Der Menschenkenner - Klaus Krüth - E-Book

Der Menschenkenner E-Book

Klaus Krüth

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Beschreibung

"Der Menschenkenner" ist eine Sammlung von Kurzgeschichten. Individuell sehr unterschiedliche Protagonisten werden auf absurde oder skurrile Weise mit ihrem besonderen Schicksal konfrontiert. Ob bewusst oder unbewusst, ob zaudernd oder vorauseilend: Jeder folgt seiner oft überraschenden Bestimmung ...

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Seitenzahl: 111

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Der Menschenkenner

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Der Menschenkenner

Er saß schon lange hier. Viel zu lange. Das Eisstück in der Cola war längst geschmolzen und hatte den verbliebenen Inhalt des Pappbechers in eine ungenießbare hellbraune Brühe verwandelt. Es war bereits die zweite Cola an diesem Morgen. Er hatte sie, wie so oft schon, bei McDonald‘s gekauft und sich auf „seiner“ Bank, direkt vor dem Ladenlokal niedergelassen. Das klappte nicht immer so reibungslos wie an diesem Tag.

Dauernd erdreisteten sich fremde Menschen darauf Platz zu nehmen. Auf seiner Bank! Oft kostete es Stunden des Wartens, bis diese ungebetenen Gäste die Bank verließen, um ihm, dem rechtmäßigen Inhaber dieses Platzes, zu weichen.

Er kam oft hierher und ja, auch deshalb war es seine Bank. Seine häufigen Besuche räumten ihm ein gewisses Recht der Gewohnheit ein. Nicht dass es sich um ein besonders bequemes Möbel seiner Art handelte. Hunderte von diesen Sitzgelegenheiten waren in der ganzen Stadt installiert. Kaltes, verzinktes Eisenrohr, die Sitzflächen mit engmaschigen, ebenso verzinkten Baustahlmatten bespannt. Gemacht für eine Ewigkeit. Widerstandsfähig und gegen jeden Versuch der Zerstörung gewappnet. Nein, weder Aussehen noch Beschaffenheit hoben diese Bank aus der Masse aller Sitzmöbel hervor. Es war einzig und allein ihr besonderer Standort.

Saß man hier, so wähnte man sich im absoluten Zentrum der Stadt. Alle Wege, alle Fäden schienen an diesem Ort zusammenzulaufen. Man sah alles und jeden. Gleichgültig, wohin die Wege all dieser Menschen führten, sie alle mussten hier vorbei, an seiner Bank, mussten an ihm vorbei. Genau das war der Grund für ihn so oft herzukommen. Er liebte es, die Menschen zu beobachten. Zu Anfang hatte ihn der Anblick der belebten Fußgängerzone noch zutiefst verwirrt. Ein bunter, gänzlich ungeordneter Fluss von Menschen hatte seine Bank umströmt, schier unmöglich ein einzelnes Individuum zu erfassen. Kaum war es seinen Augen gelungen, ein Detail zu fixieren, etwa einen Hut, eine Tasche oder einen Schuh, so wurde dieses sogleich durch ein Vielfaches an neuen Eindrücken, die sich in sein Gesichtsfeld schoben, verdrängt. Wie eine Echse auf einem warmen Stein mitten in der reißenden Strömung, hatte er wochenlang nahezu regungslos auf seiner Bank verharrt und ängstlich fasziniert in die Menschenflut gestarrt.

Dann aber begannen sich die Dinge zu ändern. Welche Zusammenhänge zu diesen wirklich gravierenden Veränderungen führten, wusste er nicht zu erklären. Waren es die durch die langen Beobachtungen geschärften Sinne? War es das reine Zusammenspiel von Intuition und Intelligenz? Wie eine Initialzündung hatte ihn die Erkenntnis getroffen, dass seiner Verwirrung beim Betrachten der Menschen ein einziger, dennoch nicht unerheblicher Denkfehler zugrunde lag: Wochenlang hatte er sich von den vielen Unterschiedlichkeiten der Menschen ablenken lassen. Es gab schwarze, weiße, dicke und dünne Menschen, alte und junge. Manche waren in Eile, schauten weder links noch rechts und drängelten sich keuchend durch die Menge, vorbei an eng umschlungen und nur auf sich selbst fixierten Pärchen. Manche schlenderten vorbei, hielten hier und dort inne, den Blick sehnsüchtig auf die Auslagen der Schaufenster gerichtet. Einige lachten über die Scherze ihrer Begleiter, viele schauten dagegen ernst vor sich hin, die volle Konzentration auf das Ziel ihres Weges gerichtet oder auf das, was sie dort erwartete. Insgesamt ein scheinbar unentwirrbares Treiben ohne jede Ordnung. Erst das Auffinden von Gleichheiten und Ähnlichkeiten konnte Ordnung herstellen. Aus dieser Erkenntnis heraus hatte er damit begonnen, die vorbeiziehenden Menschen in Kategorien zu typisieren. Zuerst wandte er noch zaghafte grobe Archetypen, wie männlich/weiblich oder Erwachsener/Kind an. Aber zunehmend verfeinerte er seine Kategorien mehr und mehr, bis hin zu einer fast mikroskopischen Nuanciertheit. Er stellte dabei fest, dass sich dadurch ein großes Maß an Menschenkenntnis entwickelte Es gelang ihm zunehmend einen Passanten genauer einzuschätzen. Seinen Beruf oder sozialen Status verriet ein Mensch beispielsweise durch die Kategorien „Kleidung“, „Make-up“ oder „Accessoires“. Alter und Ring verrieten seinen Familienstand. Teint und Klarheit der Augen ließen auf seine Befindlichkeit schließen. Kleinste Flecken auf der Kleidung untrügliche Rückschlüsse auf die Frühstücksgewohnheiten. Ja, er war zu einem wirklichen Meister in der Kunst der Menschenkenntnis gereift.

Heute hatte ein ganz besonderes weibliches Wesen seine Aufmerksamkeit erregt. Sie saß an einem Tisch des Straßencafés gegenüber. Er vermied es, sie dauerhaft anzuschauen, sondern ließ nur gelegentlich seine Blicke zu ihr hinüberschweifen. Viele Menschen bemerkten intuitiv, wenn sie beobachtet wurden und verhielten sich dann unruhig und nervös.

Sie, die Frau, hatte sich so platziert, dass sie den weiteren Verlauf der Fußgängerzone im Blick hatte und zeigte sich ihm so im Profil. Sie war jung, sehr hübsch, höchstens 25. Sie trug ein enges, graues Designerkostüm, das ihre schlanke Figur sehr vorteilhaft betonte und darüber hinaus verriet, dass sie nicht aus mittellosen Verhältnissen stammte. Ihre Sonnenbrille hatte sie wie einen Haarreif in ihre schwarzen Locken geschoben, die ihr bis weit über die Schultern fielen. Selbst aus der Entfernung sah er das Schimmern ihrer grünen Augen. Sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl, als sie sich einen Eiskaffee bestellte. Ihre Haltung verriet Selbstbewusstsein und Stärke.

Ein gelegentliches Zucken ihrer rot geschminkten Lippen deutete er als Lächeln. Ja, es handelte sich um eine junge Dame, die mitten im Leben stand. Glücklich und unverheiratet. Andererseits ließ ihre gesamte Haltung eine leichte Unruhe erkennen. Schon zweimal hatte sie zu ihm herübergeschaut. Hatte sie etwas bemerkt? Wohl kaum, beruhigte er sich. Zu lange hatte er das unauffällige Beobachten von Menschen geübt. Es musste etwas anderes dahinterstecken. Hatte er etwa ihre Aufmerksamkeit erregt? Waren ihre Blicke etwa kein Zufall? Was wäre, wenn sie nicht nur zufällig an genau diesem Ort ihm gegenübersäße? Vielleicht hatte sie ihn schon an einem der anderen Tage auf seiner Bank gesehen, vielleicht schon öfter und er hatte ihr Interesse geweckt. Als sie zum dritten Mal, flüchtig wie ein scheues Reh, zu ihm hinüberschaute, trafen sich für Sekundenbruchteile ihre Blicke. Es gab keinen Zweifel! Sie hatte ihn wahrgenommen. Wahrgenommen? Nein, diese Zufälligkeit gestattete er sich nicht. Es gab einen Grund für ihr Hiersein. Es konnte nicht anders sein. Er war zutiefst betroffen, innerlich völlig aufgewühlt. Verfolgte sie ihn? Hatte sie ihn vielleicht schon seit Wochen beobachtet und ihm nachgestellt? Was nur kam dieser impertinenten Person in den Sinn? Was erhoffte sie sich? Ein schnelles Abenteuer? Hatte sie es auf sein Geld abgesehen? Nein, so entschied er für sich, zu unschuldig war ihr Blick und ihr gesamtes Auftreten. Ihre Triebfeder musste ein zartes Gefühl sein, ein scheues Bedürfnis, welches sich nach Nähe, nach seiner Nähe sehnte. Er erlaubte sich ein Winken. Es war ein kleines Winken, kaum wahrnehmbar, nur mit zwei Fingern seiner rechten Hand, die er lässig über die Lehne seiner Bank gelegt hatte. Ertappt wendete sie sich ab. War da ein leichtes Erröten auf ihren Wangen? Gab es noch einen Anlass zu zweifeln?

Wie zum Beweis griff sie schließlich entschlossen nach ihrer Handtasche. Er erschrak! Würde sie den entscheidenden Schritt wagen? Nein, sie kramte in ihrer Tasche und förderte ein weißes Handy zutage. Mit geübten Bewegungen bewegte sie ihre rot lackierten Fingernägel über das Display. Er kannte den Rhythmus der Bewegungen zu genau. In Erwartung dessen, was geschehen musste, umklammerte er sein eigenes Handy. Woher nur kannte sie seine Nummer?

Doch nichts geschah! Sein Handy blieb stumm. Mit wem sprach sie nur? Es waren nur wenige Wörter, die sie in das Telefon hauchte. Danach verharrte sie einige Sekunden reglos und warf das Gerät zurück in ihre Tasche. Ihre Lippen zuckten, dann ihre Schultern. Lachte sie? Lachte sie über ihn? Lachte sie ihn aus? Immer noch zitternd klemmte sie schließlich einen Fünfeuroschein unter den Aschenbecher. Es packte ihn das blanke Entsetzen, als sie sich von ihrem Stuhl erhob und auf ihn zuschritt. Er sah, wie sich Tränen auf ihren Wangen mit schwarzem Lidschatten mischten. Er konnte ihr Schluchzen auf der Haut spüren. Hatte sie das Telefongespräch so aus der Fassung gebracht? Oder trug er etwa die Schuld an ihrer Verzweiflung? Was hatte er nur getan? Er war sich keiner Schuld bewusst. Er sprang von seiner Bank auf, ihr zugewandt, bereit sie tröstend in seine Arme zu schließen.

Bitterlich weinend ging sie hastig, ohne ihn auch nur einmal anzuschauen, an ihm vorbei. Völlig verwirrt und gedemütigt sah er ihr nach, bemerkte, wie sie sich mit einer hektischen Bewegung durch die Augen wischte und schließlich in dem auf erstaunliche Weise wieder völlig ungeordneten Fluss von Menschen verschwand. Es war der gleiche Fluss, der auch den Menschenkenner für immer von seinem warmen Stein spülte.

Ein Wintermorgen

Er hatte sein Ziel fast erreicht. Schon konnte er das hell erleuchtete Wohnzimmerfenster des abseits des Dorfes gelegenen Hofes sehen. Erleichtert hielt er inne und ließ seinen Blick über die stille, nur vom Mond und der reflektierenden Schneedecke erhellte Landschaft schweifen. In weiter Ferne trat aus der dunklen Silhouette des ehemals zum Hof gehörenden Fichtenwaldes ein Reh. Es schien ihn zu wittern und schaute angespannt zu ihm herüber.

Etwas zögerlich stapfte er einige Meter weiter auf den Hof zu. Die Sicht auf die Einfahrt wurde durch die alte Scheune und den Stall verdeckt. In einer Nische, tief verschneit, rostete der alte Traktor seinem endgültigen Ende entgegen. Er war schon lange nicht mehr in Betrieb gewesen. Ein Reifen hatte seine Luft verloren und das schwere Gerät in eine Schieflage gebracht, wodurch sein Anblick noch trauriger wirkte

Es drangen keine Geräusche aus dem Stall zu ihm herüber. Wie auch: Die Hühner und Schweine waren geschlachtet oder verkauft. Die fünfundzwanzig Milchkühe, die noch vor drei Jahren den Hof bewohnt hatten, waren durch das Veterinäramt, den örtlichen Tierschutzverein und die Polizei in gemeinsamer Aktion vor dem Hungertod bewahrt worden.

Der Hof war in diesen drei Jahren erschreckend verwahrlost. Der Bauer hauste hier in völliger Einsamkeit. Seine beiden Söhne hatten ihr Lebenslicht an einer Eiche direkt am Dorfausgang ausgehaucht. Alkoholisiert und mit überhöhter Geschwindigkeit waren sie frontal aufgeprallt und das Klinomobil hatte den Unfallort viel zu spät erreicht, um ihre Leben zu retten.

Martin, der Ältere hatte mit Auszeichnung seine Gesellenprüfung zum Forstwirt abgelegt. Dieter hatte dereinst den Hof übernehmen sollen. Er hatte schon viel verändert und modernisiert. Er hatte sogar einen Computer angeschafft, der die Büroarbeit enorm erleichtert hatte. Der Bauer wunderte sich immer wieder, woher der Junge das nur hatte.

Nach dem tragischen Unfall hatte das Leben für den Bauern seinen Sinn verloren. Seine Söhne waren sein ganzer Stolz gewesen. Statt wie bislang den Hof zu bewirtschaften, hatte er begonnen, seine Zeit schon am Morgen ganz dem Alkohol zu widmen. Seine Frau verzweifelte daran. Sie hatte nach ihren Söhnen bald auch ihren Mann verloren. Immer häufiger gab er ihr die Schuld am Tod der Kinder. Als er, umnebelt von Alkohol, begann, sie dafür zu schlagen, hatte sie ihn schließlich im vergangenen Jahr verlassen. Von da an teilte der Bauer sein Bett nur noch mit billigem Fusel.

Ja, auch er hatte den Bauern im Stich gelassen. Über zwölf Jahre hatte er ihm treu gedient, den Hof gehütet wie seinen Augapfel, so als wäre es sein eigener. Bei jeder Arbeit, war sie auch noch so schwer, hatte er den Bauern begleitet und unterstützt.

Es war keine leichte Arbeit gewesen: In aller Herrgottsfrühe in den Stall, die immer hungrigen Mäuler der Tiere stopfen, danach aufs Feld oder Holzernte im Wald.

Pflügen, Sähen, Ernten, Einfahren, teilweise bis spät in die Nacht, zwölf Jahre, ohne einen einzigen Tag der Ruhe, bis zu dem Tag, als er ihn im Stich gelassen hatte.

Früh morgens waren sie vor beinahe drei Tagen aufgebrochen. Der Bauer hatte in der Stadt Erledigungen zu machen. Wahrscheinlich waren seine Alkoholvorräte zur Neige gegangen. Seine Barschaft war bis auf einen kleinen Rest zusammengeschmolzen, sodass er entschieden hatte, sich auch von der großen Weide hinter dem Haus zu trennen. Die Alkoholfahne des Bauern hatte entsetzlich gerochen, aber er hatte sich, auf dem Beifahrerplatz sitzend, nichts anmerken lassen. An einem Feldweg hatten sie auf halber Strecke gehalten, um ihre Notdurft zu verrichten. Er war wohl zu weit in den Wald hineingelaufen. Vielleicht hatte er auch zu viel Zeit benötigt. Als er zum Wagen zurückkehren wollte, war dieser jedenfalls verschwunden. Der Bauer war ohne ihn losgefahren. Hatte er ihn einfach vergessen? Nein, das war unmöglich! Er hatte mit Sicherheit gewartet und gerufen und er hatte es einfach nicht gehört. Und dann war der Bauer einfach ohne ihn losgefahren, im festen Glauben, dass auch er ihn verlassen hatte, nach seinen Söhnen und nach seiner Frau.

Einige Zeit hatte er am Straßenrand gewartet, in der Hoffnung, dass der Bauer zurückkehren würde. Nichts war geschehen. War dem Bauern etwas zugestoßen? Entsetzliche Selbstvorwürfe marterten sein Gewissen. Er hatte versagt. Vielleicht lag der Bauer schwer verletzt im Straßengraben und er war nicht da, um ihm zur Seite zu stehen.

Da keines der wenigen Fahrzeuge, die an ihm vorbeirauschten anhielt, um ihn wenigstens ein Stück weit in Richtung des Hofes mitzunehmen, hatte er sich schließlich zu Fuß auf den Weg gemacht.

Er kannte den genauen Weg nicht. Der Straße zu folgen, schien ihm jedoch mit Umwegen verbunden. Zu groß war die Gefahr, bei Gabelungen oder Kreuzungen den falschen Weg zu wählen. Er entschloss sich daher, querfeldein, immer in Richtung der untergehenden Sonne zu laufen.