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Ein unvergesslicher Sommer Die Sommerferien sind da und die zehnjährige Ferris hat alle Hände voll zu tun. Während ihre aufmüpfige kleine Schwester die Nachbarschaft schikaniert, muss Ferris ihre Tante ausspionieren, ihre Klassenlehrerin aufheitern und ihrem Vater im Kampf gegen eine Waschbären-Invasion helfen. Außerdem macht sie sich Sorgen um ihre Oma, die fast nur noch im Bett liegt und behauptet, einen Geist zu sehen, der einen ganz speziellen Auftrag für Ferris hat. Den zu erfüllen, scheint fast unmöglich bei all dem Trubel im Haus. Aber wenn es jemand schaffen kann, alle Probleme zu lösen, während die ganze Familie verrückt spielt – dann Ferris!
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Sommerferien sind da und Ferris hat alle Hände voll zu tun. Während ihre aufmüpfige kleine Schwester die Nachbarschaft schikaniert, muss Ferris ihre Tante ausspionieren, ihre Klassenlehrerin aufheitern und ihrem Vater im Kampf gegen eine Waschbären-Invasion helfen. Außerdem behauptet ihre Oma, einen Geist zu sehen, der einen ganz speziellen Auftrag für Ferris hat. Den zu erfüllen, scheint fast unmöglich bei all dem Trubel im Haus. Aber wenn es jemand schaffen kann, alle Probleme zu lösen, während die ganze Familie verrücktspielt – dann Ferris!
Ein warmherziger Roman der preisgekrönten Autorin Kate DiCamillo über einen chaotischen Sommer und den Mut, das Unmögliche zu erwarten
Von Kate DiCamillo ist bei dtv außerdem lieferbar:
Winn-Dixie
Flora und Ulysses – Die fabelhaften Abenteuer
Despereaux – Von einem, der auszog das Fürchten zu verlernen
Little Miss Florida
Louisianas Weg nach Hause
Die wunderbare Reise der Beatryce
Kate DiCamillo
Aus dem amerikanischen Englisch von Uwe-Michael Gutzschhahn
Für Rainey Stewart und Tracey Bailey
Es war der Sommer, bevor Emma Phineas Wilkey (die alle Ferris nannten) in die fünfte Klasse kam.
Es war der Sommer, in dem Charisse der Geist erschien, der Sommer, in dem sich Ferris’ Schwester Pinky Wilkey der Idee verschrieb, eine Verbrecherin zu werden, und der Sommer, in dem Onkel Ted Tante Shirley verließ und in den Wilkey-Keller zog, um eine Geschichte der Welt zu malen.
Es war der Sommer, in dem Ferris’ bester Freund Billy Jackson wieder und wieder einen Song namens Mysterious Barricades auf dem Klavier spielte.
Billy Jackson liebte Musik.
Der allererste Satz, den er je mit Ferris wechselte, war dieser gewesen: »Ich höre ständig Klaviermusik in meinem Kopf und ich frage mich, ob es in Ordnung wär, wenn ich deine Hand halte.«
Sie standen in Mrs Bleekers Kindergarten-Klasse. Sonnenvierecke glänzten auf dem Holzfußboden und Ferris reichte Billy Jackson die Hand, während er ihr weiter von der Klaviermusik in seinem Kopf erzählte.
Billys Hand schwitzte. Seine Brille war mit einem Gummiband an seinem Kopf befestigt und Ferris wusste fast noch im selben Moment, dass sie Billy Jackson nie wieder loslassen wollte. Sie sagte: »Wir haben ein Klavier bei uns zu Hause. Wenn du willst, kannst du jederzeit vorbeikommen und darauf spielen.«
Es war ein großes, altes Haus, in dem Ferris wohnte.
Ferris hatte ihr eigenes Zimmer. Genau wie Pinky und natürlich auch ihre Eltern.
Charisse, Ferris’ Großmutter, hatte ebenfalls ihr eigenes Zimmer.
Und genau dort erschien ihr der Geist – an der Türschwelle zu ihrem Zimmer.
»Liebes«, sagte Charisse zu Ferris. »Dieser Geist, er steht da einfach in der Tür und sieht mich mit dem traurigsten Gesicht an, das du dir vorstellen kannst.«
»Wie sieht er denn aus?«, fragte Ferris. »Ich meine, außer traurig?«
»Er ist eine Sie und sie trägt ein langes Kleid. In der Hand hält sie ein Taschentuch, das sie wringt und knüllt. Sie ist eindeutig wegen irgendwas verzweifelt. Ganz unglücklich, Schatz.«
»Gibt es denn Geister, die glücklich sind?«, fragte Ferris.
»Falls du geneigt bist, an meinem Verstand zu zweifeln, möchte ich, dass du weißt, dass auch Boomer die Geisterfrau sehen kann.«
Boomer war der Hund. Er war halb Hirtenhund, halb Deutscher Schäferhund und laut Ferris’ Vater hatte er auch noch etwas von einem wolligen Mammut im Blut. Niemand wusste, was für ein Hund Boomer wirklich war, nur dass er riesig war und ein sehr dickes, wolliges Fell hatte, war offensichtlich.
»Boomer weigert sich, ins Zimmer zu kommen, wenn er die Geisterfrau in der Tür stehen sieht«, sagte Charisse. »Er ist ein sehr scharfsichtiger Hund.«
»Aber wieso ist der Geist da?«, fragte Ferris. Sie saß auf der Fensterbank von Charisse’ Zimmer und schaute hinaus in den Garten.
Ferris vermutete, dass sie mehr als die Hälfte ihrer bisherigen Lebenszeit in Charisse’ Zimmer verbracht hatte – dort ihrer Großmutter erzählt, ihr zugehört, Rommé gespielt, aus der Bibel vorgelesen hatte und auch aus einer abgegriffenen Taschenbuchausgabe von Walt Whitmans Grashalmen.
»Ich meine«, fragte Ferris, »was, glaubst du, will der Geist von dir?«
»Ich habe absolut keine Ahnung«, antwortete Charisse. »Bin vollkommen ratlos, mein Schatz.«
Boomer schlief auf dem Teppich mit dem Rosenmuster, der vor Charisse’ Bett lag. Er bewegte seine Pfoten, atmete schwer und träumte, etwas zu jagen. Das einzige Mal, dass Boomer es tatsächlich geschafft hatte, etwas zu fangen (ein Eichhörnchen-Junges), hatte er es sofort wieder losgelassen und war, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, zurück ins Haus geschlichen – vor Scham und Bedauern vollkommen am Boden zerstört.
Er war eine zarte Seele.
Das sagte Charisse jedenfalls über ihn. »Er ist eine zarte Seele.«
»Hast du Angst vor ihr?«, fragte Ferris. »Vor dem Geist, meine ich.«
»Wenn du so alt bist wie ich«, antwortete Charisse, die inzwischen dreiundsiebzig war, »hast du keine Angst mehr vor Geistern.«
»Wovor dann?«, fragte Ferris.
»Vor Demütigungen.«
»Was heißt das?«
»Ist das nicht großartig? Ich bin so froh, dass du es nicht verstehst.«
Es war Spätnachmittag und Charisse lag im Bett.
»Wieso bist du noch immer im Bett?«, fragte Ferris.
»Ich fühl mich nicht gut, mein Schatz, und mehr will ich dazu nicht sagen. Und ich möchte, dass du mich nicht weiter ausquetschst, wie du es sonst immer tust.«
Ferris war für Charisse der liebste Mensch der Welt. Niemand bestritt das – weder Charisse noch Ferris noch irgendwer sonst im Haus.
Charisse war die Person, die Ferris aufgefangen hatte, als sie zur Welt kam – aufgefangen im wahrsten Sinne des Wortes.
Charisse hatte auf dem Boden vom Festplatz gekniet und war die gewesen, die Ferris als Erste sah. Sie meinte, sie hätte sie auf den ersten Blick erkannt.
»Willkommen, Liebes.« Genau das hatte sie zu Ferris gesagt und Ferris schwor, dass sie sich noch genau dran erinnerte – wie sie auf die Welt kam, den blauen Himmel sah und das Gesicht von Charisse, das ihr freundlich entgegenlächelte.
»Es ist eine Liebesgeschichte«, sagte Charisse, wann immer sie die Geschichte von Ferris’ Geburt erzählte. »Aber wenn man es genau nimmt, ist jede Geschichte eine Liebesgeschichte. Oder zumindest jede gute Geschichte ist eine Liebesgeschichte.«
»Es kann unmöglich sein, dass du dich dran erinnerst«, sagte Ferris’ Mutter an jenem Abend. »Selbst ich kann mich ja kaum mehr erinnern. Weißt du, was deine Großmutter tut? Sie dramatisiert alles. Nein, das stimmt nicht, sie romantisiert alles. Auf einem Festplatz Wehen zu kriegen, ist aber nicht romantisch. Das kannst du mir glauben. Reich mir mal bitte den Schwamm.«
Ferris und ihre Mutter saßen am Küchentisch. Ihre Mutter klebte Rabattmarken in ein Rabattmarkenheft. Sie hatte sich vorgenommen, genügend Hefte vollzukleben, um einen Tischbackofen zu bekommen.
Ferris’ Mutter war praktisch. Sie war pragmatisch. Sie unterrichtete Mathematik an der Highschool. »Der Versuch, einer Klasse voll Teenagern tagein, tagaus Mathe beizubringen, lässt einem keinen Raum für romantische Vorstellungen«, sagte ihre Mutter oft. »Ich bin durch und durch Pragmatikerin.«
War Ferris eine Pragmatikerin oder eine Romantikerin?«
Sie wusste es nicht.
Aber manchmal, kurz bevor sie einschlief, sah sie blauen Himmel – den blauen Himmel, den sie von ihrer Geburt erinnerte – und sie sah, wie Charisse sie anlächelte, ihr Gesicht wunderbar strahlend und schön.
Ferris glaubte, dass sie Charisse sofort erkannt hatte, als sie sie zum ersten Mal sah.
Genau wie sie Billy Jackson an dem Tag erkannte, als sie zum ersten Mal seine Hand hielt.
»Jede Geschichte ist eine Liebesgeschichte«, sagte Ferris an dem Abend, als sie im Bett lag, laut vor sich hin.
Die Fenster in ihrem Zimmer standen offen. Die Grillen zirpten. Boomer hatte sich über ihre Beine geworfen. Er schnarchte.
Es war zwar extrem warm, ein wolliges Mammut ausgestreckt auf den Beinen liegen zu haben, aber Ferris sorgte sich mehr um Charisse, die sich nicht gut fühlte, und um den Geist – was wollte der?
Wieso erschien er nur Charisse? Deshalb war Ferris froh, Boomer bei sich zu haben, der sie ans Bett fesselte, ans Haus, an die Welt.
»Ich bin zehn«, sagte Ferris ins Dunkel.
Zehn schien ihr eine beachtliche Anzahl von Jahren.
Zehn schien ihr das richtige Alter, um vielleicht ein paar Dinge zu begreifen.
»Ich bin zehn und jede gute Geschichte ist eine Liebesgeschichte.«
Über ihr, über dem Haus leuchteten die Sterne und folgten ihrem Weg am Himmel.
Boomer schnarchte.
Die Grillen zirpten.
Es klang, als wenn vielleicht auch die Sterne sängen.
Ferris schloss die Augen. Sie lauschte.
Jede Geschichte ist eine Liebesgeschichte, schien die ganze Welt zu singen. Jede gute Geschichte ist eine Liebesgeschichte.
Ferris’ Tante war Kosmetologin.
»Ich bin keine Kosmetikerin. Ich bin keine Friseurin. Ich schneide nicht einfach Haare«, erklärte Tante Shirley jedem, der Interesse an ihrem Beruf zeigte (oder auch nicht).
»Nein, ich bin eine Kosmetologin«, sagte Shirley. »Ich habe einen Abschluss in Kosmetologie. Ich bin eine Geschäftsfrau.«
Tante Shirley gehörte ein Schönheitssalon mit dem Namen Shirley Curl.
Das »y« auf dem Shirley-Curl-Schild war unterhalb des Worts »Curl« zu einer schwungvollen Locke geformt. Unter dem Namen »Shirley Curl« stand noch der Satz: »Warum nicht fantastisch aussehen!«
Ferris fand, dass hinter »Warum nicht fantastisch aussehen« ein Fragezeichen gehörte, aber Shirley wollte kein Frage-, sondern ein Ausrufezeichen.
»Ich habe nicht die Absicht, Zweifel zu säen«, erklärte sie Onkel Ted, als er das Schild für sie malte. »Es ist das Recht einer jeden Frau, schön zu sein. Also kein Fragezeichen auf meinem Schild. Man muss überzeugend sein.«
Onkel Ted hatte einen Doktortitel in Philosophie und er hatte als professioneller Schildermaler gearbeitet, ehe ihn plötzlich die Botschaft erreichte, er müsse eine visuelle Geschichte der Welt malen.
»Wer genau hat ihm die Botschaft überbracht?«, fragte Ferris’ Mutter.
»Weiß ich nicht«, antwortete Ferris’ Vater. »Aber ich bin sicher, dass ihm jemand etwas überbracht hat.« Ted war sein jüngerer Bruder und Ferris’ Vater verstand ihn auf einer, wie er oft sagte, »zellularen Ebene«.
»Größenwahn«, sagte Ferris’ Mutter. »Er ist ein Romantiker. Genau wie Charisse.«
»Also, Liebes«, sagte Ferris’ Vater. »Lass uns doch einfach abwarten, bis sich der Staub wieder legt.«
»Der Staub hat sich bereits gelegt«, antwortete ihre Mutter. »Ted wohnt im Keller, oder etwa nicht?«
Sie saßen an dem gelben Tisch in der Küche. Ferris’ Vater las Zeitung und ihre Mutter klebte weitere Rabattmarkenheftchen voll. Genau genommen hämmerte sie die Rabattmarken in die Hefte.
Boomer lag unter dem Tisch. Er schlug jedes Mal zustimmend mit dem Schwanz, wenn sie eine weitere Rabattmarke ins Heft hämmerte. Draußen vor dem Küchenfenster stand der Magnolienbaum feierlich und geduldig da und seine glänzenden Blätter spiegelten das Licht der Morgensonne.
Es war der erste Tag der Sommerferien.
Ferris hatte ihre bloßen Füße an Boomers haarige Flanke gelehnt. Sie trank Kaffee mit viel, viel Milch und Zucker. Ihr Vater hatte ihr den Becher gereicht und gemeint: »Ich glaube, als Zehnjährige kann man schon mal mit seinen Eltern einen Morgenkaffee trinken.«
Pinky lief den Rand des Gartens ab. Sie trug einen schwarzen Umhang und schrie immer wieder denselben Satz, mit jedem Mal etwas lauter: »Aus dem Weg, ihr Trottel!«
Pinky war sechs, und auch wenn Ferris ihre ältere Schwester war, verstand sie Pinky nicht mal auf einer zellularen Ebene.
Pinky war ein furchterregendes Rätsel.
Charisse lag schlafend in ihrem Zimmer (was besorgniserregend war) und Onkel Ted war im Keller.
»Der Staub«, sagte Ferris’ Mutter, »hat sich als Decke der Gewissheit niedergelassen. Wir werden Ted nie mehr aus dem Keller da unten herauskriegen.«
»Es ist auch sein Haus«, antwortete Ferris’ Vater. Er raschelte mit der Zeitung. »Es ist genauso sein Stammsitz wie meiner.«
Ferris’ Mutter schnaubte. »Stammsitz.« Sie schnaubte noch einmal. »Ich wette, Shirley ist froh, dass sie ihren Mann los ist.«
Ferris trank einen Schluck Kaffee. Er war kräftig und geheimnisvoll. Er schmeckte nach Erwachsensein.
»Ich will nicht, dass er für immer im Keller wohnt«, sagte ihre Mutter. »Ich zieh doch nicht noch ein Kind groß.«
»Schatz«, antwortete Ferris’ Vater. »Ich bin sicher, dass er das auch nicht erwartet. Außerdem kann er dich hören.«
»Gut«, antwortete sie und stampfte mit dem Fuß auf den Küchenboden, während sie gleichzeitig eine weitere Rabattmarke in das Heft hämmerte.
Boomer setzte sich auf und bellte.
Aus dem Garten drang wieder Pinkys Schreien: »Aus dem Weg, ihr Trottel!«
Ferris nahm noch einen Schluck Kaffee und sagte: »Charisse fühlt sich nicht gut.«
»Sie ist alt«, antwortete ihre Mutter, was keine allzu beruhigende Feststellung war. In Sachen Beruhigen versagte ihre Mutter oft.
Ferris sagte: »Ich glaube, ich schau mal nach Onkel Ted.« Sie stellte ihren Becher ab, ging zur Speisekammer und schnappte sich das große Glas mit den Erdnüssen. Onkel Ted liebte Erdnüsse.
Boomer kam unter dem Küchentisch vor und folgte ihr. Auch er liebte Erdnüsse.
»Lass das Glas nicht unten bei Ted«, sagte ihre Mutter.
»Okay«, rief Ferris.
Die Treppe in den Keller knarrte. Sie war dunkel und voller Spinnweben. Ferris und Boomer gingen langsam. Ferris hielt das Erdnussglas ausgestreckt vor sich. Es war, als wenn sie eine Laterne tragen würde.
»Ferris!«, sagte Ted, als er sie sah.
»Hi, Onkel Ted«, antwortete sie. »Ich hab dir Erdnüsse mitgebracht.«
»Du bist ein aufmerksames Kind, meine Süße«, sagte Ted.
»Okay.« Sie reichte ihm das Glas. »Wie kommst du mit der Geschichte der Welt voran?«
»Willst du mal sehen?«, fragte er.
Ferris nickte. Ted begleitete sie hinter den Heizungskessel, wo eine riesige weiße Leinwand mit einem kleinen Flatschen links in der unteren Ecke stand. Ferris trat dichter heran. Sie betrachtete den Flatschen. Er sah aus, als ob er vielleicht einen Fuß darstellen könnte.
»Ist das ein Fuß?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Ted.
»Sieht gut aus.«
Sie wusste nicht genau, was ein Fuß mit der Geschichte der Welt zu tun hatte.
»Mit irgendwas musste ich ja anfangen«, sagte Onkel Ted. »Und ein Fuß schien mir ein guter Ansatz.«
Ferris nickte wieder. Ted drehte den Deckel von dem Erdnussglas auf, kippte das Glas und schüttete die Erdnüsse direkt in seinen Mund.
Er war immer noch im Bademantel. Seine Haare standen zu beiden Seiten und auch oben vom Kopf ab.
Ferris betrachtete schnell wieder den Fuß. Es schien ihr das Höflichste, was sie tun konnte.
»Ferris, Süße, ich muss dich um einen Gefallen bitten«, sagte Onkel Ted.
»Okay«, antwortete sie.
»Ob du wohl mal zu Shirley Curl gehen und rausfinden könntest, was Shirley denkt?«
»Worüber denn?«
»Über mich, Kleine. Finde raus, ob sie mich vermisst. Ich bitte dich, für mich zu spionieren. Ich bitte dich, eine Spionin im Haus der Liebe zu sein.«
Onkel Ted kippte das Erdnussglas noch einmal in Richtung Mund und schüttete weitere Nüsse in sich hinein.
Boomer bellte. Ted schaute zu ihm hinab.
»Er will auch eine«, sagte Ferris.
Ted warf ihm eine Erdnuss zu.
»Wär Pinky nicht eine bessere Spionin?«, fragte Ferris.
»Deine kleine Schwester ist der reine Terror. Ja, das ist sie. Der totale Terror. Das Kind würde sich bei Robespierre absolut wohlfühlen. Aber ihr fehlt das Feingefühl. Dir nicht.«
»Wer ist Robespierre?«, fragte Ferris.
»Ein französischer Revolutionär, meine Süße«, antwortete Ted, drehte sich zu der Leinwand um und betrachtete den Fuß.
Der Keller roch nach Spinnweben, Bademantel und Ölfarben. Und nach Erdnüssen.
Wieso fing man mit einem einzelnen Fuß an, wenn man die Geschichte der Welt malen wollte?, fragte sich Ferris. Und wie konnte man überhaupt hoffen, so etwas Kompliziertes wie die Welt und ihre Geschichte in ein Bild zu fassen?
Ferris leckte sich die Lippen. Sie schmeckte Kaffee, Erwachsensein.
»Okay«, sagte sie. »Ich werde versuchen, eine Spionin zu sein.«
Tante Shirley war blond und pink. Sie sah aus wie jemand, der aus Zucker gegossen oben auf einer kunstvoll dekorierten Geburtstagstorte hockte.
»Ach, Ferris, du hast so wunderschönes Haar, aber du pflegst es nicht richtig«, sagte Tante Shirley. »Du zeigst deine Schönheit nicht.«
Ferris war eigentlich zum Spionieren ins Shirley Curl gegangen, doch am Ende war sie mit einem geblümten Umhang um den Hals auf dem Schönheitsstuhl gelandet.
»Ich glaube, ich mach es«, sagte Shirley in einem meditativen Tonfall.
»Du machst was?«, fragte Ferris.
Shirley drückte Ferris’ Schulter. »Still jetzt«, sagte sie. »Ich werde dich so schön zurechtmachen, wie Gott dich haben wollte.«
Sie drehte sich um und mischte in einer Schale Chemikalien zusammen.
Draußen vor dem Laden lag die sonnenbeschienene Straße, die Ferris, aus dem Schönheitsstuhl betrachtet, geradezu paradiesisch vorkam.
Boomer stand vor der Glastür und starrte zu ihr herein. Shirley hielt nichts von Hunden in Schönheitssalons. »Es sendet die völlig falsche Botschaft«, erklärte sie. »Zumal bei diesem zottigen Hund.«
Ferris winkte Boomer zu. Er spitzte die Ohren und wedelte zur Antwort mit dem Schwanz.
»Sag mir die Wahrheit, Emma Phineas«, rief Shirley plötzlich, wirbelte herum und zeigte mit einer Bürste voller Haare auf Ferris. »Ted hat dich hergeschickt, um mich auszuspionieren, stimmt’s?«
»Ja, Ma’am, das stimmt!«, rief Ferris laut zurück.
»Ich wusste es. Ich wusste es einfach. Und ich erzähl dir mal was.« Shirley richtete die Bürste wieder auf Ferris. »Charisse hat ihrem Sohn keinen Gefallen getan. Du kannst nicht jemandem vom ersten Tag an, den er auf der Welt ist, ständig sagen, er ist ein Genie, ohne dass er irgendwann anfängt daran zu glauben. Und was passiert dann?«
»Keine Ahnung«, sagte Ferris.
»Ich werde dir sagen, was dann passiert. Er glaubt selber dran, dass er ein Genie ist, kündigt seinen Job und kommt auf die abstruse …« Shirley unterbrach sich kurz, wiederholte das Wort abstrus noch einmal und ließ es sich auf der Zunge zergehen, als wenn sie nicht glauben könnte, was für ein perfektes Wort sie gefunden hatte.
Abstrus bedeutete abwegig, lächerlich, ohne Verstand.
Ferris wusste das, weil Mrs Mielk, ihre Lehrerin in der Vierten, von Wörtern besessen gewesen war.
»Wörter sind der Schlüssel zum Glück!«, meinte Mrs Mielk. »Das ganze Leben hängt davon ab, zur richtigen Zeit die richtigen Wörter zu gebrauchen.«
Der Unterschied zwischen dem richtigen und dem beinahe richtigen Wort, behauptete Mrs Mielk, sei der gleiche wie zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.
»Das hat ein gewisser Mark Twain gesagt«, erklärte Mrs Mielk. »Es ist ein Zitat von Mark Twain, diesem Meister der Sprachkunst.«
Mrs Mielk hatte schiefe Zähne. Sie war ungeduldig. Sie stampfte mit dem linken Fuß auf (nie mit dem rechten, immer nur mit dem linken), wenn sie wütend war, und wütend wurde sie oft. Sie war keine besonders sympathische Person, aber Ferris mochte sie, weil sie ihr und Billy Jackson das Geschenk der Wörter gemacht hatte. Gemeinsam hatten Ferris und Billy für eine Prüfung nach der andern versucht, sich die richtigen Definitionen und die richtige Schreibweise einzuprägen. Und mit der Zeit hatten sich die Wörter dauerhaft in Ferris’ Hirn und Herz eingenistet. Sie gehörten jetzt ihr.
»Die absolut abstruse Idee«, fuhr Shirley fort, indem sie das Wort zum dritten Mal sagte, »dass Gott ihn auserwählt hat, die Geschichte der Welt zu malen. Und keiner anderen Arbeit nachzugehen, während er diese Geschichte der Welt malt. Das ist abstrus.«
»Ja, Ma’am«, sagte Ferris, als wenn sie ihr zustimmte. Was sie auch irgendwie tat.
Shirley befestigte Lockenwickler in Ferris’ Haaren und Ferris wünschte sich, dass jemand käme und sie aus dem Schönheitssalon rettete.
Die Tür ging auf und Twilla Dormin trat in den Laden.