Flora und Ulysses - Die fabelhaften Abenteuer - Kate DiCamillo - E-Book

Flora und Ulysses - Die fabelhaften Abenteuer E-Book

Kate DiCamillo

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Beschreibung

Kate DiCamillos neues Meisterwerk Ein Staubsauger mit enormer Saugkraft, ein ewig hungriges, als Superheld wiedergeborenes Eichhörnchen, ein comicliebendes eigensinniges Mädchen und eine Liebesromane schreibende Mutter – alles in einer Geschichte? Das geht? Das geht sogar ganz wunderbar, wenn die Erfinderin die Bestsellerautorin Kate DiCamillo ist, die hier eine bezaubernde neue Geschichte vorlegt. Diesmal ist die höchst ungewöhnliche treibende Kraft das Eichhörnchen Ulysses, das in Floras Familie auftaucht, die Menschen verändert und alles zu einem wunderbaren Happy End führt. 

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KATE DICAMILLO

DIEFABELHAFTENABENTEUER

Aus dem amerikanischen Englischvon Sabine Ludwig

Mit Illustrationen von K.G.Campbell

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Andrea und Heller, meine Superhelden

K.D.

Meinem Vater gewidmet

K.G.C.

1. KAPITELEine geborene Zynikerin

In ihrem Zimmer saß Flora Belle Buckmann am Schreibtisch. Sie war sehr beschäftigt, denn sie tat zwei Dinge gleichzeitig. Zum einen versuchte sie, ihre Mutter zu überhören, zum anderen las sie einen Comic mit dem Titel Die illustren Abenteuer des fantastischen Mister Blitz!

»Flora!«, rief ihre Mutter. »Was machst du da oben?«

»Ich lese!«, rief Flora zurück.

»Denk an unseren Vertrag! Vergiss ihn ja nicht!«

Zu Beginn der Ferien, in einem Moment der Schwäche, hatte Flora den Fehler begangen und einen Vertrag unterschrieben, in dem sie sich verpflichtete, »sich von den idiotischen Albernheiten der Comics ab- und dafür dem strahlenden Licht wahrer Literatur zuzuwenden«.

Das waren genau die Worte des Vertrages, Floras Mutter hatte ihn aufgesetzt.

Floras Mutter war Schriftstellerin. Sie war geschieden und schrieb Liebesromane.

Und wenn wir schon bei idiotischen Albernheiten sind:

Flora hasste Liebesromane.

Mehr noch, sie hasste Romantik.

»Ich hasse Romantik«, sagte Flora laut zu sich selbst. Ihr gefiel der Klang dieser drei Wörter. Sie stellte sich vor, wie diese über ihrem Kopf in einer Sprechblase auftauchten.

Die Vorstellung, dass Wörter über einem schwebten, hatte etwas Beruhigendes. Vor allem, wenn es böse Wörter waren.

Über Romantik zum Beispiel.

Ihre Mutter warf Flora oft vor, sie sei »eine geborene Zynikerin«.

Flora nahm an, dass das womöglich wahr sein könnte.

SIE WAR EINE GEBORENE ZYNIKERIN,

DIE AUSSERDEM

VERTRÄGE MISSACHTETE!

Genau, dachte Flora. Das bin ich. Sie beugte ihren Kopf über den Comic und las weiter die fantastischen Abenteuer von Mister Blitz.

Kurze Zeit später wurde sie von einem grässlichen Krach unterbrochen.

Es klang so, als wäre nebenan im Garten der Tickhams ein Düsenflieger gelandet.

»Was, zum Kuckuck, ist das?« Flora ging zum Fenster und sah MrsTickham mit einem riesigen glänzenden Staubsauger kreuz und quer durch ihren Garten laufen.

Es sah fast so aus, als würde sie den Rasen saugen.

Das gibt’s doch nicht, dachte Flora. Wer saugt seinen Rasen?

Und überhaupt sah es nicht so aus, als wüsste MrsTickham, was genau sie da tat.

Es sah eher so aus, als hätte der Staubsauger das Kommando übernommen. Und der Staubsauger schien seinen Verstand verloren zu haben. Oder seinen Motor. Oder sonst was.

»Bei dem ist ja ’ne Schraube locker!«, rief Flora laut.

Und dann sah sie, dass MrsTickham und der Staubsauger auf ein Eichhörnchen zusteuerten.

»Was soll das denn jetzt?«, rief Flora.

Sie schlug gegen ihr Fenster.

»Passen Sie auf!«, schrie sie. »Sie saugen das Eichhörnchen weg!«

Und während sie das rief, sah sie den Satz komischerweise über ihrem Kopf auftauchen.

»SIE SAUGEN DAS EICHHÖRNCHEN WEG!«

Man kann nie wissen, was für eine Art von Satz man sagen wird, dachte Flora. Sie wäre zum Beispiel nie auf die Idee gekommen, dass sie jemals rufen würde: »Sie saugen das Eichhörnchen weg!«

Aber es war sowieso egal, was Flora rief, sie war viel zu weit entfernt und der Staubsauger viel zu laut und offensichtlich auf Zerstörung erpicht.

»Diesem verbrecherischen Tun muss Einhalt geboten werden«, sagte Flora mit tiefer Superheldenstimme.

»Diesem verbrecherischen Tun muss Einhalt geboten werden«, pflegte der unscheinbare Hausmeister Alfred T.Slipper stets zu sagen, bevor er sich in den fantastischen Mister Blitz verwandelte und zu einer alles überragenden Verbrecher bekämpfenden Lichtgestalt wurde.

Dummerweise war aber Alfred T.Slipper nicht hier.

Wo steckte Mister Blitz, wenn man ihn brauchte?

Nicht, dass Flora wirklich an Superhelden glaubte, aber man konnte ja nie wissen.

Sie stand am Fenster und sah, wie das Eichhörnchen von dem Staubsauger verschluckt wurde.

Puff! Wusch!

»Heiliger Bimbam«, sagte Flora.

2. KAPITELDie Gedanken eines Eichhörnchens

Im Kopf eines Eichhörnchens passiert normal nicht viel.

Der größte Teil seines Gehirns beschäftigt sich nur mit einer Sache: fressen.

Die häufigste Überlegung eines Eichhörnchens ist diese: Ich wüsste gern, was es zu fressen gibt.

Dieser ›Gedanke‹ wird dann mit kleinen Variationen (z.B. Wo gibt’s was? Mann, ich hab vielleicht Hunger. Kann man das essen?) zigtausendmal am Tag wiedergekäut.

Dies nur zur Erklärung, um zu verstehen, dass dem Eichhörnchen, als es gerade im Garten der Tickhams von einem Staubsauger namens Ulysses 2000X verschluckt wurde, keine wirklich weltbewegenden Gedanken durch den Kopf gingen.

Als der Staubsauger brüllend auf das Tier zuraste, dachte es also nicht etwa: Soll das nun mein Schicksal sein, das da auf mich zukommt?

Es dachte nicht: Ach bitte, lieber Gott, gib mir noch eine Chance und ich werde ein gutes Eichhörnchen.

Sondern es dachte: Mann, ich hab vielleicht Hunger.

Und dann wurde es mit lautem Gebrüll von den Füßen gerissen und verschluckt.

In diesem Moment dachte das Eichhörnchen an gar nichts, noch nicht mal mehr ans Fressen.

3. KAPITELDer Tod eines Eichhörnchens

Anscheinend war das Aufsaugen eines Eichhörnchens selbst für einen so kraftvollen, unbezwingbaren Kombireiniger wie den Ulysses 2000X zu viel.

Er stieß einen Heulton aus und kam stotternd zum Stehen.

MrsTickham beugte sich vor und schaute auf ihr Geburtstagsgeschenk herab.

Aus dem Staubsauger ragte hinten ein Schwanz heraus.

»Um Himmels willen«, sagte MrsTickham. »Was denn noch alles?«

Sie ging in die Hocke und versuchte vorsichtig, an dem Schwanz zu ziehen.

Dann erhob sie sich wieder und sah sich im Garten um.

»Hilfe!«, rief sie. »Ich glaube, ich hab gerade ein Eichhörnchen umgebracht.«

4. KAPITELEine erstaunlich hilfsbereite Zynikerin

Flora rannte aus ihrem Zimmer und die Treppe hinunter. Und während sie rannte, dachte sie: Für eine Zynikerin bin ich erstaunlich hilfsbereit.

Sie lief aus der Hintertür.

»Wo willst du hin, Flora Belle?«, rief ihre Mutter.

Flora antwortete nicht. Sie antwortete nie, wenn ihre Mutter sie Flora Belle nannte.

Allerdings antwortete sie ihrer Mutter auch oft dann nicht, wenn sie sie nur Flora nannte.

Flora rannte durch das hohe Gras und sprang mit einem einzigen Satz über den Gartenzaun, der ihren Garten von dem der Tickhams trennte.

»Aus dem Weg!«, schrie Flora. Sie schubste MrsTickham beiseite und griff nach dem Staubsauger. Er war sehr schwer. Sie hob ihn hoch und schüttelte ihn. Nichts passierte. Sie schüttelte kräftiger. Das Eichhörnchen purzelte heraus und landete mit einem Plop im Gras.

Es sah nicht sehr schön aus.

Ihm fehlte Fell. Wahrscheinlich weggesaugt, vermutete Flora. Seine Augenlider flatterten. Sein winziger Brustkorb hob und senkte sich noch einmal. Und dann bewegte sich nichts mehr.

Flora kniete sich neben dem Eichhörnchen auf den Boden. Sie legte dem Tier einen Finger auf die Brust.

Auf der Rückseite von jeder Ausgabe der Illustren Abenteuer des fantastischen Mister Blitz! gab es eine Reihe von Extracomics. Einer von Floras Lieblings-Extracomics hieß: WAS TUN, WENN EINEM SCHRECKLICHES WIDERFÄHRT? GUTER RAT IN ALLEN LEBENSLAGEN.

Als Zynikerin wusste Flora, dass es klug war, auf alles vorbereitet zu sein. Schließlich wusste man nie, was einem Furchtbares zustoßen konnte.

WAS TUN, WENN EINEM SCHRECKLICHES WIDERFÄHRT? beschrieb ausführlich, was zu tun war, wenn man aus Versehen eine Pflaume oder Kirsche aus Plastik verschluckt hat (was übrigens viel öfter geschieht, als man denkt, Plastikobst sieht manchmal täuschend echt aus), wie man den Heimlich-Handgriff anwendet, wenn Tante Edith ein zähes Stück Fleisch von einem All-you-can-eat-Büfett in die falsche Kehle bekommen hat, oder wie man sich verhält, wenn man ein gestreiftes T-Shirt trägt und sich ein Heuschreckenschwarm auf einen stürzt (so schnell laufen, wie man nur kann: Heuschrecken fressen Streifen), und erklärte natürlich auch, wie man die wirksamste Technik der Wiederbelebung anwendete: Die Mund-zu-Mund-Beatmung.

In WAS TUN, WENN EINEM SCHRECKLICHES WIDERFÄHRT? hatte allerdings nicht gestanden, wie die Mund-zu-Mund-Beatmung bei einem Eichhörnchen funktioniert.

»Ich find’s raus«, sagte Flora.

»Was willst du rausfinden?«, fragte MrsTickham.

Flora antwortete nicht, stattdessen beugte sie sich hinunter und drückte ihren Mund auf das winzige Maul des Eichhörnchens.

Es schmeckte ungewohnt.

Wenn Flora es hätte beschreiben müssen, würde sie sagen, dass es genau nach Eichhörnchen schmeckte: fusselig, feucht und ein klein wenig nach Nüssen.

»Hast du den Verstand verloren?«, rief MrsTickham.

Flora achtete nicht auf sie.

Sie pustete Luft in das Maul des Eichhörnchens. Sie presste ihren Finger auf seine Brust.

Sie begann zu zählen.

5. KAPITELDas Eichhörnchen gehorcht

Etwas Seltsames passierte im Gehirn des Eichhörnchens.

Zuerst war alles schwarz und schwärzer geworden. Und dann erschien in dieser schwarzen Leere ein Licht. Es war so schön, so hell, dass das Eichhörnchen es fast nicht ertrug.

Eine Stimme sprach zu ihm.

»Was ist das?«, fragte das Eichhörnchen.

Das Licht strahlte noch heller.

Und wieder sprach die Stimme.

»Okay«, sagte das Eichhörnchen. »Und ob!«

Es war sich nicht sicher, was genau es versprochen hatte, aber das war unwichtig. Das Eichhörnchen war einfach nur glücklich. Es trieb in einem großen See aus Licht und die Stimme sang ihm etwas vor. Ach, war das schön! Es war das Beste überhaupt.

Und dann gab es einen lauten Krach.

Das Eichhörnchen hörte nun eine andere Stimme. Die Stimme zählte und das Licht verschwand.

»Atme!«, rief die neue Stimme.

Das Eichhörnchen gehorchte. Zitternd holte es tief Luft.

Und noch einmal. Und noch einmal.

Das Eichhörnchen kam zu Bewusstsein.

6. KAPITELFür den Fall eines Anfalls

»Oh, es atmet«, sagte MrsTickham.

»Ja«, sagte Flora. »Das tut es.« Sie spürte unbändigen Stolz.

Das Eichhörnchen rollte sich auf den Bauch. Es hob den Kopf. Seine Augen waren ganz glasig.

»Um Himmels willen, schau doch bloß mal«, sagte MrsTickham.

Dann schüttelte sie den Kopf und kicherte leise und plötzlich fing sie an, laut zu lachen. Sie hörte nicht auf. Sie lachte und lachte und lachte. Sie lachte so sehr, dass sie zu zittern begann.

Bekam sie etwa einen epileptischen Anfall?

Flora versuchte sich zu erinnern, welche Maßnahmen in WAS TUN, WENN? hierfür empfohlen wurden. Irgendetwas war da mit der Zunge gewesen, die sollte man schützen oder mithilfe eines Stockes sichern, damit der Kranke sie am Ende nicht durchbiss. Oder so ähnlich.

Flora hatte dem Eichhörnchen das Leben gerettet, warum sollte sie nicht auch MrsTickhams Zunge retten können?

Die Sonne war bereits am Untergehen. MrsTickham lachte noch immer hysterisch.

Und Flora Belle Buckmann machte sich im Garten der Tickhams auf die Suche nach einem Stock.

7. KAPITELDie Seele eines Eichhörnchens

Das Eichhörnchen war noch etwas wacklig auf den Beinen.

Sein Gehirn fühlte sich größer an, geräumiger irgendwie. Es schien ihm, als ob mehrere Türen im dunklen Raum seines Selbst (Türen, von deren Existenz es bisher nichts gewusst hatte) plötzlich weit offen standen.

Alles war durchdrungen von Bedeutung, Zweck, Licht.

Doch das Eichhörnchen war immer noch ein Eichhörnchen.

Ein sehr, sehr hungriges Eichhörnchen allerdings.

8. KAPITELHilfreiche Informationen

Flora und MrsTickham bemerkten es gleichzeitig.

»Das Eichhörnchen!«, rief Flora.

»Der Staubsauger!«, rief MrsTickham.

Sie starrten auf den Ulysses 2000X und auf das Eichhörnchen, das den Staubsauger mit einer Pfote über seinen Kopf hielt.

»Das ist unmöglich«, sagte MrsTickham.

Das Eichhörnchen schüttelte den Staubsauger.

»Das ist unmöglich«, sagte MrsTickham.

»Das haben Sie schon gesagt«, meinte Flora.

»Ich wiederhole mich?«

»Sie wiederholen sich.«

»Vielleicht hab ich einen Gehirntumor«, sagte MrsTickham.

Es war durchaus möglich, dass MrsTickham einen Gehirntumor hatte. Flora wusste aus WAS TUN, WENN EINEM SCHRECKLICHES WIDERFÄHRT?, dass erstaunlich viele Menschen mit einem Tumor im Kopf herumliefen und überhaupt nichts davon wussten. So war es mit dem Schicksal. Es saß da, leistete einem Gesellschaft, wartete ab und man hatte keine Ahnung davon.

Derart hilfreiche Dinge lernte man in Comics, wenn man sie nur aufmerksam genug las.

Die zweite Art von Informationen, die einem die regelmäßige Lektüre von Comics bescherte, war die, dass unmögliche Dinge ständig passieren konnten.

So entstanden Helden – Superhelden – manchmal unter lächerlichen und unwahrscheinlichen Umständen: durch Spinnenbisse, ausgelaufene Chemikalien, veränderte Planetenbahnen und – im Fall von Alfred T.Slipper – durch den zufälligen Sturz in eine Wanne mit dem Industriereiniger Mister Blitz! (Kraftvoll und hygienisch zugleich.)

»Ich glaube nicht, dass Sie einen Gehirntumor haben«, sagte Flora. »Es muss eine andere Erklärung geben.«

»Uhuhu«, machte MrsTickham. »Was soll das für eine Erklärung sein?«

»Haben Sie schon mal von Mister Blitz gehört?«

»Was?«, fragte MrsTickham.

»Nicht was, wer«, sagte Flora. »Mister Blitz ist ein Wer. Er ist ein Superheld.«

»Aha«, sagte MrsTickham. »Und was genau meinst du damit?«

Flora hob ihre rechte Hand. Sie zeigte mit dem Finger auf das Eichhörnchen.

»Du willst doch nicht etwa andeuten, dass…«, begann MrsTickham.

Das Eichhörnchen setzte den Staubsauger auf dem Boden ab. Es betrachtete die beiden. Es war ganz still, nur seine Barthaare zuckten und zitterten. Auf seinem Kopf lagen Brotkrümel.

Es war ein Eichhörnchen.

Konnte es gleichzeitig ein Superheld sein?

Alferd T.Slipper war ein Hausmeister. Die meiste Zeit beachteten die Menschen ihn nicht weiter. Manchmal (ziemlich oft sogar) behandelten sie ihn mit Geringschätzung. Sie hatten keine Ahnung von den erstaunlichen Heldentaten, dem blendenden Licht, das sich hinter seinem unscheinbaren Äußeren verbarg.

Nur Alfreds Papagei Dolores wusste, wer er war und welche Fähigkeiten er hatte.

»Die Welt wird ihn nicht verstehen«, sagte Flora.

»Darauf kannst du wetten«, sagte MrsTickham.

»Tootie?«, rief da MrTickham von der Hintertür. »Tootie, ich hab Hunger.«

Tootie?

Was für ein alberner Name.

Flora konnte dem Drang nicht widerstehen, ihn laut auszusprechen. »Tootie«, sagte sie. »Tootie Tickham. Hören Sie, Tootie. Gehen Sie ins Haus. Füttern Sie Ihren Mann. Erzählen Sie weder ihm noch sonst jemandem irgendetwas von dem, was hier geschehen ist.«

»Gut«, sagte Tootie. »Ich erzähle nichts. Ich füttere meinen Mann. Okay, in Ordnung.« Langsam machte sie sich auf den Weg ins Haus.

MrTickham rief: »Hast du gesaugt? Was ist mit dem Staubsauger? Lässt du Ulysses etwa auf dem Rasen liegen?«

»Ulysses«, flüsterte Flora. Sie fühlte, wie ihr ein Schauder vom Kopf das Rückgrat hinunterlief. Sie mochte die geborene Zynikerin sein, aber sie erkannte das richtige Wort, wenn sie es hörte.

»Ulysses«, wiederholte sie.

Sie beugte sich hinunter und streckte dem Eichhörnchen ihre Hand entgegen.

»Komm her, Ulysses«, sagte sie.

9. KAPITELDie ganze Welt steht in Flammen

Sie sprach mit ihm.

Und er verstand sie.

Das Mädchen sagte: »Ulysses. Komm her, Ulysses.«

Und ohne nachzudenken, hüpfte er zu ihr.

»Alles ist in Ordnung«, sagte sie.

Und er glaubte ihr.

Es war erstaunlich. Alles war erstaunlich. Die untergehende Sonne ließ jeden einzelnen Grashalm leuchten. Ihre Strahlen wurden von den Brillengläsern des Mädchens reflektiert, es sah aus, als trüge sie einen Kranz aus Licht um ihren runden Kopf, der die ganze Welt in Flammen setzte.

Das Eichhörnchen dachte: Wieso ist das auf einmal alles so wunderschön? Und wenn es immer schon so war, wie kommt es, dass ich es nie bemerkt habe?

»Hör zu«, sagte das Mädchen. »Ich heiße Flora. Und dein Name ist Ulysses.«

Okay, dachte das Eichhörnchen.

Sie berührte ihn mit ihrer Hand. Sie hob ihn hoch. Sie wiegte ihn in ihrem Arm.

Er fühlte nur eins: Glück. Warum hatte er nur immer so viel Angst vor Menschen gehabt? Das konnte er sich gar nicht mehr vorstellen.

Doch! Er konnte es sich sehr wohl vorstellen.

Da war zum Beispiel die Sache mit dem Jungen und dem Luftgewehr.

Genau genommen hatte es eine Menge Zwischenfälle mit Menschen gegeben (manchmal hatte ein Luftgewehr dabei eine Rolle gespielt, manchmal nicht) und alle waren brutal, erschreckend und niederschmetternd gewesen.

Aber jetzt begann ein neues Leben!

Er war völlig verändert. Er fühlte sich spektakulär. Stark, klug, fähig – aber auch: hungrig.

Er war sehr, sehr hungrig.

10. KAPITELEichhörnchenschmuggel

Floras Mutter saß in der Küche und tippte. Sie schrieb auf einer alten Schreibmaschine und jedes Mal, wenn sie auf die Tasten schlug, wackelte der Küchentisch, klapperten die Teller im Regal und in der Küchenschublade klirrte erschrocken das Besteck.

Flora hatte für sich entschieden, dass sich ihre Eltern deswegen getrennt hatten. Nicht wegen des Lärms, den ihre Mutter beim Schreiben machte, sondern wegen des Schreibens selber. Insbesondere wegen des Schreibens von Liebesromanen.

Floras Vater hatte gesagt: »Ich glaube, deine Mutter liebt ihre Bücher über die Liebe so sehr, dass sie mich nicht mehr liebt.«

Und Floras Mutter hatte gesagt: »Dein Vater ist so neben der Spur, dass er Liebe noch nicht einmal erkennen würde, wenn sie aus seiner Suppe auftauchen und anfangen würde zu singen.«

Flora hatte vergeblich versucht, sich die Liebe vorzustellen, wie sie in einem Teller Suppe steht und singt. Aber ihre Eltern benutzten gern derart idiotische Ausdrücke. Und sie waren an den jeweils anderen gerichtet, auch wenn sie so taten, als würden sie mit Flora sprechen.

Das war sehr anstrengend.

»Was machst du?«, fragte ihre Mutter. Sie lutschte an einem Lolli. Dadurch bekamen ihre Worte etwas Hartes und Scharfkantiges. Floras Mutter war Raucherin, manchmal versuchte sie, sich das Rauchen abzugewöhnen, aber sie musste beim Schreiben irgendwas im Mund haben, also lutschte sie jede Menge Lollis. Dieser war mit Orangengeschmack. Das konnte man riechen.

»Ach, nichts«, sagte Flora. Sie schielte auf das Eichhörnchen in ihren Armen.

»Gut«, sagte ihre Mutter, ohne aufzublicken. Sie ließ den Wagen der Schreibmaschine zurückschnellen und schrieb dann weiter. »Stehst du immer noch da, Flora?«

Sie schrieb noch ein paar Wörter. Wieder fuhr der Wagen ratternd zurück.

»Ich habe einen Abgabetermin und kann mich nicht konzentrieren, wenn du hinter mir stehst und atmest.«

»Soll ich aufhören zu atmen?«, sagte Flora.

»Ach, werd nicht albern«, sagte ihre Mutter. »Geh nach oben und wasch dir die Hände. Wir essen gleich.«

»Okay«, sagte Flora. Sie ging an ihrer Mutter vorbei ins Wohnzimmer, sie hielt immer noch Ulysses im Arm. Das Unmögliche war wahr geworden. Sie hatte ein Eichhörnchen ins Haus geschmuggelt. Und das direkt unter den Augen ihrer Mutter. Im übertragenen Sinne gesprochen.

Im Wohnzimmer, am Fuß der Treppe stand abwartend die kleine Schäferin. Die kleine Schäferin war der Fuß einer Lampe.

Flora hasste die kleine Schäferin. Sie hasste ihr aufgemaltes rosawangiges selbstgefälliges Lächeln.

Ihre Mutter hatte die Lampe von dem Honorar gekauft, das sie für ihr erstes Buch bekommen hatte. Es hieß Auf den gefiederten Schwingen des Glücks, was der dämlichste Buchtitel war, den Flora je gehört hatte.

Ihre Mutter hatte sich die Lampe aus London schicken lassen. Als sie ankam, hatte sie sie ausgepackt, angeschlossen und dann gesagt: »Oh, wie schön sie ist. Ist sie nicht wunderschön? Ich liebe sie von ganzem Herzen.«

Floras Mutter sagte von Flora nie, dass sie schön sei. Sie sagte nie, dass sie sie von ganzem Herzen liebte. Glücklicherweise war Flora Zynikerin, daher war es ihr egal, ob ihre Mutter sie liebte oder nicht.

»Ich glaube, ich nenne sie Mary Ann«, hatte Floras Mutter gesagt.

»Mary Ann?«, fragte Flora. »Du willst einer Lampe einen Namen geben?«

»Mary Ann, Schäferin der Verlorenen«, sagte ihre Mutter.

»Wer genau ist verloren?«, fragte Flora.

Aber ihre Mutter hatte sich nicht die Mühe gemacht, diese Frage zu beantworten.

»Dies hier ist die kleine Schäferin«, sagte Flora zum Eichhörnchen. »Sie heißt Mary Ann und wohnt leider auch hier.«

Das Eichhörnchen betrachtete Mary Ann.

Flora starrte die Lampe mit zusammengekniffenen Augen an. Sie wusste, dass es albern war, aber manchmal hatte sie das Gefühl, als wüsste Mary Ann etwas, das sie nicht wusste, dass die kleine Schäferin ein dunkles und schreckliches Geheimnis verbarg.

»Du dumme Lampe«, sagte Flora. »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Kümmere dich um deine Schafe.«

Eigentlich war es nur ein Schaf, ein winziges Lamm, das zusammengerollt zu Mary Anns rosabeschuhten Füßen lag. Flora hätte die kleine Schäferin gern gefragt: »Wenn du so eine großartige Schäferin bist, wo ist denn dann der Rest deiner Herde, hallo?«

»Wir achten einfach nicht auf sie«, sagte Flora zu Ulysses.

Sie wandte sich ab von der lächelnden und leuchtenden Mary Ann und stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hoch, Ulysses behutsam und vorsichtig in ihrem Arm haltend.