bunten Fahrradhelm zurecht und erklärte ihm, dass für den Rest der Woche Feuerwehrmann Sam gestrichen war.
Die Menschenmenge hatte sich bereits zerstreut, die Leute sammelten ihre Koffer und Taschen ein und machten sich auf den Weg zu ihren Hotels. Hanna blickte sich nach Katie um, die das Ende der Unterhaltung nicht abgewartet hatte. Sie stand ein Stück weit entfernt vor einem Fahrradverleih und studierte das vorhandene Angebot.
Der Mann, der Hanna vorhin so rüde aus dem Weg gestoßen hatte, wandte sich zu ihr um.
»Tut mir wirklich leid«, sagte er. »Das war eben ein ziemlich rücksichtsloser Schubser.«
Sie schaute ihm zum ersten Mal ins Gesicht und hatte zwei oder drei Herzschläge lang ein so intensives Déjà-vu, dass sie bis zur Regungslosigkeit erstarrte. Auf einer entfernten Ebene wusste sie, dass es unmöglich war, und dennoch war sie bis in die Tiefen ihres Seins davon überzeugt, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben.
Den bedauernden Ton in seiner Stimme nahm sie dabei gar nicht richtig wahr, und auch die athletische Gestalt, die markanten Gesichtszüge und das kurz geschnittene brünette Haar waren in diesem Moment nur belanglose Details seiner Erscheinung.
Es waren die Augen, die ihren Blick auf eine beinahe magnetische Weise festhielten. Der Farbton seiner Iris, die sie an geschmolzenes Silber erinnerte. Diese Augen – sie waren ihr vertraut!
Einen Atemzug später war der seltsame Bann gebrochen. Hanna lächelte verunsichert. »Schon gut«, sagte sie. »Ein kleiner Rempler hat noch keinem geschadet. Ich hätte ja auch nicht im Weg herumstehen müssen. Rettungsgasse statt gaffen, Sie wissen schon.«
Er erwiderte ihr Lächeln, was sein Gesicht auf erstaunliche Weise veränderte. Seine kantigen Züge bekamen etwas Jungenhaftes, obwohl er bestimmt ein paar Jahre älter war als sie. »Sind Sie zum ersten Mal auf der Insel?«, fragte er.
»Ja, zusammen mit meiner Tochter.« Erneut sah sie sich nach Katie um, die indessen keine Anstalten machte, rüberzukommen. Sie hatte zwischenzeitlich ihren Rucksack aufgehoben und war vom Fahrradverleih aus über die Straße gegangen, zu einem Buchladen, wo sie die Auslagen sichtete. So war sie schon immer gewesen – unbezähmbar neugierig und ständig darauf aus, ihre Umgebung zu erkunden.
»Ist sie das?«, fragte er. »Dahinten, das große blonde Mädchen mit dem Pferdeschwanz?«
»Ja, das ist Katie«, sagte Hanna, von einem albernen Stolz auf ihre wunderschöne Tochter erfüllt.
»Das erkennt man sofort«, meinte er. »Sieht aus wie Ihr Ebenbild.«
Hanna kommentierte das nicht weiter. Die Leute behaupteten andauernd, Katie sei ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, doch Hanna wusste, wie oberflächlich diese Sichtweise war. Sie mochten ähnliche Gesichtszüge und den gleichen hochgewachsenen Körperbau haben, aber dieser unschuldsvolle Glanz der Jugend, das breite, herrlich mitreißende Lachen, die leuchtenden, von dunklen Wimpernkränzen umrahmten Bernsteinaugen – all das war so einzigartig und unverwechselbar, dass nichts auf der Welt dem gleichkam. Am wenigsten sie selbst, die sich manchmal, wenn sie ihr Kind betrachtete, uralt vorkam, wie jemand, der das Beste vom Leben hinter sich hatte.
»Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit.« Unvermittelt streckte der Mann ihr seine Hand hin und stellte sich vor. »Ole Vandenberg.«
Leicht überrumpelt erwiderte sie seinen Händedruck. »Hanna Lorenz.«
»Kann ich Ihnen mit dem Gepäck behilflich sein? In welchem Hotel wohnen Sie? Oder haben Sie eine Ferienwohnung?«
»Oh, ich …« Verlegen sah sie zu ihrem Trolley hinüber, der verlassen neben den Schienen der Kleinbahn lag. Vorhin in der Eile hatte sie ihn, ebenso wie Katie ihren Rucksack, einfach dort fallen lassen. »Danke, doch das ist nicht nötig. Unser Hotel muss nach der Anreisebeschreibung ganz in der Nähe sein – das Dünenschloss.«
»Da wohne ich rein zufällig auch. Nicht in dem Hotel«, verbesserte er sich. »Sondern im Nachbargebäude dahinter. Dort ist auch meine Praxis. Liegt also auf dem Weg. Erlauben Sie?« Er ging die paar Schritte zu Hannas Koffer und stellte ihn hochkant auf die Rollen.
Hanna gab ihren inneren Widerstand auf. Der Typ wollte nur höflich sein. Und da war dieses komische Gefühl von eben, das immer noch in ihr nachhallte. Diese seltsame Gewissheit, ihm schon mal irgendwann und irgendwo begegnet zu sein. Nicht bloß im Vorbeigehen, sondern auf eine Art, die sich ihr eingeprägt hatte. Sie musterte ihn verstohlen und durchforstete in einer Aufwallung von Ungeduld ihr Gedächtnis, doch da war nichts. Natürlich war da nichts. Es musste am Alkohol liegen. Oder am fehlenden Schlaf. Sie hätte gestern nicht so viel trinken und früher zu Bett gehen sollen.
Mit Nachdruck winkte sie in Katies Richtung, und endlich merkte ihre Tochter, dass Hanna loswollte. Sie kam gemächlich über die Straße, und als Ole Vandenberg sie mit einem freundlichen Moin begrüßte, lächelte sie spontan.
»Moin«, echote sie, und es klang wie bei einer Einheimischen.
Gemeinsam gingen sie eine belebte, von Läden und Restaurants gesäumte Straße hinauf in Richtung Promenade. Ole Vandenberg zog Hannas Trolley hinter sich her und hätte sich auch noch den großen Rucksack aufgeladen, wenn Katie das nicht höflich, aber bestimmt abgelehnt hätte. Sie legte großen Wert auf ihre Selbstständigkeit.
Ringsum herrschte das reinste Gewimmel, die Straßenlokale waren bis auf den letzten Platz besetzt. Überall flanierten Touristen in leichter Kleidung, es waren alle Altersklassen vertreten, auch wenn die Senioren in der Überzahl waren. Dafür veranstalteten die kleineren Kinder den meisten Radau. In großer Zahl und bewaffnet mit Sandspielzeug strebten sie gemeinsam mit ihren Eltern zum Strand.
Trotz der lärmenden Geräuschkulisse lag eine beschauliche Atmosphäre über der Szenerie. Es fühlte sich an wie eine Einladung, auf der Insel zur Ruhe zu kommen und alle Anstrengungen der Reise hinter sich zu lassen.
»Sie sind der Arzt hier, oder?«, wollte Katie wissen. Erklärend fügte sie hinzu: »Vorhin hab ich gehört, wie die Leute drüber redeten.«
»Einer von mehreren«, antwortete er. »Ich betreibe die Praxis mit zwei Kollegen. Einer Kollegin und einem Kollegen, um genau zu sein. So hat immer mal einer von uns nachmittags frei.«
»Sie haben gar keinen Arztkoffer dabei«, stellte Katie fest.
»Ich war beim Friseur, das ging ausnahmsweise ohne«, gab er trocken zurück.
Katie kicherte. »Ist das die einzige Arztpraxis auf Borkum?«, erkundigte sie sich.
»Nein, es gibt noch ein paar andere«, antwortete er. »Allein würden wir das nicht schaffen. Wenn hier Hochsaison ist, halten sich an die vierzigtausend Menschen auf der Insel auf.«
»Gibt es denn auch ein Krankenhaus? Ich meine, ein richtiges, keine Kurklinik.«
»Ja, wir haben eins. Nur ein kleines, aber immerhin. Inklusive Rettungsdienst, der hat hier viel zu tun.«
Sie bogen auf die Strandpromenade ein, und Hanna blieb einen Moment stehen, denn der Ausblick war spektakulär.
»Wow«, sagte Katie. Sie beschattete die Augen mit der Hand und deutete auf die Sandbank, die in nicht allzu weiter Entfernung dem Strand vorgelagert war. »Ist das die Stelle, wo sich immer die Seehunde sonnen?«
»Das Hohe Riff, ja«, bestätigte Ole. »Aber Seehunde sieht man dort kaum noch. Die meisten haben sich andere Reviere gesucht.«
Katie überquerte die breite Promenade bis zum Geländer. Hanna folgte ihr und warf ihrem hilfsbereiten Begleiter einen entschuldigenden Blick zu, doch er hatte offenbar alle Zeit der Welt.
Unterhalb der Promenade schien sich der Strand endlos nach beiden Seiten zu erstrecken, malerisch getüpfelt von bunt lackierten Strandkörben und nicht minder bunt gestreiften Stoffzelten. Hanna hatte diverse Aufnahmen von diesem Strandabschnitt im Internet gesehen, aber in der Realität war es überwältigend. Die weiten Sandflächen, der historische Musikpavillon vor den tiefer liegenden Wandelhallen, die Prachtkulisse der schneeweißen Gründerzeitgebäude, die an der Landseite der Promenade aufragten – es war das reinste Postkartenidyll.
Hanna wandte sich an Ole, der geduldig neben ihr wartete. »Herr Doktor Vandenberg, wir wollen Sie wirklich nicht aufhalten!«
»Ole, bitte. Hier auf der Insel machen wir nicht so ein Gedöns mit Herr Doktor und so.«
»Ich bin Katie«, warf Katie ein.
Er lächelte sie an. »Hatte ich schon gehört.«
Katie wies auf Hanna. »Das ist meine Mom. Hanna.«
»Das weiß er auch schon«, sagte Hanna. Die ganze Situation wurde ihr allmählich peinlich. Was brachte diesen Typen dazu, sich zwei Kletten vom Festland ans Bein zu binden? Er hatte doch sicher Wichtigeres zu tun!
»Da drüben ist es schon«, sagte Ole. Er deutete auf eine opulente Villa, die in Alleinlage ein wenig abseits hinter einer grasbewachsenen Düne stand.
Hanna starrte das Hotel an, die noble Jugendstilfassade mit den zeitlos schönen Bogenfenstern und den floralen Ornamenten, die vorgebauten, von Säulen gerahmten Erker an den Seiten, das doppelflügelige Portal. Sie sah das alles, und gleichzeitig, wie auf einem wackligen Vexierbild in Schwarz-Weiß, etwas völlig anderes. Hässlichen dunklen Putz, blinde Fenster, ein schadhaftes Dach und einen schiefen Zaun. Und davor, aufgereiht wie die Orgelpfeifen, Kinder in schlabberiger Einheitskleidung, allesamt die gleichen Ringelmützen auf dem Kopf und die Münder zu einem unnatürlich breiten Lachen aufgerissen. Eins dieser Kinder war Hannas Mutter Cornelia.
Hanna blinzelte, und das alte Schwarz-Weiß-Bild verwandelte sich wieder in die strahlend helle Villa von heute.
Das Bild, das sie vorhin vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte, existierte indessen tatsächlich, es war ein verblasstes, zerknittertes Foto aus der Kur, der einzige fassbare Beweis, dass ihre Mutter dort gewesen war. Man hatte es der kleinen Cornelia mit nach Hause gegeben – seht nur, was für einen Spaß eure Kleine hier bei uns im Kurheim hatte!
»Alles in Ordnung?« Ole musterte sie leicht besorgt. »Sie sind ziemlich blass um die Nase!«
Hanna riss sich zusammen und zwang sich zu einem halben Lächeln, obwohl sie mit einem Mal merkte, wie erledigt sie war.
»Alles bestens«, behauptete sie. »Ich hab gestern wohl ein bisschen zu lange gefeiert.«
Zum Glück fragte er nicht nach dem Anlass, und er bot auch nicht an, sie das letzte Stück bis zum Hotel zu begleiten. Er schien zu spüren, dass sie zu erschöpft für irgendwelchen Small Talk war. Höflich schob er ihr den Koffer so hin, dass er griffbereit vor ihr stand.
»Ich muss weiter. Es hat mich gefreut, Sie beide kennenzulernen!«
»Ebenfalls«, sagte Hanna lahm.
»Vielleicht sieht man sich ja mal, die Insel ist klein.«
»Ja, vielleicht.«
»Tschüss, und eine gute Zeit!« Er hob die Hand zu einem angedeuteten Winken, dann ging er davon – in Richtung Hotel, was Hanna im ersten Moment irritierte, denn da wollten sie ja auch hin. Dann fiel ihr ein, dass sich in der unmittelbaren Nachbarschaft das Praxisgebäude befand. In welchem er auch wohnte, wenn sie es richtig verstanden hatte. Sie rieb sich die Stirn. Mittlerweile war sie so müde, dass sie im Stehen hätte einschlafen können.
»Der war cool«, meinte Katie. Abrupt fügte sie hinzu: »Wieso hast du den so von oben herab behandelt?«
»Was?« Hanna sah ihre Tochter verwirrt an. »Hab ich doch gar nicht!«
»Hast du wohl! Du hast kaum die Zähne auseinandergekriegt! Und überhaupt! Er hat dir den ganzen Weg hierher den Koffer geschleppt, aber du sagst nicht mal Danke!«
Da hatte Katie eindeutig einen Punkt, Hanna nahm es schuldbewusst zur Kenntnis. Abgesehen davon, dass ihr Koffer nicht geschleppt werden musste, sondern sich relativ bequem rollen ließ, hätte sie sich wirklich bei diesem Insel-Doc bedanken sollen.
»Der war supernett, und du hast ihn wie Luft behandelt«, setzte Katie noch eins drauf.
»Also, ich finde nicht, dass …« Hanna brach ab. Sie war nicht in der Stimmung, über ihre Umgangsformen zu streiten. »Ich bin einfach kaputt von der langen Reise. Eine Dusche und frische Klamotten, und ich bin wieder wie neu. Komm, wir checken ein und schauen dann, ob wir noch was unternehmen können!«
Das Foyer des Hotels verströmte dieselbe unaufdringliche Jugendstil-Eleganz wie die Fassade. Klare Linien vereinten sich mit sanften Schnörkeln, beides fand sich in den Details der Einrichtung wieder – polierter, mit Intarsien aufgepeppter Marmorboden, holzgetäfelte Wände mit maritimen Drucken sowie ein geschwungener, messingbeschlagener Empfangstresen. An einem Schreibtisch hinterm Tresen saß eine Frau, die sich sofort erhob, als Hanna und Katie hereinkamen. Hanna schätzte sie auf Ende dreißig, Anfang vierzig. Ihre ganze Haltung signalisierte Spannkraft und Energie, sie bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer großen Katze. Zu einem grauen Hosenanzug trug sie eine weiße Seidenbluse und als einziges Schmuckstück eine dezent schimmernde Perlenkette. Das kinnlange, zu einem fransigen Bob gestutzte Haar war von einem leuchtenden Rotblond, das auch bei genauem Hinschauen keinen dunkleren Ansatz am Scheitel erkennen ließ – es musste ihre Naturfarbe sein. Vollkommen natürlich wirkte auch ihr porzellanartiger Teint. Falls sie geschminkt war, sah man es nicht. Ihr Gesicht mit den auffallend grünen Augen war von klassischem Ebenmaß, Hanna fühlte sich an ein Filmfoto von Greta Garbo erinnert. In ihrer gesamten Erscheinung schien die Frau auf perfekte Weise die Ästhetik des Hotels widerzuspiegeln. Stilvoll, kultiviert, elegant.
»Frau Lorenz mit Tochter, nicht wahr?« Ihr strahlendes Lächeln wirkte erstaunlich echt, es bildeten sich sogar einige winzige Fältchen. »Herzlich willkommen! Wir freuen uns, Sie im Dünenschloss begrüßen zu dürfen! Mein Name ist Isa Martens. Ich betreibe zusammen mit meinem Bruder Jan das Hotel, und wir beide sind davon überzeugt, dass wir Ihnen und Ihrer Tochter hier einen wunderschönen Aufenthalt bereiten können!«
Hanna erwiderte das Lächeln leicht gezwungen, sie ahnte, was es mit der ungewöhnlich warmherzigen Begrüßung auf sich hatte – in der Online-Buchung hatte sie beim Zweck ihres Aufenthalts »geschäftlich« angekreuzt, und bei dem vorangegangenen Mailwechsel mit einem Hotelmitarbeiter namens Jan Guterson hatte sie sich nach der Historie des Hotels erkundigt und erwähnt, dass sie einen Zeitungsartikel darüber plane. Danach hatten er und seine Schwester sie offensichtlich gegoogelt und so herausgefunden, dass sie für ein auflagenstarkes Wochenmagazin schrieb und schon ein paar Preise gewonnen hatte – irgendwer hatte ihre komplette Vita sogar mal auf Wikipedia verewigt.
Das obligatorische Anmeldeformular war bereits mit allen nötigen Daten ausgefüllt, Hanna hatte sie bei der Buchung eingegeben. Es fehlten nur noch Geburtsdatum und Unterschrift.
»Sie haben Zimmer einhundertvier, das ist in der ersten Etage. Der Aufzug ist gleich da drüben. Brauchen Sie Hilfe beim Gepäck?«
»Nein danke, wir kommen zurecht.«
Isa Martens deutete auf eine verspiegelte Tür an der Stirnseite des Foyers. »Dort ist unser Frühstücks- und Dinnerraum. Frühstück gibt es von sieben bis elf, Abendessen von neunzehn bis einundzwanzig Uhr.«
»Ich hatte nur Frühstück gebucht«, meinte Hanna.
»Gewiss, das hatte ich gesehen. Was ich damit sagen wollte: Sie können jederzeit auch hier bei uns essen. Einfach im Laufe des Nachmittags kurz Bescheid sagen, dann plant unser Koch Sie ein. Unsere Küche genießt einen hervorragenden Ruf, die Gäste sind ausnahmslos begeistert.«
»Gut zu wissen«, sagte Hanna. »Und vielen Dank für den netten Empfang.«
»Das ist doch selbstverständlich.« Isa Martens reichte ihr zwei Zimmerkarten. Dabei beugte sie sich ein wenig vor, und Hanna sah, dass sie, anders als zuerst angenommen, doch Make-up trug. Gekonnt und sparsam aufgetragen, aber der makellose Teint war nicht bloß pure Natur. Hanna, die sich seit dem ersten Blick auf diese Stilikone ihres eigenen verknitterten und durchgeschwitzten Outfits überdeutlich bewusst war, fühlte sich auf absurde Weise versöhnt.
»Ich weiß ja, dass Sie hauptsächlich zum Arbeiten hier sind«, fuhr Isa Martens fort. »Sollten Sie dennoch Interesse an Inselausflügen oder anderen Freizeitangeboten haben … Melden Sie sich jederzeit hier an der Rezeption, wir haben viele Prospekte. Auch für die Jugend ist eine Menge dabei.« Isa Martens wandte sich an Katie. »Mein Sohn Bengt ist in deinem Alter, vielleicht kann er dir ein paar Tipps geben. Er hat auch gerade Schulferien. Wir wohnen ebenfalls hier im Haus, und er hilft hin und wieder an der Rezeption aus. Bestimmt lauft ihr euch bald über den Weg.«
»Wieso nicht«, sagte Katie, und es klang kein bisschen desinteressiert, sondern einfach nur freundlich. Hanna hegte die leise Hoffnung, dass ihre seit Tagen so kratzbürstige Tochter allmählich in eine etwas entspanntere Urlaubsstimmung kam. Eine, die es ihnen beiden leichter machte, die nächsten zwei Wochen harmonisch über die Bühne zu bringen.
Oben im Zimmer war es allerdings mit dem Frieden schon wieder vorbei, denn Katie nahm sofort das Bad in Beschlag. Hanna blieb gerade noch genug Zeit für ein kleines Geschäft, da kam ihre Tochter auch schon mit Schminkbeutel und Wechselklamotten hereinspaziert und enterte ungerührt die Dusche. Wieder mal war Hanna diejenige, die nachgab, oder genauer: Sie beließ es bei einem frustrierten Augenrollen und machte sich dann ans Auspacken. Während sie ihre Sachen im Schrank verstaute, sah sie sich immer wieder erfreut um. Sie hatte zwar eine Suite mit einem Schlaf- und einem Wohnraum gebucht, jedoch nicht in dieser gehobenen Ausstattung. Den Meerblick hatte sie sich verkniffen, das hätte ihr Budget gesprengt. Trotzdem hatten sie hier welchen, und zwar vom Allerfeinsten, sogar mit Balkon.
Isa Martens hatte gemeint, es sei nichts anderes mehr frei gewesen, und selbstverständlich stehe ihnen die Suite ohne Aufpreis zur Verfügung.
Hanna öffnete die Fenstertür und trat hinaus auf den Balkon. Das Panorama, das sich von hier bot, war buchstäblich atemberaubend, Hanna musste kurz die Luft anhalten. Das Hohe Riff erhob sich hakenförmig aus den Wellen, die Säume goldglitzernd im Sonnenlicht. Seehunde waren auf den ersten Blick nicht zu sehen. Dafür stolzierten Scharen von Vögeln dort herum. In stetem Wechsel hoben sie ab und flogen davon, während andere landeten und ihren Platz einnahmen. Borkum, so hatte Hanna gelesen, war bekannt für seinen Vogelreichtum, ein wahres Eldorado für Ornithologen.
Hannas eigenes Interesse an der Vogelwelt hielt sich in Grenzen. Sie mochte zwar das Gezwitscher, den Anblick allerdings weniger. Herumflatternde Vögel bescherten ihr Unbehagen, und kam ihr einer zu nahe, konnte sie leicht in Panik geraten. Krabbelnde Spinnen störten sie nicht, doch Vögel lösten Fluchtimpulse in ihr aus.
Der Wind blies ihr ins Gesicht, sie strich sich die Haare zurück und atmete tief die Luft ein, von der es hieß, sie sei heilsam für Allergiker, vor allem für Menschen mit Heuschnupfen und Lungen- oder Hautproblemen. Die Leute kamen immer noch in Scharen zur Kur auf die Insel, auch viele Kinder, weil es hier Spezialkliniken für sie gab. Richtige, zertifizierte Kliniken mit Kinderfachärzten, keine obskuren, von irgendwelchen Privatleuten und karitativen Einrichtungen betriebenen »Heilstätten« und »Kurheime« wie vor über sechzig Jahren, als man Hannas Mutter hergeschickt hatte.
Vom Strand drang fröhliches Kindergeschrei herauf. Da unten waren zwei Jungs, die Drachen steigen ließen, im Hintergrund die stolzen Eltern. Die Mutter drehte ein Handyvideo, der Vater feuerte seine Söhne an. Hanna musste an ihre Großeltern denken. Wie die sich wohl gefühlt hatten, als ihre kaum fünfjährige Tochter sechs Wochen lang von zu Hause weg gewesen war? Zusammen mit Menschen, die sie vorher nie gesehen hatte, in einer fremden Umgebung, ohne ein einziges vertrautes Gesicht.
Bei dem Gedanken, dass Katie als kleines Mädchen eine solche Reise hätte antreten müssen, drehte es Hanna den Magen um. Wie konnten die Mütter das damals einfach so mitmachen? Wie hatten sie es überhaupt ausgehalten?
Im Badezimmer war das Rauschen der Dusche vom Brummen des Föhns abgelöst worden, Katie würde nicht mehr lange brauchen. Hanna bekam allmählich Hunger. An Bord der Fähre hatte sie nur eine Banane und einen Müsliriegel gegessen. Katie hatte sich an der Theke der Schiffskantine eine überteuerte Currywurst mitsamt Pommes geholt, aber in spätestens einer Stunde würde auch sie wieder Kohldampf schieben. Zum Glück war sie keines dieser Mädchen, die sich für eine Size Zero abquälten und nur Miniportionen zu sich nahmen. Katie hatte schon als Kind immer gern und gut gegessen. Sie hörte einfach auf, wenn sie satt war, und wenn sie keinen Hunger hatte, aß sie eben nichts. Das war eine Sache, die sie beide gemeinsam hatten – ein gesundes, ausgewogenes Essverhalten, ohne Krampf und ohne Verzicht. Genauso wie der Dritte im Bunde – Katies Vater. Alex war seit jeher ein langer, dünner Hering gewesen, und auch er konnte wie ein Scheunendrescher futtern, ohne auch nur ein Pfund zuzunehmen. Wobei freilich eine Rolle spielte, dass er wie ein Besessener Sport trieb. Er lief mindestens zwei Marathons pro Jahr und war ständig im Training, während Hanna höchstens bei einem längeren Lauf mitmachte und sich dabei gern mit einem Halbmarathon zufriedengab. Sie musste nicht unbedingt die langen Strecken schaffen, um sich gut zu fühlen. Meist reichte es ihr, eine Stunde joggen zu gehen, am liebsten frühmorgens im Stadtwald.
Katie war ebenfalls sportbegeistert, aber Laufen war ihr zu langweilig, sie bevorzugte Mannschaftssport. In ihrer Schule war sie im Volleyballteam und spielte seit zwei Jahren auch im Verein. Der Trainer war der Meinung, dass sie das Zeug für eine künftige Nationalspielerin hatte, doch darauf hatte Katie sich bislang nicht eingelassen. Für sie stand der Spaß am Spiel an erster Stelle, und über die kompromisslose Härte in der Profiwelt des Sports machte sie sich nichts vor.
Endlich kam sie aus dem Bad, nur mit ihrer Sportunterwäsche bekleidet, das lange Haar nach dem Föhnen eine wilde, ungebärdige Mähne.
»Kann ich rein?« Hanna deutete auf die offene Tür des Badezimmers.
»Klar.«
Hanna ging duschen und verzichtete dabei aufs Haarewaschen, um schneller fertig zu werden. Sie freute sich darauf, mit Katie essen zu gehen. Doch als sie knapp zehn Minuten später aus dem Bad kam, war ihre Tochter verschwunden.
Es fiel Hanna nicht leicht, die Enttäuschung und den Ärger runterzuschlucken. Sie hatte sich extra beeilt, und wofür? Wieso hatte Katie nicht zumindest kurz Bescheid sagen können, dass sie sich schon mal auf die Socken machen und die Umgebung erkunden wollte? Es wäre eine Sache von wenigen Sekunden gewesen. Hanna schloss im Gegensatz zu Katie nie die Badezimmertür ab, ihre Tochter konnte jederzeit hinein.
Vielleicht wäre es weniger zermürbend gewesen, wenn sie sich in einem offenen Streit befunden hätten. So, wie es in einer Familie halt mal passierte – man schrie sich an, überhäufte sich gegenseitig mit Vorwürfen, zog sich schmollend in eine Ecke zurück, war ein paar Stunden lang sauer und schwieg sich aus. Um am Ende die weiße Flagge zu hissen und zur Normalität zurückzukehren.
Bei Katie schien die Normalität aktuell darin zu bestehen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Krallen auszufahren und die restliche Zeit vor sich hin zu schweigen. Nie wusste man vorher, worüber sie sich als Nächstes ärgerte. Es konnte alles Mögliche sein, nichts war zu harmlos oder zu nebensächlich, um ihren Unwillen zu wecken. Seit feststand, dass sie nicht allein zu Hause bleiben durfte, schien es fast so, als würde sie dauernd bloß das Haar in der Suppe suchen.
Hannas Handy klingelte. Sie ging sofort dran, dankbar für die Ablenkung. Es war Helen, mit einem Videocall.
Ihr fröhliches Gesicht strahlte Hanna vom Display entgegen. »Na, Geburtstagskind? Bist du schon auf der Insel?«
»Gut gelandet und im Hotel.«
»Und wie ist die Hütte? So schön wie auf den Fotos?«
»Schöner. Wir haben eine Suite mit Meerblick. Warte mal, ich zeig es dir.« Hanna ging hinaus auf den Balkon und ließ Helen eine Rundumsicht zuteilwerden.
»Wahnsinn! Jetzt bin ich neidisch! Schade, dass ich arbeiten und für dich in der Redaktion die Stellung halten muss. Sonst hätte ich glatt Lust, vorbeizukommen! Was machst du heute Abend, ein bisschen mit Katie deinen Geburtstag feiern?«
Hanna hob bloß ratlos die Schultern, und Helen zog sofort die richtigen Schlüsse. »Sie hat wohl immer noch miese Laune, was?«
»Ja, leider.«
»Armer Schatz.«
»Meinst du mich oder Katie?«
»Dich natürlich! Du darfst das nicht so nah an dich ranlassen.«
»Helen, sie ist mein Kind. Es wäre komplett gegen die Natur, wenn ich das nicht an mich ranlasse!«
»Dann rede mit ihr! Erklär ihr, dass es dich fertigmacht, wenn sie sich so aufführt.«
»Ach, Helen.« Du hast gut reden, fügte Hanna in Gedanken hinzu. Du hast keine Kinder, bloß eine Katze, und die hat immer gute Laune, solange sie ihr Premiumfutter hingestellt bekommt.
»Oder warte einfach, bis sie sich von selber wieder einkriegt«, schlug Helen vor. »Das kann ja nicht mehr lange dauern. Was hätte sie jetzt zu Hause bei ihrer … Wie hieß die gleich?«
»Bella.«
»Was hätte sie bei Bella, was sie auf Borkum nicht hat?«
»Sturmfrei«, versetzte Hanna trocken.
»Das ist überbewertet. Vor allem bei Sechzehnjährigen. Die besten Events in dem Alter finden nicht daheim statt, sondern woanders. Schick sie an den Strand, zum Surfen oder Feiern. Wusstest du, dass es auf Borkum extra einen Strand für junge Leute gibt? Jugendbad, so nennen die das. Stand auf der Insel-Website.«
»Ja, das habe ich auch gelesen.«
»In der Zwischenzeit könntest du dir auch mal ein bisschen Spaß gönnen. Du weißt schon. Das, was du ewig nicht mehr hattest. Und damit meine ich keinen Tequila.«
»Den hatte ich auch ewig nicht mehr«, versetzte Hanna lächelnd.
»Ja, weil du den nicht verträgst.« Helen ließ sich nicht vom Thema abbringen. »Vielleicht lernst du ja auf der Insel jemanden kennen.«
»Davon wird Katies Laune sicher nicht besser.«
»Aber erst recht nicht davon, dass du ihr pausenlos alle Wünsche von den Augen abliest. Das macht dein Ex schon zur Genüge. Zeig ihr mal die harte Kante! Kindern muss man Grenzen setzen!« Helen besann sich, ehe sie selbstkritisch ergänzte: »Sprach die Frau mit der unberechenbaren Katze, die vorhin dem neuen Teppich ein Streifenmuster verpasst hat.«
»Vielleicht lege ich mir einfach ein dickeres Fell zu«, meinte Hanna.
»Das klingt wie ein guter Plan B«, pflichtete Helen ihr bei.
Der vermutlich genauso wenig funktionierte wie Plan A, dachte Hanna, nachdem sie noch ein paar Takte mit Helen geplaudert und dann das Gespräch beendet hatte. Überhaupt, mit den Plänen war das bei der Kindererziehung so eine Sache. Sie musste ja nur an die Zeit zurückdenken, als sie selbst in Katies Alter gewesen war. Von ihren Eltern hatte sie sich da schon lange nichts mehr vorschreiben lassen. Bei Licht betrachtet hatte sie sich sogar flächendeckend das Recht herausgenommen, alle Entscheidungen selbst zu treffen. Jungs, Schule, Feiern – ihre Mutter hatte von alldem nur das mitbekommen, was sich nicht vermeiden ließ. Oder genauer: was Hanna nicht verheimlichen konnte. Und wenn es darüber zum Streit kam, hatte Hanna sich in neunzig Prozent aller Fälle durchgesetzt. Mit einer Bockigkeit, gegen die sich Katies Verhalten ausnahm wie das eines trotzigen Kleinkinds.
Die Erinnerungen an die übrigen zehn Prozent hatte Hanna weitestgehend verdrängt, mit ihrem Benehmen hatte sie damals sicher kein Ruhmesblatt verdient.
Sie ging noch mal ins Bad und verpasste sich vor dem Spiegel den letzten Schliff. Etwas Concealer gegen die Augenringe, ein Hauch von Rouge gegen die Blässe der Müdigkeit, ein bisschen Lipgloss. Das Haar kämmte sie straff nach hinten und flocht sich einen französischen Zopf. Mit dem Kleid, das sie für den Abend ausgewählt hatte, konnte sie nicht viel falsch machen. Es war ein einfaches weißes Hängerchen mit Lochstickerei im Oberteil und locker fallenden Ärmeln. Dazu ihre heiß geliebten Birkenstocks, die passten zu allen Gelegenheiten und hatten zudem den Vorteil, dass sie bequem waren.
Gar nicht so übel für vierzig, dachte sie bei einem letzten Blick in den Spiegel. Sie nahm die Treppe ins Erdgeschoss und wollte gleich weiter, um draußen nach Katie Ausschau zu halten, doch auf dem Weg zum Ausgang wurde sie von Isa Martens aufgehalten.
»Frau Lorenz!« Mit strahlendem Gesicht kam sie hinter dem Empfangstresen hervor, zusammen mit einem Mann, der ihr auf so frappierende Weise ähnelte, dass er nur ihr Bruder sein konnte, vermutlich sogar ihr Zwilling. Er wies das gleiche rötlich blonde Haar auf, die gleichen hohen Wangenknochen und die gleichen seegrünen Augen. »Sie müssen mir verzeihen, dass ich es nicht sofort bemerkt habe!«
»Was denn?«, fragte Hanna begriffsstutzig, nur um sofort selbst dahinterzukommen. »Ach so. Das ist doch wirklich nicht so wichtig.«
»Ganz im Gegenteil! Ein runder Geburtstag – wie könnte so ein prägendes Ereignis nicht wichtig sein! Ganz herzlichen Glückwunsch, Frau Lorenz! Alles Gute für Ihr neues Lebensjahrzehnt!«
»Den Glückwünschen meiner Schwester möchte ich mich ausdrücklich anschließen«, fügte der Mann hinzu. »Ich hoffe, Sie hatten einen wunderbaren Tag!« Er bedachte Hanna mit dem gleichen strahlenden Lächeln wie seine Schwester, und die Tatsache, dass die beiden sogar ähnlich gekleidet waren – er trug einen Anzug im selben Grau wie Isa –, machte die Ähnlichkeit noch augenfälliger.
»Danke«, sagte Hanna notgedrungen.
»Oh, bevor ich es vergesse: Ich bin übrigens Jan Guterson. Isas Bruder. Wir hatten letzte Woche gemailt.«
»Ja, ich erinnere mich. Nett, Sie persönlich kennenzulernen.« Hanna hoffte, dass es mit diesen Floskeln getan war. Sie wollte sich nicht festquatschen, sondern Katie finden, damit sie endlich essen gehen konnten. Inzwischen knurrte ihr schon der Magen.
»Sie müssen nach der langen Reise hungrig sein«, bemerkte Jan, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Oder ihr Magenknurren gehört. »Bitte erlauben Sie uns, dass wir Sie anlässlich Ihres Geburtstags zu einem kleinen Dinner einladen. Hier bei uns im Restaurant. Oder haben Sie schon woanders einen Tisch bestellt?«
»Nein«, sagte Hanna überrumpelt. »Ich weiß bloß nicht, wo meine Tochter gerade …« Sie brach ab, denn in diesem Moment kam Katie von draußen hereinspaziert und blieb mit fragender Miene stehen, als sie Hanna im Gespräch mit den Hotelinhabern sah. »Da ist sie ja«, schloss Hanna lahm.
»Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie bei uns essen«, fuhr Jan fort.
»Sie müssen sich meinetwegen wirklich keine Umstände machen«, hob Hanna an.
»Von Umständen kann gar keine Rede sein«, widersprach Isa. »Wir haben einen freien Tisch, und der Koch hat genug Vorräte, um daraus spontan ein erstklassiges Dinner zu zaubern.«
»Super«, warf Katie ein. »Ich hab echt langsam Hunger!«
Damit war es anscheinend entschieden, Hanna fühlte sich vor vollendete Tatsachen gestellt.
Isa Martens blickte auf ihre Armbanduhr. »Sagen wir, in einer halben Stunde? Würde das passen?«
»Natürlich«, sagte Hanna, wenn auch mit leisem Widerstreben.
Katie wollte noch mal hoch aufs Zimmer, sie machten aus, sich in einer halben Stunde im Hotelrestaurant zu treffen. Hanna nutzte die Gelegenheit, sich in der verbleibenden Zeit etwas die Füße zu vertreten. Die meiste Zeit des Tages hatte sie nur herumgesessen, sie hatte den Drang, sich zu bewegen.
Die nähere Umgebung des Hotels war schnell erkundet. Ein Erlebnisbad mit Wellnessbereich, eine Tennishalle, ein Gebäude für kulturelle Veranstaltungen, ein Kletterpark. Daran angrenzend in Richtung Ortsmitte die Wohnbebauung, bei der auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden war, ob sie der Unterbringung von Touristen diente oder ob Privatleute dort lebten. Erst beim Näherkommen sah man an den Fassaden der meisten Häuser Aufschriften, die erkennen ließen, dass es sich um Ferienwohnungen oder Pensionen handelte.
In unmittelbarer Nachbarschaft zum Hotel stieß Hanna auch auf die Gemeinschaftspraxis von Ole Vandenberg. Das Gebäude bestand aus zwei Teilen, einem Wohnhaus und einem einstöckigen, offenbar später entstandenen Anbau mit eigenem Eingang, an dessen Tür das Praxisschild hing. Bunt blühende Geranien auf den Fensterbänken und ein Meer von Sommerblumen im Vorgarten schufen ein anheimelndes Bild. Man hatte nicht den Eindruck, zum Arzt zu gehen, wenn man hierherkam.
Hanna betrachtete das Wohnhaus. Ob Ole Vandenberg allein darin lebte?
Als hätten ihre Gedanken ihn heraufbeschworen, kam er im nächsten Moment aus dem Haus, begleitet von einer älteren Frau mit kurzem grauem Haar. Das herbe Gesicht mit den dichten Brauen und dem energischen Kinn kam Hanna seltsam bekannt vor. Gleich darauf wurde ihr der Grund dafür klar – die Frau hatte ähnliche Gesichtszüge wie Ole. Er musste ihr Sohn sein.
In seiner Miene spiegelte sich Verblüffung. »Was für ein Zufall! So schnell sieht man sich wieder!«
»Äh … ja.« Peinlich berührt spürte Hanna, dass sie rot anlief. Es war in der Tat ein bescheuerter Zufall, dass sie wie angewachsen vor seinem Haus stand, während er herauskam. Am Ende glaubte er noch, sie hätte hier herumgelungert, um ihn abzupassen!
»Mutter, das ist Hanna. Hanna, das ist meine Mutter Hilde.«
»Schön, Sie kennenzulernen, Hanna«, sagte Oles Mutter. Sie reichte Hanna die Hand.
»Ebenfalls«, erwiderte Hanna. Ihr fiel nur am Rande auf, dass Ole sie einander mit Vornamen vorgestellt hatte; anscheinend hielten die ostfriesischen Insulaner tatsächlich nicht viel von Förmlichkeiten. Im Geiste formulierte sie eine Erklärung. Vor dem Abendessen wollte ich noch ein paar Schritte gehen und kam zufällig hier entlang, und da sah ich Ihr Haus … Nein, so was Dämliches würde sie ganz sicher nicht sagen. Sie war ihm doch keine Rechenschaft schuldig!
»Haben Sie es nett angetroffen hier auf Borkum?«, fragte Hilde Vandenberg.
»Ja, es ist sehr schön.« Immer noch verlegen wegen Oles unvermuteten Auftauchens warf Hanna einen Blick auf ihre Uhr – und erschrak. Die halbe Stunde war schon seit drei Minuten um. Sie musste sich beeilen, wenn sie Katie nicht warten lassen wollte.
»Tut mir leid, aber ich muss jetzt weiter, ich bin mit meiner Tochter zum Essen verabredet und spät dran«, erklärte sie entschuldigend.
»Essen Sie im Hotelrestaurant?«, wollte Ole wissen.
Als Hanna nickte, lächelte er erfreut. »Wir auch! Noch so ein Zufall! Wollen wir die paar Schritte zusammen gehen?«
Hanna widerstand dem Drang, einfach loszulaufen. Allein und schnell.
Vielleicht lernst du ja auf der Insel jemanden kennen.
Verdammt, nein, sie wollte niemanden kennenlernen! Für kurze Affären war sie nicht der Typ. Und für längere auch nicht. Daraus erwuchsen immer die gleichen Probleme. Stress mit Katie, verlorene Freiräume, wachsender Frust und schließlich die bittere Erkenntnis, dass sie es lieber gelassen hätte.
Ganze drei Mal hatte sie nach der Scheidung versucht, eine neue Beziehung einzugehen, und jedes Mal hatte es nur Monate später in einem Debakel geendet. Mit Alex hatte sie es immerhin einige Jahre ausgehalten, und bloß wegen Katie waren sie noch halbwegs gute Freunde. Offenbar eignete sie sich nicht für Beziehungen. Oder aber die Typen, an die sie geriet, taugten nicht dafür – das war jedenfalls Helens Theorie.
»Es ist wirklich ein Zufall, dass Sie bei uns vorm Haus standen!«, meinte Oles Mutter unvermittelt. Sie legte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Wobei meine Oma immer gesagt hat, es gibt im Leben eigentlich keine Zufälle. Weil das Schicksal alles vorherbestimmt. Glauben Sie an das Schicksal, Hanna?« Sie schien keine Antwort zu erwarten, denn sie sprach, ohne innezuhalten, weiter, über belanglose Themen, die keinen Bezug zu ihrer Frage aufwiesen. Nach und nach verfiel sie dabei in den Dialekt der Insel, bis Hanna kaum noch etwas verstand. Ole machte keine Anstalten, seine Mutter zu unterbrechen, er warf nur ab und zu eine Bemerkung ein, ebenfalls auf Platt, ohne Hanna in die Unterhaltung einzubeziehen. Sie hatte den Eindruck, dass er die Situation als belastend empfand, obwohl er in keiner Weise ablehnend auf seine Mutter reagierte. Im Gegenteil, er behandelte sie mit liebevoller Zuwendung. Die widersprüchlichen Eindrücke verstärkten sich, als er seine Mutter beim Arm fasste und sie ins Hotel führen wollte, worauf sie sich unwillig losmachte und erklärte, sie sei doch keine alte Frau.
Hanna war froh, als sie endlich in der Lobby standen, auch wenn sie dort plötzlich ein Frösteln erfasste, das ihren Nacken mit einer Gänsehaut überzog. Die Klimaanlage lief anscheinend auf Hochtouren.
Dann sah sie im Gegenlicht der Abendsonne vor der verspiegelten Tür zum Restaurant eine Frauengestalt, bei deren Anblick sie abrupt stehen blieb. Dieses Gesicht – sie kannte es! Ganz bestimmt! Gleichzeitig verstand sie auf einer anderen Ebene ihres Bewusstseins, was mit ihr los war: Ein weiteres Déjà-vu wollte ihr weismachen, dass sie dieser Frau bereits begegnet war.
Dann war der Moment vorbei, und vor Hanna stand nur noch eine unbekannte alte Dame, die sich auf einen Stock mit Silberziselierung stützte und ihr neugierig entgegenblickte.
»Sie müssen Hanna sein. Die Journalistin, die über unser Haus schreiben will.« Ohne Präliminarien streckte sie Hanna in einer beinahe majestätischen Geste die Hand hin. Hanna ergriff sie und fühlte unter ihren Fingerspitzen die kühle, pergamentartige Haut der alten Frau.
»Ich bin Margret Hansen. Isas und Jans Großmutter.«