Der Stich der Biene - Paul Murray - E-Book

Der Stich der Biene E-Book

Paul Murray

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Beschreibung

Familie Barnes steckt in Schwierigkeiten. Dickie Barnes' lukratives Autogeschäft läuft nicht mehr. Aber anstatt sich dem Problem zu stellen, beginnt er in den Wäldern einen Bunker zu bauen. Seiner Frau Imelda, die ihren Schmuck auf eBay verkauft, erscheinen die Avancen von Big Mike, dem reichen Rinderzüchter, immer attraktiver. Die achtzehnjährige Cass, die immer die Klassenbeste war, reagiert auf den Niedergang, indem sie beschließt sich bis zu ihrem Abschluss jeden Tag zu betrinken, während der zwölfjährige PJ einen Plan schmiedet, um von zu Hause abzuhauen. Wenn das Leben und die Welt auseinanderfallen, stellen sich die großen Fragen: Wann und warum begann der Untergang? Was hätte man tun können und wie weit müsste man zurückgehen, wenn man die Geschichte ändern könnte? Bis zu dem Tag als Dickie Barnes zehnjährig zitternd vor seinem Vater stand und lernte, wie man ein richtiger Mann wird? Bis zu dem Autounfall zwölf Monate vor Cass' Geburt? Oder bis zu dem verheerenden Stich der Biene, der Imeldas Hochzeitstag ruinierte?

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Seitenzahl: 1128

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Paul Murray

DER STICH DER BIENE

Roman

Aus dem Englischenvon Wolfgang Müller

Verlag Antje Kunstmann

Wenn ich vor Angst schlotterte, das waren meine besten Tage.

John Donne

INHALT

SYLVIAS

Kapitel I

Kapitel II

WOLFSSCHANZE

DIE VERWITWETE BRAUT

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

DIE LICHTUNG

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

DIE ZEIT DER EINSAMKEIT

Kapitel I

CASS

DICKIE

IMELDA

CASS

DICKIE

PJ

IMELDA

CASS

DICKIE

CASS

PJ

IMELDA

DICKIE

CASS

IMELDA

PJ

DICKIE

IMELDA

CASS

Kapitel II

Danksagungen

SYLVIAS

I

Im Nachbarort hatte ein Mann seine Familie umgebracht. Er hatte die Türen zugenagelt, damit sie nicht fliehen konnten. Die Leute nebenan hörten sie durch die Zimmer rennen und um Gnade schreien. Als er fertig war, richtete er die Waffe gegen sich selbst.

Alle redeten darüber – darüber, was für ein Mann so etwas tun konnte, über die Geheimnisse, die er gehabt haben musste. Gerüchte schwirrten herum. Über Affären, Sucht und versteckte Dateien auf seinem Computer.

Elaine sagte nur, sie wundere sich, dass so etwas nicht öfter passiert. Sie steckte die Daumen durch die Gürtelschlaufen ihrer Jeans und schaute die trostlose Hauptstraße ihrer Stadt hinunter. Ich meine, sagte sie, man hat wenigstens etwas zu tun.

Cass und Elaine hatten sich im Chemiekurs kennengelernt. Bei einem Experiment hatte Elaine Jod auf Cass’ Hautausschlag geschüttet. Aus Versehen. Sie hatte lauter geschrien als Cass und darauf bestanden, mit ihr zur Krankenschwester zu gehen. Seitdem waren sie Freundinnen. Jeden Morgen rief Cass bei Elaine an, und dann gingen sie zusammen zur Schule. In der Mittagspause krempelten sie ihre langen Schulröcke hoch, liefen im Supermarkt herum, hörten auf Elaines Smartphone Musik und nahmen sich Croissants aus dem Backwarenregal, die sie bis zur Kasse aufgegessen hatten. Abends trafen sie sich bei der einen oder der anderen und lernten zusammen.

Cass hatte das Gefühl, Elaine schon ewig zu kennen. Es ergab keinen Sinn, dass sie nicht schon immer befreundet waren. Ihre Leben waren sich so ähnlich, dass es schon fast unheimlich war. Beide Mädchen kamen aus stadtbekannten Familien: Cass’ Vater Dickie war der Besitzer des VW-Autohauses, Elaines Vater, Big Mike, war Geschäftsmann und Viehhalter. Beide Mädchen waren etwas größer als der Durchschnitt. Beide waren intelligent, tatsächlich gehörten sie immer zu den Klassenbesten. Beide hatten vor, eines Tages von hier zu verschwinden und nie mehr zurückzukommen.

Elaine hatte goldenes Haar, grüne Augen und eine perfekte Figur. Wenn sie online Kleidung kaufte, passten die Sachen immer perfekt, als wären sie für sie gemacht. Wenn Cass im Tagebuch über sie schrieb, verwendete sie Worte wie Anmut und Stil. Sie hatte, was die Franzosen je ne sais quoi nannten. Sogar wenn sie sich die Fußnägel schnitt, sah sie aus wie aus dem Ei gepellt.

Wenn Cass bei Elaine war, saßen sie in ihrem Zimmer und schauten sich im Schein der Karusselllampe die Irland-Website von Miss Universum an. Elaine dachte ernsthaft über eine Teilnahme nach, weniger wegen des Titels als wegen der Möglichkeiten, die er eröffnete. Die Gewinnerin im letzten Jahr war jetzt Markenbotschafterin einer Saftfirma.

Cass fand Elaine hübscher als alle Bewerberinnen auf den Fotos. Aber es war verzwickt. Jedes der Mädchen, das sich um den Titel Miss Universum (Irland) und danach um den Titel der Miss Universum (das ganze Universum) bewarb, hatte ein Missgeschick überwunden. Eine war aus einem Kriegsgebiet in Afrika geflohen. Eine andere hatte sich als kleines Kind einer Operation unterziehen müssen. Eine sehr dünne Kandidatin war einmal sehr dick gewesen. Das Missgeschick musste etwas Schlimmes sein, etwa eine Lernschwäche, aber nichts wirklich Schlimmes wie zehn Jahre Gefangenschaft im Keller eines Pädophilen. Cass’ Hautausschlag wäre ein perfektes Missgeschick. Sie fragten sich, ob er sich auf Elaine übertragen würde, wenn sie ihre Haut nur lange genug aneinander rieben. Aber das schien nicht zu funktionieren. Elaine sagte, die Bedingung eines Missgeschicks sei ungerecht. Eigentlich, sagte sie, sei das fast eine Art Diskriminierung.

Das Hausmädchen klopfte an die Tür und erinnerte Elaine an ihre Schwimmstunde. Elaine verdrehte die Augen. Das Becken war immer mit alten Leuten und Heftpflastern voll. Allein aus diesem Kaff zu kommen, wenn das kein Missgeschick ist, sagte sie, dann weiß ich nicht, was eins ist.

Elaine hasste ihre Stadt. Jeder kannte jeden, jeder kannte von jedem den Beruf. Auf der Straße bremsten die Leute, um zu sehen, wer du warst, damit sie dir zuwinken konnten. Es gab keine richtigen Geschäfte. Statt McDonald’s und Starbucks hatten sie Binchy Burgers und Mangan’s Café, wo die Besitzer hinter der Theke standen und sich nach deinen Eltern erkundigten. Man konnte sich nicht mal ein Sandwich kaufen, jammerte sie, ohne jemandem seine Lebensgeschichte erzählen zu müssen.

Die Enge wäre nicht so schlimm gewesen, wenn die Menschen nur ein bisschen kultivierter gewesen wären. Aber das Einzige, was sie außer Landwirtschaft und dem Wohl der Mikrochipfirma interessierte, waren die gälischen Sportarten. Gälischer Fußball, Hurling, Camogie, die County-Spiele, der Cup, die U-19-Meisterschaft – sie redeten über nichts anderes. Elaine hasste die gälischen Sportarten. Sie war schlecht in Sport, trotz ihrer Anmut. Im Sportunterricht war sie immer die Letzte, die oben am Kletterseil ankam. Bei Mannschaftsspielen blieb sie am Rand, machte ein mürrisches Gesicht, zupfte an ihren Haaren herum und ließ sich widerwillig mit der allgemeinen Bewegung des Spiels hin und her treiben – wie ein anmutiger Farnwedel auf dem Grund eines unruhig grummelnden Ozeans.

Das Komitee zur Dorfverschönerung, dem Cass’ Mutter angehörte, verbreitete ständig irgendeinen Scheiß über die natürliche Schönheit der Gegend, aber da war Elaine ganz anderer Meinung. In ihren Augen war Natur fast so schlimm wie Sport. Wie sie sich entwickelte. Wie die Sachen, Feldfrüchte oder was auch immer, eingingen und dann im nächsten Jahr wiederkamen. Merkte denn sonst niemand, wie gruselig das war?

Ich bin nicht negativ, sagte sie. Ich will nur irgendwo leben, wo ich guten Kaffee kriege und keine Natur sehen muss und nicht alle wie zerstampfte Kartoffeln aussehen.

Auch Cass interessierte sich nicht für die gälischen Sportarten und beklagte den allgemeinen Mangel an je ne sais quois. Allerdings genügte ihr Elaines Anwesenheit, um die Mängel der Stadt wettzumachen.

Noch nie hatte sie sich jemandem so verbunden gefühlt. Wenn sie sich abends SMS schickten, manchmal bis zwei Uhr morgens, waren sie so auf einer Wellenlänge, als wären sie ein und dieselbe Person. Wenn Elaine simste, WTF das heute für ein Pulli war, dann wusste sie sofort, wessen Pulli sie meinte. Ein einziges Wort, ohne weitere Erklärung, wie Lappalie oder ausschlecken, und sie musste so laut lachen, dass ihr Vater sie von der anderen Seite des Flurs hörte, in ihr Zimmer kam und sagte, sie solle jetzt schlafen. In mancher Hinsicht war das die beste Zeit überhaupt – noch besser, als wenn sie zusammen waren. Wenn sie im Bett lag und die SMS hin- und herflogen, hatte Cass das Gefühl, auch sie fliege, weit über der Stadt, in einem klaren Raum, der ganz und gar ihr und ihrer besten Freundin gehörte.

Meistens gingen sie nach der Schule zu Elaine, aber manchmal wollte Elaine zur Abwechslung auch zu Cass. Sie saß gern in der Küche und unterhielt sich mit Imelda – so nannte sie Cass’ Mutter, »Imelda«, so zwanglos und natürlich, dass auch Cass mit der Zeit anfing, sie so zu nennen. Ihre Jeggings, Imelda, sehen so klasse aus, Imelda, sagte sie. Ehrlich, meinst du? sagte dann Cass’ Ma, und sie beugte sich mit der unfassbaren Grazie einer Weide nach hinten und begutachtete die Rückseite ihrer Oberschenkel. Ich war mir nicht sicher wegen der Streifen. Die Streifen, sagte Elaine abschließend, die sind der Kick, und Imelda strahlte.

Cass’ Mutter war eine berühmte Schönheit. Sie hatte ebenfalls blondes Haar und grüne Augen. Dass sie deine Mutter ist, sagte Elaine, das ist echt schräg. Würde doch viel besser passen, wenn ich ihre Tochter wäre, oder?

Dann wären wir Schwestern!, sagte Cass.

Nein, ich meine, statt dir, sagte Elaine.

Nun ja: Cass wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Das änderte allerdings nichts daran, dass Elaine besser mit ihrer Mutter auskam als sie. Imelda gab Elaine gerne Gesichtscremes zum Ausprobieren mit. Sie tauschten Schönheitsgeheimnisse aus und Produktempfehlungen. Bei diesen Unterhaltungen war Cass nur Zuschauerin. Bei Cass’ Haut, sagte Imelda, da hilft nichts. Wegen des Ausschlags. Das ist wirklich ein Missgeschick, sagte Elaine.

Einmal hatte Imelda die Mädchen nach Dublin zu den Pre-Sales mitgenommen. Die Preisnachlässe waren noch nicht ausgezeichnet, nur die Platin-Kunden wussten davon. Die heimliche Bevorzugung vor den anderen Kunden hatte Elaine sichtlich euphorisiert. Sie beobachtete, wie die von einer Aura, einem Platinglanz umwehte Imelda an den Kleiderstangen entlangstolzierte und erbarmungslos wie eine Königin auf dem Sklavenmarkt die Kleidungsstücke taxierte, als könnte sie die Unterschiede erkennen.

Diesen Imelda-Kult konnte Cass nicht ganz verstehen. In ihren Augen war Elaine viel hübscher als ihre Mutter. Ja, sagte Elaine, aber sie ist doch mindestens vierunddreißig. Ich meine, sie hat sich wirklich gut gehalten.

Ihre Mutter habe sich nicht so gut gehalten, fand Elaine. Einmal hatte sie Cass gestanden, dass ihre »größte Angst« sei, dass ihr eigenes Aussehen vorübergehend sei und sie den Rest ihres Lebens wie eine von diesen plumpen Frauen mit Kartoffelgesicht zubringen müsste, die ihre Einkaufswagen über den Lidl-Parkplatz schoben.

Es stimmte: Sogar jetzt noch, als zweifache Mutter, hatte Imelda eine elektrisierende Wirkung auf Menschen. Auf der Straße schauten sich Frauen nach ihr um, als bewunderten sie das Abbild eines umwerfenden Athletenkörpers. Männer blieben mit aufgerissenen Augen und offenem Mund stehen und stammelten nur Oooh, Oooh, Oooh, weil ihnen die Worte fehlten.

Auf Cass hatte sie keine elektrisierende Wirkung, und wenn sie Leuten erzählte, dass Imelda ihre Mutter sei, schauten sie sie einen Augenblick lang an, als versuchten sie ein Rätsel zu lösen, tätschelten ihr dann mitfühlend die Hand und sagten, Du kommst wohl mehr nach deinem Vater.

Elaine sagte, es ginge nicht nur ums Aussehen. Imelda hätte auch eine mystische Anziehungskraft.

Ich kann nicht glauben, dass sie deinen Vater geheiratet hat, sagte sie geradeheraus.

Auch Cass konnte das manchmal kaum glauben – dass ihr Vater, der so nachdenklich und einfühlsam war, wie jeder zweite Trottel auf Imeldas zu einhundert Prozent oberflächliche Reize hereingefallen war. Sie wollte Elaines Bild von ihrer Mutter nicht abwerten. Gleichzeitig verstand sie nicht, wie Elaine darauf kommen konnte, Imelda habe etwas Mystisches. In Gegenwart ihrer Mutter bekam man einen fortlaufenden Bericht darüber, was in ihrem Kopf vorging, ein unablässiges Sperrfeuer an Gedanken, Untergedanken und wahllosen Betrachtungen, die für sich genommen unbedeutend, in ihrer Masse aber überwältigend waren. Ich muss einen Elektrolyse-Termin für den kleinen Oberlippenbart, den du hast, ausmachen, sagte sie. Und dann, während man sich noch von dem Schock zu erholen versuchte, Sind das da Tulpen oder Begonien? Da ist Marie Devlin, ist dir schon mal aufgefallen, dass sie absolut kein Stilgefühl hat? Ist der Mann da drüben ein Araber? Man sieht jetzt immer mehr Araber. Wo war das noch mal, wo sie dieses herrliche Chutney hatten? Kay Connor hat mir erzählt, dass Anne Blunny ein paar Kilo abgenommen hat, aber ihr Arzt meinte, nicht an der richtigen Stelle. Sollte heute nicht die Sonne scheinen? Ich sehe nur Wolken. Wer hat eigentlich das Chutney erfunden? War das Gorbatschow? Und so weiter und so weiter … Ihr zuzuhören war, als wäre man in einen Blizzard geraten, in einen rasenden Sturm weißen Nichts, der einen schneeblind machte.

Ehrlich gesagt, wäre es ihr lieber gewesen, wenn Elaine sich von ihrem Zuhause ferngehalten hätte und sie nach der Schule immer zu Elaine gegangen wären, wo ihnen das Hausmädchen Augustina Eiskaffee machte und sie in Elaines Zimmer saßen, sich die Miss-Universum-Website (Irland) anschauten, Sextipps austauschten, von denen sie keine Ahnung hatten, und eine Liste der attraktivsten Jungs aus der Mittelschule weiter unten in der Straße aufstellten.

Gleichzeitig wusste sie, dass sie für den Glamour ihrer Mutter dankbar sein sollte – dankbar, dass es etwas in ihrem Leben gab, um das ihre Freundin sie beneidete, vor allem jetzt.

Tatsache war, dass ihrer beider Leben nicht so ähnlich war, wie Elaine glaubte. Ja, sie hatten die gleichen Tennisschläger und den gleichen Frotteehoodie in Pfirsichmelba. Aber auch wenn es Elaine noch nicht aufgefallen war, einige der anderen Dinge, die sie gemein hatten, waren tatsächlich Dinge, die sie früher gemein gehabt hatten. Beide Familien hatten brasilianische Hausmädchen. Aber Marianna war jetzt schon fast ein Jahr nicht mehr da, sie war »auf Familienbesuch«, und Cass wusste, dass sie nie zurückkommen würde. Cass wusste, wo die besten Geschäfte in New York und die besten Strände am Cap d’Antibes waren. Aber während sich auf Elaines Armen noch eine Restbräune von ihren letzten Ferien gehalten hatte, sahen ihre eigenen Arme – wenn sie sie anschaute, was sie zu vermeiden suchte – so klebrig weiß zwischen den Flecken ihres Ausschlags aus, dass sie vom Stoff der hässlichen Schulbluse kaum zu unterscheiden war.

Als klar wurde, dass die Geschäfte »abflauten«, wie ihr Vater das nannte, hielt sie das nicht für besonders schlimm. Elaine hatte ihr vor Kurzem gebeichtet, dass sie, bevor sie sich angefreundet hatten, Cass und ihre Familie für eingebildet gehalten hatte. Nicht nur sie, hatte sie schnell dazugesagt. Fast alle dachten das.

Cass war entsetzt gewesen. Sie wusste, dass ihre Familie wohlhabend war, aber sie hatte sich nie benommen, als sei sie deswegen was Besonderes. Vielleicht würde es nicht schaden, ein bisschen mehr auf den Boden zu kommen, dann würde Elaine erkennen, dass sie nicht versuchte, sich über sie zu erheben oder ihr das Rampenlicht streitig zu machen.

Aber aus der Flaute wurde schnell ein freier Fall. Im Showroom machte sich eine Aura des Grauens breit. Wie gern hatte sie sich früher dort aufgehalten! Sie stand am Rand der Bühne und betrachtete die glitzernden Karosserien, deren nagelneuer Glanz sie fast überwältigte. Dann setzte sie sich nacheinander in die Ausstellungsmodelle und stellte sich vor, wie sie mit jedem in ein anderes Leben fuhr: als Prinzessin, Entdeckerin, Wissenschaftlerin, Märchenfee. Jetzt war ihr das unerträglich. Die ungeliebten, unverkauften Autos, die immer noch verzweifelt glitzerten, erinnerten sie an Straßenhunde im Tierheim, die nur darauf warteten, eingeschläfert zu werden.

Dad tat sein Bestes, um sie zu trösten. Es wird wieder besser werden, sagte er. Alles nur eine konjunkturelle Flaute. Aber dann spürte sie den Knoten in ihrem Magen nur noch stärker.

Dickie Barnes war nicht der geborene Verkäufer. Wenn Cass im Showroom vorbeischaute, saß er oft in seinem Büro und las ein Buch. Wenn er zufällig im Verkaufsraum war, war das fast noch schlimmer. Wenn jemand hereinkam, um sich nach einem neuen Wagen umzuschauen, führte er sie zu den gebrauchten. Wenn sie einen gebrauchten wollten, drängte er sie zum Kauf eines kleineren, billigeren Modells. Nicht nur einmal hatte sie erlebt, dass er den Leuten ganz ausredete, sich einen Wagen zu kaufen.

Wenn man ihn darauf ansprach, zitierte Dickie gern seinen Vater, Cass’ Großvater, der gesagt hatte, der Schlüssel zum Geschäft sei nicht, Autos zu verkaufen, sondern Beziehungen aufzubauen. Wenn der Kunde dir erst mal vertraut, sagte er, bleibt er dir sein ganzes Leben. Und zum Beweis zeigte er hinaus auf die Straße, wo man im Rückfenster jedes dritten Wagens, der vorbeikam, den Aufkleber von Maurice Barnes Motors sehen konnte.

Aber jetzt kamen keine Kunden mehr.

Das war nicht Dads Fehler. Es hatte einen Crash gegeben. Das war das Wort, das sie in den Nachrichten benutzten. Es ließ Cass an etwas Plötzliches, Explosives denken, an ein Auto, das gegen eine Wand krachte. Aber dieser Crash war ein langsamer, einer, der schon seit Jahren andauerte, ohne jede Explosion. Es war rein gar nichts passiert, das man hätte sehen können. Aber irgendwie gab es wegen dieses Crashs kein Geld mehr. Sogar den Banken war es ausgegangen. Die Mikrochipfirma hatte letztes Jahr hundert Leute entlassen. In den Schaufenstern der Hälfte aller Geschäfte in der Hauptstraße hing ein DIN-A4-Blatt, auf dem den Kunden für die vielen Jahre der Treue gedankt wurde. Alle saßen im selben Boot.

Und doch saßen manche Leute in einem anderen Boot.

Elaines Vater war mit einem Bauträger »eingegangen«, der im Wald hinter dem Grundstück von Cass’ Familie eine kleine Wohnsiedlung gebaut hatte. Jetzt war der Bauträger pleite, und die unfertigen Häuser verrotteten. Elaine erzählte ihr, dass Big Mike jetzt jede Woche drei Tage in Dublin war und sich mit den Anwälten herumstritt. Aber irgendwie war er nicht nur im Sommer mit der Familie nach Frankreich gefahren, sondern in den Herbstferien auch in den Skiurlaub. Der Dauerauftrag für Hummer im Feinkostgeschäft lief weiter, und jeden Sonntag saßen sie in der Kirche in der ersten Reihe.

Der Mann ist ein ausgemachter Gauner, sagte ihre Mutter. Sie konnte Big Mike nicht ausstehen, sein Grinsen, seine Investitionen, seine Gucci-Cowboystiefel. Dieser Saukerl, der als Kind ohne die Almosen des Lions Club verhungert wäre!

Aber er wusste seinen Grips einzusetzen, und das war mehr, als sie über so manch anderen sagen konnte.

Cass’ Mutter tat sich schwer mit dem Niedergang. Sie war immer eine eifrige Shopperin gewesen. Sie kannte jeden Paketboten in der Stadt mit Namen. Ihr begehbarer Kleiderschrank war das geheime Paradies ungetragener Pullover und Halstücher, in den Schuhregalen drängelten sich die Stiefel wie aufgedrehte Tänzerinnen, die nur darauf warteten, auf die Bühne zu stürmen. So wie die Dinge jetzt lagen, reichte es nicht mal mehr für den Schlussverkauf. Für Imelda war das wie ein Todesurteil. Außer zu den Treffen des Komitees zur Dorfverschönerung, das in einem Hinterzimmer der Olivia Smythe Boutique auf der Hauptstraße tagte, ging sie kaum noch aus.

Zu Hause, wo sie von niemandem angeschaut werden konnte, verfiel sie in dunkle, hässliche Stimmungen. Sie lag auf dem Sofa mit einer Zeitschrift auf den gekreuzten Beinen und blätterte die Seiten so laut um, dass Cass es oben hören konnte. Dann warf sie das Heft mit einem unzufriedenen Schnauben zur Seite und stolzierte mit schnippenden Fingern von Zimmer zu Zimmer – »aktiv«, aber ohne etwas zu tun zu haben, wie ein Teenager im Hausarrest oder ein aufgekratzter Rentner im Altenheim. Bis sie schließlich etwas machte, das sie garantiert in Rage bringen würde, etwa ein Soufflé zu backen oder Socken zu stricken.

Imelda hörte keine Nachrichten. Sie wollte von diesem ganzen Geschwafel, von diesem globalen und wirtschaftlichen Gedöns nichts wissen. Wenn es um das marode Geschäft ging, wusste sie, wer die Schuld daran trug.

Imelda war schon lange der Meinung, dass Cass und Dickie unter einer Decke steckten. Sie mochten Bücher und redeten gern schlau daher. Sie verband etwas, das sie ausschloss, das spürte sie. Jetzt glaubte sie, dass Cass ihren Vater gegen das Autogeschäft »aufgehetzt« hatte. Letztes Jahr hatte Cass in Geografie eine Projektarbeit über den Klimawandel gemacht. Mithilfe der Eltern sollte man berechnen, welchen Anteil an der Erderwärmung deren Beruf ausmachte. Dickie hatte sich begeistert auf die Aufgabe gestürzt, er liebte Hausaufgaben. Sie saßen in der Küche und machten eine Liste aller in ihrem Geschäft verkauften Wagen, schätzten die CO2-Menge, die die Produktion und der Transport verbraucht hatten, und ermittelten grob die ungefähre Menge Treibhausgas, die sie durchschnittlich im Lauf ihrer Lebenszeit ausstoßen würden. Zum Schluss zählten sie alles zusammen.

An diesen Moment konnte Cass sich sehr deutlich erinnern. Bis dahin hatte es richtig Spaß gemacht. Verdammt, sagte ihr Vater. Er schaute von dem Foto, das Cass von Maurice Barnes Motors gemacht hatte, zu den Bildern mit den durchnässten Flüchtlingen und ihrem untergegangenen Dorf in Bangladesch. Das kann nicht richtig sein, sagte er, und schaute wieder auf die Zahlen.

Laut Imelda war er danach nie mehr der Gleiche. Er hatte angefangen, vegetarisch zu kochen und mit dem Rad ins Geschäft zu fahren. Wahnsinn!, sagte Imelda. Wie sieht denn das aus, ein Autohändler, der mit dem Rad zur Arbeit fährt?

Maurice, Cass’ Großvater, hatte persönlich aus Portugal einfliegen müssen, um ihm den Plan auszureden, die Wagenflotte zu erweitern und mehr Elektroautos anzubieten. Dickie, unsere Käufer sind nicht diese schwedischen Architekten, diese Björns und Agnetas!, sagte er. Die Leute hier wollen Diesel! 100% Diesel!, das steht hier auf den Autoaufklebern, nicht 100% Scheißsojabohnen.

Aber der Schaden war angerichtet, sagte Imelda. Er hat sich nie wieder so ins Geschäft gekniet. Und das alles, weil sein Goldkind so ein Riesentrara veranstaltet hat, sagte sie. Na, bist du zufrieden, kleines Fräulein?

Cass konnte es nicht leugnen: Auch sie hatte das Projekt verstört. Nicht nur das Autogeschäft, sie steckte selbst bis zum Hals in der Klimaveränderung. Wenn sie Instagram schaute, ein Eis schleckte oder das Licht einschaltete: alles und sei es nur die bleiläufigste Handlung, hinterließ eine giftige Spur – als hätte sie ein marodierendes Schatten-Ich, das der ganzen Welt, in der sie lebte, die Luft abschnürte. Wochenlang lief sie wie paralysiert von der Unentrinnbarkeit ihres eigenen Übels herum. Sie stand im Garten hinter dem Haus, betrachtete die Blumen und das Gras und in der Ferne die Bäume und stellte sich vor, wie all das schwarz wurde und die Vögel und Insekten vom Himmel fielen. Sogar an guten Tagen, wie an dem, als Elaine ihr ein Armband schenkte, von denen sie zwei hatte, musste sie plötzlich an die Tiere denken, die aussterben würden, und an die Erde, die überschwemmt werden würde, und dass alles dem Tod geweiht sei – alles wegen der Familie Barnes.

Und doch war sie inzwischen alt genug, um zu erkennen, dass ihr Geografieprojekt den internationalen Automobilhandel nicht zum Erliegen gebracht hatte. Das passiert überall auf der Welt, sagte sie zu ihrer Mutter. Es ist nicht Dads Fehler. Es ist ein weltweites Phänomen.

Ein weltweites Phänomen und eine arbeitsscheue Einstellung, sagte Imelda.

Deshalb war sie so nervös, als Elaine vorbeischaute. Die Stimmung ihrer Mutter schwankte wie die Schiffslaterne in einem Sturm. Wer wusste, was sie sagen würde? Es war durchaus möglich, dass sie sich vor Elaine über Dickie beklagen und alles ausplaudern würde. Was dann? Was würde Elaine tun? Würde sie Cass weniger mögen? Würde sie ihre Freundin bleiben, jetzt, da ihre Leben nicht mehr die gleichen waren?

Sie versuchte Elaine auszureden, vorbeizukommen. Geschickt fiel sie ihrer Mutter, wann immer möglich, ins Wort. Obwohl ihr erst kürzlich das Gesichtswasser ausgegangen war und sie jammerte, dass sich ihr Gesicht anfühle wie asphaltiert, war Imelda so wunderschön wie immer, und Elaines Besessenheit hielt an.

Es war Elaine, der die Hochzeitsfotos auffielen.

Sie waren im guten Zimmer, wo sie streng genommen nicht sein durften. Nur wenn Besuch da war, war es Cass und PJ erlaubt, sich dort aufzuhalten. Das war die Regel. Aber Elaine wollte einen Blick auf Onkel Frank werfen, den sie heiß fand, obwohl er schon tot war. Eigentlich, sagte sie, bin ich ja Besuch.

Im guten Zimmer herrschte die künstliche Atmosphäre einer verbotenen Zone auf einer Besichtigungstour. Eine gewaltige Couch mit türkisfarbenen Samtpolstern, ein Kristallleuchter, jede Menge kleiner Tische mit Porzellanfiguren. Auf dem Kaminsims die Familiengeschichte in Fotografien. Maurice und Peggy mit Sonnenbrillen auf dem Deck einer Jacht. Dickie und Frank als Knirpse in Latzhosen. Frank im Trikot seiner U-19-Mannschaft (Da siehst du, wie heiß er ist, sagte Elaine, er sieht sogar im Fußballtrikot gut aus). Cass bei der heiligen Erstkommunion, PJ bei der heiligen Erstkommunion. Dickie, Imelda und die Kinder in den Ferien in Málaga, in Chamonix, in Disneyland, in Marrakesch, beim Skifahren, beim Schnorcheln, beim Sonnenbaden, beim Eselreiten.

Aber keine Hochzeitsfotos, sagte Elaine.

Cass sagte, das könne nicht sein. Die stecken sicher irgendwo. Aber sie fand keine.

Mysteriös, sagte Elaine.

Sich fotografieren zu lassen war für Cass’ Mutter das buchstäblich Allerliebste auf der Welt. Überall im Haus lagen Gratiszeitungen und Hochglanzmagazine herum, auf deren hinteren Seiten eine strahlende Imelda zu sehen war, ob bei der städtischen Talentshow, beim Weihnachtsessen des Lions Club, im neuen Hermès Shop im Kaufhaus Brown Thomas, bei der Wiedereröffnung von Coady’s Pub, mit dem Bürgermeister, dem PR-Menschen oder ihren Freundinnen aus dem Komitee zur Dorfverschönerung, die neben ihr farblos oder orange oder cellulitisch aussahen. Dass ihre Mutter eine Fotogelegenheit wie ihre eigene Hochzeit verpasst haben sollte, war nicht nur rätselhaft, es war zutiefst schockierend.

Sie verbrachten den Nachmittag in Cass’ Zimmer und wendeten alle möglichen Verschwörungstheorien hin und her, die aber nichts erklärten. An diesem Abend setzte sich Cass neben ihren Vater vor den Fernseher auf die Couch. Hey, Dad, habt ihr eigentlich Fotos von eurer Hochzeit?

Damit die Frage maximal beiläufig klang, hatte sie sie vor dem Spiegel geübt.

Zunächst sagte ihr Vater nichts. Stattdessen rieb er sich das Kinn und starrte weiter auf den Bildschirm, sodass sie nicht recht wusste, ob er sie überhaupt gehört hatte. Und dann, als sie gerade ihre Frage wiederholen wollte, sagte er, Die müssen irgendwo sein, muss mal sehen, ob ich sie noch finde. Und er drehte sich um und schaute sie mit dem gleichen Lächeln an wie neulich, als er ihr das mit der konjunkturellen Flaute erzählt hatte.

So ein Scheiß, sagte Elaine, als Cass ihr Bericht erstattete.

Ich weiß, sagte Cass.

Bis dahin hatte Cass tief in ihrem Herzen angenommen, dass des Rätsels Lösung banal sei – dass die Bilder bei ihrem Umzug verloren gegangen waren oder PJ Kleister darauf geschüttet hatte oder irgendein Missgeschick mit den Negativen oder so passiert war, wie es früher mal vorkommen konnte. Jetzt fragte sie sich, ob es sich nicht wirklich um eine geheime Verschwörung handelte.

Du musst deine Mam fragen, sagte Elaine.

Ja, sagte Cass.

Wenn du nicht willst, kann ich sie fragen, sagte Elaine.

Ich frage sie, sagte Cass.

Das war die Lösung. Imelda war eine schlechte Lügnerin. Wenn Cass den richtigen Zeitpunkt erwischte, würde die Wahrheit nur so aus ihr heraussprudeln.

Im Augenblick jedoch versuchte Cass, ihrer Mutter, die ausgesprochen schlechte Laune hatte, aus dem Weg zu gehen. Letzte Woche hatte Dickie ihren Wagen verkauft. Sie hatte ihn wie üblich auf dem Firmengelände abgestellt und dann zu Fuß ein paar Besorgungen gemacht. Währenddessen war Big Mike gekommen, um sich nach einem Wagen für Augustina, ihr Hausmädchen, umzusehen. Irgendeine alte Kiste, sagte er zu Dickie. Und dann war sein Blick auf den Touareg gefallen.

Eigentlich war es gar nicht ihr Auto – darauf hatte Cass’ Vater wiederholt und vergeblich hingewiesen. Seit fast einem Jahr hatte er versucht, den Wagen loszuwerden. Wenn er ihn an jemand anderen verkauft hätte, wäre sie vielleicht nicht ganz so wütend gewesen. Aber sie war davon überzeugt, dass Big Mike das Auto aus Bosheit gekauft hatte. Der reibt uns das direkt unter die Nase – schrie sie Dickie immer wieder an. Cass hielt es für das Beste, jede Art von provokativer Frage zu vermeiden, bis sie sich beruhigt hatte, und so lange einen großen Bogen um sie zu machen.

Elaine dagegen wollte nicht warten. Am nächsten Sonntag stürmte sie nach der Kirche auf Cass zu und erzählte aufgeregt, dass ihr Vater vor siebzehn Jahren auf Dickies und Imeldas Hochzeit gewesen war und ihr erzählt hatte, was passiert war.

Es ist was passiert?, sagte Cass.

Elaine konnte es ihr nicht gleich erzählen, da sie zur Ballettstunde musste. Ich komme später bei dir vorbei, sagte sie.

Ist es schlimm?, fragte Cass.

Aber da stieg Elaine schon zu ihrem Vater ins Auto.

Als es an der Haustür klingelte, sorgte Cass dafür, dass sie es war, die Elaine aufmachte. Sie drängte Elaine nach oben, bevor Imelda sie sehen konnte. Sie war direkt vom Ballett gekommen und trug nur einen Hoodie über ihrem Trikot. Sie setzte sich im Schneidersitz auf die Bettdecke und sagte einen Augenblick lang nichts.

Cass war ein bisschen beleidigt gewesen, dass Elaine vorgeprescht war und ein Geheimnis enthüllt hatte, das gerechterweise ihr gehörte. Sie spürte plötzlich Angst hochkommen. Vielleicht waren ihre Eltern überhaupt nicht verheiratet. Vielleicht waren sie nicht mal ihre richtigen Eltern. Und?, sagte sie.

Elaine starrte sie mit glasigen Augen an. Dann sagte sie, Da war eine Biene.

Was?

Da war eine Biene, wiederholte Elaine.

Ich verstehe nicht, sagte Cass.

Elaine erklärte ihr mit unverändert ausdrucksloser Miene, dass auf der Fahrt zur Kirche – Imeldas Vater fuhr seine Tochter – eine Biene durchs Fenster ins Wageninnere gelangt war und sich in ihrem Schleier verfangen hatte. Sie rastete aus, sagte Elaine. Aber ihr Vater glaubte, dass sie Dickie einfach nicht heiraten wollte.

Als er schließlich erkannte, was vorging, hielt er an und versuchte ihr den Schleier vom Kopf zu ziehen. Aber der hatte sich im Sicherheitsgurt verheddert, und er konnte ihn nicht losmachen. Er springt also aus dem Wagen, sagte Elaine, und läuft zur Beifahrerseite. Aber gerade als er das Kuddelmuddel entwirren kann, hört er einen Schrei.

Die Biene hat sie gestochen?, sagte Cass.

Genau aufs Auge, sagte Elaine mit einem gewissen genüsslichen Zungenschlag.

Auf dem Weg zur Kirche hatte Imeldas Vater nach einer Apotheke gesucht, aber sie kamen nur an einem kleinen Pub vorbei. Er kaufte ihr ein Twister-Wassereis, das sie sich auf die Schwellung drückte, bis sie schließlich ihr Ziel erreichten. Es nutzte nichts. Imelda verhüllte ihr Gesicht mit dem Schleier, als sie durch das Kirchenschiff ging, als sie vor den Altar trat und ihr Ehegelübde sprach, und sogar als Dickie ihr den Brautkuss gab. Während der gesamten Hochzeitsfeier, sagte Elaine, nahm sie den Schleier nicht ab. Und sie wollte auch niemandem sagen, was los war. Alle dachten, sie wäre einfach durchgeknallt.

Jesus, sagte Cass.

Ja, sagte Elaine.

Deshalb gab es also keine Fotos?, sagte Cass. Der Stich war so schlimm?

Mein Dad sagt, dass sie ausgesehen hätte, als klebte ihr eine Schweinsblase im Gesicht, sagte Elaine genüsslich.

Mein Gott, sagte Cass nachdenklich.

Ein paar Sekunden verstrichen ohne ein Wort. Dann trafen sich genau im gleichen Moment ihre Blicke. Als sie erst mal angefangen hatten zu lachen, gab es kein Halten mehr. Es dauerte nicht lange, da kugelten sie sich auf dem Boden. Cass lachte so laut, dass sie glaubte, sich übergeben zu müssen.

Eine Biene hatte sich im Schleier ihrer Mutter verfangen. Biene unterm Beanie! Das war einfach zu köstlich, zu perfekt. Und dass sie nie ihren Kindern davon erzählt hatte, obwohl es die ganze Stadt wusste – das war das Sahnehäubchen. Imelda war so eitel, sie konnte es nicht ertragen, die Pointe eines Witzes zu sein.

Nachdem Elaine an diesem Abend nach Hause gegangen war, schickte sie ihr die Großaufnahme einer Biene mit der Botschaft Willst du meine Biene sein Cass? In Cass’ Antwortfoto saß eine Biene auf einem Hochzeitskleid, und darunter hatte sie geschrieben Bis der Stich uns scheidet. Sie blieben die halbe Nacht auf und schickten sich wahllos Fotos von Bienen. Eins war lustiger als das andere. Als sie schließlich das Smartphone weglegte, fühlte sie sich angenehm erschöpft, als hätte sie einen Berg bestiegen.

Als sie jedoch das Licht ausmachte, tauchte die Szene wieder auf. Diesmal fühlte es sich an, als sähe sie alles mit ihren eigenen Augen, als säße sie in einer der hinteren Kirchenbänke. Sie sah, wie ihre Mutter die Tür aufmachte und durch das Kirchenschiff nach vorn ging. Und obwohl ihr Gesicht verhüllt war, sah Cass die Demütigung und die Verwirrung unter dem Schleier und ebenso die Verwirrung ihres Vaters, der die geheimnisvolle Gestalt an seiner Seite, die er gleich heiraten würde, anstarrte. Wer war das da drunter? Sie waren nicht viel älter als sie jetzt. Sie taten ihr leid, so hilflos vor dem Altar in der Kirche, die sie so gut kannte, während alle sie anstarrten und ihr Urteil fällten.

Auch die Biene tat ihr leid. Überall starben die Bienen, überall auf der Welt: PJ redete ständig darüber. Niemand kannte den Grund, aber es war schlimm, weil die Bienen die Pollen von Pflanze zu Pflanze trugen und ohne sie die Natur insgesamt sterben würde.

Diese spezielle Biene war einfach in der Gegend herumgebrummt, hatte sich um ihren eigenen Kram gekümmert und war ohne Vorwarnung durch das Autofenster in die Welt ihrer Mutter geweht worden. Gefangen unter dem Schleier der kreischenden Imelda, muss sie gedacht haben, sich in irgendeine gewaltige labyrinthische Blume verirrt zu haben. Aller Orientierungspunkte beraubt, sah sie nur den Schleier und das riesige wunderschöne Gesicht ihrer Mutter. Cass glaubte, die Panik und Verzweiflung der Fluchtversuche der Biene mitfühlen zu können. Sie sah die um sich schlagenden Hände ihrer Mutter und dann eine letzte Anstrengung der Biene, sich zu verteidigen: den selbstmörderischen Stich der Kreatur, die das nutzlose Gift unter die pulsierende Haut pumpte. Sie fühlte, wie das Leben der Biene dahinschwand. Die Natur starb, die Welt endete. Als sie schließlich einschlief, war es ihr eigener Körper auf dem Boden neben Imeldas seidenen Hochzeitsschuhen, der sich in Staub verwandelte.

Danach schien Elaines Interesse für Imelda nachzulassen. Cass vermutete, die Bienengeschichte habe ihre mystische Aura beeinträchtigt. Sie machte sich Sorgen, dass Elaine ohne Imeldas Glamour auch das Interesse an ihr verlieren könnte. Aber das war nicht der Fall, und es dauerte nicht lange, dann frönten die beiden Mädchen einer neuen Obsession.

Es gab vieles, was man an ihrer Schule hassen konnte – die knöchellangen Röcke, den Krankenhausgeruch, die vertrocknete Rektorin, das Beten, den Sport, die Langeweile. Ihre Englischlehrerin, Ms Ogle, war jedoch mehr zu bemitleiden als zu verachten. Die auch als »Die Letzte Nonne« bekannte alte Jungfer lebte noch in ihrem Elternhaus, weil sie sich um ihre Mutter kümmerte. Die lag seit dreißig Jahren auf dem Totenbett, starb aber nicht. Die beiden wohnten etwas abseits der Hauptstraße in einem tristen kleinen Häuschen. In Ms Ogles Schultasche waren lauter Tapeten- und Farbmuster, die sie nie brauchen würde.

Sie war eine tragische Gestalt, aber sie selbst schien das nicht zu bemerken. Sie hatte eine pompöse Art und liebte lange exotische Wörter wie Lappalie, euphonisch oder distinktiv, die sonderbaren, weich fließenden Seidengewändern ähnelten, wie man sie vielleicht auf dem Dachboden in Großmutters Truhe finden würde. Ihre eigene Kleidung war nicht weich fließend. Sie bestand aus einer Kombination aus Latzhosen und Rüschenblusen, die Elaine den »Viktorianischen Tankstellenlook« nannte.

Die Mädchen machten sich unablässig über sie lustig. Manchmal schien der Tag für all den Spott nicht genügend Stunden zu haben. Alles an ihr war komisch – sogar ihr Name, denn wer würde sie je bezirzen wollen? Aber als abschreckendes Beispiel war sie auch Gegenstand ernster Gespräche – als Gefahr, in der Stadt hängen zu bleiben und »festzusitzen«, weil man sich um einen Angehörigen kümmerte.

Auch dessen war sich Ms Ogle nicht bewusst. Sie bewunderte Cass und Elaine, ihre beiden besten Schülerinnen. Sie nannte sie »Meine Mädchen«.

Eines Tages erschien Ms Ogle nicht zum Unterricht. Sie sei sehr krank, hieß es. So krank, dass ihre im Sterben liegende Mutter sich zum ersten Mal seit zehn Jahren von ihrem Bett erhoben hatte, um sich um sie zu kümmern.

War das Ironie? War das komisch? Sonntags sahen sie Ms Ogle in der Messe – wachsbleich, die Augen so aus dem Kopf hervorquellend, als sei dieser geschrumpft. »Meine Mädchen«, sagte sie gerührt und streckte ihnen aus dem Rollstuhl die Arme entgegen, um sie zu umarmen. Es war so tragisch, dass Cass und Elaine sich auf die Lippen beißen mussten, um nicht loszuprusten. Und doch spürten sie verschwommen, dass es ihre Schuld war, dass der Spott, den sie ständig über sie ausgegossen hatten, für den Zusammenbruch verantwortlich war.

Das vergaßen sie sofort, als Miss Grehan auftauchte. Sie vergaßen, dass Ms Ogle existierte. Miss Grehan trug einen weißen Hosenanzug, der ihre langen, herrlich roten Haare hervorhob, und ging von der Tür schnurstracks zur Tafel und schrieb in Großbuchstaben darauf: DICHTERINNEN.

Allein ihr Anblick stellte klar, Miss Grehan war weder eine alte Jungfer noch tragisch. Als sie sie an jenem Abend in den sozialen Medien ausfindig gemacht hatten, wurde ihre Einschätzung bestätigt. Unter Beziehungsstatus stand, »Es ist kompliziert …« Auf den Fotos sah ihr Leben wie eine ununterbrochene Party aus, von einer Stadt in die nächste, wie ein James-Bond-Film. Hier war sie in einem Club in Barcelona. Dort posierte sie auf den Zinnen einer Burg in Prag. Am Strand in Kalifornien wurde sie von einem Sonnenuntergang umspielt wie vom Rot ihrer prachtvollen Haare. In Dublin saß sie barfuß vor einem Kaminfeuer. Alle ihre Bekannten waren gut aussehend. Sogar die alten Leute, sagte Elaine.

Was um alles in der Welt machte sie hier? Grehan, Grehan … Als Cass sie beim Abendessen erwähnte, geriet ihr Vater ins Grübeln. Ich hab vor ein paar Jahren einen Passat an einen Grehan verkauft. Moment, könnte auch ein Fabia gewesen sein. Lass mich nachdenken.

Ist schon so lange her, dass er einen Wagen verkauft hat, er kann sich nicht mehr dran erinnern, bemerkte Imelda spitz.

Herrgott, fang nicht schon wieder an, sagte Dickie.

Vielleicht hatte Miss Grehan etwas mit dem Passat- oder dem Fabiamann zu tun gehabt, sie fanden es jedenfalls nie heraus. In der Klasse sprach sie nicht über ihre Vergangenheit, allerdings auch nicht über ihre Gegenwart mit den Burgen und den Sonnenuntergängen. Worüber sie sprach, das waren Dichterinnen.

Die Dichterinnen hatten glamouröse, leidenschaftliche oder qualvolle, erbärmliche Leben. Manchmal beides. Sie erzählte ihnen von Anna Achmatowa, einer Russin, die als junge Frau wie ein Filmstar aussah und über ihre Liebesaffären schrieb, aber im Alter von der Regierung geächtet wurde, die ihren Mann erschießen und ihren Sohn einsperren ließ und sie selbst mit Schreibverbot belegte. Sie erzählte ihnen von Anne Sexton und Elizabeth Bishop, zwei begabten, verkannten Frauen, die Selbstmord begingen und deren herrlich furchtbare Leben selbst irgendwie Gedichte waren, Vorwürfe an eine Welt, die ihrer unwürdig war. Sie erzählte ihnen von Sappho, einer Dichterin aus alten Zeiten, die auf der Insel Lesbos lebte. Als einige von ihnen kicherten, rezitierte sie ein Gedicht, in dem Sappho von ihrer Eifersucht schreibt, als sie die von ihr geliebte Frau mit einem Mann lachen sieht und nicht mehr sprechen kann und ihre Haut wie Feuer brennt und es in ihren Ohren nur noch dröhnt.

Die Menschen stellten sich Gedichte als zartgliedrige, aufgehübschte Dinge vor, wie Spitzendeckchen. Aber in Wahrheit waren sie wie Krallen, wie die Eishaken, an denen Bergsteiger an der steilen Gletscherwand Halt finden. Mit einem Gedicht konnten die Dichterinnen die schlüpfrige, nichtige Oberfläche des Lebens, in das sie eingeschlossen waren, durchbrechen und in eine darunter pulsierende, leidenschaftliche Realität eintauchen. Anstatt an der Steilwand abzustürzen, konnten sie sich nach oben ziehen, Zeile um Zeile, bis sie schließlich oben auf dem Berg standen. Und konnten vielleicht, nur vielleicht, für einen Augenblick die Welt so sehen, wie sie wirklich war.

Sie ist unglaublich, sagte Elaine, als es zur Pause klingelte.

Sie war wirklich unglaublich. Es war kaum vorstellbar, dass jemand so Glamouröses und Kultiviertes auch nur aus dem Umkreis ihrer Schule kommen konnte. Zum einen gab sie ihnen Hoffnung, dass auch sie würden fliehen und ein neues Leben beginnen können. Zum anderen erschien ihnen die Flucht nun noch dringlicher, da sie ihre Stadt nun so sahen, wie Miss Grehan sie sehen musste, beschränkt und ohne Poesie. Zu Hause sah Cass ihre Eltern mit neuen Augen: Dickie, dem die Haare ausfielen, um den Mund herum schwammig, gebückt unter der Last der schlechten Geschäfte; Imelda unter einem Make-up-Panzer, einer Maske, die sie vor sich hertrug, obwohl sie den ganzen Tag nicht aus dem Haus gegangen war. Ja, man konnte sich leicht vorstellen, dass sie fielen, an der Gletscherwand abstürzten und in den Abgrund fielen.

An diesem Abend beim Essen hatten sie sich über Mutters Extravaganzen gestritten. Dad wollte, dass Mam sich nach einem billigeren Handyvertrag umschauen solle, worauf Mam sagte, woher Dad die Frechheit nehme, anderen etwas vorzuschreiben. Jetzt saß jeder in einem anderen Zimmer – Dad mit einem Bier vor dem Fernseher und Mam mit ihren langen, gebogenen Nägeln auf dem Glasdisplay ihres Smartphones herumklickend. Als es an der Tür klingelte, schien das keiner von beiden wahrzunehmen, glücklicherweise, denn es war Elaine.

Ihr Gesicht war gerötet. Ich habe etwas entdeckt, sagte sie.

Cass wusste nicht recht, ob sie sie hereinlassen sollte, immerhin konnte jederzeit ein neuer Streit ausbrechen, aber Elaine war schon an ihr vorbei ins Haus gegangen. Das musst du mit eigenen Augen sehen, sagte sie. Cass ging hinter ihr nach oben in ihr Zimmer, wo Elaine den Laptop aufklappte und dann einen Schritt zurücktrat, damit Cass sich das anschauen konnte. Cass beugte sich über den Bildschirm und schnappte nach Luft. O mein Gott, sagte sie. Und ob, sagte Elaine. Das ist sie, oder?, sagte sie. Elaine scrollte nach unten. Das war sie. Sie trug den weißen Hosenanzug und lächelte geheimnisvoll, und die roten Haare fielen ihr wie abwärts lodernde Flammen auf die Schultern. »Julie Grehan machte ihren Master am Trinity College«, stand darunter. »Sie hat in Paris und New York gelebt.«

Cass trat benommen einen Schritt vom Laptop zurück. Miss Grehan war selbst eine Dichterin. Sie hatte ein Buch geschrieben, ein ganzes Buch, einen Gedichtband mit dem Titel Salz: ein Leseheft. Das war nicht zu glauben. Gleichzeitig ergab es absolut Sinn. Plötzlich konnte man sich unmöglich vorstellen, dass sie keine Dichterin war.

Salz: ein Leseheft war für 18,99 Euro lieferbar. Das müssen wir haben, sagte Elaine. Ja, sagte Cass. Und zwar sofort, sagte Elaine.

Elaine hatte eine eigene Kreditkarte, aber die lag in ihrem Zimmer, und sie wusste die Nummer nicht auswendig. Frag deinen Dad, ob er es für dich bestellen kann, sagte sie zu Cass. Sag, es ist für die Schule. Genau, sagte Cass. Los, frag ihn gleich jetzt, sagte Elaine. Okay, sagte Cass. Sie stand auf. In ihrem Kopf tauchte das Wort Extravaganzen auf. Ich frag ihn sofort, sagte sie lässig.

In den Fernsehnachrichten sprach eine Frau in einem Blazer über die Finanzkrise. Hinter ihr im Studio leuchtete eine Computergrafik mit der riesigen Zahl 3,7%, und sie sprach darüber mit Worten des Entsetzens, als sei die 3,7% wie ein Serienkiller in der Stadt unterwegs. Das Licht des Bildschirms tauchte Dickies Profil in ein tödliches Blauweiß. Er drehte unablässig an seinem Ehering.

Sie stand in der Tür und wartete darauf, dass er sie bemerkte. Wenn er mich anspricht, frage ich ihn, sagte sie sich. Aber seine Augen klebten am Bildschirm, also zog sie sich leise wieder zurück und ging in die Küche. Imelda kaufte aus Trotz oder aus Angewohnheit noch ständig irgendwelche Sachen und versteckte sie vor Dickie. Vielleicht war es sinnvoller, sie zu fragen.

Ihre Mutter war nicht in der Küche, nur PJ, der mit einem Buch an der Frühstückstheke saß.

Wo ist Mam?, fragte Cass.

Dorfverschönerung, sagte PJ. Hör dir das an, sagte er und las eine Stelle aus dem Buch vor. Der menschliche Körper stößt jedes Jahr zwanzig Pfund Haut ab. Während Sie diesen Satz lesen, verliert Ihr Körper zweitausend Hautzellen.

Das ist ja eklig, sagte Cass.

Während du das gesagt hast, sagte PJ, hast du wahrscheinlich achthundert Hautzellen verloren. Während ich das gerade gesagt habe, habe ich wahrscheinlich zweitausendfünfhundert Hautzellen verloren.

Elaine erschien in der Tür. Hast du ihn gefragt?, sagte sie.

Was soll sie mich gefragt haben?, sagte PJ.

Halt mal eine Sekunde den Mund, sagte Cass. Sie schämte sich und war verwirrt, als wäre sie umgeben von winzigen toten Fragmenten ihres Körpers.

Hast du gewusst, sagte PJ und schaute wieder in das Buch, dass das Erste, was der menschliche Körper in der Gebärmutter herausbildet, der Anus ist?

Elaine schaute PJ mit einem Ausdruck äußerster Abscheu an. Was stimmt nicht mit dir?, sagte Cass.

Das ist einfach Natur, sagte er.

Hast du deinen Vater gefragt?, sagte Elaine.

Was gefragt?, sagte PJ.

Wie wär’s, wenn du dich um deinen eigenen Kram kümmerst?, sagte Cass.

Sie sah Imeldas Geldbörse auf dem Tisch liegen. Ich nehme einfach die von Mam, sagte sie leichthin. Aber ihr Herz klopfte, und als sie den Verschluss öffnete und durch die Karten schnippte, bemerkte sie, dass PJ sie von seinem Platz an der Frühstückstheke beobachtete. Was?, fuhr sie ihn an. PJ senkte den Blick und schaute wieder in sein Buch. Cass nahm eine Karte heraus und schob sie in ihre Tasche. Du kleiner Spitzel, sagte sie zu PJ.

Als sie die Küche verließen, überkam sie eine seltsame Gefühlsmischung aus Triumph und Demütigung. Deine Familie ist wirklich zum Schießen, sagte Elaine.

Am nächsten Tag im Unterricht ging es um Sylvia Plath. Sie war von allen die berühmteste Dichterin. In der Verfilmung ihres Lebens wurde sie von Gwyneth Paltrow gespielt, und sie sahen sich einen Ausschnitt an, in dem sie auf einem Fahrrad mit Korb in Cambridge herumfuhr. Sie war mit neunzehn aus Amerika nach England gekommen und auf die Universität gegangen, wo sie sich in einen Engländer namens Ted verliebte. Er war auch ein Dichter, sagte Miss Grehan. Sie zeigte ihnen ein Bild. Ein Murmeln erhob sich in der Klasse. Er war der buchstäblich attraktivste Mann, den Cass je gesehen hatte, mit einem markanten Kinn und Augen, die tief und ernst, aber auch freundlich und verspielt waren. Sie hatten sich bei der Gründung eines College-Lyrikmagazins namens St Botolph’s kennengelernt. Ted kam mit einem anderen Mädchen zu der Party. Sylvia ging zu ihm und biss ihm in die Wange. Und zwar so fest, sagte Miss Grehan, dass ein Abdruck zurückblieb.

Cass schaute durch den Klassenraum zu Elaine. Wenn Ms Ogle ihnen die Geschichte erzählt hätte, wären sie wahrscheinlich in lautes Gelächter ausgebrochen. Hatte Sylvia Plath je davon gehört, dass man sich die Hand gab? Und hat es jemals in der Geschichte einen so lächerlichen Namen wie Botolph gegeben?

Aber Elaine war hingerissen. Ihre Haut glühte, die Lippen waren so rot, als hätte sie während der ganzen Stunde darauf herumgekaut. Cass wusste, was ihre Freundin dachte: Wie das wäre, von so einem Mann mit einem so markanten Kinn aufgegabelt und von Leidenschaft so überwältigt zu werden, dass man Dinge tun würde, dass man wollen würde, Dinge zu tun, von denen man normalerweise nicht einmal träumte, wie ihm in die Backe zu beißen oder sich seinen Penis in den Mund zu stecken. Und während sie ihr bei diesen Gedanken zuschaute, stellte sie fest, dass sie das Gleiche dachte und fühlte, und es kam ihr vor, als sei die Leidenschaft sehr nahe, wie ein Mond, der sich noch in der Helligkeit des Taghimmels verbarg und dessen Anziehungskraft sie von der Erde wegzog.

Nach der Stunde erzählte Elaine Cass, dass sie sich entschlossen habe, statt Markenbotschafterin Dichterin zu werden. Cass sagte, das sei verrückt, sie habe genau das Gleiche gedacht. Sie liefen der Lehrerin im Flur hinterher und fragten sie, was sie jetzt tun sollten.

Von Nahem, fiel Cass auf, war sie nur ein bisschen größer als Elaine. Sie hatte ein paar Sommersprossen auf der Nase, und ihr wunderschönes Haar war eher zimtfarben als rot.

Sie schien freudig überrascht zu sein, als Elaine ihr von ihrem Plan erzählte. Sie sagte den Mädchen, um eine Dichterin zu sein, müssten sie nur eins tun: Liebesgedichte schreiben. Widmet euch diesem Ziel! Macht es zu eurem Lebensinhalt!

Und Sie geben uns den Rat, in eine Stadt zu ziehen, in eine große Stadt, bohrte Elaine nach.

Nicht unbedingt. Miss Grehan schien ein klein wenig überrascht zu sein. Ihr könnt überall Gedichte schreiben. Über alles.

Aber Sie haben in Paris gelebt, oder?, sagte Elaine.

Und New York, sagte Cass.

Nach Ihrem Abschluss am Trinity, sagte Elaine.

Wieder schien Miss Grehan etwas erstaunt zu sein. Woher wisst ihr das alles?

Von Ihrer Facebook-Seite, sagte Elaine.

Das hatten sie schon einige Male mit Erwachsenen erlebt: Sie waren überrascht, wenn Informationen, die sie selbst für jeden zu jeder Zeit verfügbar gemacht hatten, tatsächlich von jemandem gelesen wurden.

Wenn ihr in die Stadt ziehen wollt, warum nicht?, sagte Miss Grehan. Die Dichtkunst an einer Universität zu studieren, ist herrlich. Aber wichtiger ist, dass ihr Gedichte lest und Gedichte schreibt. Jeden Tag. Nicht unbedingt lange. Wenn die Menschen, anstatt zu ihrem Smartphone zu greifen, nur einmal am Tag ein Gedicht läsen, dann wäre die Welt garantiert ein besserer Ort.

Nachdem sie gegangen war, sagte Elaine, das sei ein sehr guter Rat, aber sie glaube immer noch, der entscheidende Punkt ist das Leben in einer größeren Stadt. Das Erste, was wir tun müssen, sagte sie, wir bewerben uns für das College in Dublin. Da war sie auch. Cass stimmte zu, das sei der beste Plan.

Im Inneren war sie freudig erregt. Sie hatten schon früher oft davon gesprochen, die Stadt zu verlassen. Aber das war das erste Mal, dass Elaine vorgeschlagen hatte, es gemeinsam zu tun. Sie spazierten Arm in Arm durch das Schultor, und Elaine flüsterte ihr ihre Pläne ins Ohr. Lesben!, riefen ihnen die schlaffen, E-Zigaretten dampfenden Jungen aus dem Eingang des Spar hinterher. Dykes! Cass wurde nicht mal rot. Wir! Das Wort hallte in ihrem Kopf nach wie Engelsgesang.

Hinter ihr öffnete sich eine Tür und ein schmaler Lichtstreifen fiel in den Flur. Was machst du da?, sagte eine Stimme.

Wonach sieht es denn aus, he?

Lauschen vielleicht?

Schau selbst, wer da redet, erwiderte Cass und merkte dann, dass das nicht passte. Ich wollte Dad etwas fragen, sagte sie.

Ihr Bruder setzte sich neben sie auf die oberste Treppenstufe. Hör dir das an, sagte er. Es gibt einen Schmetterling, der heißt Julia-Schmetterling, der trinkt Krokodilstränen! Direkt aus dem Auge! Ist das nicht irre?

Cass seufzte. Unten ging der Streit weiter: ein fieser lauter Schlagabtausch.

Ernste Sache, oder?, sagte PJ.

Du bist so ein Kindskopf, sagte sie.

Ich bin fast ein Teenager, sagte er. Genau genommen bin ich schon ein Teenager.

Cass sagte nichts darauf. Einen Augenblick später sagte er, Streiten sie immer noch?

Cass zuckte mit den Schultern. Durch die Geländersprossen sah sie, wie ihre Mutter ins Wohnzimmer stapfte, sich vor den Fernseher stellte und die Fäuste in die Hüften stemmte. Wer war das Krokodil und wer der Schmetterling? Imelda war schön und schillernd, und sie hatte auf Kosten von Dickies Geschäft gelebt, das sie hasste. Auf den ersten Blick schien es also so, als wäre sie der Schmetterling. Aber war es eigentlich nicht Dickie, dem diese flatternde Sanftheit zu eigen war? Und Imelda die, die dir das Bein abbeißen würde? Und hatte sie nicht Krokodilstränen im Überfluss? Aber hieß das, dass Dickie auf ihre Kosten lebte?

Das Geschäft läuft wirklich schlecht, sagte PJ mit gedämpfter Stimme.

Was du nicht sagst, sagte Cass und senkte ihr Kinn auf die verschränkten Arme.

Ein Junge aus meiner Klasse hat gesagt, die Werkstatt macht bald zu. Nicht die hier bei uns, die andere.

Sie wandte sich um und schaute ihm ins Gesicht. Er hatte ein Elfengesicht, seine großen Augen waren im Flur so dunkel, dass sie fast schwarz waren.

Was weiß schon irgendein Junge aus deiner Klasse?, sagte sie.

Sein Onkel arbeitet da. Er ist Mechaniker.

Cass stieß einen erschöpften Seufzer aus. Sie hatte die Nase von ihrer Familie und ihrer demütigenden Krise gestrichen voll. Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass mich andere Dinge beschäftigen?

Schon gut, sagte er. Aber er blieb neben ihr sitzen. Dann sagte er, Was meinst du, wie geht das jetzt weiter?

Keine Ahnung, ich gehe sowieso bald nach Dublin.

Sie hatte es kaum ausgesprochen, da bereute sie es schon. Hier im Haus hörte es sich abstrus an, wie die Laune eines Kindes, wie damals, als PJ ihr erzählt hatte, dass er den ganzen Tag Telepathie übe und glaube, dass er es bald kapiert hätte.

Du ziehst nach Dublin?, sagte PJ.

Aufs College, sagte sie zögernd. Mit Elaine.

Mit Elaine?

Warum ist das so schwer zu verstehen? Es klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte, und PJ wich zurück. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Aber noch nicht so bald, sagte sie. Erst nach den Prüfungen.

Oh, sagte er. Er klang erleichtert und stand auf. Aber bevor er wieder in sein Zimmer ging, blieb er stehen und drückte ihr etwas in die Hand. Hier.

Es war ein gefütterter Umschlag mit Imeldas Namen auf dem Adressaufkleber.

Das kam, als ich gerade von der Schule zurück war, sagte er. Ich hab es genommen, bevor Mam es sehen konnte. Es steht zwar ihr Name drauf, aber es war klar, dass es ein Buch ist, musste also für dich sein.

Oh, sagte sie beiläufig und nahm es ihm aus der Hand.

Aber auf ihrer Kreditkartenabrechnung taucht es natürlich auf, sagte er. Aber die wirft sie ja normalerweise gleich in den Papierkorb.

Sie schaute ihn wieder an. Als sie klein waren, spielten sie oft Eichhörnchen im Wald: Er war das graue Eichhörnchen, und sie war das rote. Rotes Eichhörnchen!, rief er. Der Jäger kommt. Danke, graues Eichhörnchen. Und sie krabbelte auf einen Baum, als Dickie durchs Gebüsch gestampft kam. Tatsächlich waren PJs Haare kupferfarben, näher an rot. Aber sie war die Ältere, durfte also wählen.

Das ist für die Schule, sagte sie schroff. Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, riss sie die Verpackung auf und überlegte sich schon die SMS, die sie Elaine schicken würde. Etwa: Rat was gerade gekommen ist OMG es ist da komm schnell!!!

Aber als sie es aus dem Umschlag genommen hatte, hielt sie kurz inne.

Es sah ganz anders aus als das Bild auf der Website, mehr wie eine Broschüre, nicht wie ein richtiges Buch. Der Umschlag war aus dickem, hässlich rotbraunem Papier, mit Heftklammern, als hätte es jemand eigenhändig zusammengetackert. Salz: ein Leseheft, stand darauf, von Julie Grehan.

Die Gedichte konnten ihr Unbehagen nicht zerstreuen. Das erste hieß »Salz«. Es begann so: »Dein Salz auf meiner Zunge / Schlecht für das Herz / Doch Fleisch braucht Salz / Und du machst mich zu Fleisch.« Schnell blätterte sie zum nächsten, das »Der Metzger« hieß: »Ein drolliges Schild über der Tür: Pleased to Meet You! Meat to Please You! / Sag mir, Metzger, Geliebter, magst du mein Fleisch? Oder wirfst du es weg mit der Leber / Als Futter für die Katzen.

Auf den folgenden Seiten tauchten die gleichen Worte – Fleisch, Salz, Metzger – immer wieder auf, zusammen mit anderen mit ähnlich unerfreulich körperlichem Anklang – Klumpen, Herz, Fetzen. Erfolglos versuchte sie das mit der eleganten Lehrerin, ihrem melodischen Lachen und der kapriziösen Klugheit in Einklang zu bringen. Mit glühendem Gesicht saß sie in ihrem Zimmer. Wie sollte sie das Elaine beibringen? Sie hatten das Buch in der Hoffnung bestellt, einen Blick in die verborgenen Winkel ihres Lebens werfen zu können, nur dass sie sich das wie eine Art Fortschreibung ihrer Facebook-Seite vorgestellt hatten, mit weiteren Bildern von Schlössern und Männern mit markantem Kinn. Das hier war buchstäblich wie ein Blick ins Innenleben eines Menschen, unter die Haut aufs Gedärm. Warum sollte das jemand sehen wollen? Sie legte das Buch zur Seite. Achtzehn neunundneunzig!, dachte sie und fühlte sich elend.

Dann riss sie sich zusammen. Sie hatte etwas riskiert, um an dieses Buch zu kommen. Da musste etwas drinstehen, das dieses Risiko lohnte. Sie blätterte schnell durch die Gedichte, fand aber nur mehr vom immer Gleichen, bis sie schließlich zu den Danksagungen auf der letzten Seite kam. Sie bestanden aus einer Aufzählung der Menschen, die ihr bei dem Buch geholfen hatten. In der ersten Zeile waren jede Menge anderer Grehans aufgeführt. Ihre Familie, nahm Cass an. Aber dann kamen andere, exotisch klingende Namen von Menschen, bei denen sie in Paris und Barcelona während der Arbeit an dem Buch gewohnt hatte. Als Cass im Netz nach den Namen suchte, erkannte sie ein paar Gesichter von der Facebook-Seite wieder. Die Begeisterung kehrte zurück. Das war das, was sie wollte: weitere Fakten, einen exklusiven Blick hinter die Kulissen. Die allerletzte Zeile war geheimnisvoller: Sie gelobte den »Biestern von Beastwick« ihre »unverbrüchliche Treue«.

Und als Cass das googelte, erlebte sie eine große Überraschung.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es widerstrebte ihr, vor Elaine Geheimnisse zu haben. Doch dieses Geheimnis war hässlich – so hässlich wie das Buch, dachte sie, mit seinen ekelhaften Gedichten und der anatomischen Strichzeichnung eines Herzens. So etwas wollte Cass Elaine nicht zeigen.

Doch das Böse des Buches sickerte auch so durch. Als sie vor der Englischstunde in die Klasse kamen und Miss Grehan noch nicht da war, steckten ein paar Mädchen die Köpfe zusammen und hörten Sarah Jane Hinchy zu, die sich über etwas ereiferte, das sie über Sylvia Plath im Netz gefunden hatte. Anscheinend hatte »Plath« – so nannte Sarah Jane Hinchy sie – vor ihrer Zeit in England und ihrer Begegnung mit Ted einen Selbstmordversuch unternommen.

Und?, sagte Elaine. Sie war selbstmordgefährdet. Sie hat sich umgebracht. Das weiß doch jeder.

Sie konnte Sarah Jane Hinchy, die als Klassenbeste hauchdünn vor Elaine und Cass rangierte, nicht ausstehen. Letztes Jahr hatte sie bekanntermaßen auf ihrem Schulpulli einen Regenbogen-Sticker getragen, bis die Nonnen ihr befohlen hatten, ihn abzunehmen.

Der Selbstmordversuch, von dem Sarah Jane Hinchy gesprochen hatte, war besonders grässlich gewesen. Plath habe eine Handvoll Schlaftabletten genommen, sagte sie, und war dann unter ihr Haus gekrochen, so ein amerikanisches Haus, das unter dem Boden einen Kriechraum hatte. Dort habe sie sich hingelegt, um zu sterben. Alle dachten, sie sei verschwunden, sagte Sarah Jane Hinchy. Sie suchten in der ganzen Stadt nach ihr. Aber die ganze Zeit, etwa drei Tage lang, habe sie bewusstlos unter ihrem Haus gelegen, im Grunde wie ein Stück verfaulendes Fleisch.

Cass sah, dass Elaine den Mund verzog, und auch ihr wurde unbehaglich zumute. Selbstmord war das eine: Viele berühmte Leute hatten sich umgebracht, was bedeutete, dass man nicht alt wurde und sein Aussehen einbüßte. Verfaulen, während man noch lebte, und dann buchstäblich wie ein Zombie aus der Erde wieder aufzutauchen, war nach niemandes Definition glamourös. Elaine kannte in solchen Dingen kein Pardon. Die anderen Mädchen auch nicht.

Ich glaube nicht, dass man im Unterricht so jemanden behandeln sollte, sagte Petra Gilhooley. Ich meine, tut mir leid, aber so etwas ist doch unpassend, oder?

Wahrscheinlich stimmt es gar nicht, sagte Karen Casey. Ich kann mich nicht erinnern, dass das in dem Film vorkam.

Als Miss Grehan schließlich in die Klasse kam, bestätigte sie jedoch, dass die Geschichte stimmte. Sie sagte, dass genau das Sylvia so interessant machte – dass sie zwar äußerlich ein wunderschönes, typisches amerikanisches Mädchen aus guter Familie war, aber innen sah es anders aus, da lauerten schreckliche Probleme.

Aber glauben Sie nicht, dass es unpassend ist, so einen Menschen im Unterricht zu behandeln?, sagte Petra Gilhooley ungerührt.

Wir alle sind so ein Mensch, sagte Miss Grehan. Wir alle haben Probleme. Aber anstatt die Wahrheit über uns zu akzeptieren, versuchen wir oft, sie zu verschleiern. Wir versuchen das zu sein, was man von uns erwartet. So viele schlechte Dinge, die in der Welt geschehen, werden von Menschen verbrochen, die etwas vorgeben, was sie nicht sind.

Das Schreiben eines Gedichts ist das Gegenteil davon, sagte sie. Wenn ihr auf die Welt, auf ein kleines Stück der Welt schaut und versucht, es so zu sehen, wie es wirklich ist, dann seht ihr auch euch selbst klarer. Und das kann sehr befreiend sein. Manchmal kann es euch das Leben retten.

Also dann, sagte sie, als Hausaufgabe für morgen schreibt jeder von euch ein Gedicht. Allgemeines Stöhnen. Miss Grehan lachte. Das ist keine Strafe, sagte sie. Vielleicht macht es euch sogar Spaß. Schreibt über euer Leben, über eure Welt. Eure Welt ist voller Kleinigkeiten. Schaut sie euch an, bevor ihr schreibt. Wenn etwas rot ist, was für ein Rot ist es? Wenn ihr einen Baum seht, was für ein Baum ist es?

Nach der Stunde erwähnte Elaine zu Cass’ Überraschung die grausige Sylvia-Plath-Geschichte mit keinem Wort. Sie fand jedoch harte Worte für einige Leute, die offenbar entschlossen seien, Miss Grehans Unterricht zu sabotieren.

So ganz unrecht hatte Petra nicht, oder?, sagte Cass in neutralem Tonfall. Vielleicht ist es ja unpassend.

Petra Gilhooley ist nichts weiter als eine Marionette, sagte Elaine. Sarah Jane Hinchy hatte da die Fäden in der Hand. Und warum, ist doch klar, sagte sie. Sie ist in Miss Grehan verknallt. Und sie ist eifersüchtig, weil Miss Grehan uns beide ihr vorzieht.

Glaubst du?, sagte Cass. Sie spürte wieder dieses unbehagliche Rumoren im Magen.

Na klar, sagte Elaine. Dauernd hat sie sie angestarrt und versucht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Ich meine, glaubst du, dass Miss Grehan uns ihr vorzieht?, sagte Cass.

Absolut, sagte Elaine. Weil wir diese ganze Chose mit den Dichterinnen kapieren. Das hat sie an etwas erinnert. Ihre Augen funkelten und sie beugte sich verschwörerisch nach vorn. Komm nach der Schule rüber zu mir. Ich muss dir etwas zeigen.

Dann eilte sie in ihre BWL-Stunde.

Auf dem Nachhauseweg sagte Elaine zu Cass, dass sie ihr Gedicht auf Instagram posten würde. Sie hatte entdeckt, dass es eine neue Generation Dichterinnen gab, die ihre Gedichte ins Netz stellten und Millionen von Klicks bekamen. Sie schrieben über Themen des wirklichen Lebens, wie Rassismus und Homophobie, und waren mit Sängern, Influencern und anderen Promis befreundet. Mit Gedichten kann man tatsächlich ernsthaft berühmt werden, sagte Elaine.

Miss Grehan hat das anscheinend nicht sehr berühmt gemacht, merkte Cass an. Elaine gab zu, dass das komisch sei, vor allem wegen ihres Aussehens. Cass fragte Elaine, ob sie Miss Grehan für gut aussehend halte. Elaine sagte nichts darauf, nur dass sie merkwürdig lächelte, als ob ihr gerade ein Witz durch den Kopf ginge, den Cass nicht kapierte.

Worüber willst du schreiben?, fragte Cass.