Der steinerne Zeuge - Stefan Mühlfried - E-Book

Der steinerne Zeuge E-Book

Stefan Mühlfried

4,5

Beschreibung

David ist wie vor den Kopf geschlagen: Vor zwanzig Jahren ist sein Vater auf einer archäologischen Expedition verschollen, und nun bekommt er ein Paket, das dieser kurz vor seinem Verschwinden abgeschickt hat. Es enthält eine kleine antike Statue und einige Hinweise, die ihn auf die Spur der damaligen Geschehnisse führen. Gemeinsam mit der jungen Archäologin Kira macht er sich in Mexiko auf die Suche nach Antworten: Was ist mit seinem Vater damals geschehen? Was hat es mit dem geheimnisvollen Schatz auf sich, dem er auf der Spur war? Und welche Rolle spielt der seltsame Kunstsammler Belmont, der sehr an der Statue interessiert ist? Diese kleine Statue scheint der Schlüssel zu allen Antworten zu sein, doch sie sind nicht die Einzigen, die das wissen. Auch andere sind hinter dem Schatz her, und ihnen ist jedes Mittel recht. Eine wilde Jagd beginnt, an deren Ende nichts mehr so ist, wie es einmal war.

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Der steinerne Zeuge

Stefan Mühlfried

Der steinerne Zeuge

Stefan Mühlfried

© 2014 Sieben Verlag

Covergestaltung: © Andrea Gunschera

ISBN-Buch: 9783864433443

ISBN-ebook-PDF: 9783864433450

ISBN-ebook-epub: 9783864433467

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

1. Es war einmal

2. Zu viele Fragen

3. Viva Mexiko!

4. Popcorn und Pakete

5. Bier und Samba

6. Stadt, Land, Fluss

7. Spuren und Scherben

8. Ein alter Hut

9. Das Tagebuch

10. Tauschgeschäfte

11. Bekenntnisse

12. Mehr Licht

13. Das fehlende Glied

14. Kein guter Tag

15. Das A und O

16. Per Anhalter durch die Hölle

17. Unterwegs

18. Im Fadenkreuz

19. Mitgehangen, mitgefangen

20. Unter Druck

21. Sturm und Regenbogen

22. Dem Himmel so nah

23. Zwischen den Welten

24. Showtime

Der Autor

Danksagung

Die Vergangenheit muss reden und wir müssen zuhören. Vorher werden wir und sie keine Ruhe finden.

Erich Kästner

Es war einmal

David starrte wie betäubt auf das Paket.

Er hielt eine Botschaft aus einer anderen Welt in den Händen, aus einer anderen Zeit, einer besseren. Wieder und wieder wanderte sein Blick über die ausgeblichenen Buchstaben, die auf der Vorderseite prangten. Es war zwanzig Jahre her, dass er diese Schrift das letzte Mal gesehen hatte, aber er hätte die Handschrift seines Vaters unter Hunderttausenden erkannt.

David Rost stand dort, und darunter seine Adresse in Hamburg.

„Alles in Ordnung?“, fragte der Postbote auf der anderen Seite des Türrahmens.

„Geht schon“, sagte David und warf die Wohnungstür zu.

Er ging zurück ins Wohnzimmer, das Paket zu allen Seiten drehend und wendend. Es war nicht groß, etwas größer als ein Schuhkarton, und nicht sehr schwer, drei Kilo vielleicht. Das braune Packpapier knisterte unter seinen Händen, als er sich auf das Sofa fallen ließ.

Vorsichtig, wie ein rohes Ei, setzte er das Paket auf den Couchtisch, die Adresse zu ihm gewendet. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn auf die Händeund schaute das Paket eine ganze Weile schweigend an. Hätte ihn jemand beobachtet, hätte er vermuten können, dass David gänzlich unbeteiligt dort saß, aber das täuschte. Sein Herz schlug schnell und heftig, in seinen Ohren rauschte das Blut im Takt, und ihm schien, als wühle eine eiserne Faust in seinen Eingeweiden.

Zaghaft streckte er seine Hand aus, berührte das Paket, als wolle er sich vergewissern, dass es keine Fata Morgana war. Sacht ließ er seine Fingerspitzen über die blassen Buchstaben gleiten. Absender: Michael Rost, Mexiko.

Seine Finger blieben an der groben Paketschnur hängen, und er zog das Paket zu sich heran, legte es auf seine Knie und zögerte wieder.

Zwanzig Jahre. Und knapp drei Monate. So lange war es her, dass David seinen Vater das letzte Mal gesehen hatte. An der Haustür, dort, wo David eben noch gestanden hatte, hatte sich sein Papa von ihm verabschiedet. „Hey“, hatte er gesagt und David spielerisch gegen die Schulter geboxt, „es ist ja nur ’ne ganz kleine Expedition. Bis zu den Sommerferien bin ich wieder da, und dann gehen wir beide zelten, okay?“

Auch eine ganz kleine Expedition dauerte mindestens zwei Monate, und das war für einen Zwölfjährigen eine verdammt lange Zeit. Aber er hatte nur tapfer genickt und den Kopf ein klein wenig hängen lassen.

Sein Vater hatte geseufzt und sich zu ihm hinuntergebeugt. „Ich weiß, ich bin viel zu oft und viel zu lange weg. Aber ich verspreche dir, wenn du groß genug bist, dann nehme ich dich mal mit.“

Davids Augen hatten geleuchtet. „Ehrlich?“

„Großes Ehrenwort.“ Dann hatte er seinen geliebten Lederhut mit der breiten Krempe, rissig und fleckig von unzähligen Abenteuern im Dschungel und in der Wüste, genommen und David aufgesetzt. „Ist nur geliehen“, hatte er mit gespieltem Ernst gesagt. „Für unsere erste gemeinsame Tour kriegst du einen eigenen, und ich bekomme den hier wieder.“

David schickte einen langen Blick zum Schrank, auf dem der Hut lag und auf die Einlösung des Versprechens wartete. Seit zwanzig Jahren nun.

Erst hatte David auf einen Brief seines Vaters gewartet, der nicht kam. Jeden Tag war er mittags nach der Schule zum Briefkasten gerannt und enttäuscht wieder zurückgekommen. Er hatte auf seinen Vater gewartet, Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat. Erst war er traurig gewesen, dann wütend. Wütend und verzweifelt. Papa hatte es ihm doch versprochen. Und langsam, über Jahre hinweg, war die Wut der Leere gewichen, als er sich nicht mehr gegen die Erkenntnis wehren konnte: Sein Vater würde nicht mehr zurückkommen. Nie mehr. Keine gemeinsamen Sommerferien. Keine Expedition. Und was das Schlimmste war:Niemand konnte ihm sagen, warum. Niemand, den er verantwortlich machen konnte. Niemand, an dem er seine Wut auslassen konnte.

Mit einem Ruck stand er auf, legte das Paket auf den Tisch zurück und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Mit der Dose in der Hand lehnte er sich in die geöffnete Terrassentür, trank und beäugte das Paket aus der Ferne. Da lag es auf dem Tisch, ein harmloser hellbrauner Quader, und trotzte den letzten zwanzig Jahren.

David nahm noch einen tiefen Zug, ließ die halbvolle Dose auf die Terrasse fallen und trat mit festen Schritten zurück zum Couchtisch. Zögern nützte nichts. Er zerrte das Band vom Paket, wickelte das Papier ab. Darunter kam eine schlichte Pappschachtel zum Vorschein, die er zaghaft öffnete.

Unter dem Deckel sah er zuerst nichts als einige zusammengeknüllte Zeitungsseiten. Spanisch, wie es schien. Darunter befand sich ein in einen Lappen gehüllter Gegenstand, den David vorsichtig auswickelte. Es war eine steinerne Statue. Sehr alt offenbar, hübsch gearbeitet und etwa dreißig Zentimeter groß. Sie stellte eine menschliche Figur dar, mit übergroßem, zur Fratze verzerrtem Mund. Die viel zu kurzen Arme waren seitlich ausgestreckt, und der Kopf war von einer Art steinernem Federkranz umgeben. Der Körper war mit fremdartigen Symbolen bedeckt. Füße gab es nicht, die Figur bildete nach unten hin einen Zylinder mit perfekt runder Grundfläche. Die Seitenflächen des Zylinders waren mit senkrechten und waagerechten Linien bedeckt, die sich ohne erkennbares Muster überkreuzten, vereinten oder aufteilten.

David wendete die Statue hin und her. Maya? Aztekisch? Irgendwas Südamerikanisches halt. Hübsch, sicherlich, und bestimmt auch wertvoll, aber nicht viel anders als die zig Statuen, die er aus dem Museum kannte. Auffällig war höchstens das Fehlen von Beinen. Warum sollte sein Vater ihm ausgerechnet diese Statue geschickt haben? Er hatte zwar hin und wieder Post von ihm bekommen, wenn er auf Expedition war, auch kleine Geschenke, aber nie Ausgrabungsobjekte. Sein Vater wäre niemals auf die Idee gekommen, einen Fund für sich zu behalten.

David setzte die Statue ab und kippte den Rest des Paketinhaltes auf den Tisch. Zwischen zusammengeknülltem, vergilbtem Zeitungspapier fiel ein Briefumschlag heraus. David stand in seines Vaters Schrift darauf. Mehr nicht.

David legte das Paket beiseite, riss den Umschlag mit klopfendem Herzen auf und zog ein eng beschriebenes Blatt heraus.

Mein lieber David,

du wunderst dich bestimmt, warum ich dir diese Statue schicke, stimmt’s? Wo du doch viel lieber ein T-Shirt vomHardrock-CaféMexiko City gehabt hättest. (Keine Angst, das steckt schon in meinem Koffer.)

Nein, dieses hübsche kleine Ding ist nicht für dich. Aber ich habe eine sehr, sehr wichtige Bitte: Bewahre sie auf, bis wir uns wiedersehen. Das klingt jetzt bestimmt geheimnisvoll, aber das ist es gar nicht. Es ist nur einfach so, dass hier im Lager ein Kollege ist, dem ich nicht über den Weg traue. Er hat ganz schöne Stielaugen bekommen, als er den Kleinen hier gesehen hat, und ich glaube nicht, dass er ihn einem Museum spenden möchte.

Du musst wissen, die Statue ist sehr außergewöhnlich. Vom Umfeld der Grabung her müsste sie eigentlich der Kultur von Teotihuacán zuzuordnen sein, aber die Symbole und auch die künstlerische Ausgestaltung widersprechen allem, was wir bisher an Kenntnissen über diese Epoche und ihre Werke haben.

Ein Schmunzeln stahl sich in Davids Gesicht. Typisch sein Vater, einem Zwölfjährigen Vorträge über mittelamerikanische Archäologie zu halten.

Tja, und da habe ich eben beschlossen, sie dem Menschen zu schicken, dem ich am allermeisten auf der Welt vertraue: Dir. Pack sie einfach wieder in die Schachtel und lege sie in eines deiner Geheimverstecke. Du hast doch welche, oder? Also, als ich zwölf war, hatte ich jedenfalls immer ein oder zwei.

Mama darfst du sie natürlich zeigen, denn ihr vertraue ich ebenso wie dir, aber sonst wäre es besser, wenn sie keiner sieht. Nur vorsichtshalber. Klar?

Also, mein Großer, ich freue mich schon darauf, dich und Mama wiederzusehen. Und natürlich auf das Zelten im Sommer, darauf ganz besonders!

Pass gut auf Mama auf,

ganz liebe Grüße,

Papa

David ließ das Papier sinken. Ein Dutzend verschiedener Gedanken und Gefühle irrlichterte durch seinen Kopf und verursachte ein heftiges Durcheinander. Was sollte diese Geheimniskrämerei? Wo kam dieses Paket nach zwanzig Jahren her? Was würde Mutter dazu sagen?

Was war in Mexiko passiert?

Wo war sein Vater?

Und dazwischen spürte er das wohlbekannte schmerzliche Stechen, das ihn immer heimsuchte, wenn er an seinen Vater dachte. An die Lücke, die er hinterlassen hatte, für die es keine Erklärung und keine Heilung gab und keinen Trost.

*

„Interessant.“ Gerhard Stollberg, Professor für Archäologie an der Universität Hamburg, betrachtete die Statue von allen Seiten. „Woher hast du die, David?“

„Kann man herausfinden, von wo sie kommt?“

„Na ja, der allgemeinen Ausprägung nach würde ich sagen, sie kommt aus Teotihuacán. Wir wissen sehr wenig über diese alte Stadt und ihre Kultur, aber die meisten Funde haben wir aus der dortigen Umgebung.“

„Wo liegt die?“

„Etwa fünfzig Kilometer nordöstlich von Mexiko City.“

„Eine von diesen überwucherten Dschungelstädten, was?“

Gerhard lachte. „Nein, überhaupt nicht. Es ist eine Touristenattraktion, bestens ausgebaut und hunderttausendfach jedes Jahr besucht.“

„Und wo sonst noch?“

„Schwer zu sagen. Wir wissen noch sehr wenig über dieses Volk. Die viel interessantere Frage ist aber doch,woher hast du sie?“

„Flohmarkt“, sagte David. „Zufallsfund.“

Gerhard zog die Stirn kraus und schaute David unwirsch über den Rand seiner Lesebrille an. „Quatsch. So etwas findet man nicht auf dem Flohmarkt.“

„Du glaubst gar nicht, wo man so etwas überall findet. Es soll Leute geben, die so was aus dem Dreck ausbuddeln.“

Gerhard lachte. „Ja, davon habe ich auch schon gehört.“ Sein Gesicht wurde wieder ernst. „Aber nicht das hier. Dieses Stück, mein Junge, ist ganz außergewöhnlich. So etwas wurde überhaupt noch nie ausgebuddelt. Nicht im Dreck und nicht auf einem Flohmarkt.“

David hasste es, wenn sein Stiefvater ihn Junge nannte. „Stimmt, ich habe eine halbe Stunde gebraucht, das Schild Made in Hongkong vom Boden abzukriegen.“ Er streckte die Hand aus.

Gerhard machte keine Anstalten, ihm die Statue zurückzugeben. Stattdessen ließ er sie von einer Hand in die andere gleitenund sah David unverwandt in die Augen. „Du hast sie von deinem Vater, stimmt’s?“

„Und wenn?“ David spreizte fordernd die Finger.

„David, das fragst du nicht im Ernst! Wenn es von Michael ist, dann bist du es ihm schuldig, das Stück untersuchen zu lassen. Ihm und auch uns.“

„Ich bin euch gar nichts schuldig. Er ist verschollen, als er für euch unterwegs war. Wenn hier jemand jemandem etwas schuldig ist, dann ihr ihm!“

Gerhard nickte. „Das stimmt. Und trotzdem,du kennst deinen Vater. Die Wissenschaft war stets sein höchstes Gut. Wenn es von ihm ist, dann hätte er gewollt, dass wir es untersuchen.“

„Nein“, sagte David und schüttelte heftig den Kopf.„Nein, das hätte er nicht.“

„Also ist es von ihm?“

„Herrgott, ja. Und?“

„Wieso kommst du erst jetzt damit? Und wo hast du es überhaupt her?“

„Lag gestern in der Post.“

„Gestern?“ Gerhard schnappte nach Luft. „Ein Lebenszeichen von Michael? Nach zwanzig Jahren?“ Er drängte David zu der kleinen Sitzecke in seinem Büro. „Los, setz dich und erzähl!“

David ließ sich in den abgewetzten Sessel fallen und zuckte die Schultern. „Da gibt es nichts zu erzählen. Er hat es wohl abgeschickt, als er noch auf der Expedition war. Keine Ahnung, warum es jetzt erst kam.“

Ein seltsam verklärter Ausdruck stahl sich in Gerhards Gesicht, als er erneut die Statue musterte. „Mein Gott, ist das lange her.“ Er setzte sich. „So lange“, murmelte er, „so lange.“

„Was? Was nuschelst du da?“

Gerhard riss den Blick von der Statue los und sah David mit einem schmallippigen Lächeln an. „Ach, weißt du, es ist einfach ein unglaubliches Gefühl, nach zwanzig Jahren ein Lebenszeichen von Michael zu bekommen. Wie … Wie eine Botschaft aus dem Jenseits.“ Erschrocken hob er die Hand zum Mund. „Oh, entschuldige, das wollte ich nicht sagen.“

David winkte ab. „Nach so langer Zeit muss man sich wohl mit der Möglichkeit anfreunden, oder? Ich meine, die einzige Alternative wäre, dass er mit einer schwarzäugigen Mexikanerin durchgebrannt ist, einen Haufen Kinder gezeugt hat und von seinem alten Leben nichts mehr wissen will. Wäre das besser?“ Er grinste zynisch. „Ich finde nicht.“

„Eben darum finde ich, dass du das Stück dem Institut überlassen solltest. Zumindest eine Zeit lang.“

„Nein.“

„Du bekommst es doch wieder. Würde dich denn nicht interessieren, woran er gearbeitet hat, als er verschwand?“

„Ich sagte Nein.“

„Junge, du …“

„Nein!“ David streckte wieder den Arm aus, den Blick fest auf seinen Stiefvater gerichtet.

Gerhard zögerte, blickte erst in Davids Augen und dann auf die ausgestreckte Hand. Schließlich seufzte er und gab David die Figur zurück. „Wenn du meinst. Du wirst schon deine Gründe haben.“

„Habe ich.“ David wickelte die Figur in ein Handtuch und verstaute sie in seinem Rucksack. „Wie geht’s Mutter?“

Gerhard seufzte. „Nicht sehr gut, fürchte ich. Das kühle Wetter ist ihr sehr auf die Lunge geschlagen. Du solltest sie mal wieder besuchen, das würde ihr Kraft geben. Nur um eins möchte ich dich bitten.“

David nickte. „Ich weiß schon. Ich soll ihr nichts von dem Paket sagen.“

„Ja, das wäre lieb von dir. Du weißt, Anna kann Aufregung nicht gut vertragen.“

„Und dann soll ich sie besuchen?“ David grinste und stand auf.

Gerhard lachte. „Du bist ein Zyniker. Aber deine Mutter liebt dich trotzdem, und ich auch. Also komm doch mal wieder vorbei, ja? Am Wochenende?“

„Sonntagnachmittag?“

„Perfekt.“

Missmutig schlenderte David durch das Atrium des Westflügels des Uni-Hauptgebäudes. Eigentlich hatte er sich von diesem Besuch mehr erhofft. Einen deutlicheren Hinweis, wo sein Vater zuletzt gewesen war. Warum er verschwunden war. Und wo David ihn jetzt finden konnte. Ihn oder sein Grab.

Mit verdrießlicher Miene schubste er die Drehtür an und trat ins Freie. War ja eigentlich klar gewesen, dass diese Aktion nichts brachte. Vor zwanzig Jahren schon hatten seine Mutter und das Institut Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, ihn zu finden. Warum sollte das jetzt anders sein, nur weil dieses prähistorische Playmobil-Männchen aufgekreuzt war?

Aber er würde dranbleiben. Auf jeden Fall.

Jetzt bloß weg hier. David konnte all diese superschlauen Studenten in ihren betont lässigen Designerjeans nicht leiden.

*

„Anna, das Essen war großartig!“ Gerhard lehnte sich wohlig seufzend zurück.

„Was hältst du von einer guten Zigarre zum Nachtisch, David?“

„Ja, gern.“ David wischte sich den Mund an der Serviette ab und unterdrückte ein Aufstoßen.

„Ist gut, dann will ich mal abräumen.“ Anna erhob sich ächzend.

David sprang auf und beeilte sich, Teller und Besteck zusammenzuräumen, während seine Mutter mit einer Schüssel in jeder Hand in die Küche schnaufte. Er holte sie ein, als sie sie in den Geschirrspüler schob.

„He, wieso lässt du mich das nicht machen?“

Sie richtete sich auf und schenkte ihrem Sohn ein Lächeln. „Weil ich mir sonst ganz und gar nutzlos vorkomme. Und weil ich sonst einroste.“

„Und Gerhard?“ David nickte in Richtung Wohnzimmer. „Er hilft dir doch, oder?“

„Natürlich tut er das. Er ist dabei sogar noch bemühter als du – wenn das möglich ist.“ Sie gluckste leise. „Und wenn ich ihn lasse.“

David lächelte schmallippig und begann, die Teller in den Geschirrspüler zu sortieren.

Anna seufzte. „Ach, Junge, ich wünschte, du würdest endlich aufhören, ihn als Konkurrenz für deinen Vater zu sehen. Er ist nicht Michael, und er will auch nicht so sein. Glaub mir, wenn er das versucht hätte, dann wäre er bei mir nicht weit gekommen.“

„Ach, Mama, das weiß ich doch. Es ist nur …“, David sah aus dem Küchenfenster auf die hohen Bäume im Garten, durch die man, wenn sie kein Laub trugen, bis zur Elbe sehen konnte. „Ich musste in den letzten Tagen ziemlich oft an Vater denken.“

Anna runzelte die Stirn. „Hat das einen besonderen Grund?“

„Nein“, sagte David rasch, „gar nicht. Ist halt von Zeit zu Zeit so. Bei dir nicht?“

„Odoch, das kenne ich. Eigentlich jedes Mal, wenn ich dir ins Gesicht sehe. Und jetzt raus aus der Küche. Gerhard wartet auf dich, und ich kriege das hier schon allein hin.“

David schaute sie unsicher an.

„Wenn ich dir das sage, dann ist das auch so.“ Sie schob ihn vor sich her aus der Küche. „Los, mach schon.“

Er fügte sich und schlenderte ins Wohnzimmer, wo Gerhard mit breitem Grinsen zwei Zigarren hochhielt. „Eine Bolivar Inmensas?“

„Mir egal, wie sie heißt. Hauptsache, sie schmeckt.“

Gerhard lachte und klopfte David auf die Schulter. „Worauf du dich verlassen kannst, mein Lieber. Komm, lass uns in die Sonne gehen.“

Auf der Terrasse zelebrierten sie das Entzünden der Zigarren und schlenderten immer noch schweigend die wenigen Stufen in den kleinen, gepflegten Garten des Reihenhauses hinunter.

„Geht ihr gar nicht gut“, durchbrach David schließlich die Stille und nickte zum Haus. „Sie will sich nichts anmerken lassen, aber sie plagt sich ganz schön, oder?“

„Tja“, sagte Gerhard, „die Fibrose macht ihr schon zu schaffen. Und es wird nun mal nicht besser. Aber ich glaube, es sieht schlimmer aus, als es ist. Sie ist ein altes Dampfross: Ständig am Schnaufen, aber trotzdem nicht aufzuhalten.“

David lachte. „Schöner Vergleich.“

Gerhard nahm einige lange Züge. „Hast du dir schon überlegt, was du mit der Statue machen willst?“

David schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich bin mir sicher, sie hat mir noch einiges zu erzählen.“

„Ich will dich ja nicht bedrängen, aber meinst du nicht, bei uns im Institut könnte man ihr am besten zuhören?“

David machte eine Pause und paffte. „Nein“, sagte er schließlich, „nein, ich glaube, bei euch ist nicht ihr Platz, zumindest nicht im Moment.“

„Du glaubst, sie wird dich auf die Spur deines Vaters führen, nicht?“

David hüllte sich in eine Rauchwolke. „Irgendwie schon. Ist doch wohl das deutlichste Zeichen, das ich in den letzten zwanzig Jahren bekommen habe, oder? Wäre ich religiös, würde ich sagen, sie ist ein Zeichendes Himmels.“

„Und wie soll das vonstattengehen?“

„Keine Ahnung. Das Paket hat von allein seinen Weg zu mir gefunden, und ich werde auch allein den Weg zurück zum Absender finden.“

„Was für ein Glück, dass du damals darauf bestanden hast, in der Wohnung zu bleiben, als wir hier herausgezogen sind. Du hättest das Paket sonst nie bekommen.“

„Noch so eine Fügung.“

Wieder schwiegen sie eine Weile, bis der Professor tief Luft holte. „David, hänge dich bitte nicht zu tief in diese Suche rein, ja? Das wäre nicht gut.“

David stutzte. „Was willst du mir damit sagen?“

„Nichts Besonderes. Ich möchte nur nicht, dass du enttäuscht bist, wenn auch diese Spur im Sand verläuft. Es ist einfach schon so verdammt lange her.“

David sah seinen Stiefvater mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Dahinter steckt doch noch mehr.“

„Nein, wirklich nicht.“

„Wieso schaust du mich dann nicht an?“

Gerhard lächelte nachsichtig. „Weil es mir unangenehm ist, dir das zu sagen. Ich möchte dir deine Illusionen nicht nehmen.“

„Ist gut. Entschuldige.“

„Ach weißt du“, Gerhard klopfte David auf die Schulter, „ich könnte dich doch sowieso nicht zurückhalten, oder?“

„Nein, das könntest du nicht.“

„Wusst ich’s doch. Erfüllst du mir noch eine Bitte?“

„Na?“

„Hältst du mich auf dem Laufenden, was die Sache angeht?“

„Okay.“

Gerhard runzelte die Stirn. „Das kam mir etwas zu prompt. Ich meine es ernst.“

„Ich auch. Keine Angst, ich rufe dich an, wenn es etwas Neues gibt.“

Gerhard sah David einen Moment lang prüfend an, dann nickte er. „Gut. Danke.“

*

Das Klingeln des Telefons riss David aus dem Schlaf. Er stöhnte. Diese gottverdammte Nachtschicht war so stressig gewesen, dass er heute Morgen nicht einmal mehr das Telefon aus der Wand gezogen hatte, bevor er ins Bett gekippt war.

Beharrlich schrillte es durch seinen Schädel, wieder und wieder. Verdammt, welcher Penner ließ das Ding so ewig lange klingeln?

Endlich gab es Ruhe, aber nur, um kurz darauf von Neuem zu beginnen. Fluchend wälzte David sich herum und tastete nach dem Hörer, der prompt zu Boden fiel. Erüberlegte einen Moment, ihn einfach liegen zu lassen, hängte sich dann aber doch über die Bettkante und fischte ihn wieder auf. „Mhm.“

„Herr Rost? David Rost?“, fragte eine unverschämt muntere Stimme.

„Wer will das wissen?“, murmelte er und tastete nach dem Wecker. Zehn Uhr. Verdammter Mist.

„Mein Name ist Mark Belmont. Sie haben vielleicht schon von mir gehört.“

„Nie im Leben.“

Kurze Stille. „Wie auch immer: Ich bin ein Sammler antiker Kunstgegenstände und ein großzügiger Spender des Instituts, an dem Ihr verehrter Herr Vater zu lehren pflegte.“

„Und?“

„Ich habe erfahren, dass sich in Ihrem Besitz ein Artefakt befindet, ein sehr außergewöhnliches Stück.“

„Woher wollen Sie das denn wissen?“

„So etwas spricht sich rasch herum.“

„Nein.“

„Was?“

„Unverkäuflich.“

„Also haben Sie es?“

„Vergessen Sie’s.“ Er knallte den Hörer auf die Ladestation zurück. Arschloch.

Er ließ sich ins Bett zurückfallen und boxte das Kopfkissen zurecht. Unter dem Vorhang drängte sich die Morgensonne in den Raum und tauchte ihn in schummriges Zwielicht. David starrte missmutig den gewellten Streifen gelben Lichtes an und zog sich die Decke über den Kopf. Er drehte sich um, dem aufsteigenden Tag demonstrativ den Rücken zuwendend.

Aussichtslos. Er war todmüde und gleichzeitig hellwach. Eigentlich hätte er nach dem Telefonat schlicht und ergreifend hintenüber kippen und noch im Fallen wieder einschlafen müssen – eine der Fertigkeiten, die man bereits im ersten Jahr bei der Feuerwehr lernte –, aber diesmal klappte es einfach nicht. Er warf sich noch ein paar Mal hin und her, dann gab er auf.

Mist. Er schwang sich aus dem Bett und schlurfte in die Küche. Kaffee. Wenn schon wach, dann aber auch richtig. Er bereitete ein schwarzes Gebräu zu, das dem Nachtschwesternkaffee im Sankt Georg problemlos den Rang ablaufen konnte, schüttete einige Teelöffel Zucker hinein und setzte sich mit dem dampfenden Becher auf die Dachterrasse, die sich vor seiner Wohnung im dritten Stock erstreckte. Die Maisonne hatte die Luft über den Dächern von Hamburg bereits kräftig aufgeheizt, und er blinzelte sie minutenlang an, um den Schlaf aus seinem Kopf zu vertreiben. Der Kaffee tat sein Übriges, und er reckte sich, dass die Gelenke knackten. Na gut. Heute Abend würde er tot umfallen, aber er musste ja auch erst morgen wieder zur Arbeit.

Was zum Teufel war an dieser Statue so Besonderes, dass dieser Typ sich so dafür interessierte? Und was noch wichtiger war,woher wusste er davon?

Tausend weitere Fragen, die sich in den letzten Tagen angesammelt hatten, purzelten ihm durchs Hirn. David begriff.Aufgeweckt hatte ihn dieser merkwürdige Sammler, aber am Einschlafen gehindert hatte ihn die Sache mit der Statue selbst. Nachdenklich nippte er an dem heißen Kaffee, verzog angewidert das Gesicht und nahm noch einen Schluck. Wer könnte ihm Antworten verschaffen? Gerhard? Nein. Der würde eher noch mehr Fragen aufwerfen. Seine Mutter? Unmöglich. Selbst wenn sie gesund wäre, könnte sie ihm nicht viel weiterhelfen.

Er schnippte mit den Fingern. Sarah. Sie hatte zwar mit Archäologie nichts am Hut, aber sie wusste immer weiter. Nicht, dass sie seine Fragen beantworten könnte, ganz im Gegenteil.Normalerweise kam er mit mehr offenen Fragen von ihr zurück, als er mitgebracht hatte.Aber irgendwie waren es die besseren Fragen.Die richtigen.

Sie hatten sich vor ein, zwei Jahren auf einer Party kennengelernt. Er hatte sie derb angemacht, sie hatte ihn derb abblitzen lassen, dann hatten sie beide herzlich darüber gelacht und seitdem waren sie befreundet. Hin und wieder traf Sarah ihn, um Dampf abzulassen über die Schlechtigkeit der Menschen im Allgemeinen und der Männer im Besonderen, und immer, wenn ihm das Leben mal wieder ein Bein gestellt hatte, ließ er seine Fragen bei ihr austauschen.Diesmal war es eine ganz andere Sorte Fragen, aber den Versuch war es wert. Er stand auf, ging hinein und griff zum Telefon.

Am frühen Nachmittag, David hatte doch noch ein wenig Schlaf gefunden und war wieder einigermaßen mit der Welt versöhnt, betrat er Sarahs Lieblingsbistro an der Schanzenstraße und schob die Sonnenbrille auf die Stirn. Aus der hinteren Ecke wedelte ihm ein goldbereifter Arm entgegen, und er schlug sich zu Sarahs Tisch durch.

„Na, großer Bruder“, begrüßte sie ihn, während er sich auf den Platz ihr gegenüber fallen ließ.

David runzelte die Stirn. „Großer Bruder? Wenn ich der Hurensohn bin, als den du mich immer bezeichnest, dann wirft das kein gutes Licht auf deine Familie.“

Sie verdrehte die Augen und nickte zum Nachbartisch, wo sich ein braungebrannter Blondling mit Hawaiihemd auf den Polstern rekelte. David stöhnte. „Das ist doch wohl nicht dein Ernst! Willst du schon wieder auf diese Sorte Arschloch reinfallen?“

„Wo ich doch so einen charmanten, gebildeten und höflichen Kerl wie dich hätte haben können.“

„Du hast gutaussehend vergessen.“

Sie spitzte die Lippen. „Wie konnte ich nur.“

„Du hast mir damals das Herz gebrochen, weißt du.“

Sarah lachte. „Du kannst es einfach nicht lassen. Wo ist dein Problem?“

„Außer dir? Mein Vater.“

Sie nippte an ihrer Cola. „Wie das denn? Der ist doch schon lange tot, oder?“

„Nicht unbedingt. Ich habe dir nur die halbe Wahrheit erzählt.“ David winkte dem Kellner, bestellte ein Bier und ein Schnitzel und erzählte Sarah die ganze Geschichte, von seinem verschollenen Vater, der Statue, den Gesprächen mit seinem Stiefvater und dem Anruf des Sammlers.

„Wow“, machte sie, als er fertig war. „Das hätte mich aber auch aus der Bahn geworfen. Das ist ja wie eine Zeitreise.“

„Ja, es fühlt sich irgendwie an, als hätte ich die Jahre seit seinem Verschwinden in einer Warteschleife verbracht, und jetzt geht das Leben an derselben Stelle weiter.“

„Und, was willst du jetzt tun?“

„Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier, und du könntest dich an den Schönling da verschwenden.“

Das Schnitzel kam, der Schönling ging. Sarah sah ihm nach und zog einen Flunsch. „Zu spät.“

„Besser so. Glaub’s mir.“ David ertränkte den Inhalt seines Tellers in Ketchup.

Sarah verzog das Gesicht.„Muss das sein?“

„Stimmt, ist ein bisschen viel. Erinnert mich an den Verkehrsunfall letzte Nacht.“

„Du bist ekelhaft!“

David grinste und schob sich ein großes Stück Schnitzel mit Pommes in den Mund.

Sarah sah ihn nachdenklich an, während er in erzwungener Schweigsamkeit kaute. „Was ist eigentlich genau damals gelaufen? Ich meine, warum konnte man ihn nicht finden? Was sagten die anderen, die bei der Ausgrabung dabei waren?“

David spülte den Bissen mit einem Schluck Bier hinunter. „Nichts.Es war niemand da, der etwas erzählen konnte.“

„Was?“ Sarah machte eine abfällige Handbewegung. Ihre goldenen Armreife klingelten. „Du kannst mir doch nicht erzählen, dass eine komplette Expedition einfach verschwunden ist?“

„Doch, genau das. Niemand weiß, wo sie damals gearbeitet haben, und niemand hat es jemals herausgefunden.“

„Du nimmst mich auf den Arm.“

„Nein, bestimmt nicht. Die Uni sagt, dass es keine offizielle Unternehmung war. Jemand scheint gezielt Personal für eine private Ausgrabung angeheuert zu haben, und dieser Jemand legte großen Wert auf Diskretion, sowohl, was seine Person anging, als auch die gesamte Expedition. Das Einzige, was man damals herausfinden konnte,war, dass es nach Mittelamerika gegangen ist, aber schon beim Land war dann Feierabend. Na ja, seit zwei Tagen weiß ich wenigstens, dass es Mexiko war.“

„Also entschuldige mal, aber wer wäre so bescheuert, eine Expedition nach Mexiko privat zu finanzieren? Was soll das bringen?“

„Gold, vermutlich. Es gibt immer noch viele Legenden um den Schatz der Azteken oder Inkas oder wen auch immer, der angeblich in verschollenen Tempeln versteckt ist.“ David schob sich ein paar Fritten in den Mund. „Alles Humbug, wenn du mich fragst, aber hin und wieder erliegt einer der Versuchung und steckt eine Menge Geld in eine Expedition, in der Hoffnung, wahnsinnig viel Gold herauszubekommen. Oder antike Kunstgegenstände. Du glaubst gar nicht, wie viel Geld man für so eine alte Statue auf dem Schwarzmarkt bekommen kann.“

„Na gut, damit kann man auch die Geheimniskrämerei erklären.“

„Damit und mit der Tatsache, dass die mexikanische Regierung den größten Teil für sich beanspruchen würde, wenn sie davon Wind bekäme.“

„Klar.“ Sarah lehnte sich zurück und tippte nachdenklich mit dem Zeigefinger auf die Lippen. „Aber was ich nicht verstehe: Irgendwo ist immer ein Leck. Ich meine, so eine Expedition besteht aus vielen Leuten. Einer muss doch mal zu Hause angerufen haben. Jemand muss vor Ort Lastwagen und Jeeps gemietet, Lebensmittel gekaufthaben, irgendwas.“

David wedelte mit ein paar Pommes in der Luft. „Sind die damals auch draufgekommen. Fehlanzeige. Keine Hotels, keine Telefonate, nichts. Flugtickets bis Los Angeles, aber keine Anschlussflüge. Überhaupt waren es nur zwei oder drei andere Archäologen, die verschwunden sind.“ Er schob die Fritten in den Mund. „Die meisten Leute wurden wohl vor Ort angeheuert, aber wo? Die Leute vom Institut konnten damals ja nicht ganz Südamerika durchkämmen.“

„Du frisst wie ein Schwein, weißt du das?“

„Oink.“ Er grinste mit vollem Mund.

„Ist ja eine wirklich unglaubliche Geschichte.“

„Was meinst du, wie wenig ich die damals glauben wollte. Hey, ich war zwölf!“

Sarahs Blick nahm etwas Mütterliches an. „Ach je, du Armer. Das muss wirklich die Hölle gewesen sein.“

„Ja“, murmelte David und sah zur Seite. „Mir wäre es fast lieber, er wäre damals gegen einen Baum gefahren und tot gewesen. Dann hätte ich wenigstens Bescheid gewusst.“

„Glaube ich dir. Was willst du jetzt machen?“

„Keine Ahnung. Das ist es ja gerade. Ich meine, was weiß ich denn jetzt schon? Dass er jemandem misstraut hat, dass er in Mexiko war, und dass es diese komische Steinfigur gibt. Mehr nicht.“

„Und, was willst du jetzt von mir hören?“

David sah auf seinen Teller und rührte mit einer Fritte in derKetchuppfütze. „Weiß nicht.“

Sarah lehnte sich vor. „Was willst du überhaupt? Was erhoffst du dir jetzt, was wünscht du dir?“

„Herrgott, keine Ahnung.“ Er schob den Teller von sich und funkelte sie an. „Bis vor zwei Tagen wusste ich, dass ich meinen Vater nie finden würde. Kein Lebenszeichen, kein Grab, nichts. Ich habe mein halbes Leben damit verbracht, mich damit abzufinden, und ich habe es ganz gut geschafft. Und dann kommt dieses dämliche Paket und schmeißt alles wieder durcheinander. Woher soll ich da noch wissen, was ich will?“

Sarah sah ihn schweigend an, bis er den Blick senkte. „Deine schöne Gewissheit ist futsch, und du würdest sie gern wiederhaben.“

„Klar.“

„Was wäre für dich denn so eine neue Gewissheit?“

„Herauszufinden, was nach dem Brief passiert ist. Sein Grab zu finden. Oder was auch immer.“

„Wo willst du anfangen mit der Suche?“

„Verdammt, keine Ahnung! Ich kann doch nicht nach Mexiko fahren und mich durch den Urwald schlagen.“

Sie sah ihn durchdringend an.

„Was?“

Sie schwieg weiter und sah ihn an.

„Du meinst doch nicht …?“

Sarah zuckte die Schultern. „Ich meine gar nichts. Das ist deine Entscheidung.“

Ein Grinsen breitete sich auf Davids Gesicht aus. „Sarah, ich liebe dich, weißt du das?“

„Vergiss es. Nur über meine Leiche.“

*

David ahnte Böses, als er nach Hause kam und seine Wohnungstür einen Spalt offen stehen sah. Mit bis zum Hals klopfendem Herzen spähte er durch den Spalt in den Flur. Der Schuhschrank war aufgerissen, der Inhalt auf dem Boden verstreut, daneben die Jacken vom umgestürzten Garderobenständer. Rasch zog er sich zurück, huschte um die nächste Ecke und holte sein Mobiltelefon heraus.

Nachdem er die Polizei verständigt hatte, huschte er auf Zehenspitzen zur Tür zurück und lauschte. Nichts. Das einzige Geräusch, das er hörte, war das Pochen des Blutes in seinen Ohren. Stand da jemand auf der anderen Seite der Tür und hielt wie er den Atem an? Leise und vorsichtig schob er sie weiter auf und spähte dahinter. Niemand. Er schlüpfte durch den Spalt.

In Ermangelung einer besseren Waffe hob er einen Regenschirm auf, hielt ihn wie ein Schwert vor sich und schlich ins Wohnzimmer. Auch hier sah es aus, als wäre ein Tornado durch das Haus gefegt.Schubladen waren herausgerissen, ihr Inhalt ausgekippt, ebenso der Inhalt der Schränke. Zerbrochenes Geschirr war über den Fußboden verteilt, Bücher, Zeitschriften, CDs.

Etwas knirschte unter Davids Fuß, als er vorsichtig in den Raum trat. Er zuckte zusammen und blickte panisch um sich, aber nichts rührte sich. Er hob den Fuß und identifizierte die Plastiktrümmer darunter als 138er Seagrave-Leiterwagen der New Yorker Feuerwehr. Das Ding hatte ein Vermögen gekostet. Lautlos umrundete David seine auf dem Teppich verstreute Sammlung von Modellfeuerwehren und spähte in die angrenzenden Räume. Er war allein. Erleichtert ließ er seine improvisierte Waffe sinken.

Mit dem Fuß schob er einige Scherben beiseite, balancierte über die herumliegenden Gegenstände zum Sofa und entdeckte darunter seine Playstation. Spätestens jetzt war klar, dass der Einbrecher es nicht auf Wertsachen abgesehen hatte: Das Ding war nicht ganz billig und leicht zu verkaufen.

Wenn es also kein Geld gewesen war, konnte der Täter nur noch hinter einer Sache her gewesen sein. Mit gerunzelter Stirn verließ er die Wohnung, sorgfältig darauf bedacht, keine Einbruchsspuren zu zerstören. Dann ging er auf den Dachboden, öffnete den Maschendrahtverschlag, der zu seiner Wohnung gehörte, und wühlte in einem großen Pappkarton voller alter Zeitschriften. Die Statue war noch da. David grinste. Pack sie einfach wieder in die Schachtel und lege sie in eines deiner Geheimverstecke. Kein Problem.

Er blickte um sich, ob ihn jemand beobachtete, aber er war allein. Rasch vergrub er den Karton mit der Statue wieder unter den Magazinen. Dann ging er ins Wohnzimmer zurück, setzte sich aufs Sofa und wartete auf die Polizei.

Dass der Einbrecher es auf die Statue abgesehen hatte, stand für David fest. Aber wer wusste davon? Nicht viele. Sarah, aber die schied aus. Der Kunstsammler von heute Morgen? Vielleicht. Man hörte ja allerlei Merkwürdiges über reiche Exzentriker mit Sammelleidenschaften. Aber hätte der Mann dann am Telefon seinen Namen genannt? David rieb sich das Kinn. Wie war der eigentlich gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Und wer sagte überhaupt, dass der Name echt gewesen war?

Wer auch immer hinter dem Einbruch steckte, er konnte seine Informationen nur von einer einzigen Person haben. Und der gedachte David heute noch einen Besuch abzustatten, gleich, wenn die Polizei wieder weg sein würde.

Zu viele Fragen

David stapfte über den granitgepflasterten Vorplatz auf den Westflügel der Uni zu. Der Einbruch hatte seine Laune schon genug verdorben, aber nach dem Besuch der Polizei war endgültig Schluss gewesen. David kannte den rundlichen, übertrieben jovialen Beamten, der mit einer hasenzähnigen Jungpolizistin im Schlepptau angerollt war, von einigen Einsätzen, und auch bei denen hatte er sich weniger mit der Absicherung der Einsatzstellen beschäftigt, als damit, die Löschkräfte mit wohlgemeinten Ratschlägen und Lebensweisheiten zu versorgen. Also hatte er sich auch bei David ächzend aufs Sofa fallen lassen, den Block gezückt und mit Blick auf die Haustür gesagt: „Also, Junge, bei der Tür wundert es mich ja, dass nicht schon viel früher jemand eingebrochen ist.“ Es folgte eine Lehrstunde in Einbruchsprävention, wobei David wohlweislich darauf verzichtete, ihn ständig zu korrigieren.

Schließlich hatte der Polizist David kameradschaftlich auf die Schulter geklopft, irgendetwas von „Machste diesmal aber ein richtiges Schloss in die Tür, was?“gemeint und war samt Gefolge abgezogen, nicht ohne auf dem Weg nach draußen ein weiteres Feuerwehrmodell in ein Häufchen Plastiksplitter zu verwandeln.

Der Notizblock war leer geblieben. Spurensicherung? Fehlanzeige. „Ist ja nichts weggekommen. Hast ja noch mal Glück gehabt.“

Diese Aktion hätte er sich sparen können. Idiot!

David pflügte über den Vorplatz des Westflügels mitten durch eine Gruppe entgegenkommender Studenten. Zwei von ihnen konnten sich nur durch beherzte Sprünge zur Seite in Sicherheit bringen. Ihre Flüche und Verwünschungen prallten von seinem Rücken ab.

Er ging die helle Steinfront des Gebäudes entlang und durchquerte die Drehtür mit der Anmut eines gereizten Stiers. Seine Schritte knallten laut auf den Bodenplatten und hallten, vom Glasdach zurückgeworfen, durch den Innenhof. Die Studenten im Café hoben ihre Köpfe und sahen ihm verärgert nach, aber David beachtete sie nicht. Er schwang sich die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, bog in den Bürotrakt im zweiten Stock und riss schließlich die Tür zu Gerhards Büro auf, ohne vorher anzuklopfen.

Gerhard schreckte aus seinen Unterlagen hoch. „Himmel, Junge, jag mir doch nicht so einen Schreck ein!“

„Wem hast du alles von dieser Statue erzählt?“

Gerhard stutzte. „Erzählt? Wieso?“

„Wem?“

„Na ja, eigentlich kaum jemandem.“

„Wem?“

„Ein oder zwei Kollegen. Nicht mehr. Ich hab’s vielleicht mal beim Mittagessen erwähnt.“

„Geht es ein bisschen genauer?“

„Wieso willst du das eigentlich wissen?“

„Weil irgendjemand meine Wohnung auf den Kopf gestellt hat, um an die Figur zu kommen.“

„Ein Einbruch? Ach du meine Güte! Das ist ja furchtbar! Hat der Dieb sie gefunden?“

„Nein, ich habe sie noch.“

Gerhard drehte sich zur Seite und sank in seinem Bürostuhl zusammen. „So was“, murmelte er abwesend.

„Wer bricht in meine Wohnung ein, um an die Statue zu kommen? Und warum? Was ist so Besonderes an ihr?“

„Ich habe keine Ahnung.“

„Doch, hast du.“ Das war geraten.

„Nein, die Statue ist … ist …“

„Ist was?“

„Ein besonders interessantes Stück, aber mehr auch nicht.“

„Und warum will jemand sie dann mit allen Mitteln haben?“

„Himmel, woher soll ich das wissen?“

„Weil du außer mir der Einzige bist, der von ihr weiß. Und damit sind die Leute, denen du von ihr erzählt hast, die einzigen, die sie bei mir suchen konnten.“

„Aber die Kollegen, denen gegenüber ich davon erwähnt habe – Sie sind alle absolut vertrauenswürdig.“

David sah Gerhard scharf an. „Dann bliebe ja nur noch ein Verdächtiger übrig.“

„Was? Du meinst doch nicht … David, das ist doch wohl nicht dein Ernst!“

„Reine Logik. Also, was macht diese Statue so wichtig?“

Gerhard seufzte. „Das ist schwer zu erklären.“

„Ich habe Zeit.“ David verschränkte die Arme und baute sich vor dem Schreibtisch auf.

Gerhard sah einige Sekunden aus dem Fenster, bevor er anfing zu sprechen. „Diese Statue, die dein Vater dir geschickt hat, ist vermutlich der Schlüssel zu etwas ganz Besonderem.“

„Hat es etwas mit seinem Verschwinden zu tun?“

„Ich vermute es. Die damalige Expedition war nicht einfach auf der Suche nach wertvollen Artefakten, sie suchte etwas anderes. Etwas, von dem nur wenige Leute wissen.“

„Und das wäre?“

„Nach dem Grund, warum Teotihuacán Ende des siebten Jahrhunderts aufgegeben wurde.“

„Wie spannend“, spöttelte David. „Na, dafür hätte ich auch gern tief in die Portokasse gegriffen. Da hat man doch seine Investitionen in Nullkommanichts wieder raus.“

„Nicht so voreilig, mein Junge. Mit etwas Glück könnte ein solches Vorhaben sehr lukrativ sein.“

„Wieso? Die Stadt wurde gegründet, bewohnt und wieder verlassen. Was ist das Problem?“

„Dass es eben nicht nur eine Stadt war. Teotihuacán war fast tausend Jahre lang das Macht- und Handelszentrum Mittelamerikas, mit Handelsbeziehungen vom heutigen Arizona bis nach Honduras und Belize. Die Stadt war mächtig, und Macht bedeutet Reichtum, damals wie heute.“

„Ah“, machte David, „Eldorado und so.“

Gerhard winkte ab. „Eldorado ist etwas für leichtgläubige Abenteurer. Außerdem geht es dort um das Gold der Inka, und die kamen erst viele Hundert Jahre später und waren viel weiter südlich. Über einen Schatz von Teotihuacán wissen wir fast nichts, genau wie über das Imperium selbst. Wir haben keine Schriftaufzeichnungen, haben keine Herrscherpaläste gefunden, und letzten Endes wissen wir nicht einmal den richtigen Namen des Volkes. Den Namen Teotihuacán haben die Azteken dem Ort gegeben, und die fanden ihn schon verlassen vor.“

„Sehe ich das richtig: Ihr wisst nichts über die Stadt, über die Bewohner, über Geschichte, Herrscher und so weiter, aber du meinst, eine Schatzsuche würde sich lohnen? Klingt mir ein bisschen blauäugig.“

Gerhard lachte leise und hob den Zeigefinger. „Nicht ganz. Andere Völker dieser Zeit waren erheblich fleißiger in ihren Aufzeichnungen. Das Volk von Monte Albán beispielsweise pflegte hochrangige Kontakte zu Teotihuacán, und auch von den Mayas sind Aufzeichnungen bekannt, die offensichtlich über Teotihuacán berichten.“ Er lehnte sich vor. „Hier wird es dann wirklich interessant. Eine dieser Maya-Quellen aus der spätklassischen Periode berichtet von einem wunderbaren Ort, der etwas unglaublich Wertvolles beherberge. Lange nahm man an, der Text handelte von einem göttlichen Ort, einem Paradies oder Ähnlichem. Seit einiger Zeit mehren sich aber die Meinungen, dass die Rede von einem irdischen Ort sei. Wahrscheinlich stimmt beides, denn oft wurden bei diesen Völkern reale Stätten mit mythologischen Bedeutungen belegt. In diesem Fall sprechen Indizien dafür, dass es sich um einen Ort im alten Teotihuacán handelt. Der Text spricht von einem Schatz, etwas unglaublich Wertvollem. Dem Manne, dem es zu eigen, sei die Herrschaft über Land und Menschen. Sein Volk und andere werden sich vor ihm in Demut beugen, und allen sei es zum Nutzen und zu ihrem Wohlgefallen.“ Der Professor sprang auf und schritt hinter seinem Schreibtisch auf und ab. „Diese Theorie würde alles erklären, hörst du? Wie die Stadt zu ihrer Macht kam. Was der zentrale Faktor war, der das Volk anscheinend ohne Alleinherrscher zusammenhielt. Und was so abrupt zum Ende der Stadt geführt hat.“

David nickte. „Das Verschwinden des Schatzes.“

„Genau. Gestohlen, zerstört oder versteckt.“

„Gut, das klingt schon eher lohnend. Aber was hat die Statue damit zu tun?“

Gerhard verzog das Gesicht. „Ich weiß es nicht. Aber etwas muss dein Vater ja damals herausgefunden haben, sonst hätte er sie dir nicht geschickt. Und die Expedition wäre nicht spurlos verschwunden. Vermute ich.“

David setzte sich auf den Besucherstuhl und fixierte seinen Stiefvater. „Warum weiß ich davon nichts? Warum steht kein Wort davon in irgendeinem der Berichte?“

„Ich glaubte damals, es sei nicht wichtig“, erklärte Gerhard und sah zur Seite. „Es war ja nicht einmal klar, ob die Expedition der Suche nach diesem Schatz diente oder ob sie ein anderes Ziel hatte. Ehrlich gesagt habe ich es damals für sehr, sehr unwahrscheinlich gehalten. Mit dem Auftauchen deiner Statue sieht das freilich ganz anders aus.“

„Aber die Vermutung hattest du schon, oder?“

„Ja, aber warum hätte ich das erzählen sollen? Es hätte doch ohnehin nichts geändert. Ich habe mich seitdem manchmal gefragt, ob das richtig war, aber nun ist es ohnehin zu spät.“

David starrte Gerhard schweigend an. „Gibt es sonst noch etwas, was du mir bisher verschwiegen hast?“, fragte er schließlich.

Gerhard sog erschrocken die Luft ein. „Junge, du glaubst doch nicht, dass ich dir bewusst etwas vorenthalten hätte?“

„Nein, ich glaube es nicht. Seit einer Minute weiß ich es. Also, was gibt es sonst noch Unwichtiges?“

„Nichts, ich … Nein, wirklich! Es war nur dieses eine Detail, und es war wirklich ohne Bedeutung.“

„So ohne Bedeutung, dass mein Vater dafür vermutlich gestorben ist.“ David stand auf. „Sollte dir noch mehr an solchen Bedeutungslosigkeiten einfallen, dann lasse mich bitte daran teilhaben.“

„Was hast du vor?“

„Ist nicht wichtig. Würde nichts ändern, wenn ich es dir sagen würde.“ David wandte sich zum Gehen. Er stockte. „Sag mal, steckt da vielleicht dieser Typ mit drin, der das Institut hier so großzügig fördert?“

„Ein großzügiger Förderer des Instituts? Wer soll das sein? Du meinst nicht etwa die Greves, denen wir das Gebäude zu verdanken haben?“

„Nicht die. Da gibt es doch noch einen anderen.“

Gerhard schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nein. Natürlich gibt es einige Leute, die dem Institut wohlgesonnen sind und hin und wieder Geld oder Sachmittel spenden, aber als Mäzen kann man keinen von denen bezeichnen. Wie kommst du darauf?“

„Lange Geschichte. Erzähle ich dir ein andermal.“ Er nickte dem Professor zum Abschied zu und ging.

War es wirklich reine Unachtsamkeit gewesen, die Gerhard diese Informationen hatte verschweigen lassen? David schüttelte den Kopf und trat aus dem Gebäude in die Abendsonne hinaus. Allmählich fing er an, hinter jeder Ecke Gespenster zu sehen.

*

Beim Aufräumen der Wohnung war David auch der Lederhut seines Vaters in die Hände gefallen, und zum ersten Mal seit dessen Verschwinden setzte er ihn sich auf. Er kam sich seltsam damit vor, ein bisschen wie der kleine Junge, dem sein Papa damals den Hut zum Abschied auf den Kopf gesetzt hatte, und ein bisschen wie Indiana Jones. Er grinste in sich hinein und tat so, als würde er eine Peitsche knallen lassen. Auf ins Abenteuer!

Stellte sich nur die Frage, wohin er aufbrechen sollte. Mexiko, klar. Aber wo dort? Er holte die Schachtel mit der Statue aus ihrem Versteck, setzte sich aufs Sofa und untersuchte sie. Als Absenderadresse hatte sein Vater nur Namen und Land angegeben, und der Poststempel war nicht zu erkennen. Das, was davon im Laufe der Jahre nicht verblichen war, war verwischt und unleserlich. Fehlanzeige. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Was nun? Mexiko war groß. Zu groß, um aufs Geratewohl dort zu suchen. Viel zu groß.

Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Sorgfältig um die vorsortierten Stapel auf dem Boden manövrierend lief er zur Tür, öffnete sie einen Spalt und spähte misstrauisch hindurch. „Sarah!“, rief er und zog die Tür ganz auf.

Sarah trat ein und warf einen missbilligenden Blick auf das Chaos, das sich vom Flur ins Wohnzimmer erstreckte. „Mal ehrlich,du solltest ein wenig Zeit zum Aufräumen abzweigen.“

David winkte ab. „Glaube es mir oder nicht, aber normalerweise bin ich ein ordentlicher Mensch.“

„Das ist also der Grund, warum du mich nie zu dir eingeladen hast. Hinter deiner Haustür lässt du den kleinen Spießer raus.“ Sie balancierte Richtung Wohnzimmer.

„Nein. Der Grund ist, dass du sowieso nicht gekommen wärst.“

„Richtig.“

„Und was verschafft mir jetzt die Ehre?“

Sie drehte sich um und sah ihn mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. „Ich weiß es nicht. Ehrlich. Ich hatte einfach das Gefühl, dass es eine gute Idee wäre.“ Sie schob einen Stapel Feuerwehr-Magazine in eine Ecke des Sofas und ließ sich auf den nun freien Platz fallen.

„Ah“, sagte er. „Kaffee?“

„Ja, gern. Mit Milch und Zucker.“

„Blond und süß, ist klar.“

„Was ist hier eigentlich passiert? Ist hier eine Bombe explodiert oder hat einer eingebrochen?“

„Ja, genau das“, rief David aus der Küche. „Ein Einbruch. Gestern, als wir uns getroffen haben.“

„Du machst Witze! Haben die Einbrecher viel mitgehen lassen?“

„Überhaupt nichts.“ Er kehrte mit einem Tablett mit Tassen, Milch und Zucker ins Wohnzimmer zurück, während in der Küche das Keuchen und Blubbern der Kaffeemaschine einsetzte.

„Ist nicht dein Ernst!“

David grinste. „O doch. Sie haben nämlich nicht gefunden, wonach sie gesucht haben.“ Er zeigte auf das Paket, das vor Sarah auf dem Couchtisch lag.

Sarah machte große Augen. „Das Paket von deinem Vater? Darf ich?“

„Klar.“

Vorsichtig wickelte Sarah das Päckchen aus, öffnete es und entnahm ihm die Figur. Sie betrachtete sie von allen Seiten, fuhr mit den Fingerspitzen die Rillen und Muster auf ihrer Oberfläche nach und stellte sie schließlich behutsam auf den Tisch vor sich. „Wow“, sagte sie und dann lange Zeit nichts, ganz in den Anblick der Statue versunken.

David nutzte die Zeit und holte den Kaffee aus der Küche. „Na“, sagte er und schenkte ihnen ein, „die hat’s dir angetan, was?“

Sarah schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Figur zu nehmen. „Nicht die Statue selbst. Was mich fasziniert ist, was sie schon alles gesehen hat. Eine versunkene Kultur, vielleicht einen düsteren Tempel. Oder ein Wohnhaus, mit Kindern, die schon vor über tausend Jahren alt geworden und gestorben sind. Und deinen Vater und seine Expedition. Dieser kleine Kerl weiß, wo sie waren, und vielleicht auch, was alles passiert ist.“

David setzte sich neben sie und betrachtete die Statue ebenfalls. „Ja“, meinte er, „aber der Klotzkopf sagt einfach nichts. Kein Wort.“

„Ein Zeuge, aber eben nur ein steinerner.“ Sarah griff nach dem Paket und besah sich das Packpapier.

David winkte ab. „Alles schon versucht. Da steht auch nichts Verwertbares drauf.“ Er nahm einen Schluck Kaffee. „Aber schau dir ruhig alles an.“

Sie öffnete den Karton und zog eines der zerknüllten Blätter heraus, mit denen die Statue abgepolstert war. „Und das hier?“

„Das? Das ist nur Zeitungspapier.“ Er verschluckte sich an seinem Kaffee und hustete. „Zeitung …“, presste er heraus, „verdammt!“

„Im Gegenteil, ich würde es eher als Geschenk des Himmels bezeichnen.“ Sie faltete eines der Blätter auseinander, legte es auf den Tisch und glättete es mit dem Handballen. „Mal sehen. Die Zeitung heißt La Foja Coleta, aber wo sie herstammt, steht hier leider nicht.“

David beugte sich über ihre Schulter. „Das finden wir raus, wozu gibt’s das Internet. Schau mal genauer hin, vielleicht findet sich ein Hinweis in einem der Artikel.“

„Artikel nicht, aber schau mal hier.“ Sarah deutete auf eine Anzeige unten auf der Seite. Unter einem Volkswagen-Logo warb dort die Carroceria Hernandez Vargas für ihre Reparaturdienste. In einem Ort namens San Christóbal de las Casas.

David musste grinsen. „Endlich mal eine nützliche Werbung. Gut gemacht, Mädchen.“ Er klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. „Ich schau mal, wo das Kaff ist.“ Er ging zum Schreibtisch und schaltete den Computer ein.

San Christóbal de las Casas lag, wie sie rasch im Internet herausfanden, im mexikanischen Bundesstaat Chiapas. David zog aus dem frisch eingeräumten Bücherregal einen Atlas. Hätte man ihn noch vor einigen Tagen gefragt, er hätte Stein und Bein geschworen, keinen zu besitzen, aber er hatte in einem der Bücherhaufen auf dem Wohnzimmerboden gelegen, und die Eindringlinge hatten ihn wohl kaum da gelassen. Wofür so ein Einbruch nicht alles gut war. Rasch blätterte er sich bis zur Karte von Mexiko durch und fuhr mit dem Finger hastig auf dem südöstlichen Teil des Landes herum, in dem Chiapas lag.

Sarah knuffte ihn gegen die Schulter. „Nun nimm doch mal den Finger da weg, man kann ja gar nichts sehen!“

„Da!“ David tippte heftig auf einen Punkt. „Da ist es!“

„Ah“, machte Sarah. „Und wo liegt dieses sagenhafte Teotihuacán? Muss ja ganz in der Nähe sein, oder?“

„Denke schon. Moment …“ Verwirrt ließ David seinen Blick über die Karte wandern. „Es ist in der Nähe von Mexiko City, und das ist – hier.“ Sein Finger rutschte ein gutes Stück nach links oben auf der Karte. „Und hier ist auch Teotihuacán, siehst du?“

„Das ist aber alles andere als in der Nähe.“ Sarah runzelte die Stirn. „Tausend Kilometer, würde ich mal schätzen.“

David ließ sich aufs Sofa zurückfallen. „Hm“, machte er. „Entweder die Zeitung ist nicht vom Ausgrabungsort oder der war nicht in der Nähe von Teotihuacán.“

„Wäre das denn möglich?“, fragte Sarah, während sie ein Papierknäuel nach dem anderen aus dem Karton zog und glättete.

David wiegte den Kopf hin und her. „Schon. Nach dem, was Gerhard mir erzählt hat, war das Völkchen damals wohl ziemlich aktiv, wirtschaftlich gesehen. Ein riesiges Handelsimperium. Kann gut sein, dass die auch noch tausend Kilometer weiter ihre Finger im Spiel hatten.“ Er fuhr sich mit der Hand über die militärisch kurzen blonden Haare. „Oder aber Gerhard hatmir Blödsinn erzählt.“

„Aber er ist doch ein Spezialist auf dem Gebiet, oder?“

„Schon, aber auch Spezialisten irren sich.“ Leise fügte er hinzu: „Oder wollen sich irren.“

Sarah unterbrach das Glätten der Zeitungsseiten. „Du glaubst, er wollte dich hinters Licht führen? Aber warum?“

„Keine Ahnung. Ist nur so ein komisches Bauchgefühl.“ Er zwinkerte ihr zu. „Aber das ist ungefähr so treffsicher wie dein Riecher für Männer.“

„Ich glaube schon, dass die Zeitung mit dem Ausgrabungsort zu tun hat“, erklärte Sarah, Davids Spitze ignorierend. „Schau mal hier, alles dieselbe Zeitung.“

„Ja, und? Zeitungen haben doch meistens mehrere Seiten.“

„Nicht doch, Dummerchen. Ich meinte, es sind mehrere Ausgaben derselben Zeitung. Von verschiedenen Tagen.“

David zuckte die Schultern. „Da hat wohl jemand ein paar alte Zeitungen im Gepäck gehabt, meinst du nicht?“

„Ach, Quatsch.“ Sarah schüttelte heftig den Kopf. „Niemand nimmt einen Stapel alter Zeitungen mit auf eine Expedition. Oder würdest du das tun?“

„Eher nicht. Ich weiß noch von meinem Vater, dass der Platz im Gepäck ziemlich beschränkt ist.“

„Siehst du. Also?“

„Das heißt dann wohl, dass die Zeitung erst vor Ort gekauft wurde.“

„Und es heißt, dass das Camp nahe genug an einer Siedlung war, um hin und wieder hinzufahren und eine Zeitung zu kaufen.“

David nickte nachdenklich. „Ja, das ist wahrscheinlich. Aber wie finden wir heraus, in welchem Umkreis die Zeitung verkauft wird?“

Sarah verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Armreifen klackerten aneinander. „Das wirst du kaum von hier aus erfahren. Das geht nur vor Ort.“

„Oh“, machte David.

Sie runzelte die Stirn. „Ist was?“

„Ich … na ja … Ich habe mich nur gefragt, ob du vielleicht mitkommen möchtest.“

Sarah zog die Augenbrauen hoch. „Mitkommen? Ich?“

„Ja“, sagte David und nickte. „Auf meine Kosten, natürlich. Flug, Hotel und den ganzen Kram.“

„Komm schon“, sagte sie spöttisch, „das ist sogar unter deinem Niveau.“

„Was? Wovon redest du?“

„Wenn du mich hier schon nicht rumkriegen kannst, glaubst du dann wirklich, du brauchst nur mit Flugtickets zu wedeln und einen auf dicke Hose zu machen?“

„Spinnst du? Ich brauche jemanden, der Spanisch kann, das ist alles!“

„Ist klar. Und Französisch am besten auch gleich. Nee, lass mal stecken. Du findest schon eine knackige Señorita, die deinem Charme erliegt.“ Sie stand auf und kurvte um die Stapel zur Wohnungstür.

David starrte auf ihr Hinterteil, das im Slalom um die Hindernisse aufreizend hin und her schwenkte, und rang vergeblich nach einer schlagfertigen Erwiderung. „He“, rief er schließlich, „und was nützt mir das, wenn sie kein Deutsch kann?“

„Kauf dir ein Wörterbuch“, rief sie durch die geöffnete Tür zurück und verschwand. Das Klackern ihrer Absätze hallte durch den Hausflur.

David starrte auf die Tür, dann schüttelte er den Kopf. „Weiber“, schnaubte er und ging in die Küche, um sich ein Bier zu holen.

Viva Mexiko!

Drei Tage später stand er auf dem Vorplatz der Kathedrale von San Christóbalde las Casas. Drei lange Tage lagen hinter ihm, angefüllt mit Recherchen im Internet und in Bibliotheken, zähem Feilschen mit dem Wachleiter um Urlaubstage und getauschte Schichten und mit vielen, langen Stunden des Sinnierens. Über seinen Vater, über seine Vergangenheit, über ihn selbst. Und über Sarahs merkwürdiges Benehmen. Er hatte noch einige Male versucht, sie anzurufen, aber immer nur ihren Anrufbeantworter erreicht. Schlussendlich hatte er es aufgegeben.

Außerdem hatte er Reiseführer gewälzt, Koffer gepackt und einem Last-Minute-Reisebüro einen Besuch abgestattet, der ihm einen Flug in die Provinzhauptstadt Tuxtla Gutiérrez verschafft hatte.

Dort hatte er sich einen Mietwagen genommen – einen Jeep Wrangler, schließlich galt es, eine Expedition zu unternehmen – und war die knapp hundert Kilometer nach San Christóbal de las Casas gefahren. Erst mit stolzgeschwellter Brust, den Lederhut verwegen in die Stirn geschoben, das Verdeck geöffnet und die Türen ausgehängt. Später kam er sich ein bisschen dämlich mit dem Jeep vor.Die Panamericana war eine gut ausgebaute Autobahn, die für eine gemütliche Limousine geeigneter schien als für einen offenen Geländewagen. Obendrein ging mitten auf der Strecke ein Gewitterregen sondergleichen nieder, der ihn komplett durchnässt hatte, bevor er auch nur anfangen konnte, das Verdeck zu schließen. Gut fünf Minuten brauchte er, um die widerspenstige Konstruktion über Sitze und Gepäck zu spannen, und mancher vorbeifahrende Einheimische hatte nur einen feixenden Blick für den ungeschickten, patschnassen Gringo übrig, der da fluchend am Straßenrand stand und sich abmühte.

Endlich erreichte er San Christóbal de las Casas, mit immer noch am Leibe klebenden Sachen. Ständig wischte er die Scheiben ab, die gleich wieder beschlugen, und spähte durch die einbrechende Dämmerung auf die holperigen, aber gepflegten Straßen hinaus. Auf beiden Seiten säumten Reihen von schlichten, weiß oder in Pastellfarben gestrichenen Häusern die Straße, kaum eines höher als ein oder zwei Stockwerke und nur selten unterbrochen von Werkstätten oder modernen Gebäuden. Der Ort strahlte auf eine seltsame Art Gelassenheit aus, eine südländische Ruhe, die auch vor David nicht haltmachte. Die Gereiztheit, die ihn seit dem Wolkenbruch begleitet hatte, warverdampft wie das Regenwasser auf seiner Haut, und als er am Ende einer langen Straße auf einen großen, gepflegten Platz gefahren warund vor sich die Kathedrale sah, stahl sich schon wieder ein Lächeln auf sein Gesicht.Die große Kirche, malerisch von der Seite her in ein Spiel aus orangefarbener Abendsonne und langen Schatten getaucht, war wie die ganze Stadt: gepflegt, aber behäbig, verschnörkelt, liebevoll dekoriert und dochrustikal. David mochte sie.

Er parkte den Jeep nahe der Kathedrale und spazierte zwischen ihr und dem großen Kreuz in der Mitte des Platzes entlang. Um ihn herum flanierten Einheimische, saßen auf den Stufen vor dem Portal, schwatzten und lachten. Am Rand des rechteckigen Kirchenplatzes wurden die ersten Lichter in Cafés und Restaurants eingeschaltet, und Gelächter und Musik drängten auf den Platz. Wo immer David einen Blick in eine Seitenstraße warf, wiederholte sich das Bild,bunt beleuchtete Bars mit Menschen, die die drückende Hitze des Tages abstreiften und den kühlen Abend genossen.