Der Stern des I-Sabbah - Klaus Krüth - E-Book

Der Stern des I-Sabbah E-Book

Klaus Krüth

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Beschreibung

Nach dem Einsturz des Stadtarchivs in Köln werden bei der Restaurierung der beschädigten Schriften Dokumente gefunden, die sich auf einen Hexenprozess aus dem beginnenden siebzehnten Jahrhundert beziehen. Die Dokumente sind offensichtlich nicht nur für die Fachwelt und die Medien von Interesse. Das Restaurierungs- und Digitalisierungszentrum in Köln-Porz wird beraubt, es geschieht sogar ein Mord. Die junge Automechanikerin Mechthild Waffenschmidt findet in der alten Schmiede ihres Vaters das Tagebuch einer Kölner Kaufmannstochter, das in direkter Verbindung zu den gestohlenen Dokumenten zu stehen scheint. Gemeinsam mit dem Berliner Wissenschaftler Conrad Körner, ihrem Bruder Georg und der Fachfrau für alte Schriften, Mairie Brennan, stößt sie auf ein altes Geheimnis und gerät dadurch in große Gefahr.

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Seitenzahl: 298

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

- Prolog -

Hassan I-Sabbah schaute nachdenklich aus dem einzigen Fenster seines Laboratoriums hinab in die bizarre Bergwelt Persiens. Alamut war die Trutzburg Allahs des Allmächtigen gegen alle ungläubigen Eindringlinge. Seit über 200 Jahren thronte das gigantische Gemäuer auf einem Felsen in über 2000 Metern Höhe, uneinnehmbar und stolz.

I-Sabbah lächelte und strich sich über seinen wallenden weißen Bart. Ganz uneinnehmbar war Alamut nicht. Schließlich hatte er die Festung selbst vor vielen Jahren dem seldschukischen Statthalter Mahdi abgetrotzt. Im Laufe der Zeit hatte er aber die Mauern verstärkt und Vorratslager angelegt, die es ermöglichten, auch einer langen Belagerung standzuhalten.

Bislang hatten es die Christenhunde jedoch noch nicht gewagt, auch nur in die Nähe Alamuts zu gelangen. Hier, in dieser abgelegenen Bergwelt, hatte er den mächtigen Geheimbund der Assassinen aufgebaut, dem er als uneingeschränkter Herrscher voranstand. Man hatte ihn „Den Alten vom Berge" getauft. Ein Name, der stets mit Ehrfurcht ausgesprochen wurde. Mit Bedacht schob er die weiten Ärmel seines schmucklosen weißen Kaftans zurück, verneigte sich demutsvoll und öffnete ein schlichtes Holzkästchen auf seinem Arbeitstisch.

Es enthielt eine kleine Anzahl gläserner Phiolen, sauber geordnet, in passgenauen Fächern.

Vorsichtig entnahm er eines der kleinen Fläschchen und hielt es prüfend in das einfallende Sonnenlicht. Es enthielt ein dunkelgrünes, fein gemahlenes Pulver.

Ein leichtes Schütteln bewies, dass die Phiole gut verschlossen war. Das Pulver war trocken geblieben und hatte durch die Lagerung keinen Schaden genommen.

I-Sabbah hatte viele Wochen und Monate mit der Herstellung der Substanz verbracht. Es waren viele Opfer vonnöten gewesen, um deren Wirksamkeit zu prüfen. Viele seiner treuen Assassinen hatten als Probanden Qualen erlitten und ihr Leben gelassen. Aber das Werk war schließlich gelungen. Schon eine kleine Prise des Pulvers hatte die Macht, den Tod um etliche Jahre zu betrügen, ja vielleicht sogar ganz um seinen Lohn zu bringen und den Menschen unsterblich zu machen. Keine Krankheit, keine Seuche, nur der gewaltsame Tod konnte das Leben desjenigen beenden, der davon genommen hatte. Freilich wusste I-Sabbah sehr genau, dass das Pulver Teufelswerk war. Von Dämonen ersonnenes Gift, um die Menschheit zu verderben. Jeder, der davon nahm, handelte gegen Allahs Willen und hatte tausendfache Qualen der Hölle verdient. Kein gläubiger Muslim würde sich durch die Einnahme des Pulvers die Freuden des Paradieses versagen.

Dennoch, die Versuchung war groß und die Herzen der Sterblichen schwach. Nur wenige seiner Vertrauten wussten um die Existenz des Pulvers. Aber trotz aller Geheimhaltung war die Kunde bis zu Tankred, diesem Christenhund, gelangt. Wie oft hatte er ihn verflucht und ihm alle Qualen der Hölle gewünscht.

Tankred, der christliche Fürst von Antiochia, hatte die Stadt Apamea erobert. Seit Wochen hielt er den Missionar Abu Tahir, den wohl beredtsten Verkünder der Worte Allahs, in seinem Kerker gefangen.

Tahir war für I-Sabbah stets wie ein Sohn gewesen. Als kleiner Waisenjunge war er vor mehr als zwanzig Jahren nach Alamut, inzwischen Hauptstadt der Assassinen, in den Bergen Persiens, gekommen und I-Sabbah hatte sich seiner angenommen. Von allen seinen Schülern war er der geschickteste und verständigste gewesen. Er führte den Dolch der Assassinen schnell und mit tödlicher Genauigkeit. Er war stark und zäh, jedoch auch klug und sensibel und offen für die Wissenschaften und Künste. Seine Sprache war voller Überzeugungskraft und Willensstärke. Seine Worte waren wie Gold und Silber, seine Reden wie Schmuckstücke, die es vermochten, einen jeden in den Bann zu ziehen.

Daher hatte er den Beinamen „Der Goldschmied“ erhalten. Dies war auch der Grund, warum I-Sabbah ihn ins Feindesland geschickt hatte, um dort möglichst viele neue Anhänger für die Assassinen und ihr Werk zu gewinnen, den heiligen Krieg für den einzigen Gott Allah und Mohammed, seinem Propheten.

Hassan I-Sabbah war erstaunt über die Lösegeldforderung Tankreds: Er forderte weder Gold noch Juwelen. Er erwartete nicht die Räumung der Assassinenburgen. Er gierte nach dem Geheimnis des ewigen Lebens.

I-Sabbah lächelte voller Verachtung, als er mit einem Holzspatel der Phiole eine kleine Menge des Pulvers entnahm. Vorsichtig, ohne nur ein Gran zu verschütten, füllte er es in das Innere eines goldenen Amuletts.

Sollten die Ungläubigen mit und durch die teuflische Substanz in die Hölle fahren.

Das Amulett war ein Meisterwerk orientalischer Goldschmiedekunst und mit einem geheimen Mechanismus versehen, der es für den Unkundigen aussichtslos machte, es zu öffnen.

Eine Säure würde bei gewaltsamer Öffnung frei werden und der Inhalt wäre auf immer verloren.

Sorgsam verschloss I-Sabbah das Amulett und verfluchte es im Namen Allahs. Drei seiner treusten Assassinen gab er den Auftrag, es Tankred zu überbringen. Bei ihrem Tode ließ er sie schwören, dass es nur ihm und niemand anderem zu übergeben sei.

Noch in der selben Nacht machten sich die Boten auf den Weg.

- 1 -

Mairie Brennan hatte seit etwa einer Stunde Feierabend. Sie arbeitete seit zwei Wochen in dem neu eröffneten Restaurierungs- und Digitalisierungszentrum in Köln-Porz. Hier wurden die aus den Trümmern des eingestürzten Stadtarchivs geborgenen Dokumente mittels modernster Technik von Fachleuten bearbeitet.

Noch heute saß der Schreck über das im März 2009 geschehene Unglück fast jedem Kölner im Nacken.

Beim Ausbau der Kölner U-Bahnstrecke waren massive bauliche Fehler gemacht worden. Die Ursache für das Unglück war bis dato noch ungeklärt. Es gab jedoch berechtigte Vermutungen, dass hier der sogenannte „Pfusch am Bau" zu der Katastrophe geführt und schließlich zwei Menschen das Leben gekostet hatte. Der sandige Boden unter dem riesigen Stadtarchiv war durch Ausschwemmung in die davor liegende Tunnelbaustelle weggesackt und das gesamte Gebäude war regelrecht in die Baugrube gekippt. Große Teile des eingelagerten Archivmaterials wurden mit in die Tiefe gerissen.

Neben der Verschmutzung durch den Schutt, erlitt das Archivmaterial vielfach mechanische Beschädigungen, angefangen von kleinen Knicken, bis hin zu kleinsten Schnipseln, die in mühevoller Arbeit zusammengepuzzelt werden mussten.

Der allergrößte Schaden war aber durch Wasser entstanden. Die Baugrube hatte sich durch den langanhaltenden Regen mit Wasser gefüllt, sodass fast das gesamte Bergungsgut schwere bis mittelschwere Wasserschäden aufwies. Aus diesem Grunde wurde das Material zumeist tiefgefroren eingelagert. Mairie war nur indirekt an der Restaurierung des Materials beteiligt. Ihre Aufgabe war es, das geborgene Material zu sichten, zeitlich und thematisch neu zu ordnen und zu archivieren. Da es sich in vielen Fällen um sehr alte Schriftstücke handelte, die in Handschrift und oft altertümlicher Sprache oder sogar in Latein verfasst waren, war viel Geduld und Erfahrung Voraussetzung. Nicht immer war die Arbeit spannend. Dennoch liebte Mairie ihren Job.

Sie liebte es, still und in Geduld zu arbeiten und teilweise auch knifflige „Puzzle-Arbeiten" zu erledigen, die andere Menschen schnell in den Wahnsinn getrieben hätten.

Nach ihrer Ausbildung als Buchbinderin und ihrem Studium, hatte sich Mairie auf alte Schriften spezialisiert. Eigentlich hatte sie geplant, nach Ende der Ausbildung, nach Dublin auszuwandern. Jetzt, mit 35 Jahren, schien ihr der Zeitpunkt dafür gekommen. Schon vor einiger Zeit hatte sie sich in der Dublin City Library and Archive um eine Anstellung beworben, bislang aber leider noch keine Antwort erhalten.

Nein, es gab nichts, was sie an einem Leben in Deutschland festhalten ließ. Sie fühlte sich in Köln nicht besonders wohl. Das Grau der Stadt und die Oberflächlichkeit der Bewohner, die sich nur nach etlichen Kölschgläsern an das Wort Freundlichkeit erinnerten, hatte sie schon immer davon abgehalten heimisch zu werden.

Mairie war im Grunde ihres Wesens ein eher zurückhaltender Typ. Ihr Freundeskreis war überschaubar. Dennoch war sie nicht schüchtern.

Die Menschen, die sie näher kannten, liebten ihren treffsicheren Humor und ihre Schlagfertigkeit. Ja, sie konnte sogar sehr witzig sein und ganze Gesellschaften unterhalten. Fehlte ihr aber das dazugehörige Glas Whiskey, oder das Pint Guinness, gehörte sie zumeist zu den stilleren Zuhörern.

Auch die Männerwelt fühlte sich durchaus von ihr angezogen. Mairie war recht hübsch. Ihre flammend roten Haare, ein Indiz für ihre irische Herkunft, umrahmten auf reizvolle Weise ihr ebenmäßiges Gesicht, aus dem besonders die strahlend grünen Augen hervorstachen. Ihre Figur war sportlich und durch häufiges Joggen trainiert.

Eine feste Beziehung hatte sich bislang aber nicht ergeben, sei es aus Zeitmangel oder aus ihrem persönlichen Desinteresse. Bislang war es darum eher bei kurzlebigen Bekanntschaften,vorwiegend sexueller Natur, geblieben.

Mairies Mutter war schon vor vier Jahren einem Krebsleiden erlegen. Ihr Vater, ein Ire, war schon Jahre zuvor, nach der Trennung von ihrer Mutter, in seine Heimat zurückgekehrt. Mairie hatte sehr unter dem Verlust gelitten und sich schon damals, mit vierzehn, dazu entschieden, ihm dorthin zu folgen, sobald es ihr möglich wäre. Ein Großteil ihrer Familie lebte schließlich in Irland und sie trug immer die einzigartige irische Sehnsucht nach der „Grünen Insel" in ihrem Herzen. Immer dann, wenn sie diese tiefe Melancholie in sich verspürte, zog es sie in den „Irish Pub" der Kölner Altstadt.

Das Interieur des Pubs war recht aufwändig gestaltet. Die Musik war traditionell irisch und es gab frisch gezapftes Guinness. Natürlich gelang es Mairies Ansicht nach der Kneipe nicht ganz, die Atmosphäre eines Pubs in Dublin nachzuempfinden. Dennoch vermittelte sie ihr immer wieder ein Stück Heimat. Das gute Jobangebot der Stadt, nach dem Einsturz des Stadtarchivs, hatte sie aber bewogen, ihre Auswanderungspläne zu verschieben. Zurzeit herrschte im Archivierungs- und Digitalisierungszentrum aufgeregte Spannung.

In naher Zukunft sollte für die Restaurierung stark verschmutzter, sehr alter Dokumente, ein neu entwickeltes Gerät zum Einsatz kommen, dessen Aufbau und Installation sie in den letzten Tagen jedoch nur am Rande miterlebt hatte.

Die Funktionsweise der Maschine war ihr und ihren Mitarbeitern noch nicht klar und man wartete daher sehnsüchtig und voller Spannung auf das Eintreffen eines Spezialisten aus Berlin, der selbst an der Entwicklung mitgearbeitet hatte und das Personal in die Bedienung einweisen sollte.

Jetzt aber war es Freitag, Wochenende! Im Normalfall arbeitete Mairie auch am Samstag einige Stunden. Sie hatte aber beschlossen, morgen frei zu machen und auf ihrem Heimweg einen Abstecher auf ein bis zwei Pint Guinness in den Pub zu machen, obwohl ihre positive Stimmung eigentlich nur wenig dazu passte.

Der Kellner, ein Student aus Tübingen und somit noch weniger Kölner als Ire, begrüßte sie wie immer freundlich und stellte unaufgefordert ein frisch gezapftes Bier auf den Tresen.

„Was machen deine ollen Schinken, Mairie?", fragte er grinsend. Wie immer antwortete sie, das Grinsen erwidernd: „Schimmeln tun sie, was sonst? Im Moment sind es ganz furchtbar olle und verschmutzte Schinken." „Hast du heute schon den Express gelesen?“, lautete die nächste Frage.

„Nö, Was haben denn die wieder zusammenfantasiert? Hat schon wieder ein Dackel Millionen geerbt?“, gab Mairie zurück, anspielend auf eine Schlagzeile des Blattes, vor vielen Jahren „Nein“, fuhr der Kellner fort, „aber ihr habt ja wohl einen bedeutenden Fund gemacht. Von einer ganzen Kiste wertvoller historischer Dokumente aus dem Oberbergischen des 17. Jahrhunderts war die Rede, die über Jahrzehnte im Stadtarchiv eingelagert war und keine Beachtung gefunden hat. Prozessakten, Mord und Totschlag, Folter und Todesurteile und so ein Kram, der detaillierten Aufschluss über die Vorgänge im Homburgischen der damaligen Zeit gibt. Es war sogar ein Bild in der Zeitung. Du warst auch dabei. Man konnte dich zwar nur von der Seite sehen, aber ich habe dich sofort erkannt!“

Mairie zuckte mit den Schultern. „Hätt ich es gewusst, wäre ich vorher noch zum Friseur gegangen!“

„Sag mal,", war die nächste Frage, „liest du auch den Kram, von dem hier die Rede ist? Das hier ist doch sicher superspannend, oder?"

„Möglicherweise, aber noch habe ich nicht viel davon gesehen. Ich habe nur mal einen kurzen Blick darauf werfen können. Klar, interessiert mich die Sache. Allerdings verstehe ich nicht immer alles. Dann wird alles zur Teamarbeit. Die alten Sachen sind oft in einem Deutsch geschrieben, das mit unserem nicht mehr viel zu tun hat. Auch sind die Schriften nicht immer eindeutig lesbar, obwohl ich mich da eigentlich ganz gut auskenne. Die gefundenen Dokumente sind wirklich höllisch interessant. Es sind die Fragmente einer Gerichtsakte. Es hat wohl mit einer Klage wegen Hexerei, in der Nähe von Gummersbach, zu tun." Mairie biss sich auf die Zunge. Sie hatte sich von ihrer Euphorie hinreißen lassen und schon viel mehr erzählt, als es ihrem Arbeitgeber recht gewesen wäre. Sie brach das Gespräch daher schnell ab, indem sie ihren Blick durch den Pub schweifen ließ.

Es gab nur wenige Stammgäste an diesem Abend.

Ohnehin gab es im Pub sehr viel Laufkundschaft.

Das war nicht untypisch für die Kölner Altstadt.

Ein echter Kölner verirrte sich nur selten in die Altstadt, es sei denn, man nutzte am Sonntag das schöne Wetter für einen Spaziergang am Rhein, oder man hatte unter Einsatz seines Lebens Eintrittskarten für das „Hänneschen-Theater" ergattert.

Mairies Blick blieb schließlich an einem großen, blonden, männlichen Wesen hängen, das sich, kaum hatte Mairie den Pub betreten, direkt gegenüber postiert hatte. Dann folgte das übliche Spiel: Mairie spürte intuitiv, dass er sie anstarrte.

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und erwiderte den Blick, um noch zu bemerken, dass ihr Gegenüber seinen Blick schnell abwandte.

Dann folgte das Spiel in umgekehrter Reihenfolge und so weiter.

Als Mairie jedoch ihr kurzes Gespräch mit dem Kellner beendet hatte, änderte der große Blonde plötzlich die Spielregeln. Er schaute mit gewinnendem Lächeln zurück, ohne auszuweichen.

Mairie kicherte über diese Situation belustigt und hielt dem Blick des Blonden stand. Dieser wertete Mairies Lachen wohl als Aufforderung und wechselte die Seite der Theke, um sich auf dem Barhocker direkt neben ihr zu platzieren.

„Machen Sie das immer so?", fragte Mairie, erheblich zynischer, als sie eigentlich gewollt hatte.

„Was denn?", erfolgte die unschuldige, aber weiterhin lächelnd vorgetragene Gegenfrage.

„Naja, fremde Frauen anstarren, um sich dann flugs an sie ranzumachen!", erwiderte Mairie in verbindlicherem Tonfall und einem koketten Lächeln von der Seite.

„Oh, verstehen Sie mich nicht falsch", erwiderte ihr Gegenüber schuldbewusst, "das sollte keine Anmache sein. Nein, ich mache das nicht immer so. Sie fielen mir nur gleich auf, als Sie hereinkamen. Ich musste Sie einfach anschauen und es war mir sogar etwas peinlich, als Sie es bemerkten. Da ich jetzt aber mit Ihnen hier sitzen darf, wie ich hoffe, muss ich sagen: Georg, du hast wieder alles richtig gemacht! Entschuldigen Sie, ich habe vergessen mich vorzustellen. Ich heiße Waffenschmidt, Georg Waffenschmidt." Mairie ließ sich selten auf Kneipengespräche ein.

Sie kam hier her, um zu träumen, Pläne zu schmieden, an Dublin zu denken und in einer seligen Melancholie zu versinken. Daher wies sie, passierte es ihr, angesprochen zu werden, in der Regel jeden auf sehr kurz angebundene Weise ab.

Sie war dennoch kein Kind von Traurigkeit. Wenn ihr ein Mann gefiel, konnte sie sich durchaus auf ein kleines Abenteuer einlassen.

Das geschah jedoch sehr selten, zumal ihr Job zurzeit kaum noch Raum dazu ließ.

Heute war das aber ganz anders, denn Mairie gefiel der große Blonde.

Er war schlank, hatte eine sportliche Figur, breite Schultern und sehr feingliedrige Hände, die dennoch nicht so aussahen, als wäre ihnen schwere Arbeit fremd. Er trug einen Anzug, der bestimmt keine Stangenware war, dennoch aber den saloppen, sportlichen Eindruck betonte. Am meisten beeindruckt war sie jedoch von dem jungenhaften Lächeln, welches er immer wieder in sein ansonsten sehr männliches Gesicht zauberte.

„Okay", lachte sie, „Schwamm drüber! Ich heiße Mairie Brennan. Und da Sie nun schon mal hier sind, können wir das „Sie" lassen. Sag einfach Mairie!"

In der Folge entwickelte sich ein typisches, aber durchaus nicht langweiliges Kennenlerngespräch über Gott und die Welt, das Wetter und natürlich den Job.

Mairie erfuhr, dass es sich bei ihrem Gesprächspartner um einen recht erfolgreichen Kölner Rechtsanwalt handelte, der mit zwei Partnern in der Innenstadt eine Kanzlei betrieb. Er erzählte sehr witzig und anschaulich über seine Arbeit, zeigte aber auch sehr viel Interesse für Mairies Beruf. Er hatte in seiner Kindheit und Jugend Archäologe werden wollen, dann aber seinen Traum aus den Augen verloren. Ein Umstand, den er sehr zu bedauern schien. Er löcherte Mairie geradezu mit Detailfragen und lief damit offene Türen ein. Mairie liebte es über ihre Arbeit zu erzählen. Zudem kam es nicht sehr oft vor, dass jemand ehrliches Interesse daran zeigte.

Die Zeit verging sehr schnell und nach einem deftigen Essen im nahegelegenen Brauhaus und mehr Kölsch, als Mairie lieb war, fand sie sich im Schlafzimmer des Rechtsanwaltes wieder. Er hatte in der Nähe seiner Kanzlei ein Appartement angemietet, das er nutzte, wenn er im Kölner Raum spät endende Termine hatte.

Georg zeigte sich im Bett genauso sportlich, wie sein äußeres Auftreten vermuten ließ. Dennoch war er sehr gefühlvoll und zärtlich und Mairie genoss nach ihrer langen Abstinenz die Nacht in vollen Zügen. Auch „der Morgen danach" war weit entfernt von dem häufig schalen Gefühl eines „One-Night-Stands".

Gegen neun weckte sie der verführerische Duft eines frischen Kaffees. Georg hatte schon einen reichhaltig gedeckten Frühstückstisch gezaubert, der ihre leichte Katerstimmung schnell vertrieb.

Erst am frühen Nachmittag entschied sie, dass es jetzt an der Zeit sei, sich auf den Heimweg zu machen.

„Soll ich dich nicht mit meinem Wagen nach Ehrenfeld bringen? Es regnet und du bist nicht entsprechend ausgerüstet, um dem Kölner Wetter zu trotzen", fragte Georg aufmerksam.

„Woher weißt du, dass ich in Ehrenfeld wohne?", erwiderte Mairie verblüfft.

Georg antwortete mit einem schallenden Gelächter, jedoch ohne Zynismus: „Du hast es mir gestern Abend selbst erzählt, allerdings war es da schon sehr spät!"

Mairie schämte sich etwas, fing sich aber sofort:

„Danke für das Angebot, aber ich denke, die frische Luft wird mir helfen, meine Gedanken wieder zu ordnen."

Die Abschiedssituation nach den Geschehnissen der vergangenen Stunden war Mairie unangenehm und sie trat ihren Rückzug sehr hastig an.

Mit einem „Tschüss Georg, es war echt schön mit dir, danke!" und einem flüchtigen Kuss wendete sie sich eilig der Eingangstür zu.

Georg sprang auf und ergriff leicht ihren Ellenbogen. „Sehen wir uns wieder?", fragte er hoffnungsvoll.

Mairie zögerte etwas, erwiderte dann: „Dòcha...,

tha mi toilichte dh'fhaicinn!" und lief beschleunigten Schrittes die wenigen Stufen hinunter, hinein in einen dichten Nieselregen, der besser zu London gepasst hätte.

„Dòcha..., tha mi toilichte dh'fhaicinn!", dachte sie, „Vielleicht..., ich freue mich dich wiederzusehen!" Da war sie wieder, ihre irische Melancholie, die sie auf dem gesamten Heimweg begleitete.

- 2 -

Man schrieb den 23. April im Jahre des Herrn, Anno 1618. Es war dunkel in der kleinen Budengasse zu Cölln. In den meisten Fenstern war das Licht erloschen.

Nur eines der größten und prächtigsten Häuser war noch hell erleuchtet. Es war das Haus der Kaufmannsfamilie Kogler. Der Name rührte aus einer längst vergangenen Zeit, als die Familie noch dem Handwerk des Leinenwebers nachgegangen war.

Ungeheurer Fleiß, geschäftliches Geschick und natürlich eine nicht unerhebliche Portion des berühmten „Kölschen Klüngels“ hatten aus der armen Weberfamilie im Laufe der Jahre eine mächtige Cöllner Dynastie erfolgreicher Tuchhändler entstehen lassen, der in diesen Tagen der ehrenwerte Conradius Kogler vorstand.

Kogler war bekannt als überaus korrekter, ehrlicher Geschäftsmann. Er verkaufte nie unter Preis, sein Name bürgte jedoch stets für hohe Qualität und faire und zügige Abwicklung der Geschäfte.

Diesen Ruhm hatte er schon als junger Mann erworben.

Sein Vater war schon in verhältnismäßig jungen Jahren verschieden und Conradius hatte, noch fast ein Knabe, die Geschäfte des Vaters übernehmen müssen.

Niemand in Cölln hätte einen Heller darauf verwettet, dass der junge Kogler dieser Aufgabe gewachsen wäre.

Allzu leicht schien ihn seine Jugend und Unerfahrenheit zu einem Opfer von Betrügern und Halsabschneidern zu machen.

Bald musste man jedoch einsehen, dass man den Fleiß, ebenso aber auch die Gerissenheit des jungen Kogler unterschätzt hatte. Schon nach kurzer Zeit hatte dieser das Vermögen der Familie in beträchtlichem Maße vergrößert und seine Geschäftsbeziehungen in die gesamte damals bekannte Welt ausgedehnt.

So war es denn auch nicht verwunderlich, dass er schließlich durch die Eheschließung mit der achtzehnjährigen Elisabeth Haigis zwei große Cöllner Kaufmannsfamilien miteinander verband.

In den gehobeneren Kreisen Cöllns wurden Ehen nur selten aus Liebe und Zuneigung gestiftet.

Dennoch wäre es unrecht zu behaupten, dass ihre Ehe reines Kalkül gewesen wäre. Der mehr als doppelt so alte Conradius kannte Elisabeth von Geburt an.

Elisabeth war die einzige Tochter des Kaufmannes Albertus Haigis. Der lange gehegte Wunsch nach einem Sohn, der einst als Nachfolger in die Fußstapfen des stolzen Vaters treten sollte, war für Albertus und sein Weib unerfüllt geblieben. Daher begrüßte er den Antrag des ehrenwerten Conradius Kogler, als dieser um die Hand seiner Tochter anhielt und Elisabeth fügte sich gehorsam in ihr Schicksal.

Kogler begegnete der so viel jüngeren Elisabeth stets mit Höflichkeit und Respekt. Er schenkte ihr nahezu grenzenloses Vertrauen. Anstelle von Befehlen äußerte er Bitten und ließ seine Gattin im Haushalt nach ihrem Belieben schalten und walten. Schnell lernte er auch Elisabeths geschäftliches Geschick kennen und schätzen, sodass sie ihm bald im Kontor beistehen durfte.

Auf dieser Basis entwickelte sich im Laufe der Zeit ein respektvolles, von gegenseitiger Zuneigung getragenes Verhältnis, weit entfernt von der heißblütigen Liebe der Jugend, jedoch ebenso weit entfernt von der zur damaligen Zeit nicht unüblichen, unangefochtene Befehlsgewalt des Mannes, der manche Ehe zum Kerker werden ließ.

Auch der Umstand, dass Elisabeth keinen Sohn zur Welt brachte, konnte Conradius Treue zu seiner Gattin nicht schmälern. Trotz der Enttäuschung, als diese in späten Jahren unerwartet doch ein Kind gebar, nur ein Mädchen, welches zudem das erste Jahr nicht überlebte, stand er weiterhin zu seiner Frau.

Das kurze Zeit später geborene Kind, wieder ein Mädchen, welches Magdalena getauft wurde, nahm er dankbar an und ließ ihm die bestmögliche Erziehung zuteilwerden.

Magdalena lernte die Kunst des Schreibens und Rechnens, sogar Latein und etwas Französisch, sodass sie schon bald dem stolzen Vater im Kontor zur Hand gehen konnte und sich überaus verständig anstellte.

So hatte ihm Gott der Herr zwar den Sohn verweigert, ihm dafür aber eine kluge Tochter geschenkt, die doch immerhin, vielleicht auf der Basis einer glücklichen, noch wichtiger aber gewinnbringenden Eheschließung, das Erbe der Haigis und Koglers in die nächste Generation tragen würde.

Vor allem, als seine Frau Elisabeth, viel zu jung, an der damals weit verbreiteten Diphtherie verstarb, fand Kogler in seiner Tochter eine wertvolle Stütze.

Die Nacht war kalt. Es hatte gerade angefangen zu nieseln, nicht ungewöhnlich für eine Nacht im April. Das Leben auf den Straßen beschränkte sich vorwiegend auf freilaufende Schweine und Straßenköter, die sich lautstark im Unrat der Gossen um die Abfälle des vergangenen Tages balgten.

Der unschwer zu identifizierende Inhalt eines Topfes, der sich, aus einem offenen Fenster geschleudert, auf deren Bälgern ergoss, brachte zunächst Ruhe.

Nur ein später Zecher torkelte in einen Hausflur.

Man hörte ein Lärmen und kurz darauf das Gekeife einer Frau, die sich wenig darum zu scheren schien, dass die Nachbarschaft erwachte und Anteil an dem nächtlichen Disput mit ihrem wenig zurechnungsfähigen Gatten nahm.

Spöttische Kommentare, ebenso aber auch Beschimpfungen, bis hin zu massiven Androhungen leiblichen Schadens, hallten durch die Straße.

Alle vorgetragen in dem unnachahmlichen rheinischen Sprachschatz und Dialekt, für den die Stadt bekannt war.

Bald war aber auch hier Ruhe eingekehrt.

Aus der Schwärze des Portals des Koglerhauses löste sich die Gestalt eines Mannes. Das spärliche Haupthaar ließ trotz der Dunkelheit erkennen, dass der Mann seine besten Jahre schon hinter sich gelassen hatte, seine Leibesfülle deutete darauf hin, dass er diese Jahre kaum in Armut verbracht hatte.

Es war Conradius Kogler, der zu dieser späten Stunde die Straße betrat. Sein Gang war schwer und schleppend, wie durch den übermäßigen Genuss von Alkohol beeinflusst. Seine Augen waren im Gegensatz dazu weit aufgerissen, wie die eines staunenden Kindes.

Kogler hatte die Mitte der Straße überschritten als er die Hände, die er bis dahin wie im Krampf vor seinem mächtigen Bauch verschränkt hatte, löste und kopfschüttelnd mit leisem Stöhnen betrachtete.

Ohne sich noch abzufangen, stürzte Kogler auf das Pflaster. Der Kopf schlug hart auf.

Seine Augen, immer noch geöffnet, starrten in stummem Entsetzen auf den Unrat der Gosse.

Aus den tiefen Stichwunden in seinem Bauch flossen Ströme von Blut auf die Straße und vermischten sich in einer großen Lache mit dem abfließenden Regenwasser und Schweinekot.

Conradius Kogler war tot, ermordet durch tiefe, wütende Messerstiche.

Nur wenig später hetzte eine weitere Person aus dem großen Patrizierhause. Den Schatten der Häuser nutzend, rannte sie in wilder Panik die Gasse in Richtung Rhein hinunter.

Obwohl durch einen großen dunklen Umhang verhüllt, war an der Größe, der Gestalt und an der Behändigkeit der Bewegung leicht erkenntlich, dass es sich um eine junge Person, vermutlich weiblichen Geschlechts handeln musste. Die Kapuze des Umhangs war weit heruntergezogen und warf einen dunklen Schatten auf das Antlitz.

Auf dem Rücken trug die junge Frau ein leichtes Bündel, das nur auf wenige, schnell zusammengeraffte Habseligkeiten schließen ließ.

Immer wieder drehte sie sich um.

Offensichtlich hatte sie panische Angst vor ihrem Verfolger, einem, der Statur nach zu urteilen, jungen Mann. Dieser jedoch stand schwer atmend an einer Hausecke, unfähig die Verfolgung aufzunehmen.

Er war unachtsam gewesen. Magdalena hatte geschrien, als er das Kleinod an sich reißen wollte, das sie am Halse trug.

Kogler war mit gezücktem Dolche zur Hilfe geeilt und hatte zugestochen. Die Wunde in seinem Bein war nicht lebensgefährlich, schmerzte aber zu sehr, um sich mehr als humpelnd fortbewegen zu können.

Mühevoll verließ er die Budengasse in Richtung Waidmarkt. Er ahnte nicht, dass ein stiller Beobachter dem Geschehen aus sicherer Entfernung zugesehen hatte und ihm mit schnellen Schritten nacheilte.

Sein bleiches Antlitz war entstellt durch eine Gesichtslähmung, die ihm ein ständiges diabolisches Grinsen in seine Züge gemeißelt hatte. Manch einer, der dem Fremden zu dieser Stunde in der Dunkelheit begegnet wäre, hätte denken können dem Leibhaftigen begegnet zu sein, nicht ahnend, wie nahe er damit der Wahrheit gekommen wäre.

Der Nachtwächter der Stadt, einer der wenigen zu dieser Stunde noch wachenden, lenkte gerade seine Schritte auf den weit entfernten Heumarkt.

So konnte er später mit ruhigem Gewissen zu Protokoll geben, nichts von den angezeigten Geschehnissen gesehen oder gehört zu haben.

Immer schnelleren Schrittes eilte die Kapuzengestalt dem Rhein entgegen und dort angekommen rheinabwärts an der Stadtmauer im Nordwesten Cöllns vorbei. Sie eilte entlang der wenigen ärmlichen Hütten der Tagelöhner und Bettler, bis kein Zeichen menschlicher Anwesenheit mehr zu sehen war und fiel dort bitterlich weinend, der Ohnmacht nahe, in das regennasse Gras am Ufer des kraftvoll dahinziehenden Stromes.

„Jott zom Jrooß!“, mit kehliger Sprache gesprochen, waren die ersten Worte, die Magdalena hörte, als sie wie aus einem tiefen Traum erwachte. Das gerötete Gesicht einer ältlichen, leicht fetten Frau, zu der diese Stimme gehörte, schaute sie mit kleinen fröhlich blitzenden Äuglein an.

Mit herzhaftem Griff packte sie zu, drückte Magdalenas Kopf an ihre üppige Brust und nötigte sie zu einem tiefen Schluck von einem warmen Sud, der stark nach Kohl und Fisch roch, jedoch sehr belebend wirkte.

„Wat hant die bloß mit dir jemaat, Kingdchen! Do süß jo uss wie d’r leibhaftije Dot! Isch wees nit wat passert wör, wenn disch dä Manes nit in dem nassen Jrass jefungen un hier rübber jebrat hätte.

Am Eng wörschste mer noch für Kälde jestorve!

Ävver jetz is alles jot, Kingchen!“, tröstete die Frau.

Wenngleich Magdalena nicht die geringste Vorstellung davon besaß, wo sie sich befand, geschweige denn, wie sie dort hingelangt sein könnte, ereilten sie mehr und mehr die schrecklichen Erinnerungen an den vergangenen Abend. Sie stiegen in ihr auf und zauberten ein Bild der schaurigen Ereignisse, so real und so klar, als würden sie sich gerade eben zutragen.

Von Grausen und nackter Angst beseelt klammerte sie sich laut schluchzend an ihre Retterin, die sie wie ein kleines Kind zärtlich in ihren Armen wiegte.

„Et is jot, et is jot, ejal wat passeert is, et is vorbei!”

Magdalenas Retterin schien nicht zu den von Reichtum gesegneten Menschen zu gehören.

Sie trug ein einfaches Kleid, dessen Tuch auch in besseren Tagen keine Gnade vor den Augen des alten Koglers gefunden hätte. Ihre leicht ergrauten Haare waren mit einem schlichten Band im Nacken gebunden. Sie roch nach einem Gemisch aus Rauch, Suppe und Schweiß, wirkte aber darüber hinaus nicht unsauber.

Magdalena lag auf einem provisorisch aufgeschichteten Lager aus Stroh, das wohl, dem Geruch nach zu urteilen, schon seit langer Zeit zu diesem Zwecke bestimmt war und einem stark verschlissenen Laken. Ein plötzlicher Schreck ließ ihre Hand unter ihr Gewand fahren. Dem Herrn sei Dank, es war noch da. Das durch ihren Leib erwärmte Metall des Amulettes strahlte Ruhe und Geborgenheit aus. Es war aus reinem Gold, mit höchster Sorgfalt gearbeitet und fein ziseliert.

Seine Oberfläche zierte ein fünfzackiger Stern. Die fünf Zacken des Pentagrammes schmückten die Planetenzeichen von Mars, Venus, Merkur, Saturn und Jupiter. In der Mitte des Sterns, war ein blauer, daumennagelgroßer, tropfenförmiger Rubin eingearbeitet, der sich in beide Richtungen um das Zentrum des Sternes drehen ließ. Zeigte die schmalere Seite des Tropfens auf eine der fünf Sternspitzen, so verriet ein leises Klicken, dass dabei ein geheimer Mechanismus betätigt wurde.

Kogler hatte es seiner Tochter kurz vor den schrecklichen Ereignissen zur Aufbewahrung anvertraut, mit dem dringenden Auftrag, es gut zu verwahren und niemals aus den Augen zu lassen. Mit Nachdruck wies er sie an, niemals den Mechanismus zu betätigen. Nur eine bestimmte Reihenfolge der Drehungen vermochte das Amulett zu öffnen. Eine falsche Kombination konnte den Inhalt für immer vernichten.

Magdalena hatte nicht alle seine Erklärungen verstanden, aber eines war sie sich sicher: Der wahre Wert des Sterns lag nicht in den edlen Materialien, aus denen er gefertigt war. Das Amulett barg ein altes Geheimnis, welches ihr Vater Zeit seines Lebens strengstens gehütet hatte.

Würde es gelüftet, so könnte darin ein großer Segen liegen, geriete es in falsche Hände, aber auch den Untergang des menschlichen Seins bedeuten.

Der alte Kogler hatte Magdalena das ganze Geheimnis des Sterns nicht mehr anvertrauen können, sie wohl aber verpflichtet, ihn zu bewahren und vor dem Zugriff unberufener Mächte zu schützen, so wie er diese Pflicht einst von seinem Vater ererbt hatte.

Magdalena hatte das Amulett gehorsam in Empfang genommen und ihrem Vater geschworen, ihre Aufgabe gewissenhaft zu erfüllen, auch, wenn es das eigene Leben koste. Sie hatte es an einer Lederschnur um ihren Hals gehängt und legte es, trotz seines nicht geringen Gewichtes, nur selten ab.

Magdalena konnte die richtige Tageszeit nicht erkennen, da das einzige Fenster, in Ermangelung einer Verglasung, durch eine hölzerne Lade verschlossen war. Zwei Talglichter tauchten den Raum, dessen Wände aus grob gezimmertem Fachwerk und mit Lehm verputzt waren, in dunkelgelbes warmes Licht. Ein kleines Feuer flackerte in dem aus Stein und Lehm gemauerten Kamin und sorgte für eine angenehme Wärme. Es erhitzte einen auf einem metallenen Dreibein stehenden eisernen Topf, da es gleichzeitig als Kochstelle diente.

Der Raum war nur karg eingerichtet: In einer Ecke stand ein kleiner Tisch, davor zwei Stühle, beides geschickt, aber offensichtlich von Laienhand gezimmert. In der gegenüberliegenden Ecke mochte eine schmucklose Truhe die wenigen Habseligkeiten der Bewohner bergen. An der Wand hing ein Regalbrett mit einem tönernen Krug und zwei Essschalen, daneben ein schlichtes Kruzifix. In einer in der Wand eingelassenen Nische stand eine kleine Marienfigur, bunt bemalt und mit unbeholfener Hand geschnitzt, genau wie sie von fahrenden Händlern für geringes Geld auf dem Markt von Cölln feilgeboten wurden. Eine kleine Tür im hinteren Teil des Raumes mochte zu einem weiteren Raum führen, wahrscheinlich einem Stall, wie das leise Gackern eines Huhnes zu verraten schien.

Die große Tür in Magdalenas Blickrichtung war aus schweren Brettern gefertigt und mit einem Holzbalken von innen verriegelbar. Diese Tür öffnete sich unvermittelt und riss Magdalena aus ihren Betrachtungen. Ein kalter, feuchter Wind wehte herein und Magdalena hörte das Geräusch prasselnden Regens. Eine Gestalt schob sich durch die Öffnung und verschloss die Türe hastig, begleitet von lautem Fluchen.

„Herrjott waten Klotzedress, wat is dat en Wedder. Un mir müssen uns afrackere wie en Pääd, alles für die schinghellije Bätbröder vun Altenbersch. Wat wulle die bi demm Wedder in Cölle? Un dann hätt mer se övverjesazt un kütt sisch noch für wie en Köttnüsel wenn mer et nit für Jotteslohn deht. Häste noch Zupp, Helja?“

„Bess still, Manes!“, unterbrach Helga, die Magdalena immer noch in ihren Armen hielt, den Redeschwall. „Wenn et nit ränt, dann dröpp et! De Zupp is noch wärm.“

Magdalena musterte den hochgewachsenen und kräftigen Mann ängstlich. Er trug einen Lederhut mit großer Krempe, wie ihn Fährleute und Fischer trugen oder andere Männer, die ihren Lebensunterhalt unter freiem Himmel verdienen mussten, passend dazu einen Umhang aus grobem Tuch, mit Wachs imprägniert, als Schutz vor der Unbill des Wetters.

Der Mann, den Helga mit Manes angesprochen hatte, hängte Mantel und Hut an einen eisernen Haken an der Tür, warf den beiden Frauen einen missmutigen Seitenblick zu und wandte sich knurrend dem auf dem Feuer vor sich hin köchelnden Eintopf zu.

Erst jetzt konnte Magdalena sein Gesicht erkennen. Er trug sein dunkelblondes Haar lang und wirr am Kopfe und einen dichten dunklen Bart. Das Alter war schwer zu schätzen, da seine Gesichtszüge von jahrelanger harter Arbeit unter freiem Himmel gezeichnet waren. Er mochte, wie Helga, sein fünfunddreißigstes Lebensjahr schon überschritten haben, ein Alter welches in jener Zeit nicht jedermann zu erreichen beschieden war.

Manes schlürfte seine Suppe lautstark aus einer der Essschalen, nachdem er diese tief in den Topf eingetaucht hatte und saß danach minutenlang schweigend, den Frauen den Rücken zugewandt, am Tisch.

Auch Helga schien die Anwesenheit des Mannes nicht sonderlich zu beeindrucken. Sie wiegte Magdalena weiter in ihren Armen und summte leise eine Melodie, die Magdalena nicht kannte, sie aber in einen tiefen, traumlosen Schlaf sinken ließ.

- 3 -

Conrad war schon lange unterwegs. Er war erst gegen 11.00 Uhr in Berlin losgefahren und hatte gehofft, noch vor dem Berufsverkehr in Köln anzukommen.

Bis kurz vor Dortmund war alles noch gut gelaufen.

Dann fing der Stau an, der in einer Vollsperrung der A3 endete und ihn zu dem Umweg über die A45 und anschließend die A4 zwang.

Jetzt war es schon 18.30 Uhr. Er passierte gerade die Anschlussstelle Gummersbach und hatte noch eine Wegstrecke von zirka einer halben Stunde vor sich.

Conrad war müde. Der ständige Kleinkrieg mit Elke hatte ihm viele durchdiskutierte und damit schlaflose Nächte eingebracht. Die letzten hektischen Arbeiten und Berechnungen zur Fertigstellung der Maschine waren dabei keine Entlastung gewesen.

Elke hatte immer wieder die gleichen Themen mit dem klaren Leitthema „Geld“: „Wovon die Miete zahlen, Strom und Internet? Den Urlaub können wir uns dann ja wohl auch abschminken. Denkst du ich hätte Lust auf Dasuer mit meinen paar Kröten einen Hungerleider zu finanzieren?“… und so weiter und so weiter.

Klar, in der letzten Zeit war es nicht so gut gelaufen im Job und wenn er nicht wenigstens die Stelle als Privatdozent an der Uni in Berlin gehabt hätte…, nein, gar nicht auszudenken!

Das Entwicklerteam, dem er angehörte, hatte lange gebraucht, um das neue Gerät patentreif zu machen.

Es gab viele Probleme, besonders technischer Art, mit denen man nicht gerechnet hatte.

Das Prinzip war recht einfach: Stark verschmutzte und durch Feuchtigkeit gewellte Dokumente konnten mittels elektronischer Aufladung geglättet und von Staub gereinigt werden. Das Prinzip hatten Wissenschaftler in Erfurt erfunden und an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim weiterentwickelt. Problematisch war die Erzeugung einer ausreichend großen Aufladung, um auch größere Partikel schonend entfernen zu können. Hierbei hatte Conrad entscheidende Entwicklungsarbeit geleistet und das Gerät war nun weitestgehend praxistauglich.

Das Unglück im Zusammenhang mit dem Einsturz des Stadtarchives in Köln, vier Jahre zuvor, bot nun eine Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen.

Conrads Aufgabe sollte darin bestehen, den Einsatz des Gerätes zu überwachen und die Kölner Kollegen in die Bedienung einzuweisen.

Eine hochinteressante Aufgabe für Conrad und darüber hinaus ein recht einträglicher Job.

Außerdem freute sich Conrad auf Köln. Er hatte hier sein Studium der Germanistik und der Kunstgeschichte, nebst eines Masterstudienganges an der Fachhochschule für Restaurierung, absolviert.

Er hatte Köln liebgewonnen, einen großen Freundeskreis gehabt und die Vielfalt der Stadt genossen. Darum hatte er es sehr bedauert, nach Berlin zu wechseln.