Louisianas Weg nach Hause - Kate DiCamillo - E-Book

Louisianas Weg nach Hause E-Book

Kate DiCamillo

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Beschreibung

Der neue große Kinderroman von Kate DiCamillo »Falls sich jemand fragt: Ach du meine Güte, was ist denn mit Louisiana Elefante passiert? Hier ist meine Geschichte: Ich wurde mit einem Fluch belegt. Dem Fluch des Verlassenwerdens. Das hat Granny gesagt. Granny hat auch gesagt, dass ich mein Zuhause verlassen muss. Und meine besten Freundinnen Raymie und Beverly. Mitten in der Nacht hat Granny mich geweckt und wir sind mit dem Auto losgefahren. In irgendein Hotel in irgendeiner Stadt. Ich wollte nach Hause. Aber wie? Was sollte ich nur tun? Ich werde  euch erzählen, was ich tat.«

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Kate DiCamillo

Louisianas Weg nach Hause

Aus dem amerikanischen Englischen von Sabine Ludwig

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

Für Tracey Priebe Bailey

Eins

Ich werde nun alles aufschreiben, sodass jeder erfährt, was mit mir passiert ist. Solltest du also nachts am Fenster stehen, hoch zu den Sternen schauen und dich fragen: »Du meine Güte, was ist bloß aus Louisiana Elefante geworden? Wo ist sie geblieben?«, so bekommst du hier die Antwort. Du wirst es gleich erfahren.

Das ist geschehen.

Ich beginne damit, wie alles anfing.

 

Es fing damit an, dass mein Urgroßvater ein Zauberer war und vor langer, langer Zeit einen fürchterlichen Fluch verhängt hat.

So genau musst du gar nicht wissen, worum es bei diesem fürchterlichen Fluch ging, es reicht, wenn du weißt, dass er existiert und dass er seither von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Wie ich schon sagte, es ist ein fürchterlicher Fluch.

Und nun schwebt er über mir.

Vergiss das nicht.

 

Mitten in der Nacht brachen wir auf.

Granny weckte mich. Sie sagte: »Der Tag der Abrechnung ist gekommen. Die entscheidende Stunde naht. Wir müssen sofort aufbrechen.«

Es war drei Uhr morgens.

Wir gingen raus zum Auto. Die Nacht war sehr dunkel, aber die Sterne schienen hell.

Ach, es gab so viele Sterne!

Und mir fiel auf, dass einige dieser Sterne den Umriss einer Figur mit langer Nase bildeten, einer Figur, die Lügen erzählt: Pinocchio!

Ich zeigte Granny den Sternen-Pinocchio, aber sie interessierte sich nicht dafür. »Beeil dich!«, rief sie. »Wir haben keine Zeit zum Sternegucken. Wir haben eine Verabredung mit dem Schicksal.«

Ich stieg ins Auto und wir fuhren davon.

Ich habe nicht daran gedacht, mich noch einmal umzuschauen. Ich konnte ja auch nicht wissen, dass ich mein Zuhause nie mehr wiedersehen würde.

Ich dachte, es wäre nur wieder eine von Grannys mitternächtlichen Ideen und dass sie bei Tag ganz anders darüber denken würde.

So war es schon oft gewesen.

Granny hat jede Menge mitternächtliche Ideen.

 

Ich bin eingeschlafen, und als ich aufwachte, fuhren wir immer noch. Die Sonne ging auf und ich sah ein Straßenschild, auf dem stand GEORGIA – 20MEILEN.

Georgia!

Wir waren schon fast in einem anderen Bundesstaat und Granny fuhr immer noch, so schnell sie konnte. Das Gesicht nah an der Windschutzscheibe, denn sie sieht nicht gut und ist zu eitel, um eine Brille zu tragen. Außerdem ist sie sehr klein (fast kleiner als ich) und muss sich weit nach vorn beugen, um das Gaspedal zu erreichen.

Wie auch immer, jedenfalls schien die Sonne. Sie ließ die Flecken und Kleckse auf der Windschutzscheibe strahlen. Sie sahen aus wie diese Sterne, die im Dunkeln leuchten, fast so, als hätte sie jemand als Überraschung für mich angeklebt.

Ich liebe Sterne.

Ach, ich wünschte mir so sehr, dass jemand für mich diese Leuchtsterne auf unsere Windschutzscheibe geklebt haben könnte.

Aber das war nicht der Fall.

Ich fragte: »Granny, wann drehen wir um und fahren zurück nach Hause?«

Und Granny antwortete: »Wir werden nicht umdrehen, mein Liebling. Die Zeit der Umkehr ist vorbei.«

»Warum?«

»Weil die Stunde der Abrechnung gekommen ist«, sagte Granny ernst, »und wir dem Fluch nicht länger ausweichen können.«

»Aber was ist mit Archie?«

An diesem Punkt meines Berichtes über das, was mit mir passiert ist, musst du wissen, dass es sich bei Archie um meinen Kater handelt und dass Granny ihn mir schon einmal weggenommen hatte.

Jawohl, weggenommen! Es ist wirklich eine traurige Geschichte. Aber darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.

»Es sind Vorkehrungen getroffen worden«, sagte Granny.

»Was für Vorkehrungen?«

»Der Kater ist in guten Händen.«

Genau das hatte Granny beim letzten Mal, als sie mir Archie weggenommen hatte, auch gesagt, und es gefiel mir überhaupt nicht.

Außerdem glaubte ich ihr nicht.

Es ist ein schwarzer Tag, wenn du deiner Granny nicht glauben kannst.

Es ist ein Tag für Tränen.

Ich fing an zu weinen.

 

Ich weinte, bis wir die Grenze von Florida zu Georgia überquerten.

Irgendwas an der Grenze ließ mich aufhören zu weinen. Grenzen haben so etwas an sich. Vielleicht verstehst du, was ich damit ausdrücken will, vielleicht auch nicht. Ich kann nur sagen, dass ich plötzlich das Gefühl von etwas Unwiderruflichem hatte und dachte: Ich muss raus aus diesem Wagen. Ich muss zurück.

Also sagte ich: »Halt an, Granny.«

Und Granny sagte: »Ich werde nichts dergleichen tun.«

Granny hat sich noch nie darum geschert, was andere Leute ihr sagen. Sie hat noch nie die Befehle von irgendjemandem befolgt. Sie ist diejenige, die anderen Leuten sagt, was sie zu tun haben, nicht umgekehrt.

Aber letztlich war es auch egal, dass Granny sich weigerte anzuhalten, denn das Schicksal schlug zu.

Uns ging nämlich das Benzin aus.

 

Wenn du noch nie mitten in der Nacht dein Zuhause verlassen hast, ohne ihm einen letzten Blick zu gönnen, wenn du noch nie deinen Kater und deine Freunde und einen einäugigen Hund namens Buddy verlassen hast, ohne einem von ihnen auch nur Auf Wiedersehen zu sagen, wenn du noch nie am Straßenrand in einem fremden Staat gestanden hast, irgendwo hinter der Grenze zu deinem eigenen, und darauf gewartet hast, dass einer vorbeikommt und dich mitnimmt, nun, dann kannst du nicht nachvollziehen, wie verzweifelt ich in diesem Moment war.

Und genau deshalb schreibe ich das alles auf.

Ich schreibe es auf, damit du die Verzweiflung, die unglaubliche Verwüstung in meinem Herzen verstehen kannst.

Und, wie ich schon zu Beginn sagte, ich schreibe es auch aus praktischen Gründen auf.

Und diese praktischen Gründe sind, dass du erfährst, was mir passierte – mir, Louisiana Elefante.

Zwei

Das ist passiert:

Wir standen am Straßenrand.

In Georgia.

Genau hinter der Staatsgrenze von Florida zu Georgia. Die aber eigentlich gar keine richtige Grenze ist. Trotzdem bestehen die Leute darauf, dass sie existiert. Denk drüber nach.

Granny drehte sich zu mir um und sagte: »Alles wird gut.«

Und ich sagte: »Das glaub ich dir nicht.«

Ich schaute sie nicht an dabei.

Für eine ganze Weile sagte keine von uns ein Wort.

Drei Lastwagen fuhren an uns vorüber. Auf einem war eine Kuh abgebildet, die auf einer grünen Weide stand.

Ich war neidisch auf die Kuh, denn sie war zu Hause und ich nicht.

Es ist schon ziemlich traurig, auf eine Kuh neidisch zu sein, die als Bild auf einem Lastwagen klebt.

Ich muss dich warnen, ein großer Teil dieser Geschichte ist ziemlich traurig.

 

Als der dritte Truck an uns vorbeigerauscht war, ohne auch nur die Geschwindigkeit zu drosseln, sagte Granny: »Es ist nur zu deinem Besten.«

Na ja, zu meinem Besten war, mit Raymie Clarke und Beverly Tapinski zusammen zu sein. Raymie und Beverly waren meine Herzensfreundinnen. Und beste Freundinnen waren wir nun schon seit zwei Jahren. Ohne sie konnte ich nicht überleben. Ich konnte es einfach nicht. Es war unmöglich.

Also sagte ich zu Granny: »Ich will zurück nach Hause. Mit Archie zusammen zu sein, ist zu meinem Besten. Raymie und Beverly und Buddy, der einäugige Hund, sind zu meinem Besten. Du hast überhaupt keine Ahnung davon, was zu meinem Besten ist.«

»Dafür ist jetzt keine Zeit«, erwiderte Granny. »Diese Unterhaltung ist unangebracht. Ich fühle mich sehr unwohl. Aber nichtsdestotrotz halte ich durch. Was du auch tun solltest.«

Es kümmerte mich überhaupt nicht, dass Granny sich unwohl fühlte.

Und ich hatte auch keine Lust durchzuhalten.

Ich verschränkte meine Arme über der Brust und starrte auf den Boden. Am Straßenrand gab es sehr viele Ameisen, die sehr fleißig und mit sich selbst zufrieden aussahen. Warum wählten Ameisen ein Leben an der Autobahn, wo sie regelmäßig von Autos und Lastern überfahren wurden?

Doch da ich nicht mehr mit Granny sprach, gab es niemanden auf der Welt, der mir diese Frage beantworten konnte.

Ich fühlte mich sehr einsam.

Und dann hielt ein alter Mann in einem Pick-up für uns an.

 

Der alte Mann in dem Pick-up hieß George LaTrell.

Er kurbelte sein Fenster runter, lüftete seine Kappe und sagte: »Hallo! Ich bin George LaTrell.«

Ich lächelte ihn an.

Lächeln ist immer gut. Das hat mir Granny mein ganzes Leben lang gepredigt. Wenn du wählen kannst zwischen Lächeln und Nicht-Lächeln, dann wähle Lächeln. Es verwirrt die Leute einen kurzen Moment. Es gibt dir einen Vorsprung.

Behauptet Granny jedenfalls.

»Na, was macht ihr beiden Hübschen hier an der Straße?«, fragte George LaTrell.

»Guten Morgen, George LaTrell«, sagte Granny. »Es scheint so, als hätten wir uns verkalkuliert und haben nun keinen Tropfen Benzin mehr.« Sie lächelte breit und zeigte dabei all ihre Zähne.

»Verkalkuliert«, wiederholte George LaTrell. »Keinen Tropfen Benzin mehr. Herrje.«

»Dürften wir Ihnen vielleicht zur Last fallen und Sie bitten, uns zur nächsten Tankstelle und wieder zurück zu fahren?«

»Sie können mir gern zur Last fallen«, sagte George LaTrell.

Ich hatte keine Lust, George LaTrell zur Last zu fallen. Die Wahrheit ist, dass ich es nicht nur satthatte, ständig durchhalten zu müssen, ich hatte es auch satt, Leuten zur Last zu fallen. Granny und ich taten das ständig. Nur so hielten wir uns über Wasser. Wir fielen Leuten zur Last. Und wir machten Schulden.

Manchmal stahlen wir auch.

Ich überlegte, nicht in den Pick-up zu steigen. Ich überlegte, den Highway runterzurennen, zurück nach Florida. Aber ich glaubte nicht, dass ich schnell genug würde laufen können.

Ich hatte noch nie schnell genug laufen können.

Und deshalb war ich sicher, dass egal, wohin ich auch lief, mich Granny dort finden würde.

Ist das Schicksal? Bestimmung? Grannys Macht?

Ich weiß es nicht.

Ich stieg in den Pick-up.

 

Im Wagen von George LaTrell roch es nach Tabak und Kunstleder. Der Sitz war aufgerissen und die Füllung quoll heraus.

»Wir schätzen Ihre Hilfe sehr, George LaTrell«, sagte Granny.

Sobald irgendjemand Granny seinen Namen nannte, hörte sie nicht auf, ihn auch zu benutzen.

Sie behauptete, dass die Menschen den Klang ihres Namens mehr liebten als irgendeinen anderen Klang auf der Welt. Sie behauptete, das sei wissenschaftlich bewiesen.

Ich bezweifelte das sehr.

Ich saß im Pick-up von George LaTrell und pulte die Füllung aus dem Sitz, dann warf ich die kleinen Flocken aus dem Fenster.

»Hör auf damit, Louisiana«, sagte Granny.

Aber ich hörte nicht auf.

Ich warf Stücke von der Polsterung aus dem Fenster und ich dachte an die Menschen (und Tiere), die ich zurückgelassen hatte.

An Raymie Clarke, die so gern las und all meinen Geschichten lauschte.

An Beverly Tapinski, die sich vor nichts fürchtete und prima Schlösser knacken konnte.

Und dann war da Archie, der König der Katzen.

Und Buddy, der einäugige Hund, der auch bekannt war als Hund unserer Herzen.

Was wäre, wenn ich all diese Namen nie wieder benutzen könnte?

Was, wenn ich dazu verdammt wäre, nie wieder vor diesen Mädchen (und dieser Katze und diesem Hund)zu stehen und sie nie mehr laut bei ihrem Namen rufen könnte.

Das war eine todtraurige Vorstellung.

Ich warf noch mehr Polsterfüllung aus dem Fenster. Die Flocken sahen aus wie Schnee, der durch die Luft flog. Zumindest, wenn man die Augen zusammenkniff. Wenn man sie sehr doll zusammenkniff.

Im Augenzusammenkneifen bin ich gut.

 

George LaTrell fuhr mit uns zur nächsten Tankstelle, die Vics Billig-Tanke hieß.

Granny versuchte, George LaTrell dazu zu bringen, dass er ihr nicht nur einen Kanister mit Benzin füllte, sondern das Benzin auch noch bezahlte.

Und da ich keine Lust hatte, dabei zu sein, während sie sich bemühte, Benzin zu ergattern, das mich nur noch weiter weg von meinem Zuhause und meinen Freunden bringen würde, ließ ich die beiden stehen und ging in Vics Billig-Tanke, wo es nach Motoröl und Wagenschmiere roch. Es gab einen hohen Tresen mit einer Registrierkasse darauf.

Neben der Kasse war ein Ständer, an dem jede Menge Packungen mit gerösteten Erdnüssen hingen.

Ach du meine Güte! Auch wenn mein Herz gebrochen war und mich tiefste Verzweiflung erfüllte, ich hatte Hunger.

Ich starrte die kleinen Beutel mit Erdnüssen an.

Der Mann hinter dem Tresen saß auf einem Stuhl mit Rollen, und als er mich sah, kroch er hinter dem Tresen hervor wie eine Spinne, indem er seine Füße vor- und zurückschob, vor und zurück.

Der Stuhl gab ein müdes Quietschen von sich, als er auf mich zurollte.

»Guten Tag«, sagte ich. Ich lächelte und zeigte all meine Zähne. »Mein Großmutter ist draußen und holt Benzin.«

Der Mann drehte sich um und schaute zu Granny und George LaTrell, dann blickte er wieder zu mir.

»Yep«, sagte er.

Ich betrachtete ihn.

Aus seinen Nasenlöchern quollen Haare.

»Wie teuer sind Ihre Erdnüsse?«, fragte ich.

Ich fragte das, obwohl ich nicht einen Penny besaß. Granny sagt immer: »Frag nach dem Preis, so als ob du die Absicht hast, ihn auch zu zahlen.«

Der Mann antwortete mir nicht.

»Sind Sie Vic?«, fragte ich.

»Schon möglich.«

»Ich bin Louisiana Elefante.«

»Yep«, sagte er.

Er zog ein gelb geflecktes Tuch aus der Tasche und fuhr sich damit über die Stirn. Seine Hände waren von der Wagenschmiere völlig schwarz.

»Ich musste gegen meinen Willen von zu Hause weg«, sagte ich.

»Tja, so läuft das im Leben«, sagte Vic.

»Stimmt das?«

»Yep.«

»Ich hasse das. Ich habe Freunde zu Hause.«

Vic nickte. Er faltete sein geflecktes Tuch zu einem ordentlichen Quadrat zusammen und steckte es zurück in die Tasche.

»Nimm dir so viel von den Erdnusstütchen, wie du magst«, sagte er und nickte in Richtung des Ständers mit den Nüssen.

»Gratis«, sagte er und rollte zurück hinter den Tresen.

Nun, das war das einzig Gute, das mir passierte, seit Granny mich um drei Uhr morgens geweckt und erzählt hatte, der Tag der Abrechnung sei gekommen.

Diese Geschichte handelt von Leid und Verwirrung, aber es ist auch eine Geschichte von Freude und Nettigkeit und Gratiserdnüssen.

»Danke«, sagte ich.

Ich nahm mir vierzehn Tütchen.

Und während ich die Erdnüsse einsammelte, lächelte Vic mir zu.

In vielen Herzen herrscht Güte.

In den meisten Herzen.

In einigen Herzen.

Ich liebe Erdnüsse.

Drei

George LaTrell fuhr uns zurück zu unserem Auto und füllte auch das Benzin für uns ein. Granny strahlte ihn an und nannte ihn »George LaTrell, unser Held!«, und ich musste die ganze Zeit an Vics Billig-Tanke denken.

Denn hinter dem Tresen in Vics Laden hatte ein Kalender an der Wand gehangen. Oktober 1977 stand in goldenen Schnörkelbuchstaben darauf und darunter war das Bild eines Baumes mit rotem Herbstlaub. Es war ein sehr schöner Baum.

Aber was viel wichtiger war: Neben dem Kalender hing ein Telefon an der Wand. Das Telefon war grün und über und über mit fettigen schwarzen Fingerabdrücken bedeckt.

Ich hätte Vic fragen können, ob ich das Telefon benutzen dürfte. Doch ich kam mir vor wie jemand aus einem Märchen, der seinen einzigen Wunsch vergeben hatte. Ich hatte mir vierzehn Tütchen mit Erdnüssen gewünscht, aber stattdessen hätte ich mir lieber wünschen sollen, telefonieren zu dürfen.

Dann hätte ich Beverly Tapinski angerufen und sie gefragt, ob sie kommen und mich hier rausholen könnte.

Beverly Tapinski schaffte es, jeden irgendwo rauszuholen.

Beverly, wenn du das hier liest, du weißt, dass es stimmt.

Auf der Welt gibt es zwei Sorten von Menschen; die, die retten, und die, die gerettet werden.

Ich hab immer zur zweiten Sorte gehört.

 

Wir fuhren weiter, und obwohl es Oktober war, war es heiß im Auto. Und es wurde noch heißer dadurch, dass ich mich weigerte, mit Granny zu sprechen.

»Du kannst mir ausweichen, du kannst dein Gesicht abwenden, aber ich werde trotzdem nicht aufhören, dich zu lieben.«

Ich starrte aus dem Fenster.

»Mach dir keine Sorgen«, sprach Granny weiter. »Ich arbeite an unserer Begegnung mit dem Schicksal, aber ich muss dir sagen, dass ich mich ein wenig behindert fühle durch mein Unwohlsein.«

Sie räusperte sich. Sie wartete. Aber ich fragte sie nicht, was für eine Art von Unwohlsein es war.

Stattdessen starrte ich weiter aus dem Fenster und aß eine Erdnuss nach der anderen auf. Ich war sehr froh, dass ich vierzehn Tütchen genommen hatte, denn es waren nicht viele Erdnüsse drin.

Ich dachte nicht daran, Granny auch eine anzubieten, denn ich fühlte mich im Moment alles andere als großzügig.

»Louisiana Elefante«, sagte Granny, »der Tag wird kommen, an dem du es bereust, nicht mit mir gesprochen zu haben.«

Ich bezweifelte es.

Als wir kurz hinter Wendora waren, fing Granny an zu wimmern.

Und dann wurde aus dem Wimmern ein Stöhnen.

Granny stöhnte so laut, dass ich vergaß, dass ich ja eigentlich nicht mit ihr sprechen wollte.

»Granny, was fehlt dir?«, fragte ich.

»Meine Zähne! Oh, meine Zähne! Ach, das ist der Fluch meines Vaters.«

Das ergab ja nun überhaupt keinen Sinn.

Denn der Fluch von Grannys Vater ist kein Zahnfluch, sondern ein Entzweiungsfluch.

Doch dazu später.

Wir fuhren langsamer. Und noch langsamer. Granny stöhnte ziemlich viel.

Und nach einer Weile hielt sie den Wagen am Straßenrand an, kletterte auf den Rücksitz und legte sich hin.

»Granny, was machst du da?«

»Ich versuche, meine Kräfte wiederzugewinnen«, murmelte sie. »Mach dir keine Sorgen, Louisiana.«

Ich muss dir wohl nicht erst sagen, dass ich mir natürlich Sorgen machte.

Und überhaupt, es funktionierte nicht. Granny gewann ihre Kräfte nicht wieder. Sie stöhnte lauter. Als ich mich zu ihr umdrehte, waren ihre Wangen schweißüberströmt. Vielleicht waren es auch Tränen.

Obwohl, in meinem ganzen Leben hatte ich Granny noch nie weinen sehen.

»Tränen sind nur etwas für Schwächlinge, Louisiana«, sagte sie oft. »Und unsere Aufgabe ist es, stark zu sein.«

»Brauchst du was, Granny?«, fragte ich.

Anstatt zu antworten, brüllte sie vor Schmerz.

»Granny!«, rief ich. »Du musst mir sagen, was du brauchst!«

Und da sagte sie ein einziges Wort.

Und dieses Wort war Zahnarzt.

Das hatte ich nun nicht gerade erwartet.

Du meine Güte! Ich war von meinem Zuhause und meinen Freunden fortgerissen worden. Über mir lastete ein Fluch. Und nun stand ich irgendwo am Straßenrand in Georgia mit einer Granny, die nach einem Zahnarzt verlangte.

Was sollte ich tun?

Nun, ich werde dir sagen, was ich tat.

Ich saß ein paar Minuten da und dachte über meine Möglichkeiten nach, das waren nicht allzu viele.