Der sterbende Sherlock Holmes und andere Detektivgeschichten - Arthur Conan Doyle - E-Book

Der sterbende Sherlock Holmes und andere Detektivgeschichten E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Vollständig überarbeitete, korrigierte und illustrierte Fassung Mit 45 Illustrationen Wie kann man Sherlock Holmes nicht kennen? Den berühmtesten Detektiv der Geschichte, der mit seinem messerscharfen Verstand und seiner Ermittlungsart als Vorlage für fast alle kriminalistischen Nachfolger diente. Hier lernen Sie das lesenswerte Original kennen. Dieser Band beinhaltet folgende Kurzgeschichten: - "Der sterbende Sherlock Holmes" ["The Dying Detective"] Holmes liegt seit Tagen schwer krank im Bett. Er verweigert den Arzt. Alles nur Täuschung? - "Das Geheimnis der Villa Wisteria" ["Wisteria Lodge"] Ein junger Mann sucht Holmes' Hilfe auf. Doch noch ehe der Meisterdetektiv eingreifen kann, wird dieser von Scotland Yard des Mordes bezichtigt. - "Der rote Kreis" ["The Red Circle"] Mrs Warren benötigt Holmes' Hilfe; ihr Untermieter benehme sich merkwürdig, verlasse nie sein Zimmer und kommuniziere nur über Zettel mit ihr. - "Das Verschwinden der Lady Frances Carfax" ["The Disappearance of Lady Frances Carfax"] Lady Frances Carfax ist bereits seit mehreren Wochen verschwunden. Holmes beauftragt diesmal Watson, auf dem Kontinent Nachforschungen zu betreiben. - "Die gestohlenen Zeichnungen" ["The Adventure of the Bruce-Partington Plans"] Ein Wiedersehen mit Holmes' mysteriösem Bruder Mycroft Holmes. Im Auftrag der Regierung soll Holmes den Mord an Mr. West klären, der zuletzt die Pläne für ein hochgeheimes U-Boot bei sich hatte. - "Das Abenteuer mit dem Teufelsfuß" ["The Devil's Foot"] Holmes muss Erholungsurlaub nehmen. Aber natürlich stehen auch hier wieder Abenteuer ins Haus: Es geht um Familienmord und Irrsinn. - "Ein Fall geschickter Täuschung" ["A Case of Identity"] Die junge Mary Sutherland wendet sich in ihrer Verzweiflung an Sherlock Holmes. Am Hochzeitstag ist ihr Verlobter verschwunden. Liegt ein Verbrechen vor? Null Papier Verlag

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Arthur Conan Doyle

Der sterbende Sherlock Holmes und andere Detektivgeschichten

Vollständige & Illustrierte Fassung

Arthur Conan Doyle

Der sterbende Sherlock Holmes und andere Detektivgeschichten

Vollständige & Illustrierte Fassung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Illustrationen: Arthur Twidle, Sidney Paget, Alec Ball, Joseph Simpson, Gilbert Halliday, Walter Paget, H. M. BrockÜbersetzung: Johannes Hartmann EV: Verlag R. Lutz, Stuttgart, 1922 5. Auflage, ISBN 978-3-954181-03-2

null-papier.de/holmes

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Inhaltsverzeichnis

Die Sher­lock Hol­mes-Samm­lung

Die ein­zel­nen Ge­schich­ten

Ar­thur Co­nan Doy­le & Sher­lock Hol­mes

Ein für al­le­mal

Der ster­ben­de Sher­lock Hol­mes

Das Ge­heim­nis der Vil­la Wis­te­ria

Der rote Kreis

Das Ver­schwin­den der Lady Fran­ces Car­fax

Die ge­stoh­le­nen Zeich­nun­gen

Das Aben­teu­er mit dem Teu­fels­fuß

Ein Fall ge­schick­ter Täu­schung

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Die Sherlock Holmes-Sammlung

Al­le Ro­ma­ne, alle Kurz­ge­schich­ten

Ü­ber 400 Zeich­nun­gen

Ju­bi­lä­ums­aus­ga­be: 0,99 €

null-pa­pier.de/371

Die einzelnen Geschichten

»Der ster­ben­de Sher­lock Hol­mes« (»The Dy­ing De­tec­ti­ve«), 1913

Hol­mes liegt seit Ta­gen schwer krank im Bett. Er ver­wei­gert den Arzt und hofft auf Ret­tung von sei­ner sel­te­nen Tro­pen­krank­heit durch einen rät­sel­haf­ten Plan­ta­gen­be­sit­zer. Al­les nur Täu­schung?

»Das Ge­heim­nis der Vil­la Wis­te­ria« (»Wis­te­ria Lod­ge«), 1908

Ein jun­ger Mann sucht Hol­mes’ Hil­fe auf. Doch noch ehe der Meis­ter­de­tek­tiv ein­grei­fen kann, wird die­ser von Scot­land Yard1 des Mor­des be­zich­tigt und ver­haf­tet. Ak­teu­re in die­sem Stück sind ein rät­sel­haf­tes, leer ste­hen­des Haus und ein ehe­ma­li­ger süd­ame­ri­ka­ni­scher Ty­rann.

»Der rote Kreis« (»The Red Circle«), 1911

Mrs War­ren be­nö­tigt Hol­mes’ Hil­fe; ihr Un­ter­mie­ter be­neh­me sich merk­wür­dig, ver­las­se nie sein Zim­mer und kom­mu­ni­zie­re nur über Zet­tel mit ihr. Als dann noch Mrs War­rens Mann über­fal­len wird, er­kennt Hol­mes, das mehr hin­ter die­sem Fall steckt als nur ein splee­ni­ger Un­ter­mie­ter.

»Das Ver­schwin­den der Lady Fran­ces Car­fax« (»The Di­s­ap­pea­ran­ce of Lady Fran­ces Car­fax«), 1911

Lady Fran­ces Car­fax ist be­reits seit meh­re­ren Wo­chen ver­schwun­den. Hol­mes be­auf­tragt dies­mal Wat­son, auf dem Kon­ti­nent Nach­for­schun­gen zu be­trei­ben. Wer sind der mys­te­ri­öse Geist­li­che und sei­ne Ehe­frau, mit de­nen Lady Car­fax zu­letzt ge­se­hen wur­de?

»Die ge­stoh­le­nen Zeich­nun­gen« (»The Ad­ven­ture of the Bru­ce-Par­ting­ton Plans«), 1912

Ein Wie­der­se­hen mit Hol­mes’ mys­te­ri­ösem Bru­der My­croft Hol­mes. Im Auf­trag der Re­gie­rung soll Hol­mes den Mord an Mr. West klä­ren, der zu­letzt die Plä­ne für ein hoch­ge­hei­mes U-Boot bei sich hat­te. In die­ser äu­ßerst span­nen­den Ge­schich­te geht es um Spio­na­ge und Dop­pel­spio­na­ge. Wird Hol­mes einen küh­len Kopf be­wah­ren?

»Das Aben­teu­er mit dem Teu­fels­fuß« (»The De­vil’s Foot«), 1921

Hol­mes muss Er­ho­lungs­ur­laub neh­men. Aber na­tür­lich ste­hen auch hier wie­der Aben­teu­er ins Haus: Es geht um Fa­mi­li­en­mord und Irr­sinn. Was zu­nächst nur ein bi­zar­res Ver­bre­chen schi­en, wird bald selbst zur töd­li­chen Be­dro­hung für Hol­mes.

»Ein Fall ge­schick­ter Täu­schung« (»A Case of Iden­ti­ty«), 1891

Die jun­ge Mary Suther­land wen­det sich in ih­rer Verzweif­lung an Sher­lock Hol­mes. Am Hoch­zeits­tag ist ihr Ver­lob­ter ver­schwun­den. Liegt ein Ver­bre­chen vor?

Quar­tier der Lon­do­ner Ge­heim­po­li­zei.  <<<

Arthur Conan Doyle & Sherlock Holmes

Wo­mög­lich wäre die Li­te­ra­tur heu­te um eine ih­rer schil­lernds­ten De­tek­tiv­ge­stal­ten är­mer, wür­de der am 22. Mai 1859 in Edin­bur­gh ge­bo­re­ne Ar­thur Igna­ti­us Co­nan Doy­le nicht aus­ge­rech­net an der me­di­zi­ni­schen Fa­kul­tät der Uni­ver­si­tät sei­ner Hei­mat­stadt stu­die­ren. Hier näm­lich lehrt der spä­ter als Vor­rei­ter der Fo­ren­sik gel­ten­de Chir­urg Jo­seph Bell. Die Metho­dik des Do­zen­ten, sei­ne Züge und sei­ne ha­ge­re Ge­stalt wird der an­ge­hen­de Au­tor für den der­einst be­rühm­tes­ten De­tek­tiv der Kri­mi­nal­li­te­ra­tur über­neh­men.

Ge­burt und Tod des Hol­mes

Der ers­te Ro­man des seit 1883 in South­sea prak­ti­zie­ren­den Arz­tes teilt das Schick­sal zahl­lo­ser Erst­lin­ge – er bleibt un­voll­en­det in der Schub­la­de. Erst 1887 be­tritt Sher­lock Hol­mes die Büh­ne, als »Eine Stu­die in Schar­lach­rot« er­scheint. Nach­dem Co­nan Doy­le im Ma­ga­zin The Strand sei­ne Hol­mes-Epi­so­den ver­öf­fent­li­chen darf, ist er als er­folg­rei­cher Au­tor zu be­zeich­nen. The Strand er­öff­net die Rei­he mit »Ein Skan­dal in Böh­men«. Im Jahr 1890 zieht der Schrift­stel­ler nach Lon­don, wo er ein Jahr dar­auf, dank sei­nes li­te­ra­ri­schen Schaf­fens, be­reits sei­ne Fa­mi­lie er­näh­ren kann; seit 1885 ist er mit Loui­se Hawkins ver­hei­ra­tet, die ihm einen Sohn und eine Toch­ter schenkt.

Gin­ge es aus­schließ­lich nach den Le­sern, wäre dem küh­len De­tek­tiv und sei­nem schnauz­bär­ti­gen Mit­be­woh­ner ewi­ges Le­ben be­schie­den. Die Aben­teu­er der bei­den Freun­de neh­men frei­lich, wie ihr Schöp­fer meint, zu viel Zeit in An­spruch; der Au­tor möch­te his­to­ri­sche Ro­ma­ne ver­fas­sen. Des­halb stürzt er 1893 in »Das letz­te Pro­blem« so­wohl den De­tek­tiv als auch des­sen Wi­der­sa­cher Mo­ri­ar­ty in die Rei­chen­bach­fäl­le. Die Pro­tes­te der ent­täusch­ten Le­ser­schaft fruch­ten nicht – Hol­mes ist tot.

Die Wie­der­au­fer­ste­hung des Hol­mes

Ob­wohl sich der Schrift­stel­ler mitt­ler­wei­le der Ver­gan­gen­heit und dem Mys­ti­zis­mus wid­met, bleibt sein In­ter­es­se an Po­li­tik und rea­len Her­aus­for­de­run­gen doch un­ge­bro­chen. Den Zwei­ten Bu­ren­krieg er­lebt Co­nan Doy­le seit 1896 an der Front in Süd­afri­ka. Aus sei­nen Ein­drücken und po­li­ti­schen An­sich­ten re­sul­tie­ren zwei nach 1900 pu­bli­zier­te pro­pa­gan­dis­ti­sche Wer­ke, wo­für ihn Queen Vic­to­ria zum Rit­ter schlägt.

Eben zu je­ner Zeit weilt Sir Ar­thur zur Er­ho­lung in Nor­folk, was Hol­mes zu neu­en Ehren ver­hel­fen wird. Der Li­te­rat hört dort von ei­nem Geis­ter­hund, der in Dart­moor1 eine Fa­mi­lie ver­fol­gen soll. Um das Mys­te­ri­um auf­zu­klä­ren, re­ani­miert Co­nan Doy­le sei­nen ex­zen­tri­schen Ana­ly­ti­ker: 1903 er­scheint »Der Hund der Bas­ker­vil­les«. Zeit­lich noch vor dem Tod des De­tek­tivs in der Schweiz an­ge­sie­delt, er­fährt das Buch enor­men Zu­spruch, wes­halb der Au­tor das Ge­nie 1905 in »Das lee­re Haus« end­gül­tig wie­der­be­lebt.

Das un­wi­der­ruf­li­che Ende des Hol­mes

Nach dem Tod sei­ner ers­ten Frau im Jahr 1906 und der Hei­rat mit der, wie Co­nan Doy­le glaubt, me­di­al be­gab­ten Jean Le­ckie be­fasst sich der Pri­vat­mann mit Spi­ri­tis­mus. Sein li­te­ra­ri­sches Schaf­fen kon­zen­triert sich zu­neh­mend auf Zu­kunfts­ro­ma­ne, de­ren be­kann­tes­ter Pro­tago­nist der Ex­zen­tri­ker Pro­fes­sor Chal­len­ger ist. Als po­pu­lärs­ter Chal­len­ger-Ro­man gilt die 1912 ver­öf­fent­lich­te und be­reits 1925 ver­film­te Ge­schich­te »Die ver­ges­se­ne Welt«, die Co­nan Doy­le zu ei­nem Witz ver­hilft: Der durch­aus schlitz­oh­ri­ge Schrift­stel­ler zeigt im klei­nen Kreis ei­ner Spi­ri­tis­ten­sit­zung Film­auf­nah­men ver­meint­lich le­ben­der Sau­ri­er, ohne zu er­wäh­nen, dass es sich um Ma­te­ri­al der ers­ten Ro­man­ver­fil­mung han­delt.

Die spä­te Freund­schaft des Li­te­ra­ten mit Hou­di­ni zer­bricht am Spi­ri­tis­mus-Streit, denn der un­char­man­te Zau­ber­künst­ler ent­larvt zahl­rei­che Be­trü­ger, wäh­rend der Schrift­stel­ler von der Exis­tenz des Über­na­tür­li­chen über­zeugt ist. Co­nan Doy­les Geis­ter­glau­be er­hält Auf­trieb, als sein äl­tes­ter Sohn Kings­ley wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs an der Front fällt.

Noch bis 1927 be­dient der Au­tor das Pub­li­kum mit Kurz­ge­schich­ten um Hol­mes und Wat­son; zu­letzt er­scheint »Das Buch der Fäl­le«. Als Sir Ar­thur Co­nan Doy­le am 7. Juli 1930 stirbt, trau­ern Fa­mi­lie und Le­ser­schaft glei­cher­ma­ßen, denn dies­mal ist Hol­mes wirk­lich tot.

Von der Be­deu­tung ei­nes Ge­schöp­fes

Oder viel­mehr ist Hol­mes ein ewi­ger Wie­der­gän­ger, der im Ge­dächt­nis des Pub­li­kums fort­lebt. Nicht we­ni­ge Le­ser hiel­ten und hal­ten den De­tek­tiv für eine exis­ten­te Per­son, was nicht zu­letzt Co­nan Doy­les er­zäh­le­ri­schem Ge­schick und dem Rea­li­täts­be­zug der Ge­schich­ten zu ver­dan­ken sein dürf­te. Tat­säch­lich kam man im 20. Jahr­hun­dert dem Be­dürf­nis nach et­was Hand­fes­tem nach, in­dem ein Haus in der Lon­do­ner Ba­ker Street die Num­mer 221 b er­hielt. Dort be­fin­det sich das Sher­lock-Hol­mes-Mu­se­um.

Co­nan Doy­les zeit­ge­nös­si­scher Schrift­stel­ler­kol­le­ge Gil­bert Keith Che­s­ter­ton, geis­ti­ger Va­ter des kri­mi­na­lis­ti­schen Pa­ter Brown, brach­te das li­te­ra­ri­sche Ver­dienst sei­nes Lands­manns auf den Punkt: Sinn­ge­mäß sag­te er, dass es nie bes­se­re De­tek­tiv­ge­schich­ten ge­ge­ben habe und dass Hol­mes mög­li­cher­wei­se die ein­zi­ge volks­tüm­li­che Le­gen­de der Mo­der­ne sei, de­ren Ur­he­ber man gleich­wohl nie ge­nug ge­dankt habe.

Dass der De­tek­tiv sein sons­ti­ges Schaf­fen der­ma­ßen über­la­gern konn­te, war Co­nan Doy­le selbst nie­mals recht. Er hielt sei­ne his­to­ri­schen, po­li­ti­schen und spä­ter sei­ne mys­ti­zis­tisch-spi­ri­tis­ti­schen Ar­bei­ten für wert­vol­ler, wäh­rend die Kurz­ge­schich­ten dem blo­ßen Brot­er­werb dienten. Ver­mut­lich über­sah er bei der Selb­st­ein­schät­zung sei­ner ver­meint­li­chen Tri­vi­al­li­te­ra­tur de­ren enor­me Wir­kung, die weit über ih­ren ho­hen Un­ter­hal­tungs­wert hin­aus­ging.

So wie Jo­seph Bell, Co­nan Doy­les Do­zent an der Uni­ver­si­tät, durch prä­zi­se Beo­b­ach­tung auf die Er­kran­kun­gen sei­ner Pa­ti­en­ten schlie­ßen konn­te, soll­te Sher­lock Hol­mes an Kri­mi­nal­fäl­le her­an­ge­hen, die so­wohl sei­nen Kli­en­ten als auch der Po­li­zei un­er­klär­lich schie­nen. Bells streng wis­sen­schaft­li­ches Vor­ge­hen stand Pate für De­duk­ti­on und fo­ren­si­sche Metho­dik in den vier Ro­ma­nen und 56 Kurz­ge­schich­ten um den ha­ge­ren Gent­le­man-De­tek­tiv. Pro­fes­sor Bell be­riet die Po­li­zei bei der Ver­bre­chensauf­klä­rung, ohne in den of­fi­zi­el­len Be­rich­ten oder in den Zei­tun­gen er­wähnt wer­den zu wol­len. Die Ähn­lich­keit zu Hol­mes ist au­gen­fäl­lig. Wirk­lich war in den Ge­schich­ten die Fik­ti­on der Rea­li­tät vor­aus, denn wis­sen­schaft­li­che Ar­beits­wei­se, ge­naue Ta­tort­un­ter­su­chung und ana­ly­tisch-ra­tio­na­les Vor­ge­hen wa­ren der Kri­mi­na­lis­tik je­ner Tage neu. Man ur­teil­te nach Au­gen­schein und ent­warf Theo­ri­en, wo­bei die Be­weis­füh­rung nicht er­geb­ni­sof­fen ge­führt wur­de, son­dern le­dig­lich jene Theo­ri­en be­le­gen soll­te. Zwei­fel­los hat die Po­pu­la­ri­tät der Er­leb­nis­se von Hol­mes und Wat­son den Auf­stieg der rea­len Fo­ren­sik in der Ver­bre­chensauf­klä­rung un­ter­stützt.

Ein wei­te­rer in­ter­essan­ter Aspekt der Er­zäh­lun­gen be­trifft Co­nan Doy­les Nei­gung, sei­ne ei­ge­nen An­sich­ten ein­zu­ar­bei­ten. Zwar be­vor­zug­te er zu die­sem Zweck an­de­re Schaf­fens­zwei­ge, aber es fin­den sich ge­sell­schaft­li­che und mo­ra­li­sche Mei­nun­gen, wenn Hol­mes etwa Ver­bre­cher ent­kom­men lässt, weil er meint, dass eine Tat ge­recht ge­we­sen oder je­mand be­reits durch sein Schick­sal ge­nug ge­straft sei. Ge­le­gent­lich ist da­bei fest­zu­stel­len, dass er An­ge­hö­ri­ge nied­ri­ger Stän­de gleich­gül­ti­ger be­han­delt als die Ver­tre­ter der »gu­ten Ge­sell­schaft«.

Fik­ti­ve Bio­gra­fi­en des De­tek­tivs, Büh­nen­stücke, Ver­fil­mun­gen und zahl­lo­se Nach­ah­mun­gen, dar­un­ter nicht sel­ten Sa­ti­ren, von de­nen Co­nan Doy­le mit »Wie Wat­son den Trick lern­te« 1923 selbst eine ver­fass­te, kün­den von der un­ge­bro­che­nen Be­liebt­heit des kri­mi­na­lis­ti­schen Duos, ohne das die Welt­li­te­ra­tur we­ni­ger span­nend wäre.

be­rüch­tig­tes, bri­ti­sches Ge­fäng­nis in ei­ner Moor­ge­gend ge­le­gen  <<<

Ein für allemal

Wer ist ei­gent­lich Dok­tor Wat­son, der dies al­les be­rich­tet? Sher­lock Hol­mes’ ge­treu­er Schat­ten – und wei­ter nichts? Nein – viel­mehr sein le­ben­di­ger Spie­gel, sein ers­ter Zuschau­er – und da­mit zu­gleich schon sein ers­ter Teil­neh­mer und Be­wun­de­rer, sein ge­treu­er Chro­nist, Stell­ver­tre­ter des Au­tors und Spre­cher sei­nes Le­ser­chor­s… Und Hol­mes selbst – was ist mit ihm?

Zu­nächst ein­mal, was er nicht ist: Er ist kein kri­mi­na­lis­ti­scher Ge­heim­zau­be­rer, der nie­mand einen Ein­blick in die Werk­statt sei­nes Geis­tes gibt, kein selbst­ge­fäl­li­ger Meis­ter­de­tek­tiv, der von der Höhe sei­ner Kunst ver­ächt­lich und ver­schlos­sen auf die un­wis­sen­den Lai­en her­ab­sieht – nein, er ist – we­nigs­tens im All­ge­mei­nen – eine durch­aus ge­sel­li­ge Na­tur, of­fen­her­zig und gern ge­neigt, von sei­nem Wis­sen ab­zu­ge­ben, Leh­rer und Vor­bild wah­rer Beo­b­ach­tungs­kunst, Vor­kämp­fer des ge­sun­den Men­schen­ver­stan­des. So be­trach­tet ist Sher­lock Hol­mes ge­ra­de­zu ein Er­zie­her zur Wach­sam­keit, und Dok­tor Wat­son sein ers­ter Schü­ler.

Ein Zu­fall hat die bei­den zur Wohn- und Le­bens­ge­mein­schaft zu­sam­men­ge­führt. Dok­tor Wat­sons ei­ge­ne Ge­sund­heit ist durch sei­ne Tä­tig­keit als Mi­li­tär­arzt im af­gha­ni­schen Feld­zug an­ge­grif­fen. Er be­kommt einen dau­ern­den Hei­ma­t­ur­laub und sucht eine Woh­nung, die er auf Emp­feh­lung ei­nes Freun­des hin mit Sher­lock Hol­mes ge­mein­sam be­zieht. Da­mit wird ein Freund­schafts­bund ge­schlos­sen, der nach Wat­sons Ver­hei­ra­tung auch die frü­he­re Haus­ge­mein­schaft über­dau­ert. Der wis­sen­schaft­li­che und ethi­sche Ernst, mit dem Sher­lock Hol­mes, der Ge­heim­de­tek­tiv aus ech­ter Nei­gung, das frei­wil­lig er­ko­re­ne Hand­werk im Diens­te der mensch­li­chen Ge­sell­schaft be­treibt, sein fes­ter Wil­le, das Ver­bre­chen rück­halt­los zu be­kämp­fen, und sein gleich­wohl un­ver­min­der­tes Ver­ständ­nis für alle mensch­li­chen Feh­ler und Ge­bre­chen – das al­les bin­det Wat­son im­mer stär­ker an den Freund. Er ge­wöhnt sich rasch an die Ei­gen­tüm­lich­kei­ten des an­de­ren, freut sich über sei­ne Mu­sik­lie­be, die ihn schöp­fe­risch an­regt, das Spiel sei­ner ei­ge­nen Ge­dan­ken aus­löst, ihn zu­gleich von al­ler Schwe­re und al­lem Ernst sei­nes Hand­werks ab­lenkt. Sher­lock Hol­mes er­weist sich als ein stil­ler Ge­fähr­te, mit dem es sich leicht und gut hau­sen lässt. Er lebt re­gel­mä­ßig, ar­bei­tet in sei­nem che­mi­schen La­bo­ra­to­ri­um oder macht Aus­flü­ge in die Welt der Men­schen – und des Ver­bre­chens. Zu­wei­len scheint sei­ne Tat­kraft zu er­lö­schen, sei­ne sons­ti­ge Ar­beit weicht ei­nem Hang der Träu­me­rei, der ihn völ­lig ab­we­send er­schei­nen lässt, un­fä­hig, sich aus sei­ner woh­li­gen Träg­heit auf­zu­raf­fen. Aber so­bald der Ruf des Le­bens, die frei­wil­lig über­nom­me­ne Pf­licht an ihn her­an­tritt, ist er wie­der eben­so ent­schlos­sen und auf­ge­weckt, wie er vor­her trä­ge und ver­schla­fen schi­en.

So ist auch sein Wis­sen be­grenzt; es gibt vie­le Din­ge, von de­nen er kei­ne Ah­nung zu be­sit­zen scheint, ob­gleich sie zur All­ge­mein­bil­dung ge­hö­ren. Aber in­ner­halb sei­ner Gren­zen ist er gut be­wan­dert und weiß von al­len sei­nen Er­kennt­nis­sen einen er­staun­lich prak­ti­schen Ge­brauch zu ma­chen, die rich­ti­gen Schlüs­se aus schein­bar zu­fäl­li­gen Beo­b­ach­tun­gen zu zie­hen. Er ver­bin­det mit sei­nem na­tür­li­chen Scharf­sinn ein sys­te­ma­ti­sches Stu­di­um al­ler Hilfs­wis­sen­schaf­ten der Kri­mi­na­lis­tik.

Nach sei­ner An­sicht gleicht das mensch­li­che Ge­hirn von Haus aus ei­ner lee­ren Dach­kam­mer, die man nach ei­ge­ner Wahl mit Mö­beln und Gerät aus­stat­ten soll­te, nicht mit al­ler­lei Ge­rüm­pel, das nur den Weg ver­sperrt und zu nichts nützt: »Ein Ver­stän­di­ger gibt wohl acht, was er in sei­ne Hirn­kam­mer ein­schach­telt. Er be­schränkt sich auf die Werk­zeu­ge, de­ren er bei der Ar­beit be­darf, aber von die­sen schafft er sich eine große Aus­wahl an und hält sie in bes­ter Ord­nung. Es ist ein Irr­tum, wenn man denkt, die klei­ne Kam­mer habe dehn­ba­re Wän­de und kön­ne sich nach Be­lie­ben aus­wei­ten. Glau­ben Sie mir, es kommt eine Zeit, da wir für al­les Neu­hin­zu­ge­lern­te et­was von dem ver­ges­sen, was wir frü­her ge­wusst ha­ben. Da­her ist es von höchs­ter Wich­tig­keit, dass un­se­re nütz­li­chen Kennt­nis­se nicht durch un­nüt­zen Bal­last ver­drängt wer­den.«

So mach­te sich Dok­tor Wat­son denn ei­nes Ta­ges ein Ver­zeich­nis, in dem er die wi­der­spre­chen­den Ei­gen­schaf­ten des rät­sel­haf­ten Freun­des auf­führt, um sie zum psy­cho­lo­gi­schen Ge­samt­bil­de zu­sam­men­zu­fü­gen: Er nennt es:

Geis­ti­ger Ho­ri­zont und Kennt­nis­se von Sher­lock Hol­mes

Li­te­ra­tur – Mit Un­ter­schied.

Phi­lo­so­phie – Null.

Astro­no­mie – Null.

Po­li­tik – Schwach.

Bo­ta­nik – Mit Un­ter­schied. Wohl be­wan­dert in al­len ve­ge­ta­bi­li­schen Gif­ten, Bel­la­don­na,

1

Opi­um und dgl. Ei­gent­li­che Pflan­zen­kun­de – Null.

Geo­lo­gie – Viel prak­ti­sche Er­fah­rung, aber nur auf be­schränk­tem Ge­biet. Er un­ter­schei­det sämt­li­che Erd­ar­ten auf den ers­ten Blick. Von Aus­gän­gen zu­rück­ge­kehrt, weiß er nach Stoff und Far­be der Schmutz­fle­cke auf sei­nen be­spritz­ten Bein­klei­dern die Stadt­ge­gend von Lon­don an­zu­ge­ben, aus wel­cher die Fle­cke stam­men.

Che­mie – Sehr gründ­lich.

Ana­to­mie – Genau, aber un­me­tho­disch.

Kri­mi­na­lis­tik – Er­staun­lich um­fas­send. Er scheint alle Ein­zel­hei­ten je­der Greu­el­tat, die in un­se­rem Jahr­hun­dert ver­übt wor­den ist, zu ken­nen.

Ein gu­ter Vio­lin­spie­ler.

Ein ge­wand­ter Bo­xer und Fech­ter.

Ein gründ­li­cher Ken­ner der bri­ti­schen Ge­set­ze.

Das also ist es, was in ei­nem Lan­de, das die Be­kämp­fung des Ver­bre­chens zur Vollen­dung aus­ge­bil­det hat, mit dazu ge­hört, wenn man es bis zur Meis­ter­schaft brin­gen will, – auf ei­nem Ge­bie­te, das ge­wiss ein so gu­ter Sport ist, wie ein an­de­rer – und mehr als ein gu­ter Sport, näm­lich eine rech­te Le­bens­auf­ga­be, die auch der All­ge­mein­heit nützt.

Und im üb­ri­gen – was schrei­ben Sie da, Herr Dok­tor Wat­son: Phi­lo­so­phie – Null? Da sind Sie doch wohl et­was zu streng ge­gen Ihren Freund und Meis­ter! Gibt es das über­haupt: Ein gu­ter Leh­rer, der nicht zu­gleich ein wah­rer Meis­ter ist? Und Sher­lock Hol­mes ist so­gar ein rech­ter Phi­lo­soph, ein wah­rer Welt­wei­ser. Ge­wiss – er ist kei­ner von den Phi­lo­so­phen, die durch die Kraft ih­res Geis­tes ins Über­sinn­li­che em­por­stei­gen, er ver­liert sich aber auch nicht in Abstrak­tio­nen und Spe­ku­la­tio­nen, son­dern fin­det von sei­nen all­ge­mei­nen Er­kennt­nis­sen aus im­mer rasch zu den Tat­sa­chen und Zu­sam­men­hän­gen des Le­bens zu­rück. Denn er ist ja in Wahr­heit ein Mann der prak­ti­schen Wis­sen­schaft, der sei­ne Er­kennt­nis in den Dienst der Er­fah­rung stellt:

»Das Le­ben ist eine große, ge­glie­der­te Ket­te von Ur­sa­chen und Wir­kun­gen, an ei­nem ein­zi­gen Glie­de lässt sich das We­sen des Gan­zen er­ken­nen. Wie jede an­de­re Wis­sen­schaft, so for­dert auch das Stu­di­um der rich­ti­gen Ablei­tung und Aus­deu­tung von Ta­tor­ten viel Aus­dau­er und Ge­duld; ein kur­z­es Men­schen­da­sein ge­nügt nicht, um es dar­in zur höchs­ten Voll­kom­men­heit zu brin­gen. Der An­fän­ger wird im­mer gut tun, ehe er sich an die Lö­sung ho­her geis­ti­ger und sitt­li­cher Pro­ble­me wagt, wel­che die größ­ten Schwie­rig­kei­ten bie­ten, sich auf ein­fa­che­re Auf­ga­ben zu be­schrän­ken. Zur Übung möge er zum Bei­spiel bei der flüch­ti­gen Be­geg­nung mit ei­nem Un­be­kann­ten den Ver­such ma­chen, auf den ers­ten Blick die Le­bens­ge­schich­te und Be­rufs­art des Men­schen zu be­stim­men. Das schärft die Beo­b­ach­tungs­ga­be, und man lernt da­bei rich­tig se­hen und un­ter­schei­den. An den Fin­ger­nä­geln, dem Rock­är­mel, den Man­schet­ten, den Stie­feln, den Ho­sen­kni­en, der Horn­haut an Dau­men und Zei­ge­fin­ger, dem Ge­sichts­aus­druck und vie­lem an­de­ren, lässt sich die täg­li­che Be­schäf­ti­gung ei­nes Men­schen deut­lich er­ken­nen. Dass ein ur­teils­fä­hi­ger For­scher, der die ver­schie­de­nen An­zei­chen zu ver­ei­ni­gen weiß, nicht zu ei­nem rich­ti­gen Schluss ge­lan­gen soll­te, ist ein­fach un­denk­bar.«

Das ist sein Ge­heim­nis – das gan­ze Ge­heim­nis, das sei­ne Meis­ter­schaft be­grün­det. So wird er zum Lehr­meis­ter, nicht nur für den Freund – nein, auch für uns, die wir sei­ne dank­ba­ren Freun­de wer­den und blei­ben. Wir lie­ben ihn heu­te noch, wie wir ihn einst ge­liebt ha­ben – er ist noch im­mer un­ver­braucht, noch im­mer gleich fä­hig, uns zu sich zu zie­hen und fest­zu­hal­ten. Und das ist der bes­te Be­weis da­für, dass es gut und rich­tig mit ihm ist, dass er kein Schar­la­tan ist, wie die vie­len, die es ihm gleich­tun wol­len, er ist ein ehr­li­cher Bur­sche, ein an­stän­di­ger Kerl, mit dem es sich gut hau­sen lässt und der alle Spie­gel­fech­te­rei­en ver­ab­scheut.

Ist es ei­gent­lich ein Wun­der, wenn es sehr ge­schei­te und recht ge­bil­de­te Leu­te gibt, die frei­mü­tig be­ken­nen, dass ih­nen die Lek­tü­re ei­nes gu­ten Kri­mi­nal­ro­mans eine rech­te Ent­span­nung und An­re­gung be­deu­tet? Und dass ih­nen Sher­lock Hol­mes lie­ber ist als man­cher schmach­ten­de Ro­man­held, den die Mit­welt ver­him­melt und die Nach­welt ver­lacht?

So bleibt auch sein Schöp­fer der Meis­ter un­ter den Kri­mi­nal­ro­man­schrei­bern – weil er wirk­lich ein Dich­ter ist, weil er mit den ein­fachs­ten Mit­teln die größ­ten Wir­kun­gen er­reicht – ohne al­len fau­len Zau­ber, ohne ein Mas­sen­auf­ge­bot von Schau­er­lich­kei­ten und ohne falsche Ver­herr­li­chung des Ver­bre­chens. Sie ha­ben alle von ihm ge­lernt, sei­ne fin­ger­fer­ti­gen Nach­ah­mer und Nach­fol­ger – aber kei­ner hat ihn er­reicht.

Und dar­um: Zu­rück zu Sher­lock Hol­mes!

Toll­kir­sche, bzw. aus der Toll­kir­sche ge­won­ne­nes Arz­nei­mit­tel  <<<

Der sterbende Sherlock Holmes1

Frau Hud­son, un­se­re Haus­wir­tin in der Ba­ker Street, war eine ge­dul­di­ge Frau und von großer Lang­mut. Nicht nur wur­de ihr ers­tes Stock­werk zu al­len Stun­den des Ta­ges und der Nacht von den zahl­reichs­ten und oft auch zwei­fel­haf­tes­ten Men­schen über­flu­tet, son­dern ihr Mie­ter Sher­lock Hol­mes zeig­te in sei­ner Le­bens­füh­rung eine Un­re­gel­mä­ßig­keit und Ab­son­der­lich­keit, die ihre Ge­duld oft hart auf die Pro­be ge­stellt ha­ben muss. Sei­ne un­glaub­li­che Unor­dent­lich­keit, sei­ne Vor­lie­be, zu den un­ge­wöhn­lichs­ten Stun­den »Mu­sik« zu ma­chen, sein ge­le­gent­li­ches Pis­to­len­schie­ßen im Flur, sei­ne qual­mi­gen und oft recht übel­rie­chen­den wis­sen­schaft­li­chen Ver­su­che und schließ­lich die gan­ze At­mo­sphä­re von Ge­fahr und Ver­bre­chen, die ihn um­gab, mach­ten ihn si­cher zu ei­nem der un­be­quems­ten Mie­ter in ganz Lon­don. An­de­rer­seits be­zahl­te er wie ein Fürst. Ich be­zweifle kaum, dass das gan­ze Haus um den Preis hät­te ge­kauft wer­den kön­nen, den Hol­mes für sei­ne Zim­mer wäh­rend der Jah­re be­zahl­te, die ich mit ihm zu­sam­men wohn­te.

Die Haus­wir­tin hat­te den denk­bar größ­ten Re­spekt vor ihm und wag­te nie, Ein­wen­dun­gen zu er­he­ben, moch­te das Be­neh­men mei­nes Freun­des auch mehr als nur un­ge­wöhn­lich sein. Auf ihre Art lieb­te sie ihn so­gar, denn er war im Ver­kehr mit Frau­en von ei­ner merk­wür­di­gen Höf­lich­keit und Lie­bens­wür­dig­keit. Er ver­ach­te­te das gan­ze Ge­schlecht und miss­trau­te ihm, aber er war stets ein rit­ter­li­cher Geg­ner.

Da ich wuss­te, wie sehr mein Freund bei Frau Hud­son in An­se­hen und Ach­tung stand, so folg­te ich sehr ernst­haft ih­rer Er­zäh­lung, als sie im zwei­ten Jah­re nach mei­ner Ver­hei­ra­tung zu mir kam und mir den trau­ri­gen Zu­stand Hol­mes’ of­fen­bar­te, in dem er sich seit kur­z­em be­fand.

»Er stirbt, Dok­tor Wat­son«, sag­te sie. »Seit drei Ta­gen sieht man ihn da­hin­sie­chen, und es scheint mir frag­lich, ob er den heu­ti­gen Tag über­le­ben wird. Er woll­te nicht, dass ich einen Dok­tor hole, aber heu­te Mor­gen, als ich sah, wie ihm die Kno­chen aus dem Ge­sicht ste­hen, und er mich mit fie­bri­gen Au­gen an­s­tier­te, konn­te ich es nicht län­ger aus­hal­ten. ›Mit Ih­rer Ein­wil­li­gung oder ge­gen Ihren Wil­len, Herr Hol­mes, geh ich jetzt au­gen­blick­lich, einen Arzt ru­fen‹, sag­te ich. ›Dann ho­len Sie mir we­nigs­tens Wat­son‹, sag­te er. An Ih­rer Stel­le wür­de ich kei­nen Au­gen­blick ver­wei­len, Herr Dok­tor, wenn Sie ihn noch le­bend an­tref­fen wol­len.«

Ich war ent­setzt, denn ich hat­te kei­ne Ah­nung von sei­ner Krank­heit. Über­flüs­sig, zu be­mer­ken, dass ich so­fort nach Über­rock und Hut griff und mich auf den Weg mach­te. Als ich mit ihr zu­rück­fuhr, frag­te ich sie nach Ein­zel­hei­ten.

»Da kann ich Ih­nen nur we­nig sa­gen, Herr Dok­tor; er ar­bei­te­te an ei­nem Fall drun­ten in Ro­ther­hi­te, in ei­ner Gas­se nahe an der Them­se, und von dort hat er die Krank­heit mit­ge­bracht. Er leg­te sich am Don­ners­tagnach­mit­tag zu Bett und hat es seit­dem nicht mehr ver­las­sen. Die­se gan­zen drei Tage hat er we­der Nah­rung zu sich ge­nom­men, noch ir­gend et­was ge­trun­ken.«

»Um Got­tes wil­len! Wa­rum ha­ben Sie nicht frü­her einen Arzt ge­holt?«

»Er hat es ja ver­bo­ten ge­habt, Herr Dok­tor. Sie wis­sen ja, wie streng er ist. Ich wag­te nicht, sei­nen Be­fehl zu miss­ach­ten, aber er weilt nicht mehr lan­ge un­ter uns, das wer­den Sie sel­ber im glei­chen Au­gen­blick schon mer­ken, wo Sie ihn er­bli­cken. Es ist schreck­lich.«

Er bot in der Tat einen kläg­li­chen An­blick. In dem däm­me­ri­gen Licht ei­nes ne­be­li­gen No­vem­ber­ta­ges war das Kran­ken­zim­mer ein düs­te­res Loch, aber was einen Käl­te­schau­er in mein Herz drin­gen ließ, war dies geis­ter­haf­te, ver­wüs­te­te Ant­litz, das mich vom Bett aus an­s­tier­te. Sei­ne Au­gen glit­zer­ten vor Fie­ber, hek­ti­sche Röte lag auf bei­den Ba­cken, und dunkle Krus­ten kleb­ten an sei­nen Lip­pen; die ske­lett­haft ma­ge­ren Hän­de auf der De­cke zuck­ten un­aus­ge­setzt, sei­ne Stim­me war hei­ser und halb er­stickt. Er lag gänz­lich leb­los da, als ich ins Zim­mer trat, aber mein An­blick zau­ber­te einen flüch­ti­gen Freu­den­schim­mer in sei­ne Au­gen.

»Ah, Wat­son, es scheint, es kom­men jetzt die Tage, die uns nicht ge­fal­len«, sag­te er mit mat­ter Stim­me, aber wie mir schi­en, mit sei­ner frü­he­ren Sorg­lo­sig­keit.

»Mein lie­ber Hol­mes!« rief ich und trat zu ihm ans Bett.

»Zu­rück! Zu­rück da!« sag­te er mit dem scharf be­feh­len­den Klang, den sei­ne Stim­me nur in Au­gen­bli­cken der Ge­fahr an­nahm. »Wenn du nä­her kommst, Wat­son, dann schi­cke ich dich wie­der nach Hau­se.«

»Aber warum denn?«

»Weil ich es will. Ge­nügt dir das nicht?«

Ja, Frau Hud­son hat­te recht, er war her­ri­scher als je. In­des war es herz­bre­chend, sei­ne Er­schöp­fung zu se­hen.

»Ich kam ja nur, um dir zu hel­fen«, er­klär­te ich.

»Ge­wiss! Du hilfst mir am bes­ten, wenn du das tust, was ich dir sage.«

»Wie es dich gut dünkt, Hol­mes.«

Er ver­zich­te­te auf den be­feh­len­den Ton.

»Du bist doch nicht är­ger­lich?« frag­te er und rang nach Atem.

Ar­mer Kerl, wie konn­te ich är­ger­lich sein, wenn ich ihn in die­sem Zu­stand der Auf­lö­sung vor mir lie­gen sah!

»Es ist zu dei­nem ei­ge­nen Bes­ten, Wat­son«, sprach sei­ne raue Stim­me.

»Zu mei­nem Bes­ten?«

»Ich weiß, was mit mir los ist. Es ist eine Ku­li­krank­heit von Su­ma­tra – eine In­fek­ti­on, von der die Hol­län­der mehr ver­ste­hen als wir, ob­wohl sie bis jetzt me­di­zi­nisch noch nicht viel dar­über ge­ar­bei­tet ha­ben. Ei­nes nur steht fest: die Krank­heit ist ab­so­lut töd­lich und in er­schre­cken­dem Maße an­ste­ckend.«

Er sprach jetzt mit fie­ber­haf­ter Er­re­gung, sei­ne Hän­de zuck­ten und spran­gen, als er mich ab­wehr­te.

»An­ste­ckend durch Berüh­rung, Wat­son – das ist es: durch Berüh­rung! Bleib mir vom Lei­be, und du bist nicht ge­fähr­det.«

»Beim Him­mel, Hol­mes, glaubst du denn, dass eine sol­che Si­cher­heits­er­wä­gung mich auch nur einen Au­gen­blick zu­rück­hal­ten könn­te? Nicht ein­mal wenn der Pa­ti­ent ein Frem­der wäre. Glaubst du, das könn­te mich ab­hal­ten, mei­ne ärzt­li­che Pf­licht ge­gen einen so al­ten Freund zu er­fül­len?«

Aber­mals trat ich an sein Bett, aber er trieb mich mit ei­nem Blick voll wil­den Är­gers zu­rück.

»Wenn du dort ste­hen blei­ben willst, dann wer­de ich spre­chen. Wenn nicht – da ist die Tür!«

Ich habe eine so große Hochach­tung vor den au­ßer­or­dent­li­chen Fä­hig­kei­ten mei­nes Freun­des, dass ich mich sei­nen Wün­schen stets ge­fügt habe, auch dann, wenn sie mir völ­lig un­be­greif­lich wa­ren. Aber jetzt wa­ren alle mei­ne me­di­zi­ni­schen In­stink­te wach ge­wor­den. Moch­te er un­ter an­de­ren Um­stän­den mir be­feh­len – ich be­fand mich jetzt als Arzt in ei­nem Kran­ken­zim­mer.

»Hol­mes«, sag­te ich, »ich darf dich nicht ernst neh­men. Ein kran­ker Mann ist bloß ein Kind, und so muss ich dich be­han­deln. Ob es dir ge­fällt oder nicht, ich wer­de dich un­ter­su­chen und dem Be­fund ge­mäß ärzt­lich be­han­deln.«

Er sah mich mit ge­ra­de­zu gif­ti­gen Au­gen an.

»Wenn ich einen Dok­tor ha­ben soll, ei­ner­lei ob ich mag oder nicht, dann möch­te ich we­nigs­tens einen ha­ben, der mein Ver­trau­en ver­dient«, sag­te er.

»Also ich ver­die­ne dein Ver­trau­en nicht?«

»Als Freund rest­los. Aber Tat­sa­chen sind Tat­sa­chen, Wat­son, und al­les in al­lem bist du nur ein durch­schnitt­li­cher prak­ti­scher Arzt von mit­tel­mä­ßi­ger Be­ga­bung und mit sehr be­grenz­ter Er­fah­rung. Es ist schmerz­lich, dir so et­was sa­gen zu müs­sen, aber du lässt mir ja kei­ne an­de­re Wahl.«

Das war bit­ter.

»Sol­che Wor­te sind dei­ner un­wür­dig, Hol­mes. Sie zei­gen mir aber mit al­ler Deut­lich­keit dei­nen wah­ren Ner­ven­zu­stand. Je­doch, wenn du kein Ver­trau­en zu mir hast, so wer­de ich dir mei­ne Diens­te nicht auf­drän­gen. Ich will ge­hen und Sir Jas­per Meek oder Pen­ro­se Fis­her oder einen der ers­ten Ärz­te Lon­d­ons ho­len. Du musst ärzt­li­che Hil­fe ha­ben, und da­bei blei­be ich. Wenn du glaubst, ich wür­de hier ste­hen blei­ben und zu­schau­en, wie du stirbst, ohne dass ich dir hel­fe oder frem­de ärzt­li­che Hil­fe brin­ge, dann hast du mei­ne Freund­schaft un­ter­schätzt!«

»Du meinst es ja gut, Wat­son«, sag­te der kran­ke Mann mit ei­nem Seuf­zer. »Soll ich dir dei­ne Un­wis­sen­heit nach­wei­sen? Was weißt du denn vom Ta­pa­nu­li-Fie­ber? Was weißt du denn von der schwar­zen For­mo­sa-Ei­te­rung?«

»Ich habe we­der vom einen noch vom an­de­ren ge­hört.«

»Es gibt noch so man­che un­er­forsch­te Krank­hei­ten, so vie­le selt­sa­me, pa­tho­lo­gi­sche Mög­lich­kei­ten, im fer­nen Os­ten, Wat­son.«

Er setz­te nach bei­na­he je­dem Wor­te aus, um Atem zu ho­len. »Ich habe so viel ge­lernt bei mei­nen kürz­li­chen Un­ter­su­chun­gen auf me­di­zi­nisch-kri­mi­nel­lem Ge­biet. Bei die­sen For­schun­gen habe ich mir die Krank­heit zu­ge­zo­gen. Du bist macht­los da­ge­gen.«

»Du magst recht ha­ben. Zu­fäl­lig aber weiß ich, dass Dok­tor Air­stree, die größ­te le­ben­de Au­to­ri­tät für tro­pi­sche Krank­hei­ten, au­gen­blick­lich in Lon­don weilt. Alle dei­ne Ein­wän­de nüt­zen dich nichts, Hol­mes, ich gehe jetzt, den be­rühm­ten Arzt zu ho­len.« Ent­schlos­sen wand­te ich mich zur Tür.

Nie er­litt ich solch einen Schock! In ei­nem Au­gen­blick, mit ei­nem wah­ren Ti­ger­sprung, war mir der ster­ben­de Mann zu­vor­ge­kom­men. Ich hör­te das schar­fe Schnap­pen ei­nes Schlos­ses. Im nächs­ten Au­gen­blick war er zu sei­nem Bett zu­rück­ge­tau­melt; dort lag er er­schöpft und schwer at­mend nach die­sem einen fürch­ter­li­chen Ener­gie­aus­bruch.

»Du wirst mir den Schlüs­sel nicht mit Ge­walt ab­neh­men, Wat­son. Nun habe ich dich, Freund­chen. Du hast zu mir kom­men wol­len und nun sollst du hier blei­ben, so lan­ge es mir ge­fällt, aber ich wer­de dich un­ter­hal­ten. (Das al­les in ab­ge­ris­se­nen Wor­ten mit schreck­li­chen Atem­kämp­fen in den Pau­sen.) Du meinst es von Her­zen gut mit mir. Das weiß ich na­tür­lich sehr wohl. Du sollst auch dei­nen Wil­len ha­ben, nur lass mir erst Zeit, wie­der zu Kräf­ten zu kom­men. Nicht jetzt, Wat­son, nicht jetzt. Es ist vier Uhr. Um sechs Uhr darfst du ge­hen.«

»Das ist ja Wahn­sinn, Hol­mes.«

»Nur noch zwei Stun­den, Wat­son, ich ver­spre­che dir, um sechs Uhr darfst du ge­hen. Wil­ligst du ein, so lan­ge zu war­ten?«

»Ich habe ja kei­ne an­de­re Wahl.«

»Gut, dass du es ein­siehst, Wat­son. Dan­ke, dan­ke, ich kann mir das Bett­zeug al­lein zu­recht rich­ten. Bleib mir, bit­te, ja vom Lei­be! So, Wat­son, nun habe ich noch eine wei­te­re Be­din­gung zu stel­len. Du wirst nicht den Arzt her­an­zie­hen, den du ge­nannt hast, son­dern den Mann, den ich mir wäh­le.«

»Ganz wie du willst.«

»Die ers­ten vier ver­nünf­ti­gen Wor­te, die du heu­te hier ge­spro­chen hast. Dort drü­ben fin­dest du ei­ni­ge Bü­cher, ah, ich bin et­was matt; ich fra­ge mich, wie eine Bat­te­rie füh­len mag, wenn sie ihre Elek­tri­zi­tät in einen Nicht­lei­ter aus­strömt? Um sechs Uhr, Wat­son, neh­men wir un­se­re Un­ter­hal­tung wie­der auf.«

Aber es war be­stimmt, dass wir sie lan­ge vor die­ser Zeit wie­der auf­neh­men soll­ten und un­ter Um­stän­den, die mir einen zwei­ten Schock ga­ben, der an Hef­tig­keit dem ers­ten, als er mir vor die Tür sprang, kaum nach­stand. Ich war ei­ni­ge Mi­nu­ten da­ge­stan­den, die Au­gen auf die stum­me Ge­stalt in dem Bett ge­rich­tet. Das Ge­sicht war bei­na­he ganz ver­hüllt von der Bett­de­cke, und er schi­en zu schla­fen. Ich fühl­te mich un­fä­hig, et­was zu le­sen, und ging da­her lang­sam im Zim­mer auf und ab und be­sah mir die Bil­der der be­rühm­ten Ver­bre­cher, mit de­nen die Wän­de voll­ge­hängt wa­ren. Schließ­lich trat ich in mei­ner Un­rast an den Ka­min­sims. Ta­baks­beu­tel, Pfei­fen, In­jek­ti­onss­prit­zen, Fe­der­mes­ser, Re­vol­ver­pa­tro­nen und der­glei­chen la­gen dort um­her. In der Mit­te stand eine klei­ne schwarz und wei­ße El­fen­bein­do­se mit Schraub­de­ckel. Es war ein net­tes klei­nes Ding, und ich hat­te mei­ne Hand aus­ge­streckt, um es nä­her zu be­trach­ten, als –

Es war der fürch­ter­lichs­te Schrei, den ich je ge­hört – so durch­drin­gend, dass man ihn ge­wiss am Ende der Stra­ße hö­ren konn­te. Es lief mir kalt über die Haut, und das Haar stand mir zu Ber­ge. Als ich mich um­wand­te, sah ich ein ver­zerr­tes Ge­sicht und wahn­sin­ni­ge Au­gen. Ich stand völ­lig ge­lähmt da mit der klei­nen Dose in mei­ner Hand.

»Stell sie weg! Au­gen­blick­lich weg da­mit, Wat­son – au­gen­blick­lich, sage ich!« Sein Kopf sank auf das Kis­sen zu­rück, und er stieß einen tie­fen Seuf­zer der Er­leich­te­rung aus, als ich die Dose wie­der auf den Ka­min­sims stell­te.

»Es macht mich wild, wenn man mei­ne Sa­chen an­fasst, Wat­son. Du weißt doch, dass ich das has­se. Du quälst mich hier mehr als er­träg­lich ist. Du, ein Arzt, – du hast das Zeug, um einen Pa­ti­en­ten ins Ir­ren­haus zu trei­ben. Setz’ dich ir­gend­wo, Mensch, und lass mir mei­ne Ruhe!«

Der Zwi­schen­fall mach­te einen höchst un­an­ge­neh­men Ein­druck auf mich. Die hef­ti­ge, un­be­grün­de­te Er­re­gung, ge­folgt von die­sen bru­ta­len Wor­ten, so ganz ab­seits von sei­ner üb­li­chen Freund­lich­keit, zeig­te mir, wie schwer sein Geist be­reits zer­rüt­tet war. Von al­len Zer­stö­run­gen ist die ei­nes vor­mals stol­zen Geis­tes die er­grei­fends­te. Ich saß in stum­mer Er­ge­ben­heit auf ei­nem Stuhl und war­te­te, bis es sechs Uhr schlug. Auch Hol­mes schi­en die Zeit ge­nau ver­folgt zu ha­ben, denn kaum war es sechs Uhr, als er mit der­sel­ben fie­ber­haf­ten Leb­haf­tig­keit wie zu­vor be­gann:

»Nun, Wat­son«, sag­te er, »hast du Klein­geld in der Ta­sche?«

»Ja.«

»Sil­ber dar­un­ter?«

»Ein paar Stücke.«

»Wie vie­le hal­be Kro­nen?«

»Ich habe fünf.«

»Ah, das ist zu we­nig! Zu we­nig! Das trifft sich sehr un­glück­lich, Wat­son! Im­mer­hin, du kannst sie ja ein­mal in dei­ne Uhren­ta­sche ste­cken. Und den gan­zen Rest dei­nes Gel­des in die lin­ke Ho­sen­ta­sche. Ich dan­ke dir. Das wird dir das rich­ti­ge Gleich­ge­wicht ge­ben.«

Das war vollen­de­ter Wahn­sinn. Er schau­der­te und stieß einen Laut aus, halb Hus­ten, halb Seuf­zer.

»Zün­de jetzt, bit­te, das Gas an, Wat­son, aber ich ma­che dich da­für ver­ant­wort­lich, dass die Flam­me höchs­tens halb an­ge­dreht brennt. Ich habe mei­ne Grün­de und fle­he dich an, ge­nau auf­zu­pas­sen. Dan­ke schön, so, so ist es gut, aus­ge­zeich­net. Nein, nicht nö­tig, die Vor­hän­ge her­un­ter zu las­sen. Nun, bit­te, lege mir ei­ni­ge Brie­fe und Pa­pie­re auf die­sen Tisch, so­dass ich sie zur Hand habe. Dan­ke schön. Nun ei­ni­ges von dem Zeugs da auf dem Ka­min­sims. Aus­ge­zeich­net, Wat­son! Dort muss eine Zucker­zan­ge lie­gen. Bit­te er­grei­fe mit der Zan­ge die El­fen­bein­do­se. Stel­le sie hier zwi­schen die Pa­pie­re auf den Tisch. Gut! Jetzt kannst du ge­hen und Herrn Cul­ver­ton Smith, Lower Bur­ke Street Num­mer 13 ho­len.«

Die Wahr­heit zu sa­gen, war mein Wunsch, einen Arzt zu ho­len, nicht mehr so leb­haft, denn mein ar­mer Freund de­li­rier­te of­fen­bar so stark, dass es ge­fähr­lich schi­en, ihn al­lein zu las­sen. In­des­sen war er jetzt eben­so dar­auf ver­ses­sen, den ge­nann­ten Smith zu kon­sul­tie­ren, als er vor­hin hart­nä­ckig alle ärzt­li­che Hil­fe ab­ge­lehnt hat­te.

»Den Na­men habe ich nie ge­hört«, sag­te ich.

»Wahr­schein­lich nicht, mein gu­ter Wat­son. Es wird dich über­ra­schen, dass der Mann, der auf der gan­zen Welt am meis­ten von die­ser Krank­heit ver­steht, nicht ein Me­di­zi­ner ist, son­dern ein Pflan­zer. Herr Cul­ver­ton Smith ist ein be­kann­ter Pflan­zer von Su­ma­tra und zur Zeit in Lon­don. Eine Epi­de­mie die­ser Krank­heit auf sei­ner Pflan­zung, die weit­ab von je­der ärzt­li­chen Hil­fe ge­le­gen ist, gab ihm An­lass, sie selbst zu stu­die­ren, und da­bei kam er auf ei­ni­ge sehr weit­rei­chen­de Ent­de­ckun­gen. Er ist ein sehr me­tho­di­scher Mann, und ich woll­te nicht, dass du vor sechs Uhr zu ihm gin­gest, da ich wuss­te, dass du ihn zu Hau­se nicht an­trä­fest. Wenn du ihn über­re­den könn­test, hier­her zu kom­men, und mir die Vor­tei­le sei­ner ein­zig­ar­ti­gen Er­fah­run­gen mit die­ser Krank­heit, de­ren Er­for­schung sein liebs­tes Ste­cken­pferd ist, zu­kom­men zu las­sen, so zweifle ich nicht dar­an, dass ich noch zu ret­ten wäre.«

Ich gebe hier als ein zu­sam­men­hän­gen­des Gan­zes wie­der, was Hol­mes mir sag­te, und un­ter­las­se den Ver­such, zu schil­dern, wie sei­ne Wor­te durch Atem­not, Hus­ten und das wil­de Zu­cken sei­ner Hän­de un­ter­bro­chen wur­den, die sei­nen schmerz­haf­ten Zu­stand ver­rie­ten. Sein Aus­se­hen war noch schlech­ter ge­wor­den, wäh­rend der we­ni­gen Stun­den, die ich mit ihm zu­sam­men war. Die hek­ti­sche Röte war aus­ge­spro­che­ner, die Au­gen la­gen noch tiefer in ih­ren Höh­lun­gen und fun­kel­ten noch fie­bri­ger, und kal­ter Schweiß stand in di­cken Trop­fen auf sei­ner blas­sen Stirn. Er hat­te sich je­doch die ru­hi­ge Si­cher­heit sei­ner Spra­che be­wahrt. Ich wuss­te, bis zum letz­ten Atem­zu­ge wür­de er der Herr und Meis­ter blei­ben.

»Du wirst ihm ge­nau schil­dern, in wel­chem Zu­stand du mich ver­las­sen hast«, sag­te er. »Du wirst ihm dei­nen Ein­druck von mir wie­der­ge­ben – ein ster­ben­der Mann – ein ster­ben­der Mann in De­li­ri­en. In der Tat, ich kann mir nicht den­ken, wes­halb der gan­ze Bo­den des Ozeans nicht eine ein­zi­ge kom­pak­te Mas­se von Aus­tern ist, so rasch ver­meh­ren sich die­se Schal­tie­re. Ah, ich rede irre! Son­der­bar, wie das Ge­hirn das Ge­hirn kon­trol­liert! – Von was woll­te ich eben spre­chen, Wat­son?«

»Mei­ne An­wei­sun­gen für Cul­ver­ton Smith.«

»Ach ja, ich ent­sin­ne mich. Mein Le­ben hängt da­von ab. Du musst ihm zu­re­den, Wat­son. Wir ha­ben kei­ne Lie­be zu­ein­an­der, im Ge­gen­teil. Sein Nef­fe, Wat­son, – ich hat­te Smith im Ver­dacht ei­nes Ver­bre­chens, und ich ließ es ihn mer­ken. Der Jun­ge ist scheuß­lich ge­stor­ben. Er hat einen Hass auf mich. Aber du wirst ihn be­sänf­ti­gen, Wat­son. Bit­te ihn, fle­he ihn an, schaf­fe ihn mir mit al­len Mit­teln her. Er kann mich ret­ten – nur er al­lein!«

»Ich wer­de ihn in ei­nem Wa­gen her­fah­ren, und wenn ich ihn mit Ge­walt ent­füh­ren müss­te.«

»Nein, bit­te, nichts der­glei­chen. Du wirst ihn über­re­den, her­zu­kom­men, und dann wirst du ihm vor­ausei­len zu mir. Er­fin­de ir­gend­ei­ne Aus­re­de, um nicht mit ihm zu­sam­men her­zu­kom­men. Ver­giss das nicht, Wat­son! Du darfst hier nicht ver­sa­gen. Du hast dich doch im­mer be­währt als Freund. Ohne Zwei­fel gibt es na­tür­li­che Geg­ner, die das Über­hand­neh­men der Schal­tie­re ver­hin­dern. Du und ich, Wat­son, wir ha­ben un­se­re Pf­licht ge­tan. Soll trotz­dem die Welt von Aus­tern über­flu­tet wer­den? Nein, nein; gräss­lich! Nun geh’ und be­rich­te Herrn Smith ge­treu­lich, wie es hier steht.«

Ich ver­ließ ihn, er­füllt von dem Ein­druck die­ses groß­ar­ti­gen In­tel­lek­tes, der jetzt kin­disch da­hin­bab­bel­te. Er hat­te mir den Schlüs­sel ge­ge­ben, und ich kam auf den gu­ten Ge­dan­ken, ihn ein­zu­ste­cken, da­mit er sich nicht etwa ein­sch­lös­se. Drau­ßen fand ich Frau Hud­son zit­ternd und wei­nend. Als ich die Trep­pe hin­un­ter ging, hör­te ich Hol­mes’ hohe dün­ne Stim­me un­me­lo­disch sin­gen. Un­ten auf der Stra­ße, als ich eine Drosch­ke her­beip­fiff, kam ein Mann zu mir durch den Ne­bel.

»Wie geht es Herrn Hol­mes?« frag­te er.

Es war ein al­ter Be­kann­ter, In­spek­tor Mor­ton von Scot­land Yard, in Zi­vil­klei­dung.

»Es geht ihm sehr schlecht«, ant­wor­te­te ich.

Er sah mich auf eine sehr ei­gen­tüm­li­che Art an. Es schi­en mir fast, als leuch­te das Ge­sicht vor Scha­den­freu­de auf.

»Ich hat­te et­was da­von ge­hört«, sag­te er.

Die Drosch­ke fuhr her­an, und ich ver­ließ ihn.

Die Lower Bur­ke Street er­wies sich als eine Zei­le fei­ner Häu­ser in der an­spre­chen­den Ge­gend zwi­schen Not­ting Hill und Ken­sing­ton. Das ge­such­te Haus, vor dem der Kut­scher mich ab­setz­te, war von erns­tem, aber nicht un­schö­nem Aus­se­hen, mit alt­mo­di­schem ei­ser­nem Git­ter­werk, ei­ner schwe­ren Dop­pel­tür und blank­ge­putz­tem Mes­sing. Auf mein Klin­geln er­schi­en ein fei­er­lich aus­se­hen­der Die­ner.

»Ja­wohl, Herr Smith ist zu Hau­se.« Er las mei­ne Kar­te »Herr Dok­tor Wat­son! Ich bit­te, sich einen Au­gen­blick zu ge­dul­den, ich wer­de Sie an­mel­den.«

Mein be­schei­de­ner Name und Ti­tel schie­nen auf Herrn Cul­ver­ton Smith kei­nen Ein­druck zu ma­chen. Durch die halb­of­fe­ne Tür ver­nahm ich eine hohe, är­ger­li­che, durch­drin­gen­de Stim­me.

»Wer ist das? Was will er? Mein Gott, Stap­les, wie oft habe ich Ih­nen schon ge­sagt, dass ich zu mei­nen Stu­dier­zei­ten nicht ge­stört sein will!«

Ich hör­te den Die­ner ein paar be­sänf­ti­gen­de Ent­schul­di­gun­gen spre­chen.

»Schon gut, aber ich emp­fan­ge jetzt nie­mand. Ich kann mei­ne Ar­beit nicht ein­fach im Stich las­sen. Ich bin nicht zu Hau­se. Sa­gen Sie ihm das! Er soll mor­gen früh wie­der kom­men, wenn er mich wirk­lich so drin­gend spre­chen muss.«

Wie­der hör­te ich die lei­se Stim­me des Die­ners.

»Al­les schön und gut, aber ich las­se mich nicht in mei­ner Ar­beit stö­ren. Sa­gen Sie ihm das! Er kann ja mor­gen früh kom­men, oder mei­net­we­gen lie­ber weg­blei­ben.«

Ich dach­te an Hol­mes, wie er in sei­nem Bett nach Atem rang und wahr­schein­lich die Mi­nu­ten zähl­te, bis die er­hoff­te Hil­fe er­schei­ne. Hier muss­te alle ze­re­mo­ni­el­le Höf­lich­keit wei­chen. Sein Le­ben hing von mei­nem Er­fol­ge ab. Ehe mir noch der Die­ner den ab­leh­nen­den Be­scheid sei­nes Herrn über­bracht hat­te, war ich an ihm vor­bei in das Zim­mer ge­tre­ten.

Mit ei­nem är­ger­li­chen Aus­ruf er­hob sich ein Mann von ei­nem Stuhl ne­ben dem Ka­min­feu­er. Ich sah ein großes gel­bes Ge­sicht, grob­ge­schnit­ten, mit star­kem Dop­pel­kinn und zwei dro­hend bli­cken­den grau­en Au­gen, die un­ter bu­schi­gen gel­ben Brau­en her­vor Blit­ze nach mir schos­sen. Auf dem kah­len Schä­del saß, bei­na­he ko­kett zur Sei­te ge­scho­ben, eine klei­ne Samt­müt­ze. Die­ser Schä­del muss­te ein un­ge­wöhn­lich großes Hirn ber­gen und doch, als ich die gan­ze Ge­stalt ins Auge fass­te, er­schi­en mir der Kör­per des Man­nes klein und schwäch­lich, mit vor­ge­beug­ten Schul­tern, wie bei je­mand, der als Kind an Ra­chi­tis ge­lit­ten hat.

»Was soll das?« schrie er mit ho­her Stim­me. »Was er­lau­ben Sie sich, hier ein­zu­drin­gen? Habe ich Ih­nen nicht sa­gen las­sen, ich sei mor­gen früh für Sie zu spre­chen?«

»Es tut mir leid«, sag­te ich, »aber die Sa­che dul­det kei­nen Auf­schub. Mein Freund Sher­lock Hol­mes –«

Die Er­wäh­nung die­ses Na­mens war von au­ßer­or­dent­li­cher Wir­kung auf den klei­nen Mann. Der Är­ger ver­schwand so­gleich aus sei­nem Blick. Sein Ge­sicht ver­riet ge­spann­te Neu­gier.

»Sie kom­men von Sher­lock Hol­mes?« frag­te er.

»Ich habe ihn so­eben erst ver­las­sen.«

»Was macht Herr Hol­mes, wie geht es ihm?«

»Es geht ver­zwei­felt schlecht. Des­halb bin ich zu Ih­nen ge­kom­men.«

Der Mann bot mir einen Stuhl, und wir setz­ten uns. Bei die­ser Ge­le­gen­heit sah ich einen Au­gen­blick lang sein Ge­sicht in dem Spie­gel über dem Ka­min­sims. Ein bos­haf­tes, ge­mei­nes Lä­cheln schi­en sich dar­über zu brei­ten. Aber ich über­re­de­te mich, es müs­se ein ner­vö­ses Zu­cken ge­we­sen sein, das ich zu­fäl­lig ge­wahr­te, denn im nächs­ten Au­gen­bli­cke wand­te er sich mir zu mit vollen­de­ter Lie­bens­wür­dig­keit in sei­ner Mie­ne.