Der Tanz des Skorpions. Kiez-Trilogie III - Frank Göhre - E-Book

Der Tanz des Skorpions. Kiez-Trilogie III E-Book

Frank Göhre

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Beschreibung

An einem Novembermorgen wird Karl »Zappa Weber in seiner Wohnung verhaftet. Er gesteht, fünf Morde im Auftrag einer Kiez-Größe ausgeführt zu haben. »Der Killer von St. Pauli« macht Schlagzeilen. Seine attraktive Anwältin Angelika Garbers-Altmann weiß ihn und seine Geschichte gut zu verkaufen. Staatsanwaltschaft und die ermittelnden LKA-Beamten aber wollen mehr von »Zappa« wissen. Sie erhoffen sich von ihm entscheidende Hinweise über den Ablauf der großen Drogengeschäfte, Aufklärendes aus dem Innern der Organisation. Doch »Zappa« kann oder will dazu nicht viel sagen. Er hat eine ganz andere Rechnung offen. Die Kiez-Trilogie liefert ein faszinierendes und realistisches Gesellschaftspanorama des Hamburger Rotlicht-Milieus. Göhre nutzt das Genre zur Durchleuchtung des ganz großen Filzes.

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Impressum

Digitale Edition: © CulturBooks Verlag 2021

Erstausgabe: 1991

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

eBook-Cover: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: Oktober 2021

ISBN 9-783-95988-208-8

Über das Buch

An einem Novembermorgen wird Karl »Zappa Weber in seiner Wohnung verhaftet. Er gesteht, fünf Morde im Auftrag einer Kiez-Größe ausgeführt zu haben. »Der Killer von St. Pauli« macht Schlagzeilen. Seine attraktive Anwältin Angelika Garbers-Altmann weiß ihn und seine Geschichte gut zu verkaufen.

Staatsanwaltschaft und die ermittelnden LKA-Beamten aber wollen mehr von »Zappa« wissen. Sie erhoffen sich von ihm entscheidende Hinweise über den Ablauf der großen Drogengeschäfte, Aufklärendes aus dem Innern der Organisation. Doch »Zappa« kann oder will dazu nicht viel sagen.

Er hat eine ganz andere Rechnung offen.

Die Kiez-Trilogie liefert ein faszinierendes und realistisches Gesellschaftspanorama des Hamburger Rotlicht-Milieus. Göhre nutzt das Genre zur Durchleuchtung des ganz großen Filzes.

Über den Autor

Frank Göhre

Der Tanz des Skorpions

Kiez-Trilogie Band 3

Before I sink

Into the big sleep

I want to hear

The scream

Of the butterfly.

The Doors

EINS 1

Es war ein regnerischer Novembermorgen. Zappa erwachte frierend. Er hüllte sich fest in die Bettdecke und stand auf. Nachdem er das Fenster geschlossen und die Heizung aufgedreht hatte, ging er ins Bad und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Dann zündete er sich eine Zigarette an.

Zappa hatte überall in der Wohnung angebrochene Zigarettenpackungen und Feuerzeuge deponiert. Er rauchte Chesterfield-Filter und kaufte jeden Samstag drei Stangen. Für seine Frau nahm er eine weitere Stange Marl­boro mit.

Mit dem ersten tiefen Zug schaute Zappa in den Spiegel.

Er sah nicht gut aus. Sein schmales Gesicht war blass, und unter den Augen hatte er dunkle Ringe. Wie schon oft überlegte er, sich den Schnäuzer abzurasieren. Früher hatte er einen kurz gestutzten Vollbart getragen, und sein hellbraunes Haar war bis auf die Schultern gefallen. Oben kurz und etwas gebleicht. Zu der Zeit war er kräftiger gewesen, hatte viel Sport getrieben und auch regelmäßig gegessen. Jetzt hatte er kaum noch Appetit, nahm täglich einige Nasen, rauchte viel und trank Coke.

Zappa legte die Zigarette auf den Waschbeckenrand und kratzte seinen Handrücken. Die Decke fiel zu Boden und enthüllte seinen mageren Oberkörper. Auf den linken Oberarm war ein Skorpion eintätowiert. Zappa war im Sternzeichen des Skorpion geboren. Er hatte vor wenigen Tagen, am 3. November, seinen 39. Geburtstag gefeiert. Der Gedanke an den Tag verursachte ihm einen stechenden Schmerz in der Brust.

Niemand hatte angerufen und ihm gratuliert. Renate war wie immer in der Woche früh um sieben aufgestanden und zur Arbeit ins Büro gefahren. Seine Tochter Julia hatte die Nacht bei ihrem Freund verbracht und war erst am Nachmittag nach Hause gekommen. Sie hatte ihn nur flüchtig geküsst und gemurmelt, sie wünsche ihm alles Gute.

Er durfte nicht daran denken.

Er hatte sich blutig gekratzt.

Zappa pinkelte und prüfte dann die Badewassertemperatur. Er drehte den Kaltwasserhahn weiter auf und wartete rauchend. Schließlich stieg er in die Wanne. Er streckte sich aus, schloss die Augen und versuchte, angenehme Situationen zu erinnern.

Bis Ende August dieses Jahres hatte er sich weitgehend wohl gefühlt. Er hatte mit Renate drei Wochen Urlaub auf Ibiza gemacht und war in den Tagen sehr entspannt und gut gelaunt gewesen. Sie hatten abends oft mit Uli und Barbara zusammen gesessen und sich aus ihrer Jugendzeit erzählt. Uli war in Köln aufgewachsen, und er in Bochum. Nach seinem Abitur hatte er zwei Semester Betriebswirtschaft studiert und zum ersten Mal einen dieser depressiven Schübe gehabt, die ihn seitdem immer wieder überkamen. Aus einer Nichtigkeit heraus, einer Bemerkung von Renate, einer abwehrenden Geste seiner Tochter.

Damals hatte er sich eingeredet, dass Renate ihn nicht mehr liebe. Sie hatte ihn drei oder vier Tage nicht angerufen, sich nicht blicken lassen, und als er es in seiner Bude nicht mehr ausgehalten hatte und zu ihr gefahren war, hatte er hören müssen, dass sie mit gemeinsamen Freunden herumgezogen war. Weil er doch an einem Referat schrieb. Sehr rücksichtsvoll. Als ob er nicht auch schlafen musste und in den Stunden gern ihren Körper gespürt oder zumindest vor dem zu Bett gehen ein paar Worte von ihr gehört hätte. Anteilnahme. Wärme. Er hatte ihr das nicht gesagt, sie nur kalt angeblickt und war dann gegangen. Hatte gewartet, dass sie kam, von sich aus. Nichts. Er hatte tierisch gelitten, die Wände angeschrien und ihr Foto zerrissen. Getrunken und gekifft. Und sich einen Revolver besorgt. Seine erste Waffe.

Zappa merkte, dass er schon wieder abdriftete in diese unendliche Traurigkeit. Er rauchte noch eine Zigarette und zwang sich dabei, ein Programm für den heutigen Tag aufzustellen.

Er kam nicht weit.

An der Wohnungstür klingelte es.

2

Hamburger Morgenpost, Donnerstag, 9. November.

DER KILLER VON ST. PAULI VERHAFTET. SIEBEN MORDE FÜR DEN »KRONPRINZ«?

Hamburg – Sieben Männer aus dem St.-Pauli-Milieu wurden in den letzten Jahren erschossen oder kamen unter mysteriösen Umständen ums Leben. Nun glaubt die Kripo den Täter gefasst zu haben.

In den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages verhafteten Beamte des LKA Karl »Zappa« Weber, 39. Er soll am 21. März 1988 in dem Reeperbahn-Lokal Die Grotte Franz Auer (»Der Samurai«), 35, mit drei Schüssen getötet haben. Knapp einen Monat später wurde der LUNA-Gesellschafter Ludwig Süchting, 34, in der Heide an einem Baum entdeckt – erhängt. Inzwischen scheint bewiesen, daß der »Schöne Ludwig« aufgeknüpft wurde – von »Zappa«. Zugeschrieben werden ihm auch die Morde an dem Zuhälter Paul Bogmüller, 32, der in seinem schwarzen Pontiac mit einem Kopfschuß »hingerichtet« wurde, an Jürgen Schwengel, 49, Sex-Lokal-Besitzer, und an Thommy Lebahn, 44, dessen Leiche in einem Blechfass einbetoniert im November letzten Jahres im Osterbekkanal entdeckt wurde.

Spektakulärste Tat des Killers aber soll der Doppelmord an dem »Paten von St. Pauli«, Werner »Emma« Stobbe, 55, und seinem Leibwächter Herbert Botan, 43, genannt »Der Stone«, sein.

Als Auftraggeber für die offenbar bezahlten Morde will das LKA den Juniorpartner und »Kronprinzen« Stobbes ermittelt haben – den St.-Paulianer Uli Detering, 38.

Detering konnte sich dem Zugriff der LKA-Beamten durch Flucht entziehen.

3

Kriminalhauptkommissar Peter »Pit« Gottschalk verbrachte die Weihnachtstage mit der Familie Dierich in ihrem südschwedischen Ferienhaus. Vater Lutz war selbständiger Grafiker und arbeitete unter anderem für die Zeitschrift Metropolitan Lady, bei der Gottschalks Freundin Regina inzwischen Redakteurin war.

Am zweiten Feiertag fragte sich Gottschalk allerdings, ob er Regina wirklich noch als seine Freundin bezeichnen sollte.

Gegen Mittag nämlich tauchte ein weder des Deutschen noch des Englischen mächtiger Skimützenträger auf, dem Lutz erst einmal einen großen Wodka eingoss – augenzwinkernd und Gottschalk zuflüsternd, das sei der hiesige Postbote. Ein Original.

Gottschalk hasste Postbeamte und originell fand er den einheimischen Troll keineswegs. Der Mann brabbelte weiterhin Unverständliches bevor er dann endlich einen stark zerknitterten Umschlag aus seiner Jackentasche fischte. Es war ein Telegramm für Gottschalk: BLEIBE NOCH IN N.Y. – SORRY, MEIN LIEBSTER – HOFFE, DASS DU DIE TAGE AUCH OHNE MICH GENIESSEN KANNST – GRÜSSE AN ALLE – SEHEN UNS IN HH WIEDER – R.

»Von Regina?«, fragte Lutz.

»Ach, ist das lieb, vorher noch zu telegrafieren«, sagte seine Frau Carla. »Ich freue mich so auf Reginchen. Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen.« Gottschalk ging zum Kamin und legte das Telegramm auf die glühenden Holzscheite. Augenblicklich ging es in Flammen auf.

Tochter Anja lag bäuchlings auf der Couch und las in einem Buch. Sie war Zwanzig und enorm stolz darauf, in Hamburg mit einem 43-jährigen Kneipier zu bumsen. Wir haben guten Sex miteinander, teilte sie bei jeder Gelegenheit ungefragt mit. Befriedigenden Sex. Unendlich lang andauernde Orgasmen mit Herbie. Phantastisch. Geil.

Sie hob den Kopf.

»Können wir jetzt essen?«, wollte sie wissen.

Vorn in der Küche verabschiedete Lutz den trunkenen Schweden.

Carla kam in den Wohnraum gehuscht und wischte ihre Hände an der Schürze ab.

»Wann landet sie denn in Stockholm?«, fragte sie.

»Gar nicht«, blaffte Gottschalk. »Habt ihr einen Fahrplan?«

»Ist was passiert?« Lutz hatte den Mann nun endlich aus dem Haus und kam ebenfalls an den Kamin. Gottschalk sah erst ihn und dann seine dusselige Else an.

»Reginchen lässt grüßen«, sagte er mit böser Betonung. »Sie zieht es vor, drüben mit irgendwelchen Weibern zu talken oder weiß der Geier was. Ich gedenke jedenfalls, unter diesen Umständen eure Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch zu nehmen.«

»Oh«, sagte Lutz.

»Ach, nein«, hauchte Carla. Anja klappte ihren Stephen King zu und stand von der Couch auf.

»Habt ihr ’ne Krise?«, fragte sie.

Gottschalk musterte sie eingehend. Sie war ein verdammt gutaussehendes Ding, hatte ein schmales, sommersprossiges Gesicht und wache Augen. Gottschalk schnaubte kurz. Krise war geschmeichelt. Er war stinkig wie nichts.

»Ein Scheißjob«, sagte er und ließ offen, was er damit meinte. Aber Anja nickte.

Lutz hielt nach der Flasche Ausschau.

»Nehmen wir einen Drink«, sagte er.

Carla schüttelte den Kopf.

»Dascha nu echt blöd«, sagte Anja. »Kannste sie nicht anrufen?«

»Ach, Kind«, setzte Carla an und wollte den Arm um ihre Tochter legen. Anja wehrte sie ab.

»Nenn mich nicht immer Kind. Was soll das? Pit ist sauer. Das siehst du doch.«

»Reginchen wird zu tun haben. Das muss Peter einsehen. Als ich noch voll im Beruf stand, hatte Lutzi anfangs auch seine Schwierigkeiten damit. Ich meine, es ist natürlich schade -«

»Du bist eine unsäglich bekloppte Kuh«, unterbrach Gottschalk sie.

Carla zuckte zurück, und Anja grinste.

Lutz schnappte nach Luft. Fassungslos starrte er Gottschalk an.

Das Mittagessen fiel aus.

Das Ehepaar Dierich brach nach einigem hilflos-entrüsteten Gestammel zu einem Gang durch die Wälder auf. Gottschalk packte seine Sachen. Anja hatte es sich wieder auf der Couch bequem gemacht und mampfte mit geräuchertem Lachs belegten Toast als Gottschalk das kleine Gästezimmer geräumt hatte.

»Das hat die Alte mal gebraucht«, sagte sie. »Zu dumm, dass du abhaust. Jetzt wird’s total öde.«

»Warum hast du dich nicht zu deinem Herbie abgesetzt?«

»Ha – abgesehen davon, dass seine Wohnung ein einziges Dreckloch ist, hab ich mit dem Typ auch meine Probleme. Außer Sex läuft bei uns absolut nichts.«

»Ich denke, das macht dir Spaß – ist geil.«

»Weil ich ständig davon rede? – Nee, das tu ich nur, um die Alte mal ausklinken zu lassen. Das reicht aber wohl immer noch nicht. Wahrscheinlich muss ich erst detailliert auflisten, wie ich es mit Herbie treibe.«

»Das wird sie sich schon vorstellen können.«

»Nee, das glaub ich nu nich. Aber egal – ich kann mit Herbie nicht ein vernünftiges Wort reden.«

»Dann schieß ihn in den Wind.«

»Ist bei dir mit Regina so einfach Ende?«

Gottschalk schulterte seine Reisetasche.

»Ich werd ihr sagen, dass sie verdammtnochmal was bringen muss, wenn sie noch an mir interessiert ist. – Können wir fahren?«

Anja nickte und stand auf.

»Shit«, sagte sie. »Ich würd jetzt gern länger mit dir quatschen.«

»Wenn heute kein Zug mehr fahren sollte – gibt’s in dem Kaff da unten eigentlich ein Hotel?«

»Ich bring dich nach Jönköping«, sagte Anja und hatte plötzlich Tränen in den Augen.

4

Gottschalk bestieg den Zug nach Hamburg am nächsten Tag kurz nach 14 Uhr.

Zur gleichen Zeit wurden im Hamburger Stadtteil Schnelsen zwei Frauenleichen aus einem Bungalow im Radenwisch getragen und in die Gerichtsmedizinische transportiert.

Der für Mitte Dreißig sehr jugendlich wirkende Kriminalhauptkommissar Jörg Fedder ging zurück zum Schreibtisch des Bungalow-Besitzers Hermann Weigel.

Weigel saß mit durchgedrücktem Kreuz vor seinem Schneider-PC und rief ein Dokument ab. Der neben ihm stehende Notarzt zuckte resignierend die Achseln.

»Hundertneun«, sagte Weigel leise. »Ich werde ein Lokal mit einem großen Gesellschaftsraum benötigen. Vielleicht ein Hotel. Aber das heißt, Wagen zu leasen, nein, Busse. Es müssen Busse sein. Drei – drei müssten reichen.«

Fedder räusperte sich.

»Sie müssen sich hinlegen und schlafen, Herr Weigel. Bitte widersetzen Sie sich dem Arzt nicht. Es ist besser, wenn Sie -«

»Ich bin völlig in Ordnung, Herr Kommissar. Fedder – ja? Sehen Sie, Sie haben mir Ihren Namen nur einmal genannt und ich – ich habe ihn behalten. Ich habe alles präsent. Jede Einzelheit. Wenn Sie noch etwas vergessen haben zu fragen – bitte, fragen Sie. Zweiundzwanzig-Uhr-Fünfzehn, auf die Minute genau. Durch diese – die Verandatür. Ich hatte -«

»Sie haben einen Schock. Bitte, Herr Weigel.«

»Ich hatte gerade umgeschaltet. Wir wollten den Spielfilm im Ersten sehen. – Einen Schock? Nein, ich bin völlig in Ordnung. Ich brauche niemanden.« Er lachte, lachte lauter und schüttelte heftig den Kopf.

Fedder schluckte.

Der Arzt atmete tief ein.

»Mein Kollege -«, setzte er an. »Ihr Hausarzt ist in Urlaub, Herr Weigel. Wir können Sie nicht allein lassen. Es gibt doch sicher Verwandte. Freunde der – der Familie.«

»Familie!«, lachte Weigel. »Familie!« Er hörte nicht auf zu lachen. Es war ein irres Lachen.

Fedder wechselte einen Blick mit dem Arzt und gab sich einen Ruck.

»Ja«, sagte er entschieden. »Zumindest einige dieser – dieser hundertneun zu benachrichtigenden Personen werden Ihnen doch persönlich nahe stehen. Sagen uns bitte, wen wir anrufen sollen.«

»Familie! – Nein, ich will keinen sehen. Dazu können Sie mich nicht zwingen. Ich bin – ich werde hier sitzen bleiben und die Adressen ausdrucken, und dann das Bestattungsunternehmen anrufen. Das ist – es ist alles so weit geregelt. Ja, seit Jahren schon. Ich habe -«

»Herr Weigel« unterbrach Fedder. »Ich habe tatsächlich noch Fragen. Was hatten Sie für die nächsten Tage, für Silvester und Neujahr geplant?«

»Oh, ja – richtig. Das ist gut, dass Sie darauf zu sprechen kommen. Ich muss auf Sylt absagen.« Er schloss das Dokument und ließ ein anderes auf dem Bildschirm erscheinen.

Fedder beugte sich vor. Er sah Daten, und unter jedem Datum mehrere Stichworte: Bank. Karstadt – Rahmen. Brinkmann – Toaster, Batterien. Sportlepp – Schuhe, J-Anzug f. S., evtl. – I. Thalia-B. – div. B. Uhr –? Hemd. K-Karten. Oper.

Fedder hakte bei einem Namen ein.

»Dierich – Pflanzen. Wer ist Dierich?«, fragte er.

»Unsere Nachbarn«, sagte Weigel. »Sie sind verreist. Meine Frau -« Er brach ab und presste die Lippen aufeinander.

Fedder war versucht, den Arm um ihn zu legen und den Mann an sich zu drücken. Ganz fest. Um ihn weich und nachgiebig werden zu lassen. Er wünschte, dass Weigel schluchzte, weinend seinen Schmerz zuließ. Ihn herausschrie. Sich verzweifelt immer wieder fragte, warum seine Frau und seine Tochter erniedrigt, gequält und bestialisch ermordet worden waren. Vor seinen Augen. Er, gefesselt, hatte mitansehen müssen, wie das alles geschah. Über Stunden hinweg. Eine entsetzliche Nacht.

Aber Weigel schwieg.

Er hatte berichtet. Er hatte ausgesagt. Kaum stockend. Hatte von den Tätern gesprochen und ihren Opfern – sie haben ihre Opfer zu Boden geworfen.

Nur anfangs hatte er ihre Namen genannt – Irene hatte Sabine in eine Decke eingewickelt. Meine Tochter hatte leichtes Fieber.

Fedder rieb sich die Stirn.

»Da – Frau Munck«, sagte Weigel jetzt und wies auf den Schirm. »Sie wird enttäuscht sein, dass – es war immer sehr schön bei ihr. Ich muss sie gleich anrufen und – oder wollten Sie noch etwas wissen, Herr Fedder?«

5

Broszinski schlug die Augen auf. Er atmete schwer.

Weber war ihm in Traumbildern näher gerückt. Die Szenerie der Region. Das Revier. Bochum. Die Heimatstadt. Queen’s Pub, Im Winkel. Eine Vivi, die mit Informationen über Atze rausrückte und überfahren worden war. Organisierte Kfz-Diebstähle. In das Geschäft verwickelte Jugendliche. Andrea in der Sauna Blumenhof Herker, Querenburger Straße. Die Uni. Die Wache. Ein Kollege, der sich radikal links gab und Rocker ans Messer lieferte, später Polizeipressesprecher wurde.

Broszinski hatte gelegentlich noch von ihm gehört.

Weber nannte ihn den Knüppelbullen. Er war von ihm gegriffen worden. Ein dilettantisch ausgeführter Banküberfall. Nicht ausgeklügelt. Spontan. Unter dope in die Kassenhalle gestürmt. Zwei Schüsse in die Decke: Das Geld oder ich knall euch ab.

Lächerlich. Weber war bereits wenige Stunden danach gefasst worden.

Von wie-hieß-er-noch? Der Knüppelbulle. Das Käsegesicht mit dem dünnen Blondhaar.

Broszinski war der Name nicht mehr eingefallen und Weber hatte sich zwischen den Fingern gekratzt: Einen Zweier für den Scheiß.

Er hatte von Renate erzählt. Kein Tag, keine Nacht ohne Gedanken an sie.

Hinter Mauern, eingeschlossen.

Erinnerungen. Phantasien.

Wie sie neben ihm gelegen, mit ihrem Fuß an seinem Bein hochgestrichen war. Nahtstrümpfe und Stöckelschuh. Größe 40 M. Ihre Schenkel. Ihr flacher Bauch. Das dunkle, rötlich getönte Haar. Ein knabenhaft schlanker Körper. Kleine Brüste.

Sie hatte ihm ein Foto in den Knast geschickt und selbstgebackenen Schokoladenkuchen. Geschrieben, dass es ihr leid tue und sie ihn liebe: Ich küsse, küsse, küsse dich.

Handbetrieb.

Freimütige Äußerungen. Eine eindringliche Schilderung der damaligen Situation.

Kollege Lankowa hatte nur gegähnt. Staatsanwalt Giesing hatte sich geräuspert: Und mit wem hatten Sie in der Haftanstalt Siegen Kontakt?

Broszinski rieb sich die Stirn.

Nachdem er beiläufig erwähnt hatte, dass auch er aus dem Ruhrgebiet komme, wandte Weber sich fast ausschließlich an ihn. Fragte, ob er damals nicht doch Renate begegnet sei oder zumindest von ihr gehört habe. Während er im Bau gesessen hatte. Jahre, in denen sie nach wie vor die Pille genommen hatte. Das war ihr später einmal herausgerutscht. Und er hatte hart zugeschlagen: Mit wem hast du es die ganze Zeit über getrieben? Mit wem alles? Mit wie vielen?

Rasende Eifersucht.

Weber wünschte sich unausgesprochen von Broszinski Bestätigung. Dass in Bochum eine junge, hübsche Frau im Queen’s Pub und in der Kokille, in Discos und sonst wo herumgeturnt und zu haben gewesen sei. Eine heiße Nummer. Möglicherweise auch für ihn.

Aber Broszinski konnte ihm nichts sagen. Selbst wenn er sich Webers Frau erinnert hätte, wäre er nicht darauf eingegangen. Sie mussten weiterkommen. Bochum, Siegen, Köln.

Hamburg.

Stadt am Fluss. Und das Wasser der Elbe ist tief und schwer.

Broszinski merkte, dass er keinen Schlaf mehr finden würde.

Birte drehte sich zu ihm. Ihre Hand streifte seine Wange. Sie öffnete die Augen.

»Du bist schon wach? Wie spät ist es?«

»Gleich fünf«, sagte Broszinski leise. »Schlaf weiter.«

»Mir ist kalt.« Sie kuschelte sich an ihn, und er zog ihr die Decke über die Schultern. »Halt mich fest.«

»Ja«, sagte er. »Schlaf.«

»Ich hab geträumt, dass du mit Pit einen Elch jagst.«

»Kein Wunder. Pit ist in Schweden. Da gibt es Elche.«

»Ihr habt euch im Wald verirrt und Regina hat gesagt, jetzt ist es wieder so wie früher. Bist du traurig, dass wir nicht mitfahren konnten?«

»Ich konnte nicht. Du hättest es machen sollen. Es wäre bestimmt schön geworden.«

»Ich bin nicht gern ohne dich.«

»Ich auch nicht. Aber wir haben im Moment wenig voneinander.«

»Geht das noch lange?«

»Ich fürchte ja. Er schweift immer wieder ab. – Du solltest schlafen.«

»Ich will dich spüren.«

Broszinski dachte an Weber, der in seiner Zelle eingeschlossen auf der schmalen Pritsche lag, sich nach Renate sehnte, ihr täglich lange Briefe schrieb: Ich umarme dich, ich sinke vor dir auf die Knie, ich drücke meinen Kopf in deinen Schoß, ich will dich. Ich will nicht Knast ohne Ende. Ich rede, und wenn das nicht hilft, bring ich mich um.

Birte schmiegte sich enger an Broszinski. Er küsste sie leicht auf die Schläfe und streichelte sanft ihren Rücken.

Zu mehr fühlte er sich nicht in der Lage.

6

Wilfried hatte Garfield am Schwanz gepackt und schleifte das Stofftier über den Boden. Angelika stellte sich ihm in den Weg. Bevor sie etwas sagen konnte, beugte er sich zu Garfield herunter.

»Was kommt dir zufolge noch mal dabei heraus, wenn wir eine Katze mit einem Hund kreuzen?«

»Leg ihn zurück auf die Couch.«

»Ich höre. – Was nuschelst du da? Deutlicher, bitte. – Ah, ja – eine blöde Katze.« Er richtete sich zufrieden nickend auf. »Eine blöde Katze kommt dabei heraus. Ein kluges Tierchen. – Auf die Couch? Will Geli unseren süßen Garfield nicht mehr in ihrem Bettchen haben? Nein?« Er zog einen Schmollmund.

»Auf die Couch«, wiederholte Angelika.

Wilfried nahm das Stofftier zu sich hoch.

»Armer Kater«, sagte er und schaute den Gestreiften betrübt an. Und dann seine Frau. Sie war eine großgewachsene, schlanke Frau. Ihr dunkelblondes, gewelltes Haar hatte sie zurückgebunden. Ihr Gesicht war gerötet. Sie trug noch ihren grauen Jogginganzug. Die Hosenbeine waren bis zu den Knien mit Dreckspritzern gesprenkelt. Die Nikes waren stark verschmutzt.

»Frauchen muss duschen.«

Angelika presste die Lippen aufeinander. Wilfried zuckte die Achseln und trottete zur Couch hinüber.

»Ein Herr Mahlzahn hat angerufen«, sagte er mit veränderter Stimme. Ruhig und sachlich. »Er ist bereit, die geforderte Summe zu akzeptieren.«

»Hast du etwa mit ihm gesprochen?«

»Nein, wie käme ich dazu. Die Nachricht ist auf Band. – Ist das der Mahlzahn?«

»Es gibt nur einen in der Branche.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Gut. – Er hat es sich zu lange überlegt.«

»Hast du schon verkauft?«

»Ja. Gestern Abend. An den Stern.«

Wilfried hatte Garfield platziert, rückte Bibo und Karlchen zurecht und zupfte an Wendelin.

Als Angelika und er vor vierzehn Jahren geheiratet hatten, war sie in ihn vernarrt gewesen, hatte all ihre Liebe ihm allein gegeben. Nicht diesen Plüschtieren, den unzähligen Teddies und Bären, die überall in der Wohnung ihren bestimmten Platz hatten.

Wilfried hörte, dass Angelika den Reißverschluss ihrer Jacke aufzog. Er drehte sich nicht zu ihr um. Siebenhundertzweiundneunzig Nächte schlief er jetzt schon allein. Immer noch zählte er. Und jedes Mal wurde sein Hals wieder eng. Er schluckte und wartete, bis sie die Schuhe abgestreift hatte und ins Bad ging. Kurz darauf rauschte die Klospülung. Garfield grinste ihn fett an.

»Was betrachtest du noch als Selbstverstümmlung? – Gymnastik, ja. Und Fasten. – Ja, du fetter Lasagne-Fresser. Und Selbstmord. – Schwachkopf. Ich springe nicht aus dem Fenster. – Oh, nein. Wilfried springt nicht.« Er wandte sich ab und sah hinaus auf die Straße. Der Bus zum Flughafen fuhr vorbei. Wilfried zählte drei Fahrgäste. Wie so oft fragte er sich, wohin sie fliegen würden.

In den ersten Ehejahren war er mit Angelika nach Portugal und Spanien, nach Griechenland und in die Türkei gereist. Mittelklassehotels, Halbpension. Sie hatten gebadet und Ausflüge gemacht. Abends in Lokalen gesessen, Wein getrunken. Sie hatte von zu Hause erzählt, von ihren Eltern, der älteren Schwester, den jüngeren Brüdern. Wie sie um Anerkennung hatte kämpfen müssen. Ständig. Den ganzen Haushalt geführt. Putzen und Waschen und Bügeln. Einkaufen, Essen kochen. Vorbei, hatte sie oft gesagt. Nie, nie wieder stelle ich mich an den Herd. Er hatte sie verständnisvoll angelächelt und sie beruhigt. Das brauche sie auch nicht mehr: Ich mache das Frühstück und ansonsten gehen wir aus. Oder lassen uns was kommen. Vom Griechen oder Chinesen. Legen uns dabei hin und sehen fern. Ganz gemütlich. Kuschelig.

Beine hoch – Amerika. Beine breit.

»Vorbei«, sagte er jetzt leise. Er begriff nach wie vor nicht, warum es seit einer Ewigkeit so war wie es war.

Mit gesenktem Kopf schlurfte er in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Er nahm Teller und Tassen aus dem Schrank und begann, den Frühstückstisch zu decken.

Alf saß auf seinem Hocker in der Ecke. Wilfried war versucht, dem Viech eine zu langen. Es in den Mülleimer zu stopfen. Katzenfresser.

Wenn er doch nur der blöden Katze ins Genick beißen würde. Damit sie nach Hilfe schrie. Nach ihm, ihrem Mann.

Angelika fand einen Platz vor dem Klett. Sie parkte ein, nahm ihren Aktenkoffer vom Rücksitz und stieg aus.

Es war in diesen letzten Dezembertagen ungewöhnlich mild. Angelika hatte eine rostrote kragenlose Jacke angezogen und dunkelbraune Bermudas. Die ebenfalls rostrote Strumpfhose würde die Blicke der Beamten auf ihre Beine lenken. Sie hatte sich in diesem Outfit schon einmal der Presse gestellt.

Das Hamburger Abendblatt hatte das Foto auf der ersten Seite gebracht, in Farbe und unter der Schlagzeile: DIE KÜHLE UND DER KILLER – RECHTSANWÄLTIN ANGELIKA GARBERS-ALTMANN ÜBERNIMMT DIE VERTEIDIGUNG DES KARL »ZAPPA« WEBER.

Sie war mit Glenn Close (Gefährliche Liebschaften) verglichen worden – ihre Schönheit ist ihre Kälte.

Das hatte ihr geschmeichelt, obwohl sie den Film bislang nicht gesehen hatte. Es gefiel ihr aber, als eiskalt und überlegen gehandelt zu werden. Sie wollte faszinieren – in jeder Hinsicht.

Ein Radfahrer verlangsamte und schaute zu ihr herüber. Er grüßte nickend. Sie wusste sich erkannt und tat, als sei es ihr lästig, blickte an ihm vorbei in Richtung Schlump. Der junge Mann drehte sich noch einmal um. Angelika war bereits auf dem Weg.

Webers Wohnung lag über dem Waschsalon im ersten Stock. Mit großem Balkon zur Straße hin.

In den Tagen nach Zappas Verhaftung hatten vor dem Haus unzählige Journalisten und Fernsehteams darauf gewartet, Renate oder Julia abfangen und befragen zu können. Doch Angelika hatte Julia angewiesen, vorerst bei ihrem Freund in Wandsbek zu bleiben und Renate hatte sich ohnehin verschanzt.

Auch jetzt noch ließ sie die Kette vor und öffnete die Tür nur einen Spaltbreit.

»Gute Neuigkeiten«, begrüßte Angelika sie. »Ich werde heute den Vertrag vorgelegt bekommen. Dreihunderttausend – exklusiv. Titelstory und eine weitere Folge. Es wird nichts gedruckt, was ich nicht vorher abgesegnet habe.«

Renate ließ sie ein und schloss wieder ab.

»Machen Sie es rückgängig«, sagte sie.

Angelika reagierte nicht darauf. Sie ging in das Wohnzimmer, legte den Aktenkoffer auf die Couch und ließ die Schlösser aufschnappen.

»Das Honorar schließt einige Fotos mit ein, und zwar das vor dem Standesamt, Julias erster Schultag, Karl am Schießstand auf dem Dom und natürlich Ibiza. Mit Detering.«

»Nein«, sagte Renate. Sie zündete sich mit ihrer heruntergerauchten Zigarette eine neue an.

Angelika nahm einen Hefter aus dem Koffer und setzte sich. Sie schlug die Beine übereinander und schaute zu Renate hoch.

»Es ist die Entscheidung Ihres Mannes, Renate. Er hat mich bevollmächtigt, den Kontakt aufzunehmen und die Verhandlungen zu führen.«

»Ich will ihn sprechen.«

»Ihr Besuchstermin ist morgen 14 Uhr.«

»Ich will heute zu ihm – gleich, mit Ihnen.« Sie blickte dabei zu dem kleinen Hängeregal. Angelika musste nicht hinsehen. Sie wollte es auch nicht. Es war ihr peinlich. Das dort aufgestellte Polaroid-Foto zeigte den nackt auf dem Bett liegenden Zappa mit erigiertem Penis.

Angelika wartete, bis Renate sich wieder ihr zuwandte. Sie bemerkte, dass Renate Nahtstrümpfe trug und schüttelte leicht den Kopf.

»Morgen«, wiederholte sie. »Kann Julia zu Ihren Eltern nach Bochum? Haben Sie das geklärt?«

»Sie sehen ihn jeden Tag. Gehen Sie immer so zu ihm?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie sind mit ihm allein. Länger als eine Stunde. Es ist kühl in dem Raum, feucht. Er trägt unter dem Pullover noch ein Hemd. Frieren Sie nicht?«

»Nein«, sagte Angelika ruhig. »Ich nehme allerdings auch keine Drogen.«

Renate lachte bitter.

»Was ist mit Ihrem Mann? Tablettensüchtig, depressiv – stimmt es, dass Sie nicht mehr mit ihm schlafen?«

»Renate -«

»Ich liege nachts wach und finde keine Ruhe. Weil mein Mann nicht neben mir liegt, und weil ich ihn brauche. Weil ich ihn spüren will – in mir, Frau Garbers, ganz stark in mir. Ja. – Können Sie das wenigsten verstehen? Auch wenn Sie selbst nicht dieses – das Bedürfnis haben. Oder haben sie es?«

»Ich würde sagen, wir haben andere Sachen zu besprechen.«

»Lassen Sie sich von ihm anfassen?«

»Großer Gott, Renate. Machen Sie mich nicht ärgerlich. Ich verstehe, dass sie enorm belastet sind. Es steht außer Frage, dass Kalli einen schweren Stand hat. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, ihm die Zeit zu erleichtern. Der Artikel -«

»Sie sind rot geworden.«

»Der Artikel wird Informationen enthalten aus denen hervorgeht, dass Ihr Mann -«

»Kalli – eben haben Sie Kalli gesagt. Kalli!«

Angelika legte den Hefter zurück und stand auf. Sie war etwas größer als Renate, die ihre Arme vor der Brust gekreuzt hatte und an der Zigarette sog.

Sie hatte sich auffallend geschminkt, die Wimpern getuscht, Eyeliner und einen grellroten Lippenstift benutzt. Um die Taille hatte sie einen breiten, schwarzen Ledergürtel mit einer Löwenkopfschnalle.

»Wenn ich jetzt Ihnen gegenüber von meinem Mandanten sprechen soll – bitte, Frau Weber. Ich war der Meinung, dass Sie mir vertrauen. – Was ist passiert? Warum reden Sie so mit mir? Was sollen diese Anspielungen, diese Unterstellungen?«

»Sie können jederzeit zu ihm.«

»Nein, das ist nicht richtig. Und selbst wenn es so wäre -«

»Sie waren immer schnell zur Stelle. Bei ihm, bei seinen Freunden. Kaum eingeliefert, schon waren sie da. Das hat er mir oft genug erzählt. Und noch mehr.«

»Zum Beispiel?«, fragte Angelika, obwohl sie es nicht hören wollte. Sie konnte sich jetzt schon denken, was bei Renate gegriffen hatte. Diese wilde Phantasien von Knackis und auch Vollzugsbeamten, die für die Bild -Zeitung bare Münze, glaubwürdige Aussagen waren.

Hatte auch Zappa so geredet?

Gerade er müsste es besser wissen.

Sie merkte, dass sie enttäuscht war. Und verletzt.

Renate lächelte böse.

»Ja?«, fragte Angelika nach. »Sagen Sie es nur – damit wir das ein für allemal klären können.«

»Das mit Milstadt«, sagte Renate. »Mit HP.«

Angelika wartete.

Zappa ging vor ihr auf und ab, und auf und ab. Immer bis dicht an die Wand und zurück zur anderen. Er rauchte und blickte zu Boden. Er knipste die Kippe aus und ging schneller. Blieb stehen. Sein Körper spannte sich. Er holte kurz aus und schlug mit der Faust an die Wand. Mehrere Schläge mit beiden Fäusten. Aus der Hüfte heraus.

Angelika schloss die Augen. Bis es vorbei war.

Aber Zappa hatte nur für Sekunden aufgehört. Jetzt klatschte er die flachen Hände an das Mauerwerk und knallte die Stirn dagegen.

Angelika war wie gelähmt. Ihr war kalt.

Sie musste an Renate denken. Frieren Sie nicht? – Ich nehme keine Drogen. Ich bin kühl und überlegen. Ich bin gut in meinem Beruf. Ich habe meine Arbeit, mein Leben im Griff. Bestens. Alles geregelt.

Sie wollte es herausschreien. Und heulen.

Zappa presste sich an die Wand. Seine Schultern zuckten.

Angelika bis sich auf die Lippe. Schmerz. Schmerz empfinden. Körperlichen Schmerz. Sie konnte es nicht, schluckte.

Zappa stieß sich von der Betonwand ab.

Angelika hob den Kopf. Zappa war nichts mehr anzumerken.

Als ob nichts geschehen sei, kam er an den Tisch zurück und setzte sich. Er zündete sich eine neue Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und streckte den Arm aus. Seine Hand war ruhig. Kein Zittern.

Er nickte entschlossen.

»Weiter«, sagte er. »Was noch?«

»Entschuldige«, sagte sie.

»Was denn? – Dass sie eine blöde Fotze ist? Nichts als Scheiße im Hirn hat? Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen. – Hat sie das mit Julia geregelt?«

»Wir haben nicht mehr darüber reden können. Ich – Kalli, es tut mir leid. Ich musste gehen. Ich konnte mir das nicht länger anhören.«

Zappa winkte ab.

»Ich brauche Stoff – sag ihr das.«

Angelika schüttelte den Kopf und strich ihr Haar aus der Stirn.

»Das kann ich nicht«, sagte sie. »Das – das darf ich nicht einmal zur Kenntnis nehmen.«

»Es geht okay«, stoppte er sie. »Sie wissen, dass ich drauf bin und bei Laune bleibe, wenn ich versorgt werde. Weder du noch sie werden kontrolliert. Das hab ich ausgehandelt. Und was bringt sie? – Null.«

Angelika atmete tief ein.

»Ich habe das nicht gehört.« Nicht weiter darauf eingehen. Schnell, ganz schnell die eigentlichen Punkte abhaken. Ihm nicht in die Augen sehen. Seine Hiebe an die Wand vergessen. »Ich habe im Anschluss den Termin in der Redaktion. Wir sollten besprechen, was alles veröffentlicht werden kann, ohne die Staatsanwaltschaft zu brüskieren.«

Sie griff nach ihrem Date Liner. Festhalten. Notieren.

»Erledige das«, sagte Zappa und nickte heftig. Er drückte die erst halb heruntergerauchte Kippe aus.« Milstadt. – Weißt du, was mit HP war? Das hat sie von ihm. Nicht ein Wort von mir. Er hat sich an sie rangeschmissen. Zappa reißt ja noch ein paar Monate runter. Zappa spinnt ohnehin nur von der Garbers. Was glaubst du, warum die uns als Kunden hat? Für praktisch nichts jede Menge Schreiben?«

»Du weißt, dass das nicht wahr ist«, unterbrach sie ihn. »Ich habe es dir nur gesagt, weil es mich verletzt hat.«

»Sie pult mir wieder einen bei – das ist angesagt. Sie hat sich auch von Milstadt wegmachen lassen. Das ist die Message – blick das mal. Um dich geht’s dabei nicht.«

Angelika schüttelte wieder heftig den Kopf.

»Nein, das ist – es ist widerlich«, sagte sie. »Es behindert – mein Gott, ich bemühe mich, das eben Mögliche für euch, für dich herauszuholen und ihr – ihr benutzt mich -«

»Sie – klar?«

»Macht das unter euch aus, sonst – sonst lege ich mein Mandat nieder!« Sie war laut geworden. Hatte nun plötzlich rasende Kopfschmerzen, einen trockenen Mund. Wie wahnsinnig schnell das ging. Benutzt. Kaum ausgesprochen hatte es sie voll erreicht. Benutzt – beschmutzt. Sie musste sich dagegen wehren.

Zappa umfasste ihr Handgelenk, zwang ihr seinen Blick auf.

»In Ordnung«, sagte er. »Schrei nicht. Dreh nicht durch. Okay? – Ich sage, es ist okay.« Sein Griff wurde fester, aber er lächelte – zärtlich.

Angelika spürte seine Kraft.

7

Die Digitaluhr zeigte 7:16. Fedder schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Er rasierte und duschte sich und saß um Punkt 7.30 Uhr an seinem neuen Clyde/Balder-Tisch.

Im gegenüberliegenden Haus waren mehrere Fenster mit elektrischen Girlandenkerzen erleuchtet – grün, rot und hell.

Es war Samstag, der 30. Dezember.

Fedder hatte sich für diesen Tag eine Menge vorgenommen. Um nichts zu vergessen begann er, die Notizen aus seinem Zweckform-Spiralbuch – umweltfreundlich, 100% Altpapier – auf die Rückseite eines länglichen Kuverts, einer Postwurfsendung der SüddeutschenKlassenlotterie zu übertragen. Er hatte ernsthaft überlegt, sich mit einigen 1/8 Losen zu beteiligen: Dann besitzen Sie eine fast 100%ige Chance auf einen Gewinn bis zu 625.000,- DM. – Fast. Keine Garantie. Fedder hatte es dann doch gelassen. Aber er dachte immer noch an die sechsstellige Summe. Die Renovierungsarbeiten in der Wohnung hatten sein Sparbuch auf Null gebracht. Ein neuer Teppichboden, eine Couchgarnitur und die Einbauküche. Tapezieren, streichen, Türen und Fußleisten lackieren – eins war zum anderen gekommen. Dafür ein Hunderter und für jenes sechsfünf, vieracht und so weiter, und so weiter.

Nett hatte er es jetzt, nur leisten konnte er sich nicht mehr viel.

Den Kurzurlaub über die Feiertage hatte er streichen müssen. Evelyn hatte sich daraufhin entschieden, Weihnachten bei ihren Eltern in Lünen zu verbringen. Sie wollte heute zurückkommen.

Fedder warf einen Blick auf das gerahmte Foto.

Es war im Treibhaus aufgenommen worden, der Schnappschuss eines Stammgastes.

Evelyn lehnte am Tresen und hatte den linken Fuß auf die Streben eines Barhockers gestellt. Sie trug Stiefel und eine an Knie und Schenkel geschlitzte Jeans, und unter der offenen schwarzen Lederjacke ein T-Shirt mit dem Aufdruck: I love me. Anstelle des o war das übliche rote Herz. Ihre Brüste zeichneten sich deutlich ab. Evelyn hielt einen Sektflöte in der Hand und lachte in die Kamera.

Sie hatte sich an diesem Abend total betrunken: Männer, geh mir weg mit Männern. Mach lalla.

Fedder hatte sie nach Hause gefahren.

Sie in ihre Wohnung im dritten Stock zu schaffen war nicht leicht gewesen. Er hatte sie sich über die Schulter hieven müssen, und sie hatte immer wieder versucht, ihm zwischen die Beine zu greifen. Und dann auf den letzten Stufen gekotzt – der Anfang einer nun schon drei Monate andauernden Liebe.

Jasmintee, schrieb Fedder auf. Yoghurt, Milch, Cornflakes. O-Saft, Sekt. Was er an den drei vor ihnen liegenden Tagen kochen sollte, war ihm noch nicht endgültig klar. Er dachte an Forellen und Kartoffeln, Spaghetti mit frischen Kräutern und eine Gemüsepfanne. Weder er noch Evelyn hatten Einladungen zu einer Silvesterparty angenommen. Sie wollten für sich bleiben und es sich rundum gemütlich machen.

Fedder notierte die restlichen Stichworte und ging wieder ins Schlafzimmer. Er wechselte die Bettwäsche, wischte Staub und mit einem feuchten Lappen Fensterbrett und Rahmen ab. Kurz vor neun war er auch mit dem vorderen Zimmer und der Küche durch. Er stopfte die schmutzige Wäsche in die Waschmaschine und stellte sie auf 40 Grad ein.

Als er sich das Bad vornahm, hörte er aus der Wohnung über ihm die beiden Frauen. Die eine Stimme war ihm hinlänglich bekannt – Elvira Hotze, Frau Dr. Elvira Hotze, die Mieterin. Sie hatte fast jede Woche eine neue Liebschaft. Im Moment ging offenbar wieder eine zu Ende. Eine Tür knallte und Frau Doktor legte los.

Fedder wusste, wie es weitergehen würde. Der neben Frau Hotze wohnende Taxifahrer würde seine Stereo-Anlage anwerfen, voll mit den Scorpions kontern. Das brachte den alten Sausack im Vierten auf Trab und den Lütten des allein erziehenden Vaters von oben zum Schreien. Spätestens dann waren sämtliche Hausbewohner aus den Betten und irgendein Idiot würde wieder bei ihm klingeln und ihn auffordern, hart durchzugreifen. Er war doch bei der Polizei und hatte Ausweis und Dienstwaffe – oder?

Lächerlich.

Fedder ließ alles stehen und liegen, schlüpfte in seine Jacke und stürmte die Treppe hinunter.

Er hatte es nicht weit bis zur KKB, nickte der Plakat-Steffi charmant lächelnd zu und ließ mit seiner Karte die Tür aufschnappen.

Nachdem er seine Überweisungen getätigt hatte, eilte er weiter zu Karstadt und schob mit dem Einkaufswagen durch die Lebensmittelabteilung.

Lachs war im Angebot. Aal war günstig. Die Feinkost-Käfer-Pizza in der Gefriertruhe sah als Abbildung auf der Packung gut aus. Er griff zu und zahlte letztendlich 89.23 DM.

Mit drei Tüten bepackt kam er zurück. Im Treppenhaus und in den Wohnungen war es auffallend ruhig. Fedder schloss bei sich auf und blieb auf der Schwelle stehen.

Im Flur brannte das Licht und das Telefon war nicht an seinem Platz. Im großen Zimmer telefonierte jemand – eine Frau.

Fedder atmete tief durch.

Er stellte die Plastiktüten ab und schlich zur Tür.

Die Frau stand mit dem Rücken zu ihm mitten im Raum, hielt den Apparat mit der Linken und hatte den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Mit der rechten Hand unterstrich sie die Dringlichkeit ihres Anrufs.

»Ma, ich hab gerade noch zehn Mark und allein dieses gottverdammte Gespräch – nein, du kannst mich nicht zurückrufen! – Nein! – Eine telegrafische Anweisung – nun red nicht! Komm mir nicht damit – ja?! Du hast es nicht weiter als hundert Meter zur Post rüber – ja, Scheiße! – Es regnet, es regnet! – - – Was? – Wer? – Oh, mein Gott – nein! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass – es ist mein Leben, hörst du?! Ich allein – nein, zum Teufel! Ich scheiß auf das, was --- Ma, bitte – bitte ---«

Sie drehte sich um und Fedder sah, dass sie nicht ganz so jung war, wie er vermutet hatte. Er schätzte sie auf Ende Zwanzig.

Ihre Annie Lennox-Frisur war nur an den Spitzen gebleicht. Sie hatte dunkelbraunes Haar und große, intelligent blickende Augen.

Sie bemerkte ihn nun auch und war kein bisschen verlegen.

»Moment«, sagte sie und nickte ihm zu. »Nein, Ma, ich bin alles andere als hysterisch. Du – ja, du raffst dich jetzt bitte auf und – ach was!«

Fedder musterte kurz von Kopf bis Fuß, schüttelte ein wenig hilflos den Kopf und holte dann seine Einkaufstüten rein. Er überprüfte Tür und Schloss und konnte nichts feststellen. Es war ihm absolut unerklärlich, wie die Frau in seine Wohnung gekommen war.

Während er in der Küche auspackte, beendete sie ihr Gespräch mit einer wüsten Beschimpfung. Sie knallte den Hörer auf und kam herangestöckelt.

»Sagen Sie -«, setzte Fedder an, aber sie machte gleich weiter.

»Oh, Scheiße, verdammte Scheiße! Ich hasse sie, ich hasse sie. Diese dumme, ignorante Kuh – redet einen solchen Scheißdreck, dass einem übel wird. – Haben Sie einen Schluck? Was ist das? Mumm –?

Sie war neben ihm. Fedder hielt ihren Arm fest.

»Wie sind Sie hier reingekommen? Wer sind Sie und was –?«

»Sorry«, sagte sie. »Die Tür war offen.«

»Offen?«

»Ja, zum Teufel. Ich hab geklingelt. Ich bin von oben, über Ihnen. Haben Sie nichts gehört?«

»Was soll ich –? Von Hotze -?«

»Ja, verdammt! – Das ist auch so eine.« Sie schnaubte abfällig. »Elvira – total durchgeknallt. Dreht durch, weil ich ’ne Valium genommen hab, mal nur pennen wollte – verstehen Sie? Eine Nacht lang Ruhe und nicht ständig grapschen. Das ist ja abartig. So was hab ich noch nie erlebt. Wo du gehst und stehst, klebt sie an dir und fummelt an dir rum. Sie haben’s bestimmt mitgekriegt. Sie ist dermaßen laut dabei – tierisch.«

»Die Tür war nicht offen – unmöglich.«

»Kreischt wie verrückt und – doch.«

»Nein. – Und selbst wenn – wie kommen Sie dazu, hier einfach -«

»Ich hab geklingelt«, wiederholte sie. »Ich musste telefonieren.«

»Ihren Namen, bitte«, sagte Fedder.

»Mein Gott, nun machen Sie doch nicht so einen Larry. – Martina. Martina Lorenzon. J – ist das Jens?«

»Jörg. Ich -«

»Wahnsinn«, sagte sie und hob theatralisch die Arme. »Sie setzt mich raus, ich hab nichts Bares mehr und meine Alte bepisst sich. Und Sie denken, ich bin völlig abgedreht. Sie sind doch Bulle. Sie müssten das doch kennen. Oder nicht?«

»Bulle.« Fedder versteifte sich augenblicklich. »Ich würde sagen, Sie verschwinden jetzt. Das war ein Ferngespräch – ja?«

»Ja, ja – sorry. Entschuldigung. – Okay, ich bin vielleicht wirklich ein bisschen daneben. – Martina, meine Liebste. Oh, du hast so einen phantastischen Body. Ich möchte dich, ich will dich -« Sie schloss halb die Augen und mimte die völlig Entrückte.

Fedder hatte genug.

»Vergessen Sie’s«, sagte er.

»Nicht nur für eine Nacht – eine Ewigkeit.« Sie war mit ihrer Nummer durch und blinzelte Fedder an. »Wie sind Sie eigentlich mit ihr klargekommen?«

»Ich? – Wieso?«

»Bei dieser grässlichen Geschichte mit der Kleinen – Sabine. Mein Gott, sie hat so was von ihr geschwärmt. Und jetzt -«

»Was? Welche Sabine?«

»Sie haben doch diese Akte da auf dem Tisch. Weigel, glaub ich.«

Fedder blickte sie fassungslos an. Das war der Gipfel. Sie war wie auch immer in seine Wohnung eingedrungen. Sie hatte sein Telefon benutzt und sie hatte zudem noch auf seinem Schreibtisch herumgeschnüffelt. In seinen Unterlagen. Unglaublich!

Er pumpte sich auf.

Sie merkte es und wich einen Schritt zurück.

»Das ist -«, setzte er an.

»Ich hab nur einen Blick drauf geworfen«, unterbrach sie ihn.

»Das ist nicht zu fassen!« Er schlug auf den Tisch und tat sich weh. Er wollte sie zurechtstauchen, schreien und toben, und konnte es nicht. Stattdessen starrte er sie an.

Sie hatte sich an den Türrahmen gelehnt und erwiderte seinen Blick. Ihre matt geschminkten Lippen zuckten. Aber auch sie sagte jetzt nichts mehr. Sie stand einfach da – eine schmale Person auf sehr hohen Hacken in einem kurzen, schwarzen Stretchkleid und einer Pepitajacke mit ausgestopften Schultern.

Fedder fiel nun auf, dass sie kaum Busen hatte und ein Halskettchen mit einem Sichelmond trug. Und dass sie keine Handtasche oder sonst was bei sich hatte.

»Können Sie sich ausweisen?«, sagte er betont förmlich. Er wusste sich nicht anders zu helfen.

Sie griff in ihre rechte Jackentasche, zog ein Portemonnaie hervor und öffnete es.

Das Foto auf der Personalkarte zeigte sie mit langen Haaren.

Fedder las, dass sie am 1. März 1960 in Emden geboren war. Martina Elisabeth Lorenzon. Er reichte ihr den Ausweis zurück.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie. Ihre Stimme hatte sich verändert, klang ruhiger. »Ich habe auf Ihrem Schreibtisch nichts angerührt. Aber das Bild liegt neben dem Hefter und Elvira hat den Zeitungsartikel aufbewahrt. Ich dachte, sie hätte schon mit Ihnen darüber gesprochen. Sie weiß doch, dass Sie bei der Kripo sind. Auch wenn sie nicht mit Männern kann – in dem Fall muss doch sie damit raus. Dass sie sie kannte, gut kannte. Das hat sie mir jedenfalls gesagt.«

»Setzen Sie sich«, sagte Fedder. »Ich kann das noch nicht richtig glauben. Das ist irgendwie verrückt.«

»Ich find’s schlimm, wenn sie tatsächlich nicht zu Ihnen gekommen ist. – Haben Sie eine Zigarette?«

»Nein. – Doch, ja. Warten Sie.«

Er rückte ihr einen Stuhl hin und ging ins Schlafzimmer. Beim Staubsaugen war er unterm Bett auf eine angebrochene Schachtel gestoßen. Er hatte es Evelyn noch nicht abgewöhnen können im Bett zu rauchen. Bei dem Gedanken an sie schaute er auf die Uhr. In knapp einer Stunde musste er am Bahnhof sein. Und hier war ihm eine wildfremde Frau reingeschneit, die was von Sabine wissen wollte. Von einer angeblichen Beziehung zu Frau Doktor Hotze.

Eine Etage über ihm. Er lauschte nach oben und hörte nichts.

Martina hatte Platz genommen. Sie nickte dankend als er ihr die Packung reichte und ein Streichholzheftchen vom Küchenbord nahm.

»Also«, forderte er sie auf. Sie schlug ihre wirklich sehenswerten Beine übereinander. Fedder verbat sich, länger hinzusehen. Er blieb stehen.

»Sie verkehrt im Gnosa«, fing Martina an. »Elvira, mein ich. Ich hab sie allerdings im Marriott kennen gelernt, am Pool. Es war eindeutig, dass sie – na ja, Sie wissen schon. Ich hab da einen Blick für. Wenn ich knapp bei Kasse bin – und ich bin im Moment verdammt knapp, investier ich die zwanzig Mark –«

»Das will ich nicht hören.«

»Es ist nichts dabei. Für mich nicht. Ich lass mich nicht von Typen anbaggern, verstehen Sie?«

»Das ist mir egal. Ich möchte wissen, wie das mit Sabine Weigel war.«

»Okay, okay – Elvira hat mich eingeladen und gleich in die Vollen. Ich war’s. Ich und nur ich allein. – Von wegen. Schon in der ersten Nacht ging pausenlos das Telefon. Irgendwelche Verflossenen. Ich hab sofort geschnallt, dass sie sie sich allesamt noch warm hält.« Sie nahm einen Zug und schaute sich nach einem Ascher um.

Fedder stellte ihr eine Untertasse hin. Er musste das Geschirr noch einräumen.

»Sabine.«

»Ja, ja – das war gestern. Sie saß in der Wanne und ich hab ihre Bücher durchgesehen. Ich wollte was lesen. Dabei bin ich auf die Mappe gestoßen – zufällig.«

»Ja, ja«, sagte jetzt auch Fedder.

»Ein Fotoalbum«, korrigierte sich Martina. »Okay, ich war neugierig. Ich hab’s durchgeblättert und sie hat mich dabei überrascht. Sie hat angefangen, zu erzählen. Wie lange und wo sie mit der in Urlaub war, was die für eine Macke hatte, warum sie mit der nur kurz – das war alles ganz witzig. Zum Schluss kam der Zeitungsausschnitt.«

»Und was hat sie dazu gesagt?«

»Dass sie das Mädchen aus dem Gnosa kennt. Eine Novizin.«

»Eine was?«

»Eine Neue. Eine Jungfrau. – Das hat sie gereizt.«

»Und hat sie mit ihr –?« Fedder räusperte sich. Es fiel ihm schwer auch nur geschlafen zu sagen. Er sah die tote Sabine vor sich. Die vergewaltigte und brutal ermordete Sabine. Eine 20-Jährige, von der er bislang so gut wie nichts wusste. Vater Weigel war keine große Hilfe. Freunde und Bekannte der Familie waren weitgehend in Urlaub und nicht erreichbar. Die Zeit zwischen den Jahren war in Bezug auf Ermittlungen eine Katastrophe. Gelinde ausgedrückt. Aber ausgerechnet in seinem Haus gab es eine Frau, die Sabine gekannt hatte. Wunderbar, würden die Kollegen sagen. Großartig. Wo Fedder ist, kommt Leben in jeden noch so aussichtslosen Fall.

»Sie hat – ja. Sie war echt fertig. Ehrlich, ich dachte, sie wär längst bei Ihnen gewesen. Mein Gott, mit einem von der Kripo praktisch Tür an Tür – haben Sie denn Sabine hier nie gesehen?«

»Nein«, sagte Fedder. »Möglicherweise gehört.«

»Die Wände sind verdammt dünn, ja?«

»Das kann man sagen.«

»Na ja, mit Namen hat sie’s ja nicht so – stört Sie das nicht?«

»Was?«, fragte er dummerweise.

»Ich hab damit ein Problem. Ich beiß lieber ins Kissen und ich kann auch nicht -«

»Hat sie Ihnen gesagt, wie lange sie mit – mit Sabine zusammen war?«

»Wollen Sie nicht zu ihr hoch?«, fragte Martina zurück.

»Ja, später.«

»Ich nehm mal an, sie war die Flamme vor mir. Wissen Sie schon was?«

»Nicht viel«, gestand Fedder.

Martina drückte die Kippe aus und sah ihn offen an.

»Wie ist das eigentlich? Bei der Kripo, mein ich. Sie haben reichlich Stress, was«

»Was hat sie noch von Sabine erzählt?«

»Wie sie war?«

»Was sie miteinander geredet haben.«

»Bestimmt nicht viel.«

»Wissen Sie das?«

»Nein, ich denk’s mir. Elvira wird ihren Strang abgespult haben. Das hat sie verflucht gut drauf. Sie schmeichelt dir, sie findet dich total geil – sie macht sich heiß und gibt dir zu verstehen, dass es wahnsinnig mit ihr abgeht. Wahnsinnig, ja. Darum hält’s auch keine länger mit ihr aus. Sie zieht nur das eine Ding durch. Echt sexbesessen – und du kannst irgendwann nicht mehr. Also mir wird das zu heavy. Hast du – Entschuldigung, haben Sie nicht doch einen Schluck für mich?«

Fedder hatte drei Flaschen Sekt gekauft. Mumm dry.

Er zögerte.

Er sah demonstrativ auf seine Armbanduhr.

Martina angelte sich noch eine Zigarette aus der Packung.

Ein Glas, dachte Fedder. Und sie noch etwas ausquetschen. Ihre Adresse und Telefonnummer notieren. Für später.

Er nickte kurz, nahm ein Glas aus dem Schrank und entkorkte vorsichtig eine Flasche. Dann entschied er sich, ein Gläschen mitzutrinken. Auf diesen ihm immer noch unglaublich erscheinenden Zufall.

Er schenkte ihr und sich ein.

Als sie anstießen, hörte er jemanden im Treppenhaus. An seiner Tür. Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt.

»Prosit Neujahr!«, rief Evelyn vom Flur aus. »Wo steckt denn mein Hase? – Oh, ich sag dir – Familie! Family! Ein einziger Horror!«

Fedder eilte ihr entgegen.

»Du?«, setzte er an. Evelyn fiel ihm um den Hals, schmiegte sich an ihn und küsste ihn leidenschaftlich.

»Okay«, sagte Martina. Sie war nun auch aus der Küche gekommen, stand hinter ihm. »Dann zisch ich mal ab. Und – danke.«

Evelyn löste sich abrupt von Fedder. Sie sah Martina und dann Fedder an. Und wieder Martina, die ihr Kleid an den Hüften glatt strich.