Der Tod des Samurai. Kiez-Trilogie II - Frank Göhre - E-Book

Der Tod des Samurai. Kiez-Trilogie II E-Book

Frank Göhre

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Beschreibung

Bandenkrieg in St. Pauli. Der 35jährige Rosenheimer Franz Auer, wegen seines Japan-Ticks »Samurai« genannt, wird, nur wenige Schritte vor der U-Bahn-Station Reeperbahn entfernt, im Hinterzimmer des Lokals »Die Grotte« von einem Unbekannten erschossen, während im Schankraum die Touristen ihr Bier trinken. Über den Toten reden alle nur Gutes, aber zu dem Mord kann und will niemand etwas sagen, auch den Killer erkennt niemand auf dem Phantombild der Polizei ... Die Kiez-Trilogie liefert ein faszinierendes und realistisches Gesellschaftspanorama des Hamburger Rotlicht-Milieus. Göhre nutzt das Genre zur Durchleuchtung des ganz großen Filzes.

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Impressum

Digitale Edition: © CulturBooks Verlag 2021

Erstausgabe: 1989

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

eBook-Cover: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: Oktober 2021

ISBN 978-3-95988-207-1

Über das Buch

Bandenkrieg in St. Pauli. Der 35jährige Rosenheimer Franz Auer, wegen seines Japan-Ticks »Samurai« genannt, wird, nur wenige Schritte vor der U-Bahn-Station Reeperbahn entfernt, im Hinterzimmer des Lokals »Die Grotte« von einem Unbekannten erschossen, während im Schankraum die Touristen ihr Bier trinken. Über den Toten reden alle nur Gutes, aber zu dem Mord kann und will niemand etwas sagen, auch den Killer erkennt niemand auf dem Phantombild der Polizei ...

Die Kiez-Trilogie liefert ein faszinierendes und realistisches Gesellschaftspanorama des Hamburger Rotlicht-Milieus. Göhre nutzt das Genre zur Durchleuchtung des ganz großen Filzes.

Über den Autor

Frank Göhre

Der Tod des Samurai

Kiez-Trilogie Band 2

1

Er lag auf der breiten Liege und starrte an die Decke. Er redete. Er redete schon sehr lange. Seine Hände waren nass von Schweiß, und seine Stimme war ihm fremd geworden. Es war die eines kleinen Jungen.

Er hatte draußen im Garten gespielt und Durst bekommen. Über den Balkon war er in die Küche gestiegen und hatte ein Glas Milch getrunken, und dann etwas aus seinem Zimmer holen wollen. Keine Ahnung mehr, was.

Nein, er erinnerte sich wirklich nicht. Das war doch auch nicht wichtig, oder? Er war jedenfalls über den Flur geschlichen. Er stockte. Es fiel ihm jetzt selbst auf, was er gesagt hatte. Geschlichen. Also heimlich. Ja, um nicht zu stören. Seine Schwester übte für das Schulfest. Sie spielte Cello. Die große Schwester. Sie war älter als er. Papas Liebling. Er hörte Papas Liebling im Schlafzimmer der Eltern. Die Tür war nur angelehnt.

Er hatte seine Schwester vorher nie ganz nackt gesehen. Jetzt sah er sie. Sie lag auf dem Bett und hatte die Augen geschlossen. Ihre Hand war zwischen den Beinen, und sie stöhnte leise. Er konnte einfach nicht wegschauen. Ganz genau sah er, was sie da mit sich machte. Sah ihren dunklen Pelz und das Auge. Das Bärenauge. Die Muschi. Die Möse. Die Votze. Er kannte diese Wörter schon. Er war nicht mehr so klein. Er war dreizehn, und auf der Straße sprachen sie oft davon. Von den Ischen und Weibern und was sie da unten hatten. Die Hand wurde schneller und schneller, und er hielt den Atem an und sein Herz klopfte heftig. Seine Schwester keuchte und wand sich, als habe sie Schmerzen, wurde lauter und er spürte plötzlich, dass vorn seine Hose feucht wurde. Erschrocken stürzte er ins Bad und vergaß, abzuschließen. Und dann war sie auf einmal da und riss ihn an den Haaren und schlug ihn und schrie. Sie schlug ihn hart, prügelte ihn.

Er wehrte sich nicht. Er ließ sich nur zu Boden fallen, und irgendwann war es vorbei. Er atmete schwer.

Seine Schwester hockte auf dem Wannenrand und heulte. Sie hatte Papas Schlafanzugjacke übergezogen und sonst nichts. Sie zitterte am ganzen Körper. Es dauerte lange, bis sie etwas sagen konnte. Niemand durfte es erfahren, schluchzte sie schließlich. Obwohl es nichts Schlimmes war. Es war nicht schlimm, in Papas Bett zu liegen und Bauchweh zu haben. Das war von der Hitze gekommen und dem vielem Eis. Und dann versprach sie ihm Geld und dass sie ihm bei seinen Schularbeiten helfen würde. Er nickte nur. Nickte und sah sie wieder an. Sie lächelte zaghaft und strich ihm das Haar aus der Stirn, streichelte sein Gesicht. Und dann umarmte sie ihn und zog ihn an sich, redete leise weiter. Dass er sicher schon verstehe, wie das ist. Wenn einem so heiß sei. Er verstand alles. Er verstand sie sehr gut. Ihm war auch heiß, furchtbar heiß.

Ja, ja! Unvermittelt schlug er die Hände auf die Liege und schrie: Jaaahhhh! Ein gellender, durchdringender Schrei. Ja! Sie! Sie wollte es so.

Gottschalk ließ die Jalousie herunter. Sie hakte und er rupfte sie zurecht. Es war ein ungewöhnlich schöner Apriltag. Der Himmel war klar und die Sonne schien. Eine grauenhafte Vorstellung, dass es so bleiben würde. Dieses Hühnerficker-Wetter.

Gestern hatte es geregnet, den ganzen Tag über. Das hatte ihm gut gefallen. Regen und ein starker Wind: Regentropfen, die an mein Fenster klopfen. Er hatte die Melodie wieder im Kopf. Sie würde bleiben.

Hauptkommissar Gottschalk seufzte. Regentropfen.

Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und betrachtete noch einmal das Zeitungsfoto. Es zeigte den »Samurai« in klassischer Pose. Mit breitem Stirnband und Schwert.

Der »Samurai« war ein schlanker Mann mit gepflegtem Lockenkopf und sauber gestutztem Schnäuzer. Er hatte hohe Wangenknochen und einen leichten Silberblick.

Der Tod des Samurai, war der Artikel überschrieben, in dem der Tathergang bemerkenswert exakt geschildert wurde:

Das Lokal »Die Grotte« kennt jeder auf St. Pauli. Von der U-Bahn-Station Reeperbahn sind es nur wenige Schritte bis zum muschelförmigen Eingang. Im vorderen Schankraum trinken Kiez-Touristen aus aller Welt ihr Bier und sehen scharfe Pornofilme. Im Hinterzimmer dagegen verkehrt die »einschlägige Kundschaft«.

Am 21. März, einem Montag, ist nicht viel los in der »Grotte«. Die beiden Bardamen stehen hinter der Theke und langweilen sich. Im Hinterzimmer sitzt einsam der 44-jährige Herbert Botan (»Der Stone«) vor seinem Bier. »Der Stone« ist ein auf dem Kiez gefürchteter Schläger und enger Vertrauter des Mannes, der mit einstweiligen Verfügungen untersagen lässt, ihn den »Paten von St. Pauli« zu nennen. Werner »Emma« Stobbe ist hanseatischer Kaufmann und in keine dunklen Machenschaften verwickelt. Das muss in diesem Zusammenhang nachdrücklich erwähnt werden.

An diesem Abend wartet der »Stone« auf Franz Auer. Auer unterrichtet im Sportcenter Winterhude in der »Kunst des Bogenschießens« und wird aufgrund seines Japan-Ticks »Der Samurai« genannt. Der 35-jährige Rosenheimer kam 1981 nach Hamburg, arbeitete als Kellner und war kurzfristig Wirtschafter im »Palais d’Amour«.

Heute will Botan ihm ein Angebot machen. »Der Samurai« soll in das Sportstudio seines Spezis Magath überwechseln. Gegen 20 Uhr erscheint dann im Lokal statt des erwarteten Auer ein dunkelhaariger Mann. Der Unbekannte ist ganz in Schwarz gekleidet. Am Tresen bestellt er in holprigem Deutsch: »Biera«. Um 20.13 Uhr kommt der »Samurai« ins Lokal. Er geht an dem Unbekannten vorbei ins Hinterzimmer, begrüßt den »Stone« und setzt sich zu ihm. Die beiden kommen nicht zu ihrem Gespräch. Der Unbekannte ist dem »Samurai« gefolgt, zieht wortlos einen 38er Revolver und drückt dreimal ab. Franz Auer fällt getroffen vom Stuhl. Zwei Kugeln haben sein Herz durchschlagen, eine steckt in der Lunge. Der Killer hat gut gezielt. Der Revolvermann flüchtet aus dem Hinterausgang in die Tiefgarage, wirft seine Waffe in einen Abfalleimer. Der »Stone« sitzt apathisch da, erst die Barfrauen überwinden den Schock und rufen die Polizei. Zu spät, der Todesschütze entkommt.

Die Tatwaffe, ein Smith & Wesson-Revolver vom Typ »Military and Police« wird untersucht – ohne Ergebnis. Die Barfrauen erinnern sich, dass der Unbekannte dünne, weiße Handschuhe trug. Ein Phantombild wird angefertigt – niemand erkennt den Killer darauf. Beamte der Mordkommission vernehmen insgesamt 125 Personen. Alle sagen nur das Beste über den Toten, aber über den Mord will niemand etwas wissen. »Der Stone« schließlich fühlt sich nach dem Tod Auers isoliert. Er sieht sich auf dem Kiez von vielen ehemaligen Freunden gemieden.

Glauben die etwa, er wäre nicht nur unbeteiligter Zeuge der Todesschüsse an der Reeperbahn?

Gottschalk seufzte wieder und faltete die Zeitung zusammen. Er nahm den Telefonhörer ab und wählte.

»Ja?« Broszinski schien genervt zu sein.

»Nur kurz«, sagte Gottschalk. »Bleibt es bei heute Abend?«

»Klappt’s bei dir nicht?«

»Doch, doch. Acht Uhr?«

»Ja.«

»Gut, dann nur eine ...« Gottschalk zog die Augenbrauen hoch. Broszinski hatte bereits aufgelegt.

Gottschalk hielt den Hörer noch in der Hand, als Kollege Fedder hereinkam und grüßend nickte. Er trug diese scheußliche grün-blau karierte Bundhose und einen gelben, einen knallgelben Pullover über dem schwarzen Hemd. Gottschalk ließ den Hörer auf die Gabel fallen.

»Ja?«, fragte Fedder.

»Land in Sicht?«, fragte Gottschalk leichthin.

»Bitte?«

»Hast du eine Verabredung?«

»Wie kommst du darauf?«

»Nur so. Du siehst – na ja, eine neue Frau wäre sicher nicht schlecht für dich.« Er zupfte am Revers seines dunkelblauen Blazers. Fedder bekam schmale Lippen. Gottschalk winkte beschwichtigend ab: »Vergiss es. Du bist heute ein bisschen spät dran.«

»Die Spritze«, sagte Fedder.

»Das hab ich vergessen. Wie lange geht das noch?«

»Bis zum ersten Pollenflug und länger. Drei Jahre. Vorläufig jede Woche, jeden Freitag halb neun. Seit Oktober schon, und du fragst mich jedes Mal wieder.«

»Entschuldige.«

Fedder griff sich eine Akte und schlug sie auf.

»Was steht alles auf dem Programm?«, fragte er.

»Eine Menge«, sagte Gottschalk, nahm die Zeitung und rollte sie zusammen. Er hatte keine Lust mehr, noch weiter mit Fedder zu reden. Seine Spritze, zum Teufel damit. Helfen würde ihm die Behandlung ohnehin nicht viel. Heuschnupfen, Allergien. Das war in erster Linie ein psychisches Problem. Da musst du mal ran, Junge, dachte Gottschalk. An deine ganzen verkorksten Geschichten. Er ließ kurz einen fahren und stapfte zur Tür.

Die Maschine aus Berlin war pünktlich gelandet, und Birte verspürte ein leichtes Kribbeln im Bauch. Sie hatte Regina eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, nur in letzter Zeit einige Male mit ihr telefoniert. Regina. Die Schulzeit in Walsrode, die gemeinsamen Freunde. Der langandauernde, intensive Kontakt mit ihr, als sie bereits in Berlin war. Kaum eine Woche, in der sie nicht von ihr gehört oder eine Karte bekommen hatte. Sie waren zusammen in Urlaub gefahren, in die Toskana, nach Paros. Und dann diese Tage auf Sylt.

»He!« Sie stand plötzlich vor ihr. »Birte!«

»Regina!«

»Schön. Schön, dich zu sehen.« Regina setzte ihre Tasche ab und breitete die Arme aus. Sie hatte sich verändert, war schmaler geworden. Die Haare kurz und nachgedunkelt. Ein leichtes Make-up, dezentes Parfüm. Modisches Jackett, hautenge Edeljeans und hochhackige Pumps.

Regina registrierte Birtes Blicke.

»Na, komm«, sagte sie. »Lass dich umarmen.« Sie fasste Birte an die Schultern, zog sie zu sich heran und küsste sie auf die Wangen.

»Ich freu mich«, sagte Birte leise. »Ich freu mich wahnsinnig, dass du hier bist.« Ihre Stimme zitterte ein wenig.

Als sie im Wagen saßen, kramte Regina eine Zigarettenpackung aus ihrer Tasche, hielt sie Birte hin.

»Nein, danke«, sagte Birte.

»Überhaupt nicht mehr?«

»Nur noch gelegentlich.«

»Ich wollte, ich könnte das auch. Aber – aussichtslos. Sobald ich am Schreibtisch sitze, ist eine nach der anderen fällig. Und ich hocke die meiste Zeit über an der Maschine. Shit, aber dieses freie Arbeiten bringt’s nun mal mit sich. Diese Woche hab ich jeden Abend bis mindestens Zehn rangeklotzt. Und denk nur nicht, dann Beine hoch, Amerika. Nein, noch irgendeine Verabredung auf einen Wein, und das meistens bis spät in die Nacht, und Kläuschen will auch hin und wieder bedient sein.«

»Kläuschen?«

»Klaus, ja. Mein derzeitiger Lover. Ein bisschen jung, aber einfühlsam. Sehr einfühlsam. Das einzige Problem ist, dass er mich ernsthaft liebt und ich – hab ich dir nicht von ihm erzählt?«

»Nein. Wann denn wohl?«

»Ja, ja. Du, das holen wir jetzt alles nach. Vier Jahre, Birte, vier Jahre. Und trotzdem, mir ist, als ob dich gestern erst ... Wahnsinn, ich war da ziemlich fertig. Diese üble Nummer mit Bill. Amis sind einfach unglaubliche Arschlöcher. Ich hätt ihn ... du, mir ist das vorhin wieder hochgekommen. Wenn ich dich nicht gehabt hätte ... du, wie ist das mit deinem Bullen? Ist das okay?«

»Alles bestens. Kein Stress.« Birte legte den Gang ein und setzte zurück.

»Na, toll«, sagte Regina. »Das müssen wir auch nicht mehr haben. Diese üblen Beziehungskisten. Mein Gott, was hab da früher investiert. Insistiert, nachgehakt und unterm Strich ständig draufgezahlt. Ob Bill oder Werner ... das war auch so ein Streifen. Eine Story für sich. Der hat ... du ...« Sie kicherte. »Nein, das spar ich mir für später auf. Das war vielleicht ein Typ.«

Birte nickte.

»Sag mal, wie sehen denn deine Pläne aus? Du wohnst bei uns, das ist klar. Was hast du heute alles?«

»Große Konferenz bis sechs und morgen unter Umständen noch ein Frühstück. Okay, am Nachmittag will ich mich dann allein mit der Wolf treffen. Das ist für mich die wichtigste Person in den Laden. Wenn ich mit der gut kann ... tja, Birte, drück mir die Daumen. Ab Juli in Hamburg, das wär doch was. Endlich fest und mit Sechsfünf ... gut, wie auch immer. Also heute bis zum Abend ausgebucht und morgen ...«

»Wir machen heute Abend ein Essen.«

»Na, wunderbar. Morgen lad ich euch dann ein und Sonntag ... du, ich hab Zeit bis Dienstag. Ich kann den letzten Flieger nehmen. Was hältst du davon, wenn ... hast du Lust auf zwei, drei Tage Sylt?« Birte sah kurz zu ihr hin. Regina drückte ihre Zigarette aus. »Ich brauch ein bisschen Luft«, sagte sie noch.

»Zeit hätte ich«, sagte Birte.

»Aber?«

»Ich überleg’s mir.«

»Hast du ... oh, no. No prob, Birte. Nur spazieren gehen und quatschen. Ich ... du, ich war damals ... ach, Shit. Du weißt, was war. Ich hab dich gebraucht und für mich war’s okay. Ist bei dir was zurückgeblieben?«

»Ja, natürlich.«

»Und was?«

»Irritation und ... na ja, im Nachhinein ... du hast mich schon enttäuscht. Ab nach Berlin und dann über Jahre nichts. Du hast nichts von dir hören lassen. Wenn ich nicht ...«

»Ja, sorry. Das war ... okay, keine Rechtfertigung. Ich bin abgetaucht und danach hat’s mich überrollt, nicht nur arbeitsmäßig. Ich seh erst seit ein paar Monaten wieder Land. In jeder Beziehung.«

»Ich will’s dir auch nur sagen«, sagte Birte und schaltete hoch.

Broszinski schloss seinen Wagen ab und überquerte die Straße. Unauffällig sah er sich um. Es gab nichts, was ihn beunruhigte. Vor dem Supermarkt pisste ein Köter an einen Fahrradreifen. Schulkinder kamen mit Kassetten aus einer Porno-Videothek. Eine ältere Frau teilte mit den Tauben ihr Rundstück. Aus einem weit geöffneten Fenster war Chuck Berry zu hören. Die gute, alte Zeit. Der Clubname passte: LOLA. Eine vom Kiez-Rubens gemalte Frau mit strammen Titten.

Broszinski ging die Stufen zum Club hinunter. Ein Schrifttafel versprach reelle Preise. Pils und Korn 5 Mark, und Sie sind dabei. Hier ist alles nackt, selbst die Glühbirnen.

Er klingelte dreimal kurz und einmal lang. Sofort ertönte der Summer. Broszinski drückte die Tür auf und trat ein.

Erwin stand hinter der Bar an der Kasse. Maßgeschneiderter, schwarzer Anzug mit Weste, das weiße Hemd und die dunkle Krawatte. Broszinski wusste inzwischen, dass Erwin diese Garnitur in siebenfacher Ausfertigung besaß, sich nie anders kleidete. Es war nicht sein einziger Tick. Erwin hatte es mit der Sieben. Eine magische Zahl und überhaupt. Kabbala und frag mich was. Für Broszinski war das kein Thema.

Erwin hob abwehrend die Hände.

»Ich hab noch nichts«, sagte er. Er hatte kein gutes Gesicht. Das Kinn war schief. Der gern beschuldigte Unbekannte hatte Erwin vor einigen Monaten den Kiefer versetzt. Seitdem nuschelte Erwin.

»Champagner«, sagte Broszinski.

»Was, bitte?«

»Ich brauch eine Kiste Champagner. Zum Einkaufspreis.« Broszinski blätterte ein paar Scheine auf den Tresen. »Reicht das?«

Erwin sah auf das Geld und dann Broszinski an. Sein Grinsen machte ihn nicht attraktiver.

»Das ist ja nun mal ganz was Neues«, sagte er. »Wie soll ich das denn verstehen?«

»Ich hab heute Abend Gäste.«

»Nett, aber für den Schotter bekommst du’s gleich nebenan im Handel.«

»Nicht deine Marke.«

Erwin zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Willst du mich verschaukeln?«

»Nein. Steck einfach ein paar Gramm dazu. Ich fahr den Wagen inzwischen auf den Hof und lad den Karton dann ein.«

»Das gefällt mir nicht.«

»Ein Deal unter Partnern.«

»Partner«, sabberte Erwin. »Von wegen Partner. Da zahl ich doch nur wieder drauf. Warum greifst du nicht einfach in euer Depot?«

»Ich bleibe sauber, und du riskierst nichts dabei. Aus, Ende. Setz deinen Arsch in Bewegung.« Broszinski schnippte ihm die Scheine zu.

Einer flatterte hinter der Bar zu Boden. Erwin stieß einen Fluch aus. Broszinski hatte sich abrupt umgedreht und ging zur Tür. Aus einer der Nischen vernahm er ein Geräusch, blieb stehen. Es war eine von Erwins Katzen, die zum Sprung ansetzte.

Mitch schenkte sich Bier nach. Seine Hände zitterte immer noch. Gottschalk registrierte es. Das und die tiefen Ringe unter den Augen, die Bartstoppeln. Mitch war fertig, musste seit Tagen gesoffen, kaum geschlafen haben. Sie saßen im »Hollywood«. Gottschalk hatte das Geschnetzelte in Rahmsoße bestellt. Es schmeckte nicht viel besser als ein Whopper. Das »Hollywood« war ein Schweineladen. Die Bedienung hatte sie erst einmal übersehen, weiter am Tresen mit einem schlaksigen Typ rumgemacht. Sie trug einen Stars-and-Stripes-Mini und gab sich saugeil. Mitch hatte sie schließlich herangepfiffen.

Gottschalk lockerte seufzend seinen Gürtel.

Mitch grinste. Eine Fratze. Ein Ensor-Gesicht, hager und kaputt.

»Das siehst du völlig richtig.« Er rülpste. »Beschissen ist exakt das Wort. Genau. Angeschissen. Angeschissen habt ihr mich, zugeschissen. Bis zum Hals steck ich in der Scheiße. Aber der Kopf, Gottschalk, der Kopf ist klar. Glasklar.« Er machte eine große Geste, nickte bekräftigend und nahm einen Schluck Bier.

Gottschalk nickte auch.

»Ja«, sagte er. »Das hört man immer wieder. Dass du den totalen Durchblick hast, angeblich sämtliche Zusammenhänge kennst. Aber wenn ich dann lese, was du von dir gibst ...«

»Ich bin doch nicht verrückt. Für die paar Riesen – nein, Mann, nein. Die Serie, du meinst die Serie ...«

»Genau. Ein Kommissar packt aus. Wichse, Mitch, eine einzige Wichse was du denen da verkauft hast.«

»Das ist längst nicht alles.«

»Sagst du. Was hast du denn noch? Was ist denn mit dem Samurai? Das würd ich zum Beispiel gern wissen.«

»Ja«, lachte Mitch. »Ja, ja, das glaub ich dir. Kleines Bierchen und Mitch soll in die Kiste greifen. Für praktisch nichts. Der Samurai! Nein, nein – aber gut, ich sag dir, was mit dem Samurai ist. Du sollst es hören.« Er lehnte sich zurück und schaute zu dem Mädel hin. Der Bursche hatte jetzt die Hand auf ihrem Arsch und zeichnete gelangweilt die Sterne nach. Sie ließ die Zunge kreisen. Mitch spielte mit seinem Glas.

Gottschalk wartete.

»Der Anfang«, sagte Mitch schließlich theatralisch. »Der Anfang vom Ende ist der Samurai, das letzte verzweifelte Aufbäumen. Emma ...«

»Emma«, unterbrach Gottschalk hart. »Das hätt ich mir eigentlich denken können. Emma. Für dich gibt’s nur Emma. Stobbe, der Pate. Herrgottnochmal, Mitch, du bist wirklich völlig im Arsch.«

»Es ist ›Emma‹«, sagte Mitch ruhig. »›Emma‹ hat das eingefädelt. Er hat den Samurai vom Brett gefegt. Eine unbedeutende Figur, aber ein genialer Zug.«

Er fuchtelte mit der Hand. Zigarettenasche fiel auf den Tisch. Gottschalk zog den Teller näher zu sich heran.

»Der Samurai hatte nichts mehr laufen.«

»Genial«, wiederholte Mitch. »Aber ihr habt keine Ahnung! Natürlich nicht. Das ist es ja.«

»Also, was?«, fragte Gottschalk.

Mitch nahm noch einen Schluck.

»Die Raffinesse, das Geniale«, sagte er. »Ein Mord, für den es kein Motiv gibt, kein sichtbares. Für euch nicht. Aber ich seh es. Krieg, Gottschalk. Es wird einen Krieg geben, eine blutige Schlacht, und Emma ...« Er brach ab, schüttelte den Kopf.

»Ja? Nun komm, red weiter. Ich hör’s mir ja an.«

»Stell dir nur eine Frage, eine einzige. Wer kann die Tür aufgeschlossen haben, die Tür zur Tiefgarage, durch die der Killer ...?«

»Und deine Antwort ist Emma, oder besser noch der Stone. Danke. Darauf scheiß ich wirklich. Das ist doch absurd.« Er winkte nach der Bedienung, aber das Mädchen reagierte nicht.

Mitch beugte sich vor und packte Gottschalks Krawatte.

Auf dem Weg zur Kantine nahm die Wolf Regina beiseite.

»Deine Argumentation hat mir gut gefallen«, sagte sie. »Das wäre in der Tat ein neuer Ansatz. Wir können das morgen ja noch unter uns vertiefen. Ich möchte dich aber jetzt kurz etwas anderes fragen.« Sie waren stehen geblieben und Regina zog ihre Zigarettenpackung aus der Tasche. Die Wolf nahm eine. Sie sah zu den anderen Frauen, die schon am Fahrstuhl waren und gab ihnen zu verstehen, dass sie nicht warten sollten. Regina ließ ihr Feuerzeug aufflammen.

Die Wolf beugte sich zu ihr. Sie war eine ungewöhnlich große Frau. Groß und schlank. Regina wusste, dass sie früher aktive Sportlerin gewesen war und sogar eine Bronzemedaille im Weitsprung geholt hatte. Zum Journalismus war sie erst vor einigen Jahren gekommen und hatte schnell Karriere gemacht.

»Danke«, sagte die Wolf. »Ich will das Thema aus verschiedenen Gründe nicht in die allgemeine Besprechung einbringen. Das gibt nur wieder eine leidige Diskussion.« Sie inhalierte tief und blies den Rauch zur Decke hoch. »Wie stehst du persönlich zur Pornografie? Bist du grundsätzlich dagegen oder siehst du den Komplex etwas differenzierter? Ich will dir gleich sagen, dass meine Haltung sehr ambivalent ist.«

Regina zögerte.

»Na ja«, sagte sie schließlich. »Ich kann darauf verzichten. Ich meine, ich würde nichts vermissen, wenn damit Schluss wäre. Obwohl ... die Frage für mich ist, was alles dazu gerechnet wird.«

»Darum würde es mir auch gehen. Aber davon abgesehen interessieren mich in dem Zusammenhang diese Frauen in San Francisco, die angeblich andere Pornos produzieren. Von Frauen für Frauen, wobei – gut, es ist und bleibt eine heikle Geschichte. Kannst du dir vorstellen, darüber zu schreiben?«

»Im Prinzip schon. Aber ...« Regina stockte, überlegte kurz. »Hieße das ...«

»Ja, du würdest rüberfliegen. Gespräche, Interviews. Zehn, zwölf Tage müssten reichen. Ich kann auch zwei Wochen verantworten.«

Am Ende des Ganges tauchte ein junger Mann auf. Er schob einen Postwagen

und kam schnell näher.

Jutta Wolf wandte sich von Regina ab und winkte ihn heran.

»Rainer, auf meinem Schreibtisch liegt eine Mappe. Themen, aktuell. Lass sie dir von Sigrid geben und bring sie uns in Kantine, ja?«

Der junge Mann lächelte freundlich und deutete eine Verbeugung an. Die Wolf nahm es schon nicht mehr wahr. Sie fasste Regina am Arm und zog sie mit sich.

»Du musst dich nicht sofort entscheiden. Ich denke nur, dass du die Einzige bist, die das packen kann.«

»Kalifornien«, sagte Regina nur und mehr für sich. Irgendwie ging ihr das alles viel zu schnell. Die Wolf schien schon woanders zu sein. Sie legte einen Schritt vor und drückte im Ascher neben der Fahrstuhltür die Zigarette aus. Unwillkürlich registrierte Regina die Lippenstiftspuren auf dem Filter und sie wusste jetzt wieder, was ihr von Anfang an bei der Wolf unangenehm aufgefallen war. Ihr zu grell geschminkter Mund.

Hexen auf dem Rathausmarkt. Flammend rote Haare. Kunsthaarperücken. Peters blieb stehen und schaute zu den Frauen hin. Es waren junge Frauen, bekleidet mit langen Röcken und Flickenblusen. Die Frauen tanzten Ringelreihen und stießen spitze Schreie aus. Gnome schlugen auf Blechtrommeln ein. Trillerpfeifen schrillten.

Samba, Samburgo.

Der Winter kam mit seinem Gefolge, mit Kälte und Frost. Masken aus dürren Ästen. Ein Umhang, bestickt mit Moos und Gräsern. Ein Feuerschlucker spie Flammen. Ein Luftballon platzte.

Peters lächelte leicht.

Ein Venezianischer Karneval in der Freien und Hansestadt Hamburg sollte das sein. Die Rückkehr der Verbannten in die Stadt, wer immer diese Verbannten auch sein mochten. Bunt jedenfalls, nett und laut. Ein hörbar alternatives Blasorchester marschierte auf.

Peters konnte dem Umzug nicht allzu viel abgewinnen. Er war in Venedig gewesen und auch in Rio. Selbst in Basel ging es mitreißender zu als hier. Gelangweilt fingerte nach seinen Zigaretten. Rauchend ging er weiter. Seine Gedanken waren wieder bei Jutta. Er freute sich auf den Abend mit ihr, auf das Essen, das er zubereiten würde. Ein neues Rezept. Gekochtes Huhn, kurz angebraten und überbacken mit Blattspinat und Gorgonzola. Vorweg eine Pasta, Taglierini mit Räucherlachs und Kaviar. Und einen Salat natürlich, einen schlichten, grünen Salat.

Peters zog seinen Einkaufszettel hervor und überflog, was er sich notiert hatte. Es war eine lange Liste.

Er hatte sich vorgenommen, das Wochenende über die Wohnung nicht zu verlassen und er rechnete fest damit, dass auch Jutta bis Montagfrüh bei ihm bleiben würde. Jutta.

Am vergangenen Sonntag war er ihr zum ersten Mal begegnet, abends, in der Ankunftshalle. Sie war mit der letzten Maschine aus München gekommen, und er war mit ihr zusammengestoßen, unabsichtlich. Ihre Blicke hatten sich getroffen und da war es passiert. Diese entscheidende Sekunde. Wie in einem Werbespot. Der Duft von wer-weiß-was. Alles um sie herum war weggeblendet. Nie zuvor hatte er das so intensiv empfunden und noch immer konnte er sich nicht recht erklären, was ihn dermaßen fasziniert hatte. Vielleicht ihre Größe, ihre irrsinnig langen Beine. Aber auch ihr Gesicht, die Augen. Diese großen, dunklen Augen, die einen merkwürdigen Glanz hatten. Und ihre Stimme, eine unglaublich erotische Stimme. Sie lebt aus dem Bauch heraus, hatte er sich später gesagt. Eine Frau, die es gut mit sich meint. In jeder Beziehung.

Er hatte sie in die Stadt gefahren, noch einen Wein mit ihr getrunken und plötzlich hatte es bei ihm geklickert: Wolf, natürlich. Die Wolf. Jutta Wolf. Dass sie bei einer Zeitschrift arbeitete, war ihm neu. Geschickt hatte er vorgetastet und herausgehört, dass sie momentan allein lebte, jedenfalls nicht fest liiert war.

Er lächelte wieder. Wahrscheinlich hätte es schon an diesem ersten Abend mit ihr ins Bett steigen können. Die Stimmung war entsprechend gewesen. Aber das war nicht sein Stil. Er hatte sich immer ein paar Tage Zeit gelassen, sich mit Telefonaten begnügt. Er dachte jetzt an ihr letztes Gespräch. Gestern Abend noch hatte sie ihn angerufen, gesagt, dass sie gespannt sei, was er ihr zu bieten habe. Wie sie das meine?

Sie hatte gelacht. Seine angeblichen Kochkünste und überhaupt, ganz allgemein. Und noch einmal das Lachen. Ein verheißungsvolles Lachen.

Peters hatte das Kaufhaus erreicht.

Er sah auf seine Uhr. Es war kurz nach fünf. Drei Stunden, drei Stunden noch und er würde sie umarmen können, ganz freundschaftlich. Zur Begrüßung. Nur nichts überstürzen. Und doch stellte er sich schon vor, wie sie sich ihm hingab.

Broszinski stellte den Karton auf dem Balkon ab und stützte sich auf die Brüstung. Er atmete tief durch, genoss den weiten Blick über die Außenalster. Drüben die Villen, die amerikanische Botschaft und weiter links das Verlagshaus.

Seit gut einem Jahr wohnte er hier mit Birte zusammen. Vier Zimmer, elegant eingerichtet. Sitzgarnitur aus schwarzem Leder. Verchromte Stahlrohrregale, gläserne Vitrinen, Acrylhocker. Überall viel Platz. Im Schlafzimmer nur einen Spiegelwandschrank und das breite Futonbett. Nirgendwo verspielter Schnickschnack, keine Staubfänger. Alles überschaubar, klar. Teuer war das gewesen, unbezahlbar für einen wie ihn, einem Beamten. Den Luxus verdankte er Birte. Sie hatte ein kleines Vermögen geerbt, würde sich nie mehr sorgen müssen, und auch er konnte jederzeit seinen Dienst quittieren. Sie hatte es ihm schon mehrere Male nahegelegt: Ich besitze genug, genug für uns beide, und ich werde mich nie von dir trennen. Er hatte nur den Kopf geschüttelt. Nein.

Nicht, weil er ein Problem damit gehabt hätte, sich von seiner Geliebten aushalten zu lassen. Er nahm an, was sie ihm bot, nahm es als Rückhalt.

Das Wissen, durch sie seine Existenz abgesichert zu haben, gab ihm die Möglichkeit, entschieden aufzutreten. Und er war unbestechlich.

Er hatte nichts und niemanden fürchten, konnte riskieren, suspendiert, kaltgestellt zu werden ohne gleich in ein Loch zu fallen, am Ende zu sein wie andere Kollegen. Wie Mitch zum Beispiel, sein Vorgänger in der Abteilung. Völlig aus der Bahn geworfen. Ein tragischer Fall.

Broszinski fröstelte. Ein kalter Wind wehte. Er ging zurück in das Zimmer, schloss die Tür und ließ die Jalousien herunter. Gedankenverloren nahm er die Fernbedienung vom Tisch und schaltete das erste Programm ein. Der Bürgermeister sah übernächtigt aus.

Er sprach von der Verantwortung, die er persönlich trage. Broszinski drückte den Ton weg. Er dachte noch immer an Mitch. Er mochte ihn. Aber der sture Hund blockte ihm gegenüber total ab, nahm übel. Es war zum Kotzen. Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken.

Broszinski griff zum Hörer.

Fedder meldete sich.

»Entschuldige«, sagte er. »Gottschalk ist doch heute Abend bei dir. Sag ihm bitte, dass er mich anrufen soll. Ich erreiche ihn nirgendwo, und es ist wichtig.«

»Bist du denn noch im Haus?«

»Ja, und wie’s aussieht, bleibe ich lange.«

»Gut, ich richte es ihm aus.« Broszinski schaute auf den Fernseher. Der Fraktionschef der Opposition war voll im Bild. Man musste wirklich nicht hören, was er sagte. Sein Gesichtsausdruck sagte alles.

»Danke«, sagte Fedder. Broszinski räusperte sich.

»Übrigens, wo ich dich gerade dran habe. Du hast gute Chancen.«

»Ja?«

»Ja. Möglich, dass du schon in ein paar Wochen bei uns bist. An was seid ihr denn im Moment?«

»Vorrangig am Samurai. Aber ich glaub, ich hab jetzt endlich den Punkt.« Broszinski stellte den Apparat auf den Boden und griff nach der Zigarilloschachtel, die auf dem Videorecorder lag.

»Hast du nicht Lust, später vorbeizukommen? Wenn du Pit ohnehin ...«

»Nein, nein, ich ... danke. Ich will hier durch. Ich muss ihm auch nur kurz was sagen. Dazu.«

»Das würd mich natürlich auch interessieren.« Broszinski hatte einen Zigarillo herausgeangelt und klemmte ihn sich zwischen die Lippen. Er hörte, dass Birte ins Zimmer kam, machte ihr ein Zeichen, ihm Feuer zu geben.

»Na, ja«, sagte Fedder. »Das ... das wird ihm nicht schmecken. Du kennst ihn doch. Nein, er kann dir ja dann ... versteh mich richtig ...«

»Korrekt«, unterbrach Broszinski. »Total korrekt. Es ist eure Arbeit. Schau Montag mal bei mir rein. Schönes Wochenende.«

»Dir auch und nochmals ...«

»Alles klar.« Er legte schnell auf und nahm Birte das Feuerzeug aus der Hand.

»Fedder«, erklärte er.

»Ich bin so weit fertig«, sagte Birte. »Kümmerst du dich um den Salat?«

Broszinski nickte nachdenklich und zündete seinen Zigarillo an.

Die Soße war ihm misslungen. Gottschalk scheute sich nicht, es zu sagen. Sie saßen bei Tisch. Birte saß Broszinski gegenüber, neben ihr Gottschalk, der Regina immer noch unverhohlen taxierte. Regina schüttelte den Kopf.

»No«, sagte sie. »Find ich nicht.«

»Zu viel Knoblauch«, beharrte Gottschalk. »Dosieren, richtig dosieren, Broszinski. Nur einen Hauch, ein kleiner Kitzel. Und dann, bitte schön, auch frische Kräuter. Das Lamm ist übrigens hervorragend.«

»Birte«, sagte Broszinski und hob das Glas. Gottschalk tupfte mit der Serviette sein Lippen ab und stieß mit Regina an.

»Auf San Francisco.«

»Machst du’s denn?«, fragte Birte.

»Ich glaube, ja. Ich hab das Material kurz durchgelesen. Es ist schon spannend, und vierzehn Tage Sonne sind auch nicht zu verachten.«

»Nur das Essen muss eine Katastrophe sein«, sagte Gottschalk. »Hat jedenfalls Fedder erzählt. Aber na ja, für den Mann ist eigentlich alles eine Katastrophe. Ich wundere mich immer wieder.«

»Du sollst ihn anrufen«, unterbrach Broszinski. »Entschuldige. Hatte ich vergessen.«

»Er kann mich mal. Ich hab das langsam über. Wetten, dass er wieder was entdeckt haben will? Den Punkt, ich hab jetzt den Punkt.«

»Genau seine Worte.«

»Das kann ich dir inzwischen runterbeten. Der Punkt, mein Gott, diese beschissenen Formulierungen. Ich will keinen Punkt, ich will den Killer. Nichts für ungut, die Damen ...« Regina lachte. Gottschalk gefiel ihr. Er hatte die Statur eines Buddha und wirkte doch nicht fett. Es war ihr nicht entgangen, wie er sie anschaute und wohin. Sie hatte sich umgezogen und

das enge Kleid hatte selbst Birte veranlasst zu fragen, ob sie sich zum Abschuss freigeben wolle. Sie war nicht abgeneigt. Es war ihr Tag. Ein Wahnsinnsangebot, zu Besuch bei einer guten Freundin, deren Typ ihr auf Anhieb sympathisch gewesen war, nicht das Geringste von einem Bullen hatte, jedenfalls nicht das, was sie gemeinhin damit verband. Und auch Buddha konnte sie sich eigentlich nicht auf Verbrecherjagd vorstellen. Er zwinkerte ihr zu.

»Thema durch. Wenn du drüben bist, erwarte ich eine Karte.«

»Okay«, sagte sie. »Versprochen – Pit.« Broszinski füllte die Gläser neu und suchte Birtes Blick. Er hatte Gottschalk selten so locker erlebt.

»Regina.« Gottschalk schaute sie versonnen an. »Ich erinnere mich an eine Regina aus meiner Schulzeit. Tochter aus reichem Hause.«

»Das bin ich nicht. Sorry.«

»Ein verteufelt hübsches Mädchen, Typ Bardot. Ich war einer ihrer unzähligen Verehrer, aber hatte natürlich nicht die geringste Chance.«

»Wieso natürlich?«

»Ich war ein dämlich dummer, dicker Brocken«, lachte Gottschalk und angelte sich ein weiteres Stück Fleisch von der Platte. Birte reichte ihm die Schüssel mit Brokkoli. Gottschalk nahm sich reichlich.

Fedder war, als drücke sich sein Magen sich gegen seinen Gaumen. Er bemühte sich, den Druck wegzudenken oder zumindest nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Er presste die Zähne aufeinander, und Hals und Ohren begannen zu schmerzen. Seine Hände flatterten. Er ballte sie und hämmerte mit der Faust an den Türrahmen. Der Streifenbeamte sah zu ihm hin und nickte nur. Niemand sagte etwas. Der Anblick war grauenhaft.

An einem Garderobenhaken hing der leblose Körper eines Mannes. Das Hemd war ihm aufgerissen, Hose und Unterhose bis über die Knie heruntergezerrt worden. Das linke Bein war unnatürlich abgeknickt. Die Kleidungsstücke waren blutdurchtränkt. Eine Lache hatte sich auf dem Parkett gebildet. Blut war an der Wand, auf Schrank und Spiegel. Der Leib des Mannes war mit unzähligen Messerstichen zerfetzt worden, eine große Wunde klaffte am Hals. Im Mund steckte sein abgetrenntes Glied.

Fedder schloss die Augen.

Er musste etwas tun. Sie warteten darauf. Der Druck musste nachlassen. Er musste. Er schluckte. Und noch einmal. In seinem Magen brodelte es.

Etwas bitteres brannte in seiner Kehle. Die Halsschlagader klopfte. Er schluckte erneut. Atmete ganz flach und öffnete wieder die Augen.

Einer der Beamten wies stumm nach nebenan. Der andere rieb sich über das Gesicht und ging zurück in den Hausflur. Fedder folgte ihm.

In der Küche der Nachbarwohnung hockten ein älterer und ein junger Mann. Sie starrten ausdruckslos vor sich hin. Eine Flasche stand auf dem Tisch. Von der Straße war die Sirene des heranfahrenden Unfallwagen zu hören.

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