Der Tod steigt aus dem Sarkophag - Ronald Ryley - E-Book

Der Tod steigt aus dem Sarkophag E-Book

Ronald Ryley

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Beschreibung

Mitten in der Ausbildung zum Private Investigator muss sich Millionärstochter Alison um die Organisation des Geburtstages von Tante Mildred kümmern. Doch die Egyptian Sculpture Gallery im British Museum entpuppt sich als verzwickte Party-Location. Als ein Sarkophag umgestoßen wird, nimmt das Unheil seinen Lauf. Eine Museumsaufseherin stirbt und Alisons beste Freundin verschwindet spurlos. Fast scheint es, als würde ein Fluch auf Alisons Familie liegen.

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Ähnliche


Ronald Ryley

Der Tod steigt aus dem Sarkophag

Ein London-Krimi

Inhalt

London 21. Januar 1944

Kapitel 01

Heute 4 Tage vor Mildreds 77. Geburtstag

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

3 Tage vor Mildreds Geburtstag

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

2 Tage vor Mildreds Geburtstag

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

1 Tag vor Mildreds Geburtstag

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Mildreds Geburtstag

Kapitel 53

London21. Januar 1944

01

U-Bahnstation British Museum, mitten in der Nacht

Agatha blickte die Tunnelröhre hinab. Obwohl der Eingang über ihnen längst im Nirgendwo verschwunden war, lag noch immer eine nicht enden wollende Zahl an Steinstufen vor ihnen. Selbst bis so tief in die U-Bahnstation hinein waren die Luftschutzsirenen zu hören. Wie Dämonengeschrei fegte ihr Geheule über London hinweg. Agatha wusste nur zu gut, was ihnen bevorstand. Jeden Moment würden die Deutschen die Stadt erreichen und in finsteren Schwärmen aus knatternden Propellermonstern alles in Schutt und Asche verwandeln.

»Wo bleibt Charles?«, stöhnte Mrs Granville mit gequälter Stimme. »Warum ist er noch nicht da?«

»Sie müssen sich beruhigen, Mrs Granville.« Agatha betete. »Ganz besonders in Ihrer Lage.« Für einen gesunden Menschen waren diese Stufen schon gefährlich genug, erst recht, wenn hunderte panische Londoner neben ihnen in die Schutz versprechenden Schächte hinabeilten. Aber für eine Hochschwangere?

Endlich erreichten sie das Ende der Treppe. Mrs Granville stoppte für eine kurze Pause und legte ihre Hände auf ihren dunkelbraunen Wollmantel, sodass ihr kugelrunder Bauch darunter deutlich wurde. Agatha zog ein Tuch aus ihrer Dienstmädchenuniform. Vorsichtig tupfte sie ihrer Dienstgeberin den Schweiß von der Stirn, wie es einst ihre Mutter bei Agatha selbst getan hatte. Vor dem Krieg. Zwölf war sie da gewesen. Und jetzt, knappe fünf Jahre später, fühlte sie sich manchmal schon wie eine gebrechliche alte Frau. »Ich bin mir sicher, es wird alles gutgehen, Mrs Granville.« Gott sei Dank war sie viel zu schwach, um die Unsicherheit in Agathas Stimme zu bemerken. Gutgehen, nichts fiel Agatha schwerer in diesen Tagen, als sich den Glauben an das Gute zu bewahren. Mrs Granville packte Agatha am Handgelenk und zog sie dicht an sich heran.

»Lassen Sie mich hier. Ich schaffe den restlichen Weg bis zum Bahnsteig allein. Eilen Sie zu meinem Mann. Helfen Sie ihm!«

»Keinesfalls. Ich bleibe bei Ihnen, Madam. Sie und Ihr Ungeborenes, Sie brauchen mich jetzt mehr als er.« Sie stützte ihre Dienstgeberin an der Schulter und ermutigte sie, weiterzugehen. Endlich erreichten sie den Bahnsteig. Gerade richtete ein Reporter seine Kamera auf die Unmenge von Menschen, die sich mit ihrem Hab und Gut dicht aneinander gereiht auf dem Gleisbett niedergelassen hatten. Das Blitzlicht zuckte in Richtung Tunnel und erhellte das Gesicht des Polizisten, der dort wie versprochen stand und wartete. Mr Granville hatte ihn hierher beordert, um die unzähligen Kunstschätze aus dem British Museum zu bewachen, die sich unmittelbar hinter ihm in dutzenden Holzkisten über- und nebeneinander bis weit in den U-Bahn-Tunnel hinein stapelten. Drei der Kisten hatte der nette Polizist zu einer kleinen Treppe aufgebaut, auf der Mrs Granville vorsichtig hinab ins Gleisbett steigen konnte. Agatha half ihr aus ihrem Wollmantel heraus, und hielt ihre Hand, damit Mrs Granville auf der bereitgelegten Matratze Platz nehmen konnte. »Warten Sie!«, flüsterte sie. Rasch schlug sie noch eine der bereitgelegten Decken um Mrs Granvilles Schultern. »Sonst wird Ihr wunderschönes lila Kleid mit den weißen Tupfen noch ganz schmutzig an den nackten Steinen.« Sie wickelte die Decke eng um ihre Dienstgeberin und half ihr, sich gegen die Tunnelwand zu lehnen. Mrs Granvilles Mund zog Speichelfäden, als sie ihn öffnete.

»Jetzt gehen Sie aber, Agatha. Bitte!«

»Keinesfalls.« Der Schweißfluss ihrer Dienstgeberin wurde zusehends stärker, der Atem nervöser.

»Sie müssen, Agatha! Wenn er noch nicht da ist, dann …«

»… wird er sicher jeden Moment auftauchen«, erwiderte Agatha beharrlich. »Alle Kunstschätze sind längst in Sicherheit gebracht.« Sie deutete auf die zahlreichen Kisten. »Sehen Sie.«

Ihre Dienstgeberin schüttelte mit dem Kopf. »Aber nicht die Mumien!« Ihre Stimme klang, als wäre Mrs Granville selbst kurz davor, sich in eine zu verwandeln. »Die U-Bahn-Tunnel sind für die Mumien zu feucht. Das haben sie nicht bedacht. Mein Mann muss sie an einen anderen Ort bringen. Und uns läuft die Zeit davon.« Ein dumpfes Grollen hallte durch den Tunnel. Der Boden bebte. »Die Deutschen, sie dürfen sie keinesfalls finden.« Von einer unerwartet kräftigen Wehe gepackt schrie Mrs Granville auf. Agatha faltete eine weitere Decke zu einem Kissen und stopfte es zwischen Wand und Rücken, sodass ihre Dienstgeberin halbwegs aufrecht sitzen konnte. Das machte ihr das Atmen leichter. Wieder vibrierte der Boden. »Die Mumien sind mächtig!«

Schon hatten sich neue Schweißperlen auf der Stirn ihrer Dienstgeberin gebildet. Sorgsam strich Agatha sie ihr aus dem Gesicht. »Sorgen Sie sich nicht.« Was sollten ein paar in Leinen eingewickelte Leichen schon bewirken können, wenn nicht einmal der Herrgott selbst in der Lage war, das Deutsche Reich zu bremsen. Manchmal fragte Agatha sich, warum sie überhaupt noch betete. Warum sollte sie dann an die gespenstische Geschichte eines ägyptischen Professors glauben, der behauptete, dass sich in den alten Mumien ein Geheimnis verbarg, das verriet, wie man ein Serum brauen konnte, das unsterblich machte?

Mrs Granville versuchte, ihren Atem zu kontrollieren. Aber es gelang ihr immer weniger. »Alles hat eine gute und eine dunkle Seite, wissen Sie, Agatha?« Jedes Wort schien ein Kampf für sie. »Zerstören wir die Mumien, wird sich der Geist der Amun-Ra an uns rächen.«

Der Geist der Amun-Ra, wenn Agatha das schon hörte. Konnte ein Gespenst schlimmer sein als der Bombenhagel der Nazis? Kürzlich hatte sie beim Putzen im British Museum ein Gespräch zwischen zwei Professoren aus dem Museumsvorstand aufgeschnappt, die von Forschungen an einer Bombe erzählten, die angeblich eine ganze Stadt auf einen Schlag vernichten konnte. Mrs Granville rüttelte an Agathas Hand, um sicherzugehen, dass sie weiterhin zuhörte.

»Zerstören wir die Mumien nicht, und der Führer bekommt sie in die Hände und lüftet ihr Geheimn…« Eine Wehe verformte Mrs Granvilles letztes Wort in einen gequälten Schrei. Zeitgleich jagte ein weiteres Grollen durch die Tunnel. Alles um sie herum erzitterte. Das Licht flackerte, beruhigte sich aber wieder. Wie während des großen Blitzes, dem ersten Luftangriff der Deutschen vor vier Jahren. Damals hatte Agatha als Einzige ihrer Familie nicht auf den fatalen Rat der Stadt gehört, keinesfalls Schutz in den U-Bahntunneln zu suchen. Nur wegen ihrer besten Freundin war sie damals ebenfalls hierher geflüchtet. Und hatte dadurch überlebt. Dass die Granvilles sie nach dem Tod ihrer gesamten Familie so großherzig aufgenommen hatten, war nur ihrem haushälterischen Geschick sowie ihrem außergewöhnlichen Talent in der Küche zu verdanken. Und dem Fakt, dass sich die vorherige Haushälterin der Granvilles als eine Spionin des russischen Geheimdienstes entpuppt hatte. Eines hatte Agatha schnell gelernt: So glamourös das Leben der legendären Granville-Familie schien, so gefährlich war es auch. Erst recht, seit das Familienoberhaupt Charles sich der Jagd nach dem Geheimnis der Pharaonen verschrieben hatte.

Mrs Granville krümmte sich vor Schmerzen und schrie auf. Agatha glaubte zu sehen, wie sich der Bauch ihrer Dienstgeberin unter dem Kleid für einen kurzen Moment nach außen wölbte. Umgehend legte Mrs Granville ihre Hand auf die entsprechende Stelle. »Ganz ruhig, mein Kleiner. Es ist alles gut.«

Überhaupt nichts war gut. Mrs Granville gehörte in ein Bett, neben einen warmen Ofen. Sie sollte eine Schüssel mit heißem Wasser bei sich haben. Und eine Hebamme, oder wenigstens eine Frau, die mehr Erfahrungen in solchen Dingen hatte als Agatha. Schritte näherten sich. Der Polizist trat zur Seite und ließ Charles Granville hinab zu ihnen ins Gleisbett. Endlich.

»Charles!«, hauchte Mrs Granville, während ihr Mann mit rußverschmiertem Gesicht seine Finger auf ihre Lippen legte.

»Sorge dich nicht. Die Mumien sind in Sicherheit.«

Mrs Granville versuchte zu antworten. Sofort meldete sich das Kind in ihrem Leib zurück. Sie stöhnte und presste ein kurzes »Wo?« hervor.

Der Blick ihres Mannes wechselte auffallend zwischen ihr und dem Polizisten auf dem Bahnsteig hin und her. »Jetzt nicht«, antwortete er. »Nicht hier.« Er beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Agatha konnte genau sehen, wie er dabei ein wunderschönes Medaillon in die Hand seiner Frau gleiten ließ. »Ich liebe dich, mein …« Sein Satz stockte. Sein Kopf schnellte so auffällig schnell in Richtung des Bahnsteigs, dass auch Agatha den spähenden Blick des fremden Mannes mit einer russischen Pelzmütze auf dem Kopf bemerkte, der neugierig zu ihnen herübersah. Kaum dass seine Augen sich mit denen von Mr Granville getroffen hatten, zuckte der Fremde zusammen und rannte davon.

»Halten Sie ihn!«, fuhr Mr Granville den Polizisten an. Umgehend sprintete der dem Fremden hinterher. Schüsse hallten durch den U-Bahnhof. Schreie ertönten. »Verdammt!« Mr Granville schnellte in die Höhe.

»Charles, geh nicht!«, rief seine Frau.

Zu spät. Schon war auch ihr Gatte im Tumult verschwunden. Mrs Granville schrie mit einer derartigen Verzweiflung auf, dass es Agatha das Herz zerriss. Endlich beruhigte sie sich wieder. Um kurz darauf erneut aufzuschreien. Dann wieder. Und ein weiteres Mal. Bis plötzlich die Welt um sie herum in sich zusammenzufallen schien. Ein ohrenbetäubender Donner grollte durch den Schacht. Staub rieselte von den Wänden. Das Licht erlosch. Sprang wieder an. Agatha sah zu ihrer Dienstgeberin, die wie tot vor ihr an der Tunnelwand lehnte.

»Mrs Granville!«, wollte sie rufen. Aber nichts als ein hohes Piepen hüllte sie ein. Erst als ihre Ohren sich beruhigt und der erste Schock sich wieder gelegt hatte, bemerkte sie das hohe, aufgeregte Schreien. Und dann sah sie es, das kleine menschliche Wesen, das zwischen Mrs Granvilles Beinen lag.

Für einen Augenblick erstarrte Agatha. Sie musste irgendetwas tun. Während der Geburt ihrer kleinen Schwester hatte sie der Hebamme assistiert. Agatha versuchte, sich zu erinnern. Die Nabelschnur! Hastig suchte Agatha nach dem Näh-Set in ihrer Handtasche, band die Nabelschnur ab, durchtrennte sie und wischte das Neugeborene trocken. In eine der bereitgelegten Decken gewickelt legte sie es ihrer Dienstgeberin auf die Brust.

»Mrs Granville, es ist ein Mädchen!«

Kraftlos, aber lebendig schmiegte ihre Dienstgeberin ihre frisch geborene Tochter an sich. Mit völlig erschöpfter und dennoch der wohl glücklichsten Stimme in dieser grausamen Nacht flüsterte sie: »Meine kleine Mildred.«

Heute4 Tage vor Mildreds77. Geburtstag

02

7:30 pm, Crowndale Road, Working Men’s College

Zwei Hände packten Teddys Hals, pressten sich gegen seine Kehle, raubten ihm die Luft zum Atmen. Die Augen seines Gegenübers verengten sich. Der Möbelpackertyp wog locker 250 Pfund und war ein Schrank gegen Teddys drahtigen Kung-Fu-Körper. Teddy schoss das Adrenalin in die Adern. Er spürte, wie sein Gesicht rot anlief. Der Angreifer verzog die Oberlippe vor Zorn. Speichel spritzte Teddy entgegen.

»Ich mach dich fertig, du scheiß Bulle!«

Teddys erster Reflex ließ ihn an seine Dienstwaffe denken. Ein verheerender Fehler. Erstens hatte er sie während seiner Lehrtätigkeit am Working Men’s College nie dabei und zweitens nutzte der Angreifer Teddys kurze Geistesabwesenheit, um ihn nach hinten zu schubsen und ins Taumeln zu bringen. Teddy fluchte. Er durfte sich von der Unterrichtssituation nicht aus der Ruhe bringen lassen. Auf den Atem fokussieren. Achtsam sein. Ganz so, wie es ihn sein Vater in Chinatown gelehrt hatte. Auch wenn sein Angreifer fast doppelt so breit und einen guten Kopf größer war als er, er hatte nicht vor, sich hier von ihm fertig machen zu lassen. Nicht er, Detective Chief Inspector Teddy Chan! Der mit dem Lächeln von Buddha und dem Herz eines Karatekämpfers, wie Tante Wenwen in Hongkong immer zu sagen pflegte. Blitzschnell streckte er seine Knie durch, schoss mit seinen Armen in die Höhe, sodass sie kerzengerade zwischen denen seines Angreifers hindurchragten und drehte sich seitlich. Dabei kickte seine rechte Schulter gegen einen Arm seines Gegners, hebelte ihn aus. Der Würgegriff wurde schwächer. Nun rammte Teddy mit ganzer Kraft seinen rechten Ellenbogen nach unten gegen den Unterarmknochen des Angreifers. Schmerzerfüllt ließ sein Gegner los. Teddy nutzte den Schwung und kickte ihm mit dem Ellenbogen in den Schritt. Mit einem lauten »Shit!« krümmte sein Gegner sich, sodass Teddy nur noch seinen angewinkelten Arm öffnen musste, um ihn mit einem saftigen Kinnhaken vollkommen auszuknocken. Unter lautem Schmerzgeschrei brach Bernie auf dem Boden zusammen. »Fuck! Scheiße. Alter!«

Teddy lockerte seine Schultern, ging in die Knie und klopfte ihm tröstend die Schulter. »Alles okay?«

Bernie schnaufte, richtete sich auf und blickte Teddy wütend an. »Sie haben gesagt, nur halbe Kraft.«

Teddy reichte ihm die Hand. »Dann können Sie sich vorstellen, was dieselbe Verteidigungstechnik bei voller Kraft bewirken kann.«

Bernie winselte und humpelte zurück auf seinen Platz.

»Sie müssten es doch eigentlich aus Ihrem Zooladen in Camden Town kennen«, rief Teddy hinterher. »Manchmal können die kleinsten Tiere die Giftigsten sein.«

Die Klasse lachte.

Teddy ließ seinen Blick von Bernie aus in die Runde schweifen. »In den meisten Selbstverteidigungskursen dort draußen üben Sie völlig lebensfremde Situationen. Wenn Sie als Privatermittler in Gefahr geraten, haben Sie jedoch leider nicht die beste Freundin gegenüber, die Ihnen beim Taekwondo behutsam an den Hals gefasst hat. Dann müssen Sie mit Kerlen wie ihm hier fertig werden.« Teddy deutete auf Bernie, der noch immer leicht gekrümmt auf seinem Platz hockte. »Dann wird vielleicht eine Pistole auf Sie gerichtet, ein Baseballschläger erhoben oder …« Teddy griff in Windeseile in die Tasche, zog sein Trainings-Butterfly heraus und ließ die Klinge hervorschnellen. »… ein Messer gezückt.«

Ein Raunen ging durch die Klasse. Dabei war Teddys Aussage keineswegs übertrieben. Als gebürtiger Hongkong-Chinese hatte er es während seiner Jugend in Chinatown oft genug erlebt.

»Und was machen wir bei Mumien?«, rief jemand in die Runde.

Die Klasse lachte. Sofort sah Teddy auf den leeren Platz im Unterrichtsraum. Er ließ sich schon ganz kirre machen von diesem albernen Gerede. Was war das hier? Kindergarten?

»Wenn Sie an den Fluch einer Mumie glauben, gehören Sie vielleicht ins Fernsehen. Aber nicht in einen Kurs zum Privatermittler.« Teddy schwenkte seinen Arm. »Also entscheiden Sie sich. Dort ist die Tür.«

Gespenstische Stille kehrte ein.

»Ich weiß, Sie finden das lustig. Und es hat ja durchaus auch einen gewissen Unterhaltungswert, dass ausgerechnet Ihre Kommilitonin Alison Granville sich für heute krankmelden musste, kurz nachdem sie gemeinsam mit ihrer Tante Mildred die Wiederentdeckung der verloren geglaubten Mumien bekannt gegeben hat.«

»Genau!«, rief jemand in die Runde. »Die Tante Mildred soll ja angeblich auch krank sein.«

Schon stimmte die halbe Klasse mit ein.

»Steht heute in der SUN!«

»Richtig. Und kennen Sie nicht den Fluch des Tutanchamun? Alle Expeditionsteilnehmer sind kurz nach der Ausgrabung gestorben.«

»Und Sie sterben auch irgendwann«, antwortete Teddy. »Aber nicht wegen einer Mumie.«

Die Klasse lachte.

»Außerdem haben Alison und ihre Tante Mildred die Mumien nicht ausgegraben, sondern sich nur während einer Pressekonferenz daneben gestellt. Davon wird man nicht verflucht.«

»Aber warum sind sie dann krank?«, rief jemand. »Die Mumien stammen ja auch aus deren Familienbesitz.«

Teddy atmete tief durch. »Ich sage Ihnen, warum Alison krank ist.« Teddy setzte sich auf seinen Dozententisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Weil sie sich niemals Ruhe gönnt. Weil sie ihren Traum, Detektivin zu werden, nicht aufgegeben hat, nachdem sie ihre Ausbildung bei der Metropolitan Police vermasselt hat. Weil sie sich als Mitglied einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Londoner Familien nicht zu fein dazu war, hier, am Working Men’s College, gemeinsam mit Ihnen einen Abendkurs zu besuchen. Sie, die Nichte der legendären Mildred Granville.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Weil Alison die eigene Bestimmung wichtiger ist als ihr Ansehen.«

Mitfühlende und ergriffene Gesichter blickten Teddy an. Als sein Blick auf Rosa traf, legte sie erschrocken ihr Smartphone auf den Tisch und spielte mit ihren knallbunt lackierten Fingernägeln an ihren Dreadlocks herum. Hatte sie ihn etwa gefilmt? Videos konnte sie gern bei einem ihrer Auftritte mit den Giant Gospel Singers machen. Aber nicht in seinem Kurs. Die Leute wurden immer dreister. Ertappt ließ sie ihr Handy in ihrer Tasche verschwinden.

»Lassen Sie sich das eine Lehre sein«, sprach Teddy mit einem mahnenden Ton weiter. »Ehrgeiz ist gut. Aber Sie müssen auch lernen, mit Ihren Kräften hauszuhalten. Lernen Sie Ihre Grenzen kennen und akzeptieren.« Er deutete auf Bernie. »Oder Ihr Gegner wird Profit daraus schlagen und Sie schlimmstenfalls töten.«

Er nahm sich einen Moment Zeit, um seine Worte wirken zu lassen. Dann klatschte er in die Hände. »Also wieder an die Arbeit! Wer meldet sich freiwillig?«

Schlagartig senkten sich alle Köpfe. Teddy kannte das bereits. »Wie wollen Sie sich den dunklen Seiten des Lebens stellen, wenn Sie schon eine simple Herausforderung an einer Abendschule fürchten?«

Rosa stand auf. »Ich mach’s.«

Teddy nickte anerkennend. »Hervorragend. Gehen Sie bitte kurz nach draußen. Nehmen Sie sich dort einen Moment Zeit, um sich einen Charakter und eine Straftat zu überlegen. Fragen Sie sich, welchen Plan Sie verfolgen und wie Sie mich und alle anderen hier im Raum an der Nase herumführen und in Ihre Gewalt bringen wollen. Sobald Sie bereit sind, klopfen Sie. Ich werde die Tür öffnen, mich völlig ahnungslos geben und sehen, ob ich Ihr Vorhaben aufhalten kann.«

Rosa sah ihn skeptisch an.

»Okay?«, hakte Teddy nach.

Sie atmete tief durch. Kaum hatte sie den Kursraum verlassen, legte er seinen Finger auf die Lippen und deutete auf Bernie. Er zuckte wie vom Blitz getroffen. »Keine Panik«, flüsterte Teddy. »Sie haben sich eine Revanche verdient.«

Bernie zögerte.

»Es wird lustig!«, sagte Teddy.

Endlich gab Bernie nach. Teddy reichte ihm eine Sturmhaube.

»Sobald es an der Tür klopft, öffne nicht ich, sondern Sie.« Er holte eine vollgeladene Wasserpistole aus seinem Trainingskoffer. »Überraschen Sie Rosa damit!«

Bernie grinste schelmisch, zog die Sturmhaube über und nahm die Waffe. Teddy wandte sich zurück an die Klasse. »Und wir werden alles genau beobachten und im Anschluss Feedback geben.« Wie auf Kommando klopfte es an der Tür. Bernie griff mit der Linken nach der Türklinke und hob die Waffe. Beim überraschenden Anblick der alten Dame mit ihrem Hund an der Leine, fühlte sich Teddy, als habe er in eine Steckdose gefasst. »Nein, nicht!«, rief er noch.

Zu spät. Schon drückte Bernie ab. Die Klasse schrie auf, als Mildred Granville die volle Ladung Wasser in die Augen spritzte. Diese holte prompt mit ihrem magentafarbenen Gehstock aus und rammte ihn Bernie mit voller Wucht zwischen die Beine. Der heulte auf, krümmte sich vor Schmerzen und giftete Teddy mit hochrotem Kopf an. »Das zahl ich Ihnen heim!«

Die Klasse lachte.

Da schnellte Mildred Granvilles Hund vor. Blitzschnell verbiss sich der fuchsbraune Corgi in Bernies Hose und brachte den ohnehin schon taumelnden Berg von Mann endgültig zu Fall. Mildred drehte ihren Gehstock in der Luft herum, stemmte den Fritzgriff gegen Bernies Kehle und fixierte ihn damit am Boden. Die Klasse tobte.

»Mrs Granville«, rief Teddy. »Entschuldigen Sie die Verwechslung!«

Mildred pfiff Alfie zurück, löste ihren Stock von Bernies Kehle und richtete ihre schwarze Pelzmütze. »Wieso? Ist das hier nicht Ihr Abendkurs?«

Teddy war verwirrt. »Doch natürlich. Haben Sie sich verletzt?«

»Die hat sich verletzt?«, winselte Bernie vom Boden. »Diese Verrückte hat mich beinahe zur Frau gemacht.«

»Ein schreckliches Missverständnis«, versuchte Teddy die Situation zu schlichten. »Was machen Sie hier, Mrs Granville?«

»Ich denke, Sie sind Detektiv, Herr Chan.«

Die Klasse lachte.

»Ich möchte zu meiner Nichte.«

Teddy wurde hellhörig. »Sie meinen Alison?«

»Nein, ich spreche von der geheimen unehelichen Tochter, die mein Bruder an eine Kinderhändlerin in Southwark verkauft hat.«

Teddy stutzte. Mildred hob die Stimme.

»Natürlich meine ich Alison!«

Teddy brauchte einen Moment, bis er sich wieder gesammelt hatte. »Es tut mir leid, Mrs Granville. Aber Alison ist nicht da.«

»Sie ist nicht da?« Mildred zupfte den großen Kragen ihres eng geschnittenen, magentafarbenen Wollmantels zurecht. »Das kenne ich.« Sie stützte sich auf ihren Stock und ließ ihren Blick durch den Raum wandern. »Wo hat sie sich versteckt? Ich finde sie.«

»Sie ist krank«, hallte es aus der Klasse.

Mildred verzog das Gesicht, als habe sie in einen fauligen Apfel gebissen. »Eine Granville wird nicht krank.«

Genau das meinte er. Wenn sie ständig diesem Leistungsdruck ihrer Tante ausgesetzt war, konnte Alison nicht lernen, mit ihren Kräften hauszuhalten. Im Gegenteil. »Sie müssen das verstehen.«

»Nehmen Sie sie nicht noch in Schutz! Wieso ist sie nicht da?«

»Ihre Nichte hat eine Menge durchgemacht, Mrs Granville.«

»Sie hat eine Menge angefangen. Wirklich durchgemacht hat sie noch nie etwas. Sie ist nicht da. Typisch!«

Mit einem Schlag war es so still im Raum, dass Teddy sich fragte, ob sich seine Kursteilnehmer in Luft aufgelöst hatten.

»Ich habe auch viel zu tun«, sprach Mildred weiter. »Und? Bin ich krank?«

Krank vielleicht nicht, dachte Teddy. Aber jetzt, wo Mildred nach all den Wochen seit ihrer letzten Begegnung im Savoy Hotel vor ihm stand, musste er zugeben, dass sie erschreckend müde aussah. Davon konnten auch die Perlenkette und die sechsblättrige Blumenmanschette aus Diamanten nicht ablenken. Damals war sie im berüchtigten Zimmer 502 Opfer eines gespenstischen Spuks geworden und hatte dennoch um Welten frischer gewirkt. Vielleicht war doch etwas dran, an dem Fluch dieser Mumien. Teddy streifte die Ärmel seines schwarzen Hoodies zurück. »Es tut mir leid, dass Sie jetzt völlig umsonst gekommen sind.«

»Ich komme nie umsonst.« Mildred sah ihn durchdringend an. »Beenden Sie Ihren Kurs. Und dann begleiten Sie mich.«

Teddy war perplex. Ganz abgesehen von dem Kurs, er hatte seiner Frau versprochen, pünktlich in Chinatown zu sein. Er durfte sie nicht warten lassen. Nicht schon wieder. Nicht heute. »Bei allem Respekt, aber ich kann nicht einfach den Lehrplan …«

»Das ist doch eine wunderbare Lektion, nicht wahr?«, fiel Mildred ihm ins Wort. Sie trat in den Raum und sah bedeutungsvoll in die Runde. »Merken Sie sich das. Im Leben läuft es nie nach Plan.«

Aus der hintersten Reihe des Klassenzimmers leuchtete der Blitz einer Handykamera auf. »Die Granville bei uns im Kurs. Das glaubt mir ja sonst niemand.«

»Während Sie hier Ihre Zeit mit dem Knipsen von Fotos vergeuden, nutzt jemand anderes dort draußen gerade die Chance seines Lebens.« Sie stützte sich auf ihren Stock. »Die Uhr tickt. Niemand von uns bekommt eine zweite Chance. Wenn Sie wirklich etwas verändern wollen, brauchen Sie den Mut, Regeln zu brechen und Dinge anzupacken. Das Zauberwort lautet: Improvisation.« Dann wandte sie sich wieder Teddy zu. »Wo bleiben Sie?«

03

8:00 pm, British Museum, Granville Room

»So?«

»Fester!«, rief Alison. Sie brauchte mehr Widerstand. Die Hände ihrer besten Freundin konnte sie kaum spüren. Außerdem packte sie Alison an den Schultern und nicht am Hals. »Jetzt leg doch wenigstens das Klemmbrett beiseite.« Noch immer steckte es unter Peggys Oberarm. Wie sollte Alison sich da eine bedrohliche Angreiferin vorstellen, während sie mit hochkonzentriertem Blick Teddys Bewegungen auf dem Handydisplay folgte: Arme in die Höhe strecken, seitlich drehen, Kick gegen die rechte Schulter, dann gegen den rechten Unterarmknochen, Ellenbogen und ein angedeuteter Schlag in den Schritt. Peggy krümmte sich mit ihrem Oberkörper übertrieben um das Klemmbrett in ihrer Hand.

»Oh mein Gott! Du siehst ja nicht nur aus wie eine ägyptische Göttin. Du kämpfst auch wie eine.«

Schön wär’s! Dass Alison nach ihrer verpatzten Prüfung bei der Metropolitan Police ausgerechnet diesen Teil der Ausbildung am Working Men’s College verpasste, war ihr überhaupt nicht recht. Sie packte Peggy an den Schultern und schob sie beiseite. »Du stehst im Bild.« Das Stativ, in das sie ihr Handy geklemmt hatte, war ohnehin schon zu klein. Endlich konnte sie wieder einen Blick auf Teddy erhaschen. Er sah gut aus in seinem sportlichen Kapuzensweater und seine asiatischen Knopfaugen konnten einem im Videoformat fast das Herz brechen. Erst recht in Kombination mit der perfekt geföhnten Elvistolle, die er seit ihrem gemeinsamen Savoy-Abenteuer immer trug. Schon fuchtelte die Visagistin vom Stylingteam mit ihrem Pinsel Alison wieder im Gesicht herum. Alison schloss die Augen und bemühte sich um Fassung.

»Auch ein Schluck Mondwasser?«, witzelte Peggy.

Von dem streng nach Mondphasen abgefüllten Wasser, das dadurch angeblich die Kraft des Mondes in seinen Molekülen speicherte? »Damit ich mich bei Vollmond in eine Mumie verwandle?« Alison seufzte. So energiegeladen wie Peggy stets war, schien vielleicht wirklich etwas dran zu sein. Andere in der High Society koksten sich die Nase zu. Peggy trank Mondwasser. Vielleicht war sie aber auch einfach nur eine echte Powerfrau? Eine mit extrem gutem Geschmack. Ihr goldbrauner Jumpsuit mit den weißen, wattierten Boots und dem breiten weißen Gürtel war der Brüller. Ganz zu schweigen von dem Kapuzenkragen. Warum konnte Alison nicht genauso geradlinig und zielstrebig durchs Leben gehen wie sie? »Deine esoterischen Gesundheitsprodukte können mir jetzt auch nicht mehr helfen.«

»Jetzt mach dich nicht verrückt, Kleine«, sagte Peggy. »Du wirst diesen Kurs mit Bravour meistern. Wenn Teddy sehen könnte, wie du dich hier ins Zeug wirfst, wäre er begeistert.«

»Er würde ausflippen!« Er hatte es nicht verdient, ausgerechnet von ihr so hintergangen und angelogen zu werden. Während er sie krank im Bett wähnte, ließ sie sich für eine Presseveranstaltung im British Museum als Pharaonin verkleiden. Peggy blickte auf das Foto in der Hand der Visagistin, dann zurück zu Alison und schob ihr eine Locke aus dem Gesicht.

»Du schwänzt den Kurs ja nicht. Immerhin streamt ihn Rosa heimlich für dich. Als eine Granville hat man eben Verpflichtungen.«

Und wie sie das hasste! »Du meinst, das Lichtdouble für meine Tante zu spielen? Warum kann sie das nicht selber machen?«

Peggy hielt inne und sah sie vorwurfsvoll an.

Ja, eh klar. Wie konnte sie nur. Mildred, die arme, alte Frau. »Hast du sie überhaupt gefragt?«

»Alison!«, raunte Peggy.

Also nicht. Natürlich nicht. Schließlich war Peggy der Job als Eventmanagerin viel zu wichtig, als dass sie es wagen würde, sich mit ihrer besten Kundin Mildred Granville anzulegen. Außerdem wusste ja jeder: Mildred hatte keine Zeit für so was. Mildred Granvilles Terminkalender war randvoll gepackt mit weltbewegenden Meetings. Aber wenn sie, Alison, ihren Unterricht am Working Men’s College platzen lassen musste, war das okay. Sollte sie doch dankbar sein, dass Mildred es ihr überhaupt erlaubte, Zeit mit normalen Menschen zu verbringen. Jetzt hörte sie auch noch aus dem Handylautsprecher, wie Teddy den anderen Leuten im Kurs einen Vortrag darüber hielt, wie wichtig sie die Ausbildung nahm und wie krank sie doch war. Warum konnte der Boden sich unter ihr nicht einfach auftun und sie verschlingen? Hier und jetzt, auf der Stelle? Stattdessen trat die Visagistin einen Schritt zurück, warf einen Blick auf das Foto in ihrer Hand, um anschließend wieder Alison anzusehen.

»Sie sehen Ihrer Tante aber auch wirklich zum Verwechseln ähnlich.«

»Sie meinen bis auf die fünfzig Jahre Altersunterschied?«

Sofort kicherte Peggy amüsiert über Alisons Kommentar und die Visagistin sah sie betreten an. Aber sorry, Alison hatte doch auch recht. Ihre Tante wurde 77! Alison war 30. Und jetzt brach auch noch die Verbindung zum Live-Stream von Rosa ab und das Handydisplay wurde schwarz.

»Verzeihung«, nuschelte die Visagistin. »Ich meinte Ihre Gesichtskonturen, das perfekte Kinn, die leichte Stupsnase, die welligen kastanienbraunen Haare …«

Alison biss sich auf die Unterlippe. Wenn ihr hier jetzt aus reinem Frust herausplatzte, dass an Mildreds Haaren mittlerweile so rein gar nichts mehr echt war, würde ihr ihre Tante dafür den Hals umdrehen. Immerhin wimmelte es nur so von Presse im Haus. Und diese ältere Museumsaufseherin dort hinten, die mit ihrem Pisaturm-Dutt selbst in ihrer Uniform noch aussah wie eine russische Ballerina, schlich auch schon die ganze Zeit um sie herum. Wie hieß sie noch mal? Mrs Tarassowna? Das klang doch regelrecht nach einer zwielichtigen Spionin aus einem altmodischen James-Bond-Roman.

»… und dann Ihre Figur, Ms Alison«, mischte sich jetzt auch noch die Dresserin ein. »Das Kleid sitzt wie angegossen.«

»Meine Rede!«, warf Peggy mit ausgebreiteten Armen ein. »Da hörst du es, Alison. Ich sage doch, dass du das perfekte Double für deine Tante bist. Dein Gesicht wird man eh nicht erkennen. Und je bessere Fotos wir bei der Technikprobe heute machen können, desto wirksamere Presse bekommen wir. Je mehr Presse, desto erfolgreicher wird die Party.« Sie riss ihre Augen auf und betonte jede Silbe. »Hey, Mustafa Madbuli persönlich hat sein Kommen angekündigt!«

Alison ließ verzweifelt den Kopf hängen. Genau das meinte sie doch. Reichte es nicht, dass ihre Tante 77 wurde? Mildred machte so schon genug Wirbel um alles. Hand aufs Herz, wer sonst in London konnte die ägyptische Skulpturengalerie im British Museum für die eigene Geburtstagsparty mieten? Wieso musste ausgerechnet jetzt auch noch eine Kuratorin auf die Idee kommen, einen alten deutschen Schrein zu restaurieren und dabei die verloren geglaubten Mumien aus dem Familienbesitz der Granvilles wiederfinden? Nur damit Mildred auf ihrer Geburtstagsparty in vier Tagen mit noch mehr Tamtam, Video-Show und begleitet vom London Philharmonic Orchestra diese Mumien persönlich zurück an den ägyptischen Ministerpräsidenten übergeben konnte? Die Londoner Regenbogenpresse kam schon jetzt nicht mehr aus dem Jubeln heraus:

MUMMY MIA! Granvilles geben verschollen geglaubte Mystik-Mumien zurück an das ägyptische Volk.

Die Dresserin griff Alisons golden glitzernden Rock und hob ihn vorsichtig hoch, um die Verschnürungen der ebenfalls goldenen Highheel-Sandalenstiefel zu bewundern. Meisterhaft stylisch wickelten sie sich kniehoch um Alisons Beine. Selbst Peggy kam aus dem Staunen nicht heraus.

»Ich finde es beeindruckend, dass deine Tante trotz Stock immer noch in solchen Schuhen laufen kann.« Peggy fixierte ihr Klemmbrett zwischen Brustkorb und Oberarm. »Und dass sie noch immer die Figur einer 30-Jährigen hat.« Nun rückte sie die Pharaonenhaube auf Alisons Kopf zurecht. »Da kannst du was lernen, Schätzchen. Das ist die Macht der eisernen Disziplin.«

»Und des eisernen Herzens«, antwortete Alison.

Peggy senkte ihren Kopf. Dabei ließ ihr stylisch kantiger Pagenschnitt ihren Blick noch strenger erscheinen. Peggy brauchte kein Pharao-Kostüm. Sie sah auch so schon aus wie Kleopatra, erst recht, seit sie sich gegen Wasserstoffblond und für Jet Black entschieden hatte. »Hattest du dir nicht vorgenommen, nach dem Trubel im Savoy Hotel letztes Jahr nicht mehr allzu hart mit ihr ins Gericht zu gehen, Süße?«

Alison seufzte. Hatte sie. Schließlich war Mildred das letzte bisschen Familie, das ihr nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters geblieben war. Umso seltsamer war es, jetzt ausgerechnet an diesem Ort hier zu stehen, mitten im Granville Room. Mit ihren Fingern fuhr sie über das geheimnisvoll anmutende Relief im Holz des antiken Regals an der Wand neben ihr. Diese kunstvolle Einkerbung war ihr direkt am ersten Tag aufgefallen. Wie hingebungsvoll und detailliert sie gestaltet war. Als hätte eine Mildred persönlich das Relief hineinfräsen lassen. Ob es an irgendein spezielles Ereignis erinnerte? Nirgends sonst im gesamten Museum hatte sie bisher etwas Vergleichbares gesehen. Kein anderes Detail atmete so sehr den Geist ihrer Vorfahren.

Zwar nutzte das British Museum den Granville Room nur noch als Souvenir-Shop, aber noch immer waren die Wände über zwei Etagen hinweg komplett mit den ursprünglichen altenglischen Bücherregalen aus edlem Mahagoniholz verziert. Und genau dort hatten sie einst gestanden: die mehr als zwanzigtausend Bücher aus der Privatbibliothek von Alisons Mehrfachuronkel Sir Thomas Granville, die er nach seinem Tod im Jahr 1847 dem British Museum vererbt hatte. Natürlich war er Zeit seines Lebens obendrein Mitglied im Vorstand des Museums gewesen. Sowie ein enger Freund von Sir Robert Smirke, dem Architekten des British Museum. Und nun stand sie hier. Alison Granville. Und was hatte sie vorzuweisen? Wäre sie nach Mildred nicht das letzte Familienmitglied, hätte man sie wahrscheinlich längst als das schwarze Schaf aussortiert. Sie blickte zurück zu ihrem Handy im Stativ. Der Livestream war noch immer unterbrochen. Das passte überhaupt nicht zu Rosa. War die Aktion etwa aufgeflogen? Teddy hasste es, wenn sie ihre Smartphones während des Kurses verwendeten. Alison fühlte sich schon elend genug. Sie wollte nicht auch noch schuld daran sein, dass Rosa ihretwegen Probleme bekam.

Jemand stemmte die Flügeltür zum Granville-Room auf und der Dirigent des London Philharmonic Orchestra steckte seinen Kopf herein. »Wir können!« Aufgeregt eilte Peggy zu ihm, drückte den Knopf des Funkgerätes an ihrem Gürtel, kommandierte in ihr Headset hinein und winkte Alison zu. Alison gab ihr einen Daumen nach oben, während sie geduldig darauf wartete, dass die Chef-Stylistin ein letztes Mal Haare und Kostüm an ihr zurechtzupfte. Dabei wurde Alisons Aufmerksamkeit auf das Geschehen hinter dem Dirigenten gelenkt. Durch die halb geöffnete Flügeltür konnte sie direkt in die große Eingangshalle des Museums sehen. Unmittelbar vor der imposanten Treppe, die zwischen gigantischen Steinsäulen antik-heroisch in die erste Etage führte, erkannte sie Mr Buckland, den Assistenten des Chefs des British Museum. Bei ihm war Prof. Elizabeth Reid, jene bekannte Kuratorin, welche die besagten Mumien im Schrein wiederentdeckt hatte. Im grellen, blauweißen Licht eines transportablen LED-Scheinwerfers beantworteten sie die neugierigen Fragen eines BBC-Reporters. Und nur wenige Yards von ihnen entfernt, hinter einer der breiten, eckigen Steinsäulen, stand – schon wieder – diese auffallend neugierige Museumsaufseherin Mrs Tarassowna. Für das Interview-Team dürfte sie mit Sicherheit vollkommen hinter der Säule verborgen sein. Aber Alison konnte sie von ihrer Position aus uneingeschränkt sehen. Und sie hätte schwören können, dass sie nicht rein zufällig dort stand. Sie lauschte.

Peggy klatschte auffordernd in die Hände. »Alison!«

Alison bedankte sich bei der Visagistin und lief ebenfalls zu Peggy. Und Mrs Tarassowna? Sieh an! Von Peggys lautstarkem Geklatsche aufgeschreckt zuckte sie wie ein wildes Huhn zusammen, trat von der Säule weg und eilte auf verdächtig leisen Sohlen in Richtung ägyptische Skulpturengalerie.

04

7:30 pm, Thurloe Square

Teddys kleiner Rover Mini knurrte regelrecht, als er ihn zwischen Mildreds Rolls Royce und dem auf Hochglanz polierten Porsche Cayenne unmittelbar vor Alisons Haustür parkte. Er stoppte den Motor und wartete einen Moment, um die letzten Zeilen von Darcy Diamonds Coverversion des Madonna-Hits Frozen in seinem Autoradio ausklingen zu lassen. Klar, er hatte Darcy schon immer vergöttert. Aber seit er Londons ehemalige Disco-Queen während der Mörderjagd im Savoy Hotel persönlich kennengelernt hatte, erschien ihm Darcys Musik wie Magie. Es war diese Verletzlichkeit, die aus ihrer Kehle drang. You only see, what your eyes want to see. Und dann die dicken, märchenhaften Schneeflocken dazu, die wie auf Bestellung im Laternenlicht vor der Frontscheibe seines Minis zu Boden schwebten. Gänsehaut. Da konnte Madonna sich warm anziehen. Von wegen, Darcy habe nach dem Flugzeugabsturz ihre Stimme verloren. Sie hatte an Charakter gewonnen! Abgesehen davon hatte Madonna während ihres groß angekündigten Auftritts beim Eurovision Song Contest damals selber keinen einzigen Ton getroffen.

Die Fahrertür des Rolls Royce vor ihm öffnete sich. Mildreds Chauffeur verließ die Limousine und half ihr aus dem Wagen. Teddy erschrak, wie alt sie dabei wirkte. Alfie hüpfte hinterher und jagte Schneeflocken. Also zog auch Teddy den Schlüssel endgültig ab und stieg aus.

So sah es also aus, das Reihenhaus einer Alison Granville: graubrauner Backstein mit von weißen Stuckelementen eingerahmten Fenstern. Dazu ein kleiner Portico, der mit seinen weißen Säulen an den Eingang eines griechischen Tempels erinnerte und auf dessen Dach ein ausladender Balkon thronte – mit vom leichten Schneefall angezuckerten Rosen hinter einem kunstvoll verschnörkelten, schwarz glänzenden Geländer. Teddy brauchte sich gar nicht erst auszumalen, was ein derartiger Luxus auf vier Etagen in South Kensington kostete. Selbst mit seinem neuen Chief-Inspector-Gehalt würde er gar nicht lange genug arbeiten können, um so eine Immobilie auch nur ansatzweise abzubezahlen.

Alisons Butler öffnete. Auch sein angenehmes und zuvorkommendes Wesen hatte Teddy während der Jagd nach dem Mörder im Savoy zu schätzen gelernt. Royston Taylor strahlte mit seinem stets perfekt gepflegten, schneeweißen Vollbart nicht nur eine ungemeine Herzlichkeit aus, er war obendrein ein unschlagbares Allround-Talent. Letzteres verwunderte Teddy weniger bei all der Erfahrung, die Roy in seinen mehr als fünfzig Dienstjahren für die Granville-Familie inzwischen gesammelt haben musste. Wie man allerdings mehrere Jahrzehnte als Butler des störrischen Commissioner Ronald Granville überleben konnte, ohne seine gute Laune zu verlieren, würde für Teddy immer ein Rätsel bleiben. Bei der Verbissenheit, mit der Alisons Vater die Teams des Scotland Yard geführt und bevormundet hatte, grenzte es fast schon an ein Wunder, dass er nicht bereits früher an einem Herzinfarkt verstorben war. Gegen ihn war Mildred Granville das reinste Schmusekätzchen. Und Alison? Alison war sowieso anders als alle. Mit ihrem aufrichtigen, warmen Herzen und der ungewöhnlich ausgeprägten sozialen Ader passte sie überhaupt nicht in diese Familie.

»Mrs Granville, Mr Detective Chief Inspector Teddy Chan, was für eine Überraschung. So kommen Sie doch herein. Eine erkältete Seele ist wahrlich genug in diesem Haus.« Mit weit ausladender Geste winkte er sie in den von einem modernen, spiralförmig gewundenen Kristallkronleuchter beleuchteten Hausflur hinein. Teddy zuckte, als er völlig unvorbereitet dem lebensgroßen und gruselig lebendig wirkenden Ölgemälde von Commissioner Ronald Granville gegenübertrat. Rasch wandte er seinen Blick dem ebenfalls lebensgroßen Portrait von Alison auf der gegenüberliegenden Wand zu. Das Kleid, die meisterhaft hochgesteckten Haare – sie sah aus wie eine Königin. Dann der ebenfalls in Öl gefasste und in Form einer immer imposanter verzweigt in die Höhe wachsenden Eiche dargestellte Stammbaum daneben, der bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück reichte. Fast fühlte Teddy sich geehrt, eine Frau wie Alison unterrichten zu dürfen.

Alfie warf sich aufgeregt in seine Leine und bellte. Prompt legte Roy seinen Finger auf die Lippen. »Shhh, mein Kleiner«, flüsterte er und löste den Karabiner am Halsband. »Husch, schnell in den Garten.« Alfie bellte einmal kurz auf, flitzte den Flur bis zum Ende hin entlang, bog nach links ab und verschwand. Prompt wendete sich Roy wieder seinen Gästen zu. »Ich nehme an, Sie wollen zu Alison?« Er legte seine Hände ineinander und senkte bedrückt Kopf und Stimme. »Sie plagt sich leider schon den ganzen Tag mit einem fürchterlichen Virus herum. Es hat mich einiges an Durchsetzungsvermögen gekostet, Mr Chan, sie davon zu überzeugen, heute doch lieber daheim zu bleiben.« Jetzt faltete er seine Hände wie zum Gebet vor seiner Brust. »Sie ahnen gar nicht, wie wichtig ihr die Anwesenheit in Ihrem Kurs ist.« Er hob seinen Zeigefinger. »Ms Alison hält sehr viel auf Sie, müssen Sie wissen.«

»Dann wird sie sich umso mehr über einen Besuch von ihm freuen«, antwortete Mildred und stapfte die Treppe hinauf. Mit erstaunlicher Agilität für seine 71 Jahre überholte Alisons Butler sie. Teddy stutzte. Auch wenn Roy das mit seiner hochprofessionellen Art gekonnt zu überspielen verstand, er versperrte ihr den Weg.

»Um Himmels Willen, Mrs Granville, Sie könnten sich mit einem aggressiven Virus infizieren. Und das so kurz vor Ihrer so bedeutsamen Begegnung mit Ministerpräsident Mustafa Madbuli.« Er neigte dramatisch seinen Kopf. »Ganz Großbritannien schaut auf Sie!«

»Papperlapapp. Mein Alfie leckt mir regelmäßig das Gesicht und ich lebe immer noch.«

Das schon, dachte Teddy. Allerdings bezweifelte er nach allem, was Mildred ihm nach Kursende im Working Men’s College noch über den Grund ihres plötzlichen Auftauchens anvertraut hatte, dass es mit ihrer Gesundheit wirklich so gut aussah, wie sie vorgab. »Roy hat sicher recht«, wandte Teddy deshalb ein. »Sie sollten besser kein Risiko eingehen.«

»Wie auch immer«, antwortete Mildred, schob Roy beiseite und stieg weiter die Treppe hinauf. »Ich habe jetzt etwas Wichtiges mit meiner Nichte zu besprechen.«

»Aber Madam …«

Ohne anzuhalten schnürte Mildred dem Butler das Wort ab, indem sie ihre Hand in die Höhe riss. »Nichts da. Was bitte hat sie denn, Malaria?«

»Um Himmels Willen, ich hoffe nicht!« Wieder beschleunigte Roy und überholte Mildred. Dieses Mal stoppte er jedoch nicht, um ihr den Weg zu versperren, sondern eilte weiter voraus. In der zweiten Etage blieb er vor einer verschlossenen Tür stehen. Alisons Appartement, nahm Teddy an. Er rieb sich die Augen. Das hier war kein Wohnhaus. Es war ein Schloss.

»Wohnt Alisons Freund auch hier?«, fragte er. Mildred lachte so laut auf, dass Teddy sich umgehend für seine indiskrete Frage schämte. Roy beschwichtigte.

»Mr Holden Young zieht das Savoy vor.« Er nickte stolz. »Außerdem ist Alison eine sehr selbstbewusste und autarke Frau. Wenn wirklich eines Tages ein Mann in diesem Haus schlafen sollte, dann kann man sicher bereits die Hochzeitsglocken läuten hören.«

»Bevor hier ein Mann übernachtet, sind die Granvilles ausgestorben«, ätzte Mildred. »Umso wichtiger, dass ich jetzt ein paar Worte mit meiner Nichte reden kann.«

Beschwichtigend hob Roy die Hand. »Dann geben Sie mir wenigstens die Zeit, Alison vorzuwarnen, damit sie sich frisch machen kann. Ich schaue derweil, ob ich noch eine der von mir selbst genähten Masken für Sie finde, die wir während dieser anstrengenden Pandemie getragen haben.«

Mildred stützte sich auf ihren Stock und schnaufte. »Aber machen Sie schnell, ich werde 77 und habe keine Minute mehr zu verschenken.«

»Sie müssen ihn verstehen«, versuchte Teddy zu beschwichtigen, nachdem Roy in Alisons Appartement verschwunden war. »Er meint es nur gut mit Ihnen.«

»Glauben Sie mir«, antwortete Mildred. »Ich verstehe sehr gut, was sich hier gerade abspielt.«

Tat sie das? So wie Alisons Butler sich benahm, schien es Alison sogar noch schlimmer erwischt zu haben, als Teddy befürchtet hatte. Ohne dass er es wollte, musste er an die Mumiengeschichten seiner Kursteilnehmer denken. Was für ein Irrsinn! In Anbetracht der unerwartet starken Kältewelle, die seit einigen Tagen über London hinwegrollte, war eine Virus-Infektion absolut kein Wunder.

Endlich öffnete sich die Tür wieder und Roy trat heraus. Ohne Maske. Dafür jedoch mit beängstigend besorgtem Gesicht. »So leid es mir tut, ich fürchte, ich muss Sie wieder nach Hause schicken, Mrs Granville.«

»Das ist doch lächerlich.«

Mit überzeugender Bestimmtheit hob Roy die Hand, um Mildred abzublocken. »Alison schläft bereits tief und fest und im Sinne ihrer raschen Genesung und auch zum Schutz Ihrer Gesundheit muss ich in diesem Punkt leider konsequent sein.«

Mildred lachte.

Erneut legte Roy seinen Finger auf die Lippen, öffnete die Tür einen Spalt breit und deutete auf das Bett im vollkommen abgedunkelten Zimmer. »Überzeugen Sie sich selbst, Madam.«

Teddy überkam das schlechte Gewissen. Auf dem Nachttisch stapelten sich Berge von Kursmaterial. Alison sollte sich doch erholen und nicht in ihren Unterlagen versinken. Sie selbst lag tief in ihre Decke gewickelt in ihrem Bett und rührte sich nicht. »Ich fürchte Roy hat recht, Madam«, flüsterte er. »Lassen wir sie schlafen und besprechen einfach alles derweil mit ihm.«

Mildred fuhr zu Teddy herum. »Lassen wir Sie schlafen?« Mit einem erschütterten Ausdruck in ihren Augen sah sie ihn an. »Und Sie wurden gerade zum Detective Chief Inspector befördert?«

Teddy stockte der Atem. Er schnappte nach Luft.

»Ich denke, Sie haben einen Sohn!«

Teddy runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, was …«

»Und da fallen Sie noch auf solche billigen Tricks herein?« Sie schob Roy beiseite, marschierte in das Zimmer, zog die Bettdecke herunter, riss eine Perücke vom Kopfkissen, warf Teddy einen Rugbyball zu und deutete mit ihrem Stock auf das leere Bett. »Sie ist nicht da!«

05

8:00 pm, British Museum, ägyptische Skulpturengalerie

Als Alison die Sänfte sah, die bereits auf Position stand, wurde ihr ganz schwindelig. Peggy klopfte ihr auf die Schulter. »Jetzt mach mir nicht schlapp, Süße. Du weißt, wie wichtig das hier ist.«

Alison nickte. »Der Schneesturm in Manchester.« Der unerwartet heftige Schneefall in Nordengland verzögerte die Anlieferung der Möbel für das Catering und nun hatte Peggy die Foto- und Videoaufnahmen für die Pressemappen vorverlegen müssen. Deswegen war ihr schließlich auch Mildreds hochbezahltes Double ausgefallen.

»Und Orchester, Crew und Technik können leider nur außerhalb der Besuchszeiten im Museum proben«, fügte Peggy hinzu. Sie hatte ja recht. Auch wenn Mildred ihre Gästeliste der Location und dem politischen Anlass zuliebe dieses Mal auf den absolut kleinstmöglichen Kreis von 250 Leuten reduziert hatte, diese Party sollte etwas Besonderes sein und den Namen der Granville-Familie in Ehren halten.

Peggy half ihr die kleine Trittleiter hinauf, die auf die Ebene mit dem Thron führte. Denn natürlich würde keiner der zwanzig Tänzer im ägyptischen Soldatenkostüm die Sänfte wirklich tragen. Ein unter weißen mit Goldverzierungen versehenen Tüchern verborgenes Fahrgestell würde dafür sorgen, dass Mildred an ihrem großen Tag majestätisch und würdevoll in die Skulpturengalerie hineingleiten konnte.

Als Alison saß, zupfte das Stylingteam ein letztes Mal Haar, Haube und Kostüm zurecht. Peggy schnipste mit dem Finger, um Alisons volle Aufmerksamkeit zu bekommen. »Sobald es dunkel ist, leiten die Bühnentechniker die Sänfte auf Start-Position«, rief sie. »Dann übernehmen die Tänzer. Alles klar?«

Alison hob den Daumen.

»Schade, dass dein Honeybun dich so nicht sehen kann«, rief Peggy. »Du siehst umwerfend aus, Süße.« Kurz darauf war sie verschwunden.

Um Himmels Willen, dachte Alison. Niemand sollte sie so sehen. Weder Holden noch Teddy noch irgendwer! Alison konnte ihren Herzschlag spüren. Warum um alles in der Welt war sie so nervös? Sie würde doch noch sitzen und stillhalten können. Das Licht erlosch. Für einen letzten Check-up huschten die Moving-Lights durch die Galerie. Dabei warfen für den Bruchteil einer Sekunde die drei Sarkophage, welche hinter der abgesenkten Videoleinwand am anderen Ende der Halle positioniert waren, ihre Schatten an die Seitenwand. Und es sah aus, als wenn sich jemand an ihnen zu schaffen machte. Alison glaubte die Form eines weit in die Höhe geschraubten Dutts zu erkennen. Wie bei der Frisur einer russischen Ballerina. Mrs Tarassowna? Was hatte die Museumsaufseherin hier und jetzt am Set zu suchen? Und vor allem: an den Mumien!

Alisons Gedanken lösten sich auf, als völlige Dunkelheit die Räume des Museums erfüllte. Aus der Ferne hörte sie leise Xylophonklänge. Wie von Peggy angekündigt rollte Alisons Sänfte zu den ersten zarten Melodien des Orchesters auf Position. Ein dramatisches Violinentremolo erfüllte die Galerie. Alison hörte das Zischen der Nebelmaschine. Bläser ertönten. Synchron mit dem Klang eines Beckens erstrahlte die Videoleinwand und schwebte im Rhythmus der Musik der Decke entgegen. Alte Bilder zeigten die 21 Pferdewagen, die 1847 Sir Thomas Granvilles Büchersammlung nach seinem Tod ins British Museum brachten. Vergilbte Fotos erzählten von den zahlreichen ägyptischen Expeditionen, die im 19. Jahrhundert von der Granville-Familie für das British Museum mitfinanziert worden waren. Erste, kratzige Filmaufnahmen präsentierten die Sarkophage mit den drei Mumien, die Alisons Urgroßvater einst in Luxor ausgegraben und mit nach London gebracht hatte, gefolgt von der Evakuierung sämtlicher Kunstgegenstände des British Museums während des Zweiten Weltkrieges und einer in eine Decke eingewickelten Mildred Granville, die am 21. Januar 1944 während eines Luftangriffs der Deutschen zwischen den in Kisten und Truhen verstauten Museumsschätzen in einem zum Luftschutzbunker umfunktionierten U-Bahnschacht geboren worden war.

Die Stimme von Stephen Fry ertönte. Mit dramatischem Timbre berichtete er von der tiefen Verbundenheit, die dieses Ereignis zwischen Mildred Granville und dem British Museum begründen sollte. Er erzählte von den drei Mumien, die seither über Jahrzehnte hinweg spurlos verschwunden waren. Bis zu jenem Tag, an dem ein seit dem Krieg nicht weiter beachteter deutscher Schrein aus den Lagern des British Museums geholt und für die Restauration geöffnet worden war. Bilder zeigten den spektakulären Fund: die drei verloren geglaubten Mumien, die nach Jahrzehnten endlich zurück in ihre Sarkophage gelegt werden konnten.

Eine Fanfare ertönte. »Und nun feiern Sie mit mir die Frau, welche die Rückführung dieser Mumien nach Kairo mit unerbittlichem Einsatz ermöglicht und finanziert hat. Einen riesigen Applaus zum siebenundsiebzigsten Geburtstag der umwerfenden Mildred Granville!« Laserstrahlen zuckten durch die Galerie. Das Bild von Alison, dem Mildred-Double auf dem Thron, erschien auf der Leinwand, während unter der Leinwand in dichten Nebelwolken die drei offenen Sarkophage mit den wiederentdeckten Mumien hereingerollt wurden. Alison spürte, wie sich die Sänfte zusammen mit dem Gänsehautklang majestätischer Pauken und Trompeten in Bewegung setzte. Begleitet von dem aus zwanzig Tänzern bestehenden ägyptischen Soldatentrupp schwebte sie zwischen den von goldenen Lichtkegeln eingehüllten Grandoriorit-Statuen von Amenophis und seinen zwei wachenden Löwen hindurch, an der falschen Tür von Architrav vorbei, direkt auf den mehrere Yards großen in rosagrauen Granit geschlagenen Oberkörper von Ramses II. zu, über dem die Leinwand schwebte. Die Sänfte stoppte, drehte sich um ihre eigene Achse. An den Stellen, wo für die Technikprobe Kameras und Fotoapparate aufgestellt waren, würden in wenigen Tagen die Stühle und Tische der jubelnden Gäste stehen, die anwesend sein würden, um die unvergängliche Macht und Schönheit der großen Mildred Granville zu feiern.

Blitzlichter zuckten. Ein Kamerakran fuhr vor Alison auf und ab. Ein Hund bellte. Alison stutzte. Hatte sie richtig gehört? Ein Hund bellte? Plötzlich verquoll die Orchestermusik zu einem einzigen Brei. Streicher quietschten, Bläser quäkten, verstummten endgültig, bis nur noch das Fluchen des Dirigenten zu hören war, der im hoffnungslosen Kampf gegen das immer lauter werdende Hundegekeife schließlich ebenfalls aufgab.

Auf der Suche nach der Ursache des Desasters senkte Alison ihren Kopf. Das war doch Alfie, der da im Scheinwerferlicht vor ihr auf und ab sprang, und das neben ihr … Alison schnellte von ihrem Thron aus in die Höhe. »Teddy?« Alfie drehte seinen Buschelschwanz schneller als den Propeller einer Turboprop-Maschine. »Was machen Sie hier?«

»Ihre Tante hat bei uns im Working Men’s College nach Ihrer Majestät gefragt«, rief er zu ihr hinauf. »Aber da Sie ja heute leider schwer erkrankt zu Hause bleiben mussten, hat sie Sie natürlich nicht angetroffen.«

Die Ironie in seiner Stimme war unüberhörbar. Teddy war sauer. Stinksauer. Und er hatte allen Grund dazu. »Hören Sie, Teddy. Das hier ist nicht das, wonach es aussieht.«

Er hielt ihr demonstrativ die Hundeleine entgegen, wohl wissend, dass Alison sie jetzt unmöglich nehmen konnte. »Daher habe ich mich bereiterklärt, Ihnen Alfie persönlich vorbeizubringen. Die aktuellen Ereignisse zwingen Ihre Tante leider dazu, ihn für die nächsten Tage in Ihre Hände zu geben.«

Peggy eilte zu Teddy und nahm ihm mit peinlich berührtem Blick die Leine aus der Hand. Alison war völlig paralysiert. »Teddy, aber … ich kann nicht …«

»Ich denke, Sie werden das in Anbetracht der Umstände sicher alles gut unter einen Hut bekommen.« Er sah sie eine Weile schweigend an, bevor er weitersprach. »Zusammen mit Ihrem Kurs am Working Men’s College.«

»Ich schwöre, Teddy. Sie verstehen das hier alles gerade völlig falsch. Das hier … ich habe Verpflichtungen.«

Der Ton seiner Stimme änderte sich. Sie wurde beängstigend kalt. »Ihre einzige Verpflichtung, Alison, ist Ihr Fall. Wenn Sie das nicht lernen, werden Sie nie eine Ermittlerin sein.«

Das war nicht fair. So war das doch überhaupt nicht gemeint. Sie schlug sich mit der Hand gegen die Hüfte vor Wut. »Warum um alles in der Welt kommt diese blöde Kuh auch ausgerechnet heute auf die Idee, ihren Hund bei mir abzuladen?«

Ein Raunen fegte durch die Galerie. Ein wahres Blitzlichtgewitter brach über Alison herein. Der Kamerakran fuhr direkt auf Alisons Gesicht hinzu. Sie biss sich auf die Lippen. Wie hatte sie das nur sagen können? Peggy rannte panisch von Kamera zu Kamera, um die anwesende Presse zu beschwichtigen.

Teddy hingegen zeigte sich von der spontanen Aufregung völlig unbeeindruckt. »Ihre arme Tante ist im Krankenhaus«, antwortete er trocken, drehte sich um und ging.

06

8:45 pm, Wardour Street, Young Chan Restaurant

Teddy atmete ein, öffnete seine Arme, reckte sein Gesicht dem Himmel entgegen und fühlte die schmelzenden Schneeflocken auf seiner Haut. Dann ließ er seine Arme vor seinem Körper wieder herabsinken und atmete aus, während er seine Knie leicht beugte. Kurz hielt er inne, nur um anschließend seine Arme über die Seite wieder zu öffnen und erneut einzuatmen. Vergebens. Nach zehn Wiederholungen gab er auf. Er konnte gar nicht so viel Quigong machen, wie er hätte schreien wollen. Das hätte ihm nicht passieren dürfen. Er kannte die Granville-Familie doch. Und vor allem hatte er während seiner Zeit bei Scotland Yard oft genug gesehen, wie die Dinge liefen. Reichtum und Macht kamen nicht von ungefähr. Warum sollte ausgerechnet eine Alison da anders sein? Was für eine Unverschämtheit, ihn derart vorzuführen! Und wie kindisch, sich davon aus der Fassung bringen zu lassen. Wer bitte war er denn?

Er blickte auf die Eisblumen, die sich in den letzten Tagen auf dem Schaufenster des Restaurants seiner Eltern gebildet hatten. Genauso fühlte sich das Leben mit seiner Frau Benisha in den letzten Wochen an. Als wäre er gefangen in einem Eispalast. Festgefroren. Mit einer Frau, der die Eifersucht einen Splitter ins Herz gejagt hatte. Aber das würde er ändern. Die Dinge bewegten sich doch in die richtige Richtung. Und er liebte Benisha. Punkt. Also gab er sich einen Ruck und betrat das Restaurant.

Das Young Chan war bis auf den letzten Platz gefüllt. Er hielt nach Benisha Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken. Teddy wurde unruhig. Er wusste, wie sehr Benisha es hasste zu warten – erst recht an einem Ort wie diesem. Aber das strahlende Gesicht seiner Mutter, die in ihren knallbunten Blümchensandalen und mit ihrer viel zu großen roten Schürze auf ihn zu gerannt kam, stimmte ihn optimistisch.

»Chief Inspector!«, rief sie so laut, dass sich alle Gäste schlagartig nach ihm umdrehten. »Hast du wieder einen Mörder gefasst?«

»Mama«, flüsterte Teddy. »Du weißt, ich mag das nicht.«

Sie kickte ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. »Die Leute können ruhig wissen, dass du beim Scotland Yard arbeitest.«

Teddy gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Er fand es schließlich gut, wenn seine Eltern sich sicher fühlten. Nicht nur, dass Chinatown im Vergleich zum Rest von London eine ziemlich hohe Kriminalitätsrate hatte. Kam es zu einer Konfrontation, ging es hier meist auch rauer zu als anderswo. Trotzdem liebte er das quirlige, überdrehte Flair dieser Gegend. Genauso wie die knalligen, orangefarbenen Lampions an der Decke und die bis auf den letzten Winkel mit Bildern der angebotenen Speisen zugekleisterten Wände dieses viel zu kleinen Restaurants – ganz im Gegensatz zu Benisha.

»Wo ist sie?«, fragte Teddy.

Seine Mutter nickte mit ihren so typisch charmant rollenden Augen zur absolut hintersten Bank in der entferntesten Ecke.

»Mama, müsst ihr sie ausgerechnet direkt neben die Küchentür und zwischen Servietten und Besteckkasten setzen?«

Sie wackelte mit dem Kopf. »Bei dir ist das Glas auch immer nur halbleer.« Sie zupfte seinen Kapuzenpullover und die Lederjacke zurecht. »Sie sitzt direkt neben dem Aquarium.« Sie zog Teddy ganz dicht zu sich heran und flüsterte. »Dein Vater sagt, das ist der Feng-Shui-Bereich für eine glückliche Partnerschaft.«

Teddy seufzte. Prompt stupste seine Mutter ihn an.

»Du hättest deiner Frau Blumen mitbringen sollen, mein Sohn!«