Der Tod bucht Zimmer 502 - Ronald Ryley - E-Book

Der Tod bucht Zimmer 502 E-Book

Ronald Ryley

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Beschreibung

Nach einem mysteriösen Todesfall kochen alte Spukgeschichten über das Zimmer 502 im Londoner Luxushotel Savoy wieder hoch. Während Detective Inspector Teddy Chan alles als Unfall abtut, stößt Alison auf zahlreiche Ungereimtheiten. Um eine Katastrophe zu verhindern, versucht sie zu beweisen, dass ein gefährlicher Mörder sein Unwesen treibt – und beschwört dabei Geister herauf, die sie bald nicht mehr loswird.

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Der Tod bucht Zimmer 502
Ein London-Krimi
London-Krimi

Inhaltsverzeichnis

Der Tod bucht Zimmer 502

Widmung

3 Tage vor dem Chandelier Charity Concert

1

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3

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2 Tage vor dem Chandelier Charity Concert

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1 Tag vor dem Chandelier Charity Concert

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Tag des Chandelier Charity Concerts

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Showtime!

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Die Tage nach dem Chandelier Charity Concert

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Impressum

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

Für Jane Kingston Ohne dich gäbe es keine Granvilles und erst recht keine Chans und keinen Alfie See you in London

3 Tage vor dem Chandelier Charity Concert

1

7:00 pm, Savoy Hotel
Oliver Montagu klopfte sich das Wasser vom Mantel. Der Regen hielt sich nun schon seit September über London. Auf einen Tag gesehen, war der leichte, weiche Niederschlag kaum der Rede wert. So langsam jedoch machte er mürbe, unterspülte Gehsteige, weichte Wiesen und Parkwege auf. Das brachte selbst die härtesten Bäume ins Wanken. Ähnlich erschien Oliver das Verhalten der alten Dame, die seit einer gefühlten Ewigkeit ihrem Unmut an der Rezeption des Savoy freien Lauf ließ. Er hatte bei ihr im ersten Moment tatsächlich an Dolores Umbridge aus Harry Potter gedacht, jene Frau, die selbst Stephen King als das personifizierte Böse bezeichnete. Dass es sich um Mildred Granville handelte, war ihm erst später aufgefallen. Er hatte also danebengelegen, wenn auch nur knapp.
Der Concierge mit der perfekt geföhnten Elvistolle bemühte sich, die enorme Anspannung mit professioneller Höflichkeit zu überspielen. Mit Sicherheit hatte er im Savoy Hotel schon dramatischere Situationen meistern müssen. Aber die Hartnäckigkeit von Mildred Granville hatte eine eigene Qualität. Sie kam leise und harmlos daher und tötete langsam. Wie die tägliche Minidosis Gift in einem alten Agatha-Christie-Roman. Oliver lenkte sich mit dem entzückenden tigerroten Corgi ab, den Mildred, passend zu ihrem eigenen Outfit, an einer türkisen Hundeleine hinter sich her schleifte. Auf seinem ebenfalls türkisen und maßgeschneiderten Hundegeschirr formten fein geschliffene Swarovskikristalle den Namen Alfie. Dem kleinen Alfie schien der Trubel im Savoy nichts auszumachen. Oliver hingegen wollte nach den Strapazen der Fashion-Week in Paris nur noch zurück in sein geliebtes Hotelzimmer, weit weg von dieser nervtötenden Frau.
»Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?«, fragte sie.
Oliver rollte mit den Augen. Jeder, der im Savoy Hotel regelmäßig ein und aus ging, wusste das. Sie war Mildred Granville, das vorletzte Mitglied der einst legendären Granville-Familie, und somit Verwalterin eines schier unvorstellbaren Vermögens. Sie gehörte zu den Urgesteinen dieses Hauses. Sein Vater hatte ihm erzählt, wie Mildred Granville als Kind bei jeder Gelegenheit Bridget D’Oyly Carte, der letzten Nachfahrin der Gründerfamilie des Savoy, hinterhergetänzelt war. Und wie sie alle stets beeindruckt hatte mit ihren exzellenten Manieren, ihrem Wissen über Weine, Whisky, Gin und Tee – sowie mit ihrem messerscharfen Geschäftssinn. Mit einem gigantischen Vermögen geboren zu werden, war das Eine. Die Kunst, es zu vermehren, jedoch, trennte die Spreu vom Weizen. Absolut niemand übertraf Mildred Granville auf diesem Gebiet. Und Mildred Granville bekam kein Zimmer im Savoy? Oliver fühlte einen leichten Anflug von Schadenfreude.
»Selbstverständlich weiß ich, wer Sie sind, Madam. Daher tut es mir auch wirklich in der Seele weh, dass ausgerechnet Sie von unserem Computerhack betroffen sind.«
»Computerhack?«
Der Concierge legte seine Hand an den Mund und flüsterte. »Wir hatten einen riesigen Wurm im System.«
»Das ist ja widerlich.« Mildred Granville rümpfte die Nase. »Waschen sich Ihre Techniker nicht die Hände?«
Oliver biss sich auf die Zunge, konnte aber nicht verhindern, dass dennoch ein kurzes, lautes Schnauben über seine Lippen schoss. Mildred Granville erstarrte und drehte sich zu ihm um. Wenn Blicke töten könnten. Allerdings genügte bereits ihr Outfit. Ein Überraschungsangriff in Türkis. Der vorgestrige My-Fair-Lady-Stil ihres übergroßen Damenhutes tat einem Trendsetter wie Oliver in den Augen weh. Die Seidenschleife auf der Krempe sah aus, als hätte Mildred sie von einer Geschenkverpackung im Harrods gestohlen. Ganz zu schweigen von dem weißen Faltenrock mit dem viel zu wilden, bunten Blütenmuster. Da half es auch nicht, dass sie diesen unter ihrem ebenfalls türkisen Damenmantel aus grob gewebtem Wollstoff mit asymmetrischer Knopfleiste zu verbergen versuchte. Unfassbar, sogar ihr Gehstock war türkis. Lediglich der darauf befindliche Fritzgriff, den Mildred mit ihrem weißen Baumwollhandschuh umfasste, glänzte in feinstem Sterlingsilber.
»Und wer sind Sie?«
Ihre Stimme hingegen stresste eher auf unterschwellige Art, leise und bedrohlich, wie das Rasseln einer Klapperschlange. Da war es fast erstaunlich, dass der kleine, herzerweichende Corgi an ihrer Seite mit seinem wuscheligen Fell nicht umgehend seine riesigen Dumbo-Ohren anlegte und auf seinen kurzen Beinen Reißaus nahm.
»Das ist der weltberühmte Installationskünstler und Modeschöpfer Mr Oliver Montagu, Madam. Er reist an für Zimmer 502.«
»Sie sind Mr Montagus Sohn?« Ihr Blick fiel auf seine rechte Hand. »Tatsächlich, das Muttermal.« Sie betrachtete ihn abschätzig von oben nach unten und zurück. »Mode nennen Sie das also.«
Oliver Montagu mühte sich ein Lächeln ab. In Gedanken begann er allmählich, zu überlegen, wie man diese Dame am qualvollsten ermorden könnte.
»Wie viel kostet Ihr Zimmer?« Noch ehe er antworten konnte, wendete sie sich wieder dem Concierge zu. »Ich zahle das Doppelte.«
Der Concierge suchte nach einer Ausrede. »Es tut mir wirklich leid, Mrs Granville, aber …«
»Ja, was denn noch?«
Der Corgi bellte dreimal kurz. Den kreisenden Augenbewegungen nach befand sich seine Blase an der Kapazitätsgrenze. Aufgrund der fortwährenden Ignoranz seines Frauchens begann er, Mildreds Gehstock von allen Seiten zu beschnuppern. Während Oliver rachedurstig dem unausweichlichen Unglück entgegenfieberte, sprang im Hintergrund ein gedrungener Mann im pechschwarzen Anzug auf. Mit stummem Armgefuchtel und verzweifelter Grimassenschneiderei versuchte er, den kleinen Corgi von seiner Notdurft abzuhalten. Mildred Granville bekam von alledem nichts mit. Sie atmete tief durch und lehnte sich vor, um auf das Namensschild des Concierges schielen zu können.
»Mr Phil Dubois, es ist mir egal, wie Sie mir ein Zimmer besorgen, aber ich werde mich auf jeden Fall sehr …« Völlig beiläufig nahm sie ihre Coutts World Silk Card in die Hand. »… sehr erkenntlich zeigen.« Der Anblick der Silk Card schien hypnotische Wirkung auf den Concierge auszuüben. Kein Wunder, soweit Oliver wusste, besaßen nur knapp 100 Menschen weltweit diese Kreditkarte, und eine davon war die Queen.
»Oh dear, so gerne ich Ihnen diesen Wunsch auch erfüllen würde, Madam, Sie können Zimmer 502 nicht buchen. Mr Montagu ist einer unserer Ehrengäste.«
»Ehrengäste?« Mildred Granville hüstelte.
Erwürgen, dachte Oliver. Angesicht zu Angesicht, damit er würde sehen können, wie sie dabei mit den Augen rollte und nach Luft japste.
»Mr Montagu hat für unser Chandelier Charity Concert im Savoy Theater den spektakulären Kronleuchter entworfen. Stars aus aller Welt werden dort am Sonntag für einen guten Zweck auftreten. Sie verstehen, dass wir ihn nicht ausladen können.«
Mildred Granville winkte in Richtung des gedrungenen Anzugträgers, der sich noch immer verzweifelt im Hundeflüstern versuchte. »Machen Sie den Wagen bereit. Ich buche mir ein Zimmer an einem Ort, wo Höflichkeit und Etikette noch Wörter mit Bedeutung sind.« Sie drehte sich dem Concierge zu. »In einem echten Luxus-Hotel.«
Der Corgi schien die Aufforderung zum Aufbruch zu verstehen, bellte zweimal kurz und wedelte hoffnungsvoll mit dem Schwanz.
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Madam«, hauchte der Concierge. »Wegen unseres Chandelier Charity Concerts sind sämtliche Hotels in London restlos ausgebucht.«
»Ausgebucht?«
Der Concierge fächerte sich mit der linken Hand Luft zu. »Die Weltstars in unserem Haus und die ganzen Fans, Sie verstehen …«
Mildred Granville sah sich suchend in der Lobby um. »Stars?« Schließlich nickte sie wieder ihrem Fahrer zu. »Wir fahren zu meiner Nichte.«
Der Chauffeur erhob dezent den Finger. »Aber Madam, Sie wissen doch, Alison Granville ist wegen der vielen Arbeit für das Chandelier Charity Concert leider bis Sonntag nicht in ihrem Hause.«
Mildred Granville kicherte. »Eben. Das ist doch wunderbar.«
Dem Chauffeur klappte die Kinnlade herunter. Mildred Granville gab ihm einen übermütigen Stups auf die Nase. »Ich habe einen Schlüssel. Und davon abgesehen ist in ihrem Haus Platz genug.« Sie blickte zu ihrem Corgi. »Und Alfie hat einen kleinen Garten.«
Der Kleine hüpfte und drehte sich übermütig im Kreis.
»Aber Mrs Granville!« Das Gesicht des Chauffeurs wurde käseweiß. »Sie können doch nicht einfach so in das Haus Ihrer Nichte …«
Mildred stampfte ihren Gehstock auf die Steinfliesen. Fehlte nur noch der Blitz, der dabei in alle Richtungen schoss. »Und ob ich kann.« Sie blickte mit süffisantem Lächeln in die Runde. »Ich habe es ihr schließlich gekauft.«
Der Chauffeur bog und wand sich wie ein Wurm. »Aber Madam, Sie wissen doch: der Regen, die Umleitungen, die schwache Blase von Alfie.«
Der Corgi jaulte und begann erneut, den Gehstock zu umtänzeln. Oliver flüsterte ihm kaum hörbar »Good boy! Good boy!« entgegen, während Mildred Granville sich weiter echauffierte.
»Sie sollen ja nicht durch den Urwald fahren. Die paar wenigen Meilen bis nach Kensington werden Sie wohl schaffen?«
Der Chauffeur nickte ergeben. »Selbstverständlich, Madam.« Er setzte zu einer weiteren Entschuldigung an, die sie mit einer simplen Handbewegung unterband. Dabei schnappte sie dem Corgi mitten im Versuch, das Beinchen zu heben, den Gehstock vor der Nase weg. Er plumpste auf seinen Hintern und jaulte verkrampft auf.
»Morgen früh werde ich mich erneut bei Ihnen erkundigen, Mr Phil Dubois. Ich bete für Sie, dass Sie bis dahin ein Zimmer für mich organisiert haben.«
Phil schluckte.
Mildred bewegte sich in Richtung Ausgang. Hoffnungsvoll trottete der Corgi dem über die Steinfliesen klackernden Gehstock hinterher.
»Eine gute Fahrt, Madam«, grüßte Oliver zum Abschied. Woraufhin sie kurz vor der Drehtür einen Bogen machte und sich zu Oliver zurückbewegte. Kurz vor ihm blieb sie stehen und begutachtete sein Outfit. »Ihr Schal ist ein wenig lang, Sir. Sie sollten achtgeben, dass Sie sich nicht eines Tages aus Versehen damit erhängen.«
»Damit Sie mein Zimmer haben können?« Oliver lachte. Bis er eine feuchte Wärme über seinen Knöchel fließen spürte. Als er an sich hinuntersah, erblickte er erst einen gelblichen Fleck auf seiner weißen Flanellhose und dann die Pfütze, die seinen Schuh umgab. Der knuffige kleine Alfie war verschwunden. Er tapste bereits glücklich und entspannt an der Seite von Mildred Granville durch die Drehtür.

2

7:00 pm, Thurloe Square
An der Tür auf halber Treppe zwischen Erdgeschoss und großem Saal befand sich Blut. »Hierher!«, rief Alison. Eine Horde von 20 Teenagern polterte aus Kaminzimmer, Flur und Küche über die Treppenstufen zu ihr. Alison zog ihr Handy aus der Hosentasche, schaltete die Taschenlampe ein und beleuchtete Schloss und Klinke. Prompt stand Chloe neben ihr. Da sollte ihr noch einmal jemand erzählen, dass dieses Mädchen Konzentrationsstörungen hatte und nicht begeisterungsfähig war. Seit Commander Ken Kilburn ihnen mitgeteilt hatte, dass Alisons Butler Roy kurz vor dem Start der Party mit den Kids vom Bacon’s College auf mysteriöse Art spurlos verschwunden war, hatte sie sich mit voller Hingabe mit auf die Suche gemacht.
»Da sind Kratzspuren. Es sieht aus, als wollte jemand das Schloss aufbrechen. Was ist hinter dieser Tür? Eine Kammer?«
»Kein Ahnung«, antwortete Alison.
»Was? Du wohnst hier und hast keine Ahnung, was sich in den einzelnen Zimmern befindet?«
Alison fühlte sich ertappt. Okay, sie hatte den Schlüssel für das Haus vor drei Wochen bekommen. Aber die alten Möbel, die Mildred ausgesucht hatte, waren der Horror gewesen. Bis Roy einen geeigneten Lagerraum und die Abholung organisiert hatte, war sie bei ihrer besten Freundin Peggy im Gästezimmer untergekommen. Das war irgendwie cooler als ein Hotel und so herrlich down-to-earth, fand sie. Nun war sie zwar schon seit zwei Tagen hier, aber mit den Vorbereitungen für das Chandelier Charity Concert hatte sie Wichtigeres zu tun, als sich um Inneneinrichtung zu kümmern und hinter dreißig auf vier Etagen verteilte Türen zu schauen. Außerdem war die Idee einer Spontanparty mit den Teens vom Bacon’s College in diesen halbleeren Räumen voll hip. Sie waren ihr in den letzten Wochen echt ans Herz gewachsen und hatten es sich nach all der harten Arbeit auch mehr als verdient. Wenn nur dieses Dilemma mit ihrem Butler Roy nicht wäre. Wer sollte den Kindern jetzt das Essen reichen, Drinks einschenken und Musik auflegen? Klar, Alison war sicher: Ken hatte das zusammen mit den Kids ausgeheckt. Sie wussten, wie sehr sie Krimis liebte. Sonst würde Ken als Commander beim Scotland Yard jetzt wohl kaum entspannt die Füße hochlegen, während sie mit den Kiddies hier ermittelte. Aber Roy war über 70, und sie suchten jetzt schon seit einer halben Stunde.
»Ich glaube nicht, dass jemand das Schloss knacken wollte«, antwortete sie den Kids. »Dafür sind die Kratzer zu willkürlich und die Spuren im Holz zu tief. Auf mich wirkt es eher, als wenn hier ein Kampf stattgefunden hat.«
Henry drängelte sich aus der Menge hervor. »Er hatte einen Krampf?« Wofür er unverzüglich eine Kopfnuss von Chloe erntete.
»Ein Kampf, du Hirni.«
Henry riss seine mit bunten Tattoos übersäten Arme in die Höhe. »Hey, Leute. Hier sind Kampfspuren. Überall Blut!«
Überall war übertrieben. Aber Alison war durchaus beeindruckt. Ken hatte sich selbst übertroffen. Das Blut sah erstaunlich echt aus. Wildes Gedränge brach los. Binnen eines Atemzuges war Alison von einem dichten Pulk aus Jugendlichen mit gepiercten Augenbrauen, bunt gefärbten Kurzhaarschnitten, kahl rasierten Köpfen, selbstgedrehten Dauerwellen, zerrissenen Jeans, Crop Tops, klimpernden Riesenhalsketten, Kaugummigeschmatze und durchgewetzten Sneakers umgeben. Chloes Augen blitzten auf. Die knallgrünen Spitzen ihrer kurzen wasserstoffblondierten Zöpfe schaukelten vor Aufregung. »Bist du sicher?«
Alison nickte, winkte Henry zu sich heran, griff seine Hand und formte sie zur Faust. »Stell dir ein Messer vor.«
Er stellte sich in Pose.
»Hey Leute, wir brauchen Platz!«, rief Chloe.
Die Menge stob auseinander. Alison machte weiter.
»Ich komme die Treppe hinauf, und du tust so, als wärst du in der Kammer, um mir aufzulauern.«
»Wieso vorstellen?«, fragte Henry und streckte seine Hand nach der Klinke.
»Nicht!«, schrie die Menge im Chor. »Wer weiß, was dahinter ist.«
»Frag sie doch!«, rief jemand.
Chloe stöhnte. »Sie weiß es auch nicht.«
»In ihrem eigenen Haus? Alison, du bist so voll der Snob.« Gelächter brach los.
Alison hob die Hände, um die Menge zu beschwichtigen. Ruhe kehrte ein. »Außerdem dürfen wir keine Spuren verwischen. Also nochmal von vorn.« Sie stieg ein paar Stufen herab.
»Vorsicht mit dem Blut, Alison, dein Jumpsuit!«, rief eines der Mädchen. »Das geht nie wieder raus aus dem Baumwollsatin.«
»Passt doch super zu dem Rosa«, hallte es von hinten.
»Und pass nur auf mit deinen Pumps.«
»Die rennt damit doch jeden Tag rum, du Scholle.«
»Außerdem sind das Highheel-Sandalen.«
»Hey Leute«, rief Alison. »Hier wird jemand vermisst!« Sie musste sich ja selber auslachen für ihr Outfit. Aber sie hatte ja auch nicht wissen können, dass sie einen blutigen Kriminalfall würden lösen müssen. Dann hätte sie sich einfach nur ihren Trainingsanzug von Gucci übergeworfen.
Der Trubel legte sich. Alison vergewisserte sich der Aufmerksamkeit von Henry. »Ich befinde mich auf dem Weg in den Salon und komme die Treppen hinauf, nichts ahnend, dass du dich in der Kammer befindest.«
Er nickte.
Alison schritt auf die Kammer zu. »In letzter Sekunde nutzt du das Überraschungsmoment, springst aus der Kammer und schlägst mir die Tür vor den Kopf.« Henry markierte die Bewegung in der Luft, ohne die Tür zu berühren. »Mein Butler ist etwa einen Kopf größer als ich. Er müsste also ungefähr auf dieser Höhe gegen die Tür prallen.« Chloe riss begeistert die Augen auf, als Alison ihr Handy zückte und an besagter Stelle die Tür zur Kammer ableuchtete. Prompt sprang sie wieder dazwischen.
»Oh mein Gott!« Chloe benetzte ihren Zeigefinger, drückte ihn gegen die Tür, zog ihn vorsichtig zurück und hielt ihn Alison vor die Nase. »Ein graues Haar!«
»In Roys Schnittlänge«, bejahte Alison und setzte ihre Ermittlungen fort. »Die Tür schleudert mich zurück und bringt mich für einen kurzen Moment aus der Fassung.« Sie torkelte leicht. »Das nutzt du aus und versuchst, mich zu erstechen.«
Henry riss seine geballte Faust in die Höhe, verzog das Gesicht und stach zu. Die Kids hinter ihm schrien auf.
»Aber ich bin geistesgegenwärtig genug, um mich zu ducken und auszuweichen.« Alison drehte sich und schleuderte überdramatisch ihre rotbraunen Haare durch die Luft. »Dabei pralle ich erneut gegen die Tür – die jedoch nachgibt und zurück ins Schloss fällt. Das raubt mir den Halt. Ich kippe nach vorne und lande mit den Knien auf dem Boden. Weil ich mit allem rechnen muss, drehe ich mich zu dir, mit dem Rücken an die Tür gelehnt.«
Henry holte bereits ein weiteres Mal aus.
»Jetzt habe ich nur eine Chance.«
»Du weichst seitwärts aus, Alison«, schlussfolgerte Chloe.
»Genau!« Alison drehte sich zur Seite weg. »Nun landet dein Stich …«
Henry führte seine Armbewegung zu Ende und jubelte. »… genau neben dem Türschloss!«
Aufgeregtes Getuschel hetzte durch die Menge. Chloe holte eine Lupe heraus. »Und die Tiefe und der Winkel des Loches im Holz der Tür bestätigen die Theorie, Alison.«
Alison nickte. »Wir haben eine heiße Spur!«
Die Gruppe jubelte. »Holt den Commander vom Scotland Yard her, schnell!«, rief Chloe. Jemand eilte die Treppe hinab.
»Hoffentlich geht es deinem Butler gut«, sagte Henry. »Schließlich haben wir Blut an der Tür.«
Chloe kratzte sich am Kopf. »Vielleicht vom Aufprall?«
»Unwahrscheinlich«, sagte Alison.
»Dann gibt es nur eine Möglichkeit!« Henry griff nach der Klinke. Die Menge schrie in Panik auf.
»Bist du dir wirklich sicher?« Von der tiefen männlichen Stimme verschreckt, stoppte Henry mitten in der Bewegung, ließ die Klinke wieder los und drehte sich um. Ken Kilburn stand hinter ihm, die Arme über dem ausladenden Bauch verschränkt. Das Pistolenholster kniff eng unter seinen Achseln.
»Wir haben endlich eine Spur«, sagte Alison und bat Chloe, alle Ergebnisse noch einmal zusammenzufassen. Ken nickte stumm, vergrub die Finger in seinem Vollbart und nickte. »Das klingt gut. Sehr gut sogar!«
Erneuter Jubel brach los. Henry streckte seine Hand ein zweites Mal in Richtung Klinke aus. »Darf ich, Commander Kilburn?«
Ken zog seine Pistole, hielt sie im Anschlag und lehnte sich neben die Tür an die Wand.
Es klingelte an der Haustür.
Alison zuckte zusammen. Ken löste sich aus der Jagdposition und sah sie fragend an.
»Wer ist das?«, fragte jemand.
»Kommt Dustin doch noch?«
»Oder Oliver Montagu!«
»Ja, Oliver kommt!«
So sehr es sich die Kids offenbar auch wünschten, aber Oliver konnte es gar nicht sein. Erstens kam er heute erst von der Fashion Week in Paris zurück, und zweitens wusste er gar nicht, wo sie wohnte.
»Oder Roy! Vielleicht ist er gar nicht weg.«
»Roy?«, gab Alison die Frage an Ken weiter. Der wirkte seltsam unentspannt. Sie ahnte, was er dachte. Bis auf die Kids wusste noch niemand, dass sie am Thurloe Square eingezogen war – mit Ausnahme von einer Person. Alison blickte auf die Uhr und überlegte. Wie lange brauchte man von Sandbanks bis zum Savoy?
»Du hast Mildred doch gesagt, du wärst nicht da, oder?«, fragte Ken.
»Natürlich!«
Es klingelte erneut.
»Das ist nicht gut«, sagte Ken.
»Das ist gar nicht gut«, antwortete Alison.

3

7:30 pm, Savoy Hotel, Lobby
Oliver zählte zu den Dauergästen im Savoy. Seine Suite wurde also ohnehin mit keiner anderen Person belegt. Sicherheitshalber checkte Phil trotzdem doppelt, ob alles gemäß seiner Extrawünsche und Vorlieben hergerichtet worden war. Erst dann reichte er ihm die Schlüsselkarte. »Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, Sir.« Manchmal kam es ihm wirklich vor, als wäre Zimmer 502 mit einem Fluch belegt. Auch wenn die Holzklassetouristen sich diese Geistergeschichten über Londons angebliches Spukhotel mit Sicherheit nur erzählten, weil sie genau wussten, dass sie sich ohnehin nie eine Nacht in diesem Haus würden leisten können.
»Kein Problem, Phil. Ich weiß, Sie geben Ihr Bestes.«
»Oh dear«, quiekte er erleichtert über Olivers Lob. »Wie großzügig von Ihnen.« Aber das machte das Drama rund um Mildred Granville auch nicht besser. Warum hatte ihm dieser Fehler ausgerechnet mit dieser Frau und an diesem Wochenende passieren müssen? Das Management des Hotels hatte ausdrücklich betont, wie wichtig das Chandelier Charity Concert war. Nicht etwa für das Coachbright Education Programme, für das die Besucher am Ende spenden würden. Nein! Wen interessierten schon nervige, lernbehinderte Kinder? In Wahrheit drehte sich alles einzig und allein um die Zukunft des Hotels. Die goldenen Jahre, in denen das Savoy den Einzigartigkeitsstatus für sich beanspruchen konnte, waren lange vorbei. Luxushotels schossen in London wie Unkraut aus dem Boden, und die Reichsten der Reichen ließen sich nicht mit TV-Spots und Urlaubsprospekten akquirieren. Sie sollten für einen guten Zweck an diesen Ort gelockt und mit Aufmerksamkeit, Glanz und Gloria belohnt werden. Wer sonnte sich nicht gern im Lichte der Stars und Sternchen dieser Welt? Und wenn sich dieses spektakuläre Ereignis erst so richtig in sie eingebrannt hatte, würden sie ganz von allein und völlig nebenbei zu neuen Stammgästen werden. Wie hieß es doch so schön? Du bleibst nicht im Savoy. Das Savoy bleibt in dir.
»Ach, Phil?«, riss Oliver ihn unerwartet aus seinen Gedanken. »Ich habe kurz vor meiner Abreise letzte Woche noch einen meiner Schals in die professionellen Hände Ihrer Reinigung gegeben …«
Phil erinnerte sich. Der Schal! Mit einem Lächeln der Ruhe rasselten seine Finger über die Tastatur. Der Schal. Abholbereit, stand in dem Infofeld der Wäscherei. Phil zwinkerte Oliver zu. »Es ist selbstverständlich alles bereits für Sie organisiert, Mr Montagu.« So langsam kroch das Concierge-Blut in seine Adern zurück. Er liebte diesen Kick. Falsch: Er brauchte ihn. Das war sogar besser als jede Line Koks in der Nase. »Lehnen Sie sich einfach zurück, und genießen Sie einen perfekten Aufenthalt in unserem Haus …« Er schlug die Hände vor der Brust zusammen. »… und in unseren Weltklasserestaurants.«
Oliver Montagus Blick wurde schlagartig finster und kalt. Hatte Phil etwas Falsches gesagt? Verflixt! Beim Checken der Zimmervorbereitungen hatte er den Reminder doch in dicker roter Schrift gelesen: Oliver nicht auf Essen ansprechen! Wie hatte er das jetzt nur vergessen können? Olivers Essproblem war schließlich unübersehbar. Phil ärgerte sich. Er war nicht in Form, und das an diesem Wochenende.
»Dann habe ich, glaube ich, alles, was ich brauche.«
»Im Savoy immer, Sir«, schleimte Phil. »Willkommen zu Hause!« Er atmete tief durch. Das war anscheinend gerade nochmal gut gegangen. Er musste cooler werden. Sollte der Montagu sich doch in Narkose fressen im Savoy. Sie hatten herrlich lange Designer-Eislöffel aus poliertem Stahl. Davon konnte er sich ja anschließend einen mit aufs Zimmer nehmen, um in aller Ruhe über der Toilette sein Gaumensegel zu kitzeln.
Olivers Blick veränderte sich erneut. War das jetzt gut oder schlecht? Rasch schickte Phil ein breites Lächeln hinterher. Oh, die Anwesenheit dieser Mildred Granville hatte seine Gedanken vergiftet, und er fürchtete, dass Mr Montagu in ihnen lesen konnte. Prompt zog Oliver sein Handy aus der Hosentasche. »Wer ist eigentlich Ihr Vorgesetzter, Mr Dubois?«
Phil presste den Namen des Hotelmanagers heraus und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, während Mr Montagu auf seinem Handydisplay herumtippte. Nicht noch ein Desaster, bitte nicht. Warum hatte Oliver Montagu nicht einfach in Paris bleiben können? Nur dieses Wochenende? Wer kümmerte sich schon darum, ob dieser B-Klasse-Designer einen Kronleuchter für das Charity-Konzert gebastelt hatte oder nicht. Der hockte doch seit Jahren ohnehin nur depressiv auf seinem Hotelzimmer herum. Was hatte das Savoy davon? Mildred Granville aber kannte Gott und die Welt. Jene Welt, die der Großteil der Londoner dort draußen niemals zu Gesicht bekommen würde. Es war tödlich, es sich mit ihr zu verderben. Ein Anruf, und Phils Karriere im Savoy war beendet.
Er betete, dass sie die Story mit dem Computerhack geschluckt hatte. Aber was, wenn sie sie weitererzählte und auf diesem Weg am Ende doch noch die Wahrheit herauskam? Phil verfluchte sich und seine Fahrigkeit. Er liebte diesen Job. Und von niemandem würde er sich die Möglichkeit, Teil von dieser glamourösen Welt sein zu können, kaputt machen lassen. Von niemandem. Konnte sich dieser Möchtegern-Designer vor ihm nicht einfach an einem fetten Brocken Fleisch verschlucken und tot umfallen, damit er Mildred Granville seine Suite anbieten konnte?
Phil hielt inne. Tot umfallen. Während Oliver Montagu noch immer mit seinem Smartphone beschäftigt war, kam Phil die vor seiner Nase tänzelnde Silk Card von Mildred Granville wieder in den Sinn. Phil wurde schon schwindlig, wenn er nur versuchte, sich vorzustellen, welche Unmengen an Pfund sich hinter dieser Karte verbargen. Noch schwindliger wurde ihm, wenn er an die unzähligen Pfund dachte, die sie für ein Zimmer an Provision zahlen würde. Vielleicht würde er das entsetzliche Missgeschick am Ende ja noch in einen Triumph verwandeln können?
Oliver Montagu rückte sein Jackett zurecht. Ganz schön stramm unter den Achseln für maßgeschneidert, dachte Phil. Prompt kam ihm eine Idee. Apropos Pfund! Wieso an einem Stück Fleisch ersticken, wenn es viel einfacher ging? Eine unbemerkte Dosis Medizin im Tee hatte in dem Netflix-Thriller nach seiner letzten Nachtschicht genügt, um das Herz der Hauptfigur für immer zum Stillstand zu bringen. Ein unerwarteter Herzinfarkt würde bei Oliver Montagus Körperbau mit Sicherheit auch keinen Arzt überraschen. Und wo ließ sich so ein unglücklicher Todesfall besser vertuschen als hier im Savoy Hotel? Nach einigen Überdosen, Suizidversuchen oder peinlichen Sexunfällen waren sie perfekt darin geübt, eine Leiche unbemerkt an den Gästen des Hauses vorbei nach draußen zu schleusen. Der Kronleuchter war fertig. Wen kümmerte es da, ob Oliver Montagu zum Konzert erschien oder nicht? Womöglich würde sein plötzlicher Tod dem Event sogar zu noch mehr Strahlkraft und Aufmerksamkeit verhelfen? Waren nicht schon viele Mittelklassekünstler durch ihr verfrühtes Ableben zu Legenden geworden? Würde er Oliver da mit einem raffinierten Mord nicht geradezu einen Gefallen tun?
Just in diesem Moment zog Mr Montagu eine Hundert-Pfund-Note aus seiner Handytasche und legte sie Phil auf den Tresen. »Ich werde Ihrem Chef persönlich und mit Freude mitteilen, was für einen entscheidenden Beitrag Sie für das einzigartige Erlebnis in diesem Haus leisten, Mr Dubois.«
»Oh dear.« Phils Stimme winselte in die Höhe. Ein einzigartiges Erlebnis? Das konnte er haben. Nichts leichter als das.

4

7:30 pm, Thurloe Square
Es klingelte zum dritten Mal. Wer auch immer vor der Tür stand, meinte es offensichtlich ernst. »Keinen Mucks!«, zischte Alison. Die Menge verstummte. Alison erinnerte sich, dass Roy ganz stolz die neueste Generation von Videoklingel installiert hatte. Aber der Hauptmonitor, auf dem sie sehen konnte, wer vor der Tür stand, befand sich in der Küche, und die dazu gehörige App hatte sie aus Faulheit noch nicht auf ihrem iPhone installiert. Warum auch? Normalerweise ging Roy zur Tür und nicht sie. Auf Zehenspitzen schritt sie so weit die Treppe hinab, dass sie durch die Milchglasscheibe im oberen Viertel der Tür spähen konnte. Die Gestalt, die hindurchschimmerte, war der Höhe des Glases nach locker zwei Yards groß. Und sie war allein. Es konnte sich also definitiv nicht um Mildred handeln. Alison gab Entwarnung und eilte zur Tür.
Den Mann, der vor ihr stand, kannte sie nicht. Er musste mit dem Wagen gekommen sein. Erstens war er lediglich mit Hose, Hemd und Krawatte bekleidet und zweitens in Anbetracht des Dauerregens erstaunlich wenig durchnässt. Aber was wollte er dann hier?
»Guten Abend, Madam.«
Alison bemerkte, wie der Fremde angestrengt seine linke Hand hinter seinem Rücken verbarg. Auch wenn er sie mit allem Charme anlächelte, wirkte seine ganze Körperhaltung merkwürdig verkrampft. Irgendeine falsche Sache war hier am Laufen. Das spürte sie.
»Ich habe das Licht in Ihrem Haus gesehen und dachte, es wäre eine gute Gelegenheit …« Dabei bewegte er langsam den hinter seinem Rücken befindlichen Arm.
»Für was?«, knurrte Ken, der wie aus dem Nichts neben Alison auftauchte und seine Hände so in die Hüften stemmte, dass die Pistole im Holster unübersehbar war.
Sofort zuckte der Arm des Besuchers wieder zurück. »Eine dumme Idee von mir.« Der Fremde hob beschwichtigend die rechte Hand. »Ich wusste nicht … Ich wollte Sie und Ihren … Besuch … keinesfalls stören, Ms Granville. Ich …« Sein Blick wanderte zwischen ihr und Ken hin und her. Seine Anwesenheit schien ihn nervös zu machen, was Alison sonst nur von Betrügern oder Hütchenspielern kannte. Die rochen einen Bullen auf hundert Yards Entfernung und verkrochen sich, wenn Ken sie nur ansah. »… Vielleicht ergibt sich einmal eine passendere Gelegenheit.« Damit erhob er die Hand zum Gruß und war gerade im Begriff, sich umzudrehen, als Alison nachhakte. Was sollte diese merkwürdige Aktion?
»Eine passendere Gelegenheit wofür?«
Der Fremde schüttelte verlegen den Kopf, »Oh, verzeihen Sie«, streckte Alison seine rechte Hand zum Gruß entgegen und nickte in Richtung des nächsten Hauseinganges links von ihm. »William Frankland mein Name. Ich wohne im Haus nebenan und dachte …« Mit der linken Hand holte er eine Flasche KRUG Champagner hinter seinem Rücken hervor. »… wir könnten vielleicht mit einem Gläschen auf unsere gemeinsame Nachbarschaft anstoßen.«
Alison wollte gerade dankend ihre Hand nach der Flasche ausstrecken, als Frankland sie wieder zurückzog.
»Aber ich sehe, Sie haben Gäste. Vielleicht ein anderes Mal.« Frankland entschuldigte sich und eilte durch den Regen zurück in sein Haus. Kaum hatte Alison die Tür zugeschlagen, hob Ken neckisch die Augenbrauen.
»Schau an, schau an: ein Nachbar.«
Alison rollte die Augen. »Und sicher nicht mehr. Außerdem weißt du, dass ich einen Freund habe.«
Ken ließ seine Hände durch die Luft flattern. »Der große Unbekannte.«
»Er ist eben erfolgreich und beruflich viel unterwegs.«
»Ein richtiger Mann sollte eine Lady wie dich nicht ständig alleine lassen.« Er zog sie dicht an sich heran und flüsterte in ihr Ohr. »Hast du die Champagner-Flasche gesehen?«
»Bin ich blind? Er hat mir das Etikett ja quasi unter die Nase gehalten.«
Kens Augenbrauen hüpften. »Soweit ich mich erinnere, kostet ein KRUG aus diesem Jahrgang mindestens eintausend Pfund.«
»Ja, und? Er hat ihn wieder mitgenommen!« Alison schüttelte verwirrt den Kopf. »Wer bitte nimmt sein Willkommensgeschenk wieder mit?«
Von der Treppe her tönte ein Sprechchor zu ihnen: »Aufmachen! Aufmachen! Aufmachen!«
Alison zuckte zusammen und schlug sich gegen die Stirn. »Roy!«
Ken zwinkerte ihr zu und grinste verschwörerisch. »Ich denke, es ist Zeit, ihn zu befreien.«
Also doch! Sie hatte gleich gewusst, dass die Spuren auf die Kammer als Versteck hindeuteten. Sie eilte die Treppe hoch und nickte Henry zu.
»Yes!«, jubelte er und legte seine Hand an die Klinke. Die Menge zählte herunter, »Drei, zwei, eins!«, und Henry riss die Tür auf. Jubelgeschrei ertönte – und verstummte schlagartig.
»Was ist das?«, fragte Alison.
Ken drängelte sich durch die Menge und trat an die Kammer heran. »Das kann nicht sein! Ich habe doch gemeinsam mit ihm die Spuren gelegt und ausgemacht, dass er sich hier in der Kammer verstecken wird.« Er drehte sich um und sah zu den Kids. »Das wart ihr, oder? Ihr habt mich reingelegt, damit ich auch noch was zu raten habe.«
Die Kids aber rührten sich nicht. Zwanzig starre Gesichter schwiegen ihn an. »Ehrlich, Ken«, sagte Chloe. »Wir haben damit nichts zu tun. Alles wie abgesprochen. Du organisierst einen coolen Kriminalfall, den Alison dann auf der Party lösen kann.«
»Als Dankeschön«, rief jemand.
»Genau«, ging es weiter, »als Überraschung.«
»Weil sie doch immer so gerne Polizistin werden wollte.«
»Und so viel für uns getan hat.«
Alison drehte sich zur Seite und tupfte heimlich die Tränen weg, die ihr gerade über die Augenlider schwappen wollten. Das, was die Kids hier für sie auf die Beine gestellt hatten, war einfach rührend.
»Aber die Kammer ist leer!«, rief Ken.
»Roy«, seufzte Alison. »Er steht doch so auf plötzliche Twists kurz vor dem Krimifinale.« Sie atmete tief durch und blickte in die Kammer. Sie war leer. Lediglich eine Bank stand darin. Der Anblick erinnerte Alison an etwas. Irgendwo hatte sie so ein kleines Zimmer mit Bank schon einmal gesehen. Aber wo?
»Hey Leute«, rief Henry. »Schaut mal, Schrift, in roter Farbe!«
Augenblicklich versuchte die Menge, sich in die enge Kammer zu drängeln. Ken schob sie beiseite und trat dicht an die Wand heran. Die plötzliche Hektik in seinen Bewegungen gefiel Alison nicht.
»Alison, deine Handytaschenlampe!«
Sie reichte ihm das iPhone. Er fuhr damit über die rote Schrift, drehte sich mit ernstem Blick wieder in ihre Richtung und gab ihr das Handy. »Das ist keine Farbe, Alison.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Dann ein Schrei. »Den hat jemand umgebracht. So richtig!«
»Ja klar, Kevin, sicher du.«
»Halts Maul, du Lappen!«
»Ruhe!«, schrie Chloe. »Wir müssen uns jetzt zusammenreißen, klar?«
»Wir müssen die Bullen rufen!«
»Wieso? Der Kilburn ist doch da. Der ist doch Commander beim Scotland Yard.«
Mit einem lauten »Scht!« brachte Alison die Gruppe zum Schweigen. »Ich bin mir sicher, es ist alles gut«, log sie. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete die Schrift an der Wand. Die Zahlen ‑1 bis 6 waren in zwei Reihen übereinandergeschrieben. Die ‑1 war umkreist. »Das habe ich doch schon einmal gesehen.« Sie kniff ihre Augen zusammen und versuchte, sich zu konzentrieren, als es schon wieder klingelte. »Dieser blöde Nachbar!«, fluchte sie, eilte die Stufen hinunter und blieb auf halber Treppe stehen.
»Was ist, Alison?«, fragte Ken.
»Das ist nicht der Nachbar.« Der Schatten hinter der Milchglasscheibe war bedeutend kleiner und trug einen großen schrägen Hut.
»Ist das der Mörder?«, flüsterte jemand.
Alison schluckte. »Schlimmer.«

5

8:00 pm, Savoy Hotel, Zimmer 502
Oliver Montagu warf seinen Koffer aufs Bett. Es tat gut, wieder im Savoy zu sein. Nirgends in ganz London fühlte er sich sicherer – trotz allem, was an diesem Ort, was in diesem Zimmer geschehen war. Er linste in Richtung der Karte des Savoy In-Room-Dinings. Sein Magen heulte auf vor Hunger, wie er es immer tat, wenn ihn die Vergangenheit jagte. Zeit heilte vielleicht alle Wunden. Aber nicht, wenn die Erinnerung sich an seine Hüften klammerte und ihn täglich im Spiegel anschrie. Er musste endlich lernen, sich zurückzuhalten. Und seit dieser gruselige Stalker aufgehört hatte, ihm auf Schritt und Tritt durch London zu folgen, gelang ihm das auch wieder. Also weg mit der Karte. Stattdessen nahm er seine Sachen und begann, sie in den Schrank zu räumen. Das Chandelier Charity Concert war ein Segen. Schon lange war er nicht mehr derart inspiriert gewesen. Allein die Möglichkeit, seine Vision des spektakulären Kronleuchters umzusetzen, war doch ein offensichtliches Angebot dieses Hauses gewesen, Frieden zu schließen. Außerdem hatte er noch eine wichtige Sache zu erledigen. Es war mehr als Glück, dass ausgerechnet dieses Charity-Konzert all jene, die sich über all die Jahre aus dem Weg gegangen waren, endlich wieder zusammenbrachte.
Bei dieser Gelegenheit fiel ihm der Zettel wieder ein. Er musste die Nummer dringend in seinem Handy speichern. Schließlich kannte er sich nur zu gut, und eine erneute Recherche würde viel zu viel Aufsehen erregen. Die Sache musste ein Geheimnis bleiben. Er nahm sein Notizbuch. Der Zettel war verschwunden. Nicht doch! Er war sich absolut sicher, die Haftnotiz mit der Nummer kurz vor seiner Abreise letzte Woche an den Buchdeckel geklebt zu haben. Es war genau hier an dieser Stelle gewesen. Es hatte schnell gehen müssen, also hatte er das Buch einfach mit dem Klebezettel in den Koffer geworfen und seither nicht mehr angerührt. Vielleicht hatte er sich im Laufe der Zeit gelöst? Er kippte den Inhalt des Koffers auf seinem Bett aus, wühlte sich durch Hemden, Shirts, Hosen, Gürtel und Schals, aber nirgendwo war ein Zettel zu finden. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Das konnte doch nicht sein! Wieso hießen diese Dinger Haftnotiz, wenn sie nie haften blieben? Es klopfte.
»Mr Montagu?«
Oliver wunderte sich. Er erwartete keinen Besuch. Und das Savoy war für seine Diskretion bekannt. Normalerweise schafften es keine Fans bis an die Türen ihrer Idole. Erst recht nicht, wenn das Hotel wegen anstehender Feierlichkeiten mit derart vielen Celebritys belegt war. Das Savoy war eine eigene Welt. Hier war man unter sich.
Es klopfte erneut.
»Zimmerservice, Mr Montagu.«
Zimmerservice? Er hielt sich seinen Bauch. War es jetzt schon so weit, dass sein Magen eigenständig für Nachschub sorgte? Oliver schüttelte den Kopf. Nein, verrückt war er nicht. Das hier war entweder eine Verwechslung, oder die Person an der Tür gehörte gar nicht zum Zimmerservice. Längst ausgestanden geglaubte Ängste kamen wieder hoch. Oliver rührte sich nicht und konzentrierte sich auf seinen Atem. Es gab keinen Grund zur Panik. Wenn es wirklich der Zimmerservice war, hatte der ohnehin einen Schlüssel und das Anklopfen erfolgte aus reiner Höflichkeit. Er musste also das Risiko nicht eingehen, einem ungebetenen Gast zu öffnen. »Treten Sie ein.«
Das Türschloss klackte. »Überraschung!« Der Butler vom Personal-Butler-Service schob einen Servierwagen mit einem gigantischen, überaus kunstvollen Blumengesteck herein.
»Alek!«, rief Oliver. Er warf alle Regeln über Board und nahm ihn in den Arm, auch wenn Alek sich eher sträubte. Jeden Schritt seiner Karriere im Savoy hatte Oliver während seiner unzähligen Besuche mitverfolgt – vom Tellerwäscher bis zum Butlerservice. Dass Oliver heimlich mit ihm auf dem Zimmer dafür geübt hatte, war ihr Geheimnis geblieben. Was hatte er mitgefiebert, als die Butler-Prüfung ins Haus stand. Und wie stolz Oliver gewesen war, als Alek mit dem besten Ergebnis des Jahres bestanden hatte. Es klang verrückt, aber über all die Jahre hinweg war er für ihn fast so etwas wie der Sohn geworden, den er sich immer gewünscht hatte. »Schön, dich zu sehen.«
»Schön, Sie wieder bei uns zu haben!«
Ein Lächeln von Alek, und das Herz ging auf. Kein Wunder, dass die Frauen bei ihm Schlange standen. Wer wünschte sich nicht einen Mann, der tadellos aussah, sich wie ein Gentleman benahm und einen Haushalt besser managen konnte als jede professionelle Haushaltshilfe? Aber der Wagen … Oliver seufzte. »Es tut mir leid, Alek. Aber ich fürchte, das ist ein Missverständnis.«
»Bei uns gibt es keine Missverständnisse.« Alek deutete mit seinen behandschuhten Händen auf das kunstvolle Blumengesteck. »Schließlich sind das hier nicht irgendwelche Blumen.« Er zog eine Rose heraus und reichte sie Oliver.
Oliver schloss die Augen und sog den Duft ein. »Nein«, sagte er. »Das sind die Blumen.«
»Mein Kollege Phil Dubois von der Rezeption lässt herzlichste Grüße ausrichten und bittet nochmals um Verzeihung. Nach dem kleinen Zwischenfall gerade eben ist es dem Savoy ein Herzensanliegen, sich bei Ihnen für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen.« Alek beugte sich und schob die weiße Decke über dem Servierwagen so gekonnt beiseite, dass Oliver Montagu der restliche Inhalt verborgen blieb. Er nahm ein Tablett aus dem Wagen, auf dem Olivers heiliger Schal sorgfältig zusammengelegt ruhte. »Mit den besten Grüßen von den Damen und Herren unserer Reinigung. Es ist uns immer wieder eine große Ehre, wenn Sie uns eines Ihrer Kunstwerke anvertrauen, Sir.« Aleks Handschuhe schwebten über den Stoff. »Dieses Material, dieses Muster, Sie sind ein Genie, Mr Montagu.«
Oliver fühlte sich geschmeichelt. Auch wenn er wusste, dass die Freundlichkeit und Ehrerbietung zur Grundausstattung des Savoy gehörten, die Leute hier im Haus schafften es immer wieder, dass er ihnen glaubte.
»Wo darf ich die Blumen platzieren?«
»Pah, Blumen? Dieses Gesteck ist ein Kunstwerk!« Oliver deutete auf den Beistelltisch in der Nähe des Kamins. Er nahm den Schal vom Tablett und führte ihn an sein Gesicht. Der Duft warf ihn in der Zeit zurück. Allein dafür lohnte es sich, immer wieder ins Savoy zu kommen. Keine Reinigung der Welt verstand die Seele dieses Stoffes so ausgezeichnet. Es war, als würden die Fasern dieses Schals jedes Mal von Neuem mit Leben erfüllt. Als wäre es erst gestern gewesen, dass … Er schloss seine Augen und schmiegte sein Gesicht an den Stoff. Er konnte nicht anders, als den Schal umgehend anzulegen. Wie es seine typische Art war, schwang er einen Knoten in jedes Ende des Schals und wickelte ihn sich anschließend um den Hals.
»Mr Montagu!« Alek verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und verneigte sich. »Was für ein Anblick.«
»Tausend Dank.«
»Darf ich Ihnen noch diese kleine Köstlichkeit aus unserer Küche reichen?« Alek zauberte ein weiteres Minitablett mit einem rosafarbenen Törtchen in Herzform aus dem Servierwagen hervor. »Eine exquisite und einmalige Delikatesse auf Kosten des Hauses, die Phil Dubois höchstpersönlich für Sie ausgewählt hat.« Alek beugte sich leicht vor und flüsterte zwinkernd: »Zuckerfrei.« Er stellte das Törtchen ebenfalls auf den Beistelltisch. »Phil verspricht, dass Sie diese meisterhafte Komposition der Haute Cuisine augenblicklich in den Himmel katapultieren wird.«
»Wie aufmerksam.« Allein der Anblick sorgte für reichhaltigen Speichelfluss in seinem Mund.
Alek verbeugte sich. »Jetzt wünsche ich Ihnen von Herzen den großartigsten Aufenthalt, den Sie jemals im Savoy erlebt haben.« Er schob den Servierwagen wieder hinaus. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Und wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, rufen Sie mich! Schön, dass Sie nach Hause gekommen sind, Sir.«
Ja, dachte Oliver, nachdem Alek wieder verschwunden war, ins Savoy zu gehen, war tatsächlich, wie nach Hause kommen. Man freute sich, und zugleich hasste man es. Oliver nahm eine der Rosen aus dem kunstvollen Gesteck und tauchte seine Nase tief in die Blüte ein. Der Duft beflügelte ihn. »Sophie Rochas«, flüsterte er. Er hielt die Blüte an das Bild über dem Kamin. Die Rose in seiner Hand erblühte mit derselben Grazie wie die Rosen in der Hecke hinter der Dame auf dem Porträt. Jetzt war er sicher. Dieses Mal würde es anders sein. Dieses Mal würde er endlich mit allem abschließen und seinen Frieden finden können.
Eine Melodie riss ihn aus seinen Gedanken. Täuschte er sich, oder befand sich jemand in seinem Zimmer? Er drehte sich um. Der Gesang war wieder verstummt. Hatte er etwa nur geträumt? »Alek?«, rief er in Richtung Tür. Niemand antwortete. Der Butler hatte die Suite verlassen. Oliver Montagu kämpfte gegen das Zittern in seinen Händen. Vielleicht hatte jemand in der Nachbarsuite die Musikanlage kurzzeitig zu laut aufgedreht. Er war im Savoy. Hier war er sicher. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Besser. Er setzte sich auf das Sofa und beruhigte sich mit dem kleinen Törtchen, das Phil ihm spendiert hatte. Eine Mischung aus Erdbeere, Rum und feinster Creme explodierte an seinem Gaumen, als er plötzlich hinter sich eine Stimme hörte.
»Ich bin wieder da.«

6

8:00 pm, Thurloe Square
Mildred schien den Finger gar nicht mehr von der Klingel nehmen zu wollen. »Alison! Bist du da?«
Was für eine blöde Frage! Alison hatte ihr doch gesagt, dass sie nicht da war. Sie blickte die Treppe hinauf in die Runde und presste den Finger vor die Lippen. »Keinen Mucks! Wenn ihr niemand öffnet, wird sie jeden Augenblick wieder verschwinden.«
Weit gefehlt. Jetzt schlug Mildred den Klopfring gegen die Tür. »Roy? Royston Taylor?« Warum trat sie die Tür nicht direkt ein?
Doch dann herrschte Stille. Endlich. Alison lehnte sich gegen das Treppengeländer und war gerade dabei, erleichtert aufzuatmen, als sie hörte, wie jemand einen Schlüssel ins Schloss steckte. Echt jetzt? Das konnte doch nicht wahr sein. Die Tür bewegte sich.
»Oh nein!«, flüsterte jemand.
»Alison, komm hoch zu uns. Schnell!«
Sie nahm die Beine in die Hand und hetzte gleich zwei Stufen auf einmal nehmend wieder nach oben. Ken packte ihren Arm und zog sie hinauf. In letzter Sekunde war sie außer Sichtweite. »Ich fasse es nicht!« Mit schreckgeweiteten Augen sah sie Ken an und flüsterte: »Sie hat einen Schlüssel?« Alison hätte es wissen müssen. Diese Wohnung war ein trojanisches Pferd. Nichts, rein gar nichts tat Mildred aus Gutmütigkeit. Im Flur waren seltsame Schritte zu hören, das Klackern von Mildreds Gehstock und … ein Bellen! »Sie hat einen Hund?«
Ken zog seine Stirn in Falten. »Das arme Tier.«
Der Hund bellte erneut.
»Ruhig, Alfie.«
»Butzi butzi butzi.«
»Lassen Sie das Kindertheater, und holen Sie lieber die Koffer, damit ich Alfie endlich von der Leine machen kann.«
»Die Koffer?« Alison fühlte sich wie vom Blitz getroffen. »Sie will doch nicht allen Ernstes …« Die Gesichter der Kids wurden immer länger. Vom Thurloe Square her drang lautes Hupen ins Haus. Unverständliches Geschimpfe folgte.
»Ja, was kann ich denn dafür, wenn die ganze Straße zugeparkt ist?«, keifte Mildred nach draußen. Ein verzweifeltes Ächzen und Stöhnen kämpfte sich durch lautstarkes Gepolter und Gerumpel hindurch. »Ja, so passen Sie doch auf mein Gepäck auf!« Stille, dann ein noch lauteres Rumpeln. »Ah!«, schrie Mildred.
»Verzeihung, Madam. Es ist nichts passiert.«
Der Hund kläffte.
»Das klingt gar nicht gut, oder?«, flüsterte Chloe.
Alison schüttelte den Kopf, woraufhin weiteres Getuschel durch die Menge ging. »Die kann doch nicht so einfach hier rein!«
»Und ob! Die rückt mit einer ganzen Armee an.«
»Das war’s dann mit Party.«
Wenn das die einzige Sorge wäre. Alison schickte ein weiteres »Scht!« in die Runde, und umgehend herrschte wieder Mucksmäuschenstille. Das Gehupe auf dem Thurloe Square wurde lauter. Kens Blick verfinsterte sich.
»Ich wette, Madame hat ihren Chauffeur wieder zweite Reihe parken lassen und blockiert den gesamten Verkehr.«
Alison ballte die Fäuste und schickte einen stummen Fluch gen Himmel.
»Wenn Sie kurz entschuldigen, Madam«, hallte die Stimme des Chauffeurs durch den Flur, »ich werde nur rasch den Wagen wegfahren und bin umgehend wieder da.«
»Besser ist es!«, drohte Ken kaum hörbar.
Mildred seufzte lautstark. Die Tür fiel ins Schloss. Dann wieder Hundebellen. »Ja, ist ja gut, mein Kleiner. Du willst das Haus erkunden, nicht?«
Die Kids um Alison herum schüttelten den Kopf.
Winseln.
»Du bist ganz aufgeregt, nicht?«
Bellen.
»Na, da kannst du gleich alles beschnuppern.«
Alison hätte schreien können. Die Party, die Kids, die Lüge, sie wäre das ganze Wochenende über nur am Planen und Organisieren, damit Mildred sie nicht wieder zum Sunday Roast schleifte. Die abgeholten Möbel. Mildred wird ausflippen!
»Na dann lauf, mein Kleiner.«
Alison und Ken blickten sich fassungslos an. Chloe hockte sich auf den Boden. Henry schlug die Hände vors Gesicht. »Der findet uns!« Hundepfoten hetzten über das Parkett. Die Kids erstarrten.
»Alfie. Alfie!« Die Pfotenschritte entfernten sich. »Alfie? Wo willst du hin? Was willst du denn unbedingt im Untergeschoss?«
Untergeschoss? In Alisons Kopf begann es, zu rattern. Sie drängelte sich auf Zehenspitzen durch die Kids und spähte ein weiteres Mal in die Kammer auf halber Treppe. Da war das rote Minisofa, das eher an eine Sitzbank erinnerte, und die an die Wand geschriebenen Zahlen. Ihr Blick blieb auf der umkreisten ‑1 haften. Mildreds Fluchen hallte vom Untergeschoss hinauf.
»Wofür habe ich eigentlich 13 Millionen Pfund bezahlt? Warum gibt es in diesem verdammten Haus keinen Aufzug?«
Bei dem Wort Aufzug durchfuhr es Alison wie ein Blitz. »Das ist es, woran mich die Kammer hier erinnert. An einen Aufzug!«
Chloe sprang an ihre Seite und sah sie fragend an. »An einen Aufzug?«
»Der rote Lift im Savoy«, antwortete Alison. Adrenalin jagte durch ihre Adern. »Der Lift ist auch mit einer roten Sitzbank ausstaffiert.«
»Eine Sitzbank im Aufzug?«, flüsterte jemand dazwischen.
»Ja, der Aufzug ist uralt. Das war der erste elektrische Aufzug in London überhaupt. Die Sitzbank stammt noch aus der Zeit von damals. Der Lift ist quasi so eine Art Touristenattraktion. Als Kinder haben wir immer die Mutprobe gemacht, wer sich traut, einmal ganz alleine hoch und runter zu fahren.«
»Warum denn das?«, fragte Chloe verwirrt.
»Weil man sich erzählt, dass es in dem Aufzug spukt«, antwortete Alison. Aber das war jetzt nicht wichtig, auch wenn natürlich prompt aufgeregtes Getuschel durch die Menge ging.
»Leise!«, rief jemand.
»Wieso? Der Köter von der Alten findet uns doch eh.«
»Genau, und dich frisst er als Erstes.«
Alison blickte auf die Schrift. »Dann markieren die Zahlen an der Wand das Ziffernblatt für die Etagenwahl.«
»Und die eingekreiste ‑1 steht für Untergeschoss!«, rief Chloe wie aus der Pistole geschossen.
»Oh nein!«, sagte Alison. Zu spät. Schon hallte ein mörderischer Schrei durch das Haus. Panisches Bellen folgte. Alison hechtete die Treppe hinunter. Ken und die Kids polterten hinterher. Auf annähernd derselben Position der Kammer auf halber Treppe befand sich eine Toilette im Erdgeschoss. Mildred stand neben der geöffneten Toilettentür und krallte sich an der Klinke fest, während ihre Haut blasser und blasser wurde. In der Toilette lag Roy. Sein Körper hing reglos zwischen Toilettenschüssel und Wand. Auf ihm hockte Alfie und schleckte mit wedelndem Schwanz das Blut vom Messer, das in der Brust des Butlers steckte.

7

8:00 pm, Rotherhithe Street
So sehr die Scheibenwischer des alten Rover Mini auch kämpften, die Rotherhithe Street war kaum noch zu erkennen. Das Wasser rann die Frontscheibe schneller herunter, als sie es beiseite schaufeln konnten. Die Scheibenheizung war chancenlos. Kurbelte Teddy Chan die Fensterscheiben hoch, glich das Fahrzeuginnere binnen Sekunden einer zugedampften Duschkabine, und sein Sohn war nonstop mit dem Wegwischen des Beschlags beschäftigt. Kurbelte er die Fensterscheiben nur einen kleinen Spalt herunter, strömte statt Frischluft derart viel Regenwasser herein, dass sie sich vorkamen wie Englands Pilgerväter während der Überfahrt. »Lass es, Dad. Den Rugby Lead World Cup können wir endgültig knicken.«
»Ach komm, das Spiel wird doch eh erst ab der Halbzeit richtig spannend.«
»So ein Blödsinn.«
»Ich kriege das hin.«
»Gar nichts kriegst du hin! Erst kommst du viel zu spät, und jetzt kommt deine Karre nicht einmal mit ein bisschen Regen klar.«
Teddy trat auf die Bremse und fuhr links ran.
»Es ist sicher nur ein Schauer, Dustin.«
»Sicher.« Dustin verschränkte die Arme und ließ sich in die Lehne des Beifahrersitzes fallen.
Teddy stupste ihn mit dem Ellenbogen an. »Danach sind die Straßen frei, und wir brettern direkt durch. Du wirst sehen!«
Dustin schnaufte. »Sicher, Dad. Deine Klapperkiste macht doch schon bei 20 Meilen pro Stunde schlapp.«
»Nichts über meinen Mini. Das ist ein echter Rover, ein Rennwagen quasi.«
»Zum Wegrennen vielleicht. Wie Mum.«
»Sie ist nicht weggerannt. Wir nehmen uns einfach eine kleine Auszeit.«
»Mit Betonung auf aus.«