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Die hübsche siebenundvierzigjährige Witwe Melli Marshal arbeitet ehrenamtlich in einer Hilfsorganisation für alte und/oder kranke Menschen in einem kleinen, idyllischen Ort im Süden von England. Plötzlich werden in dem kleinen Ort mehrere Morde an alten Frauen verübt. Da ihr zwei der Mordopfer persönlich bekannt sind, versucht sie, der Polizei bei den Ermittlungen zu helfen. Ihre gut erzogene Hündin Arina zeigt dabei großen Einsatz. Gefährlich wird es auch für Melli, als der Mörder sich ihr gegenüber eine Blöße gegeben hat und auch sie nun töten will. Auch ihre Nachbarkinder geraten ins Visier des Verbrechers. Detective Chief Inspector Tom Badham und Melli sind sich im Laufe der Ermittlungen sehr nahe gekommen und nun muss sie auch um sein Leben bangen.
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Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2018
Der Tod
zahlt alte Schulden
Kriminalroman
von
Marley Hobrok
Mrs. Mary White sitzt gemütlich vor dem Fernseher und sieht sich eine Romanverfilmung von Rosamunde Pilcher an. Ihre grauen Haare haben heute eine neue Dauerwelle erhalten, und sie fühlt sich sehr chic. Gegen die Kälte hat sie sich nach längerem Überlegen doch ein Schultertuch umgelegt, obwohl der Frühling sich so langsam angemeldet hat.
Während sie an ihrem Sherry nippt und das Liebespaar im Fernsehen beobachtet, denkt sie wehmütig an die Zeit vor ungefähr fünfundsechzig Jahren zurück. Ja, damals, da hatten sie und William sich auch geliebt, gestritten und wieder geliebt. Wie schnell doch die Zeit vergangen ist…
Dann hört sie die Türklingel. „Wer ist das denn jetzt noch?“, murmelt sie vor sich hin. Schwerfällig steht sie auf, legt ihr Schultertuch in den Sessel, damit es nicht auf dem Boden landet und schleppt sich, auf ihren Stock gestützt, zur Tür ihres Einfamilienhauses. Es ist zwar erst 20:20 Uhr, aber im März ist es bei schlechtem Wetter immer noch ganz schön dunkel.
„Wer ist denn da?“, ruft sie etwas zittrig.
„Mary, du kennst mich doch, mach mal schnell auf! Ich war doch vorhin schon mal da!“ Es ist der 89-Jährigen ein bisschen peinlich, dass sie die Stimme nicht erkennt, und „vorhin schon mal da“, das kann ja nur einer von „Every Little Helps“ sein, denn da war doch jemand da, oder? Wer war das eigentlich? Oder war das gestern?
„Mary, mach doch auf, es ist kalt hier draußen!“, ruft die Stimme drängend.
„Ja, Momentchen!“
Mary White schließt die Tür auf und sagt erstaunt: „Kennen wir uns?“
„Na klar, Alma von nebenan ist doch meine Mutter! Wir brauchen dringend drei Eier zum Waffelbacken. Die Kinder freuen sich schon so darauf. Hast Du welche im Haus?“
„Na gut, dann komm mit in die Küche.“
Sie denkt noch, wer ist eigentlich Alma, dreht sich um und spürt nur noch, wie ein heftiger Schlag ihren Kopf trifft. Dass sie auf dem Boden aufschlägt, merkt sie schon nicht mehr.
So, das hab ich schon mal erledigt. Harry wird mit mir zufrieden sein. War gar nicht so schwer, kein Blut, kein Dreck. Keiner hat was gesehen. Das nächste Mal wird es einfacher, dann habe ich schon Übung, und Übung macht den Meister… Gut, dass ich den schwarzen Poncho an hatte, darunter kann man viel verstecken.
Arina bellte laut, als das Telefon klingelte, Melli rief ihrer Hündin ein: „Ja, ja!“, zu und leiser: „Wer ist denn das schon wieder?“ Sie rannte zum Telefon und wäre dabei fast über Fritzchen gestolpert. Der Kater hatte sich mal wieder mitten in die Tür zum Wohnzimmer gelegt und sich genau den Moment zum Aufstehen ausgesucht, als Melli mit einem großen Schritt über ihn drübersteigen wollte. Das ging ja gerade noch mal gut! Sie nahm sich vor, zukünftig immer das tragbare Telefon und ihr Handy überall in Haus und Garten mitzunehmen und nicht auf der Feststation zu lassen, das würde auch die Unfallgefahr verringern.
In letzter Zeit wurde sie mit gefühlten hundert Werbeanrufen täglich überschüttet, daher klang ihr „Melli Marshal!“ nicht besonders freundlich. Als sie mitbekam, dass Dr. Melody Silver-Onnington am anderen Ende war, wurde ihr Ton gleich liebenswürdiger, und sie knipste ihr Lächeln an, genau wie sie es vor vielen Jahren im Büro beim Telefontraining gelernt hatte.
„Mrs. Marshal, wir brauchen heute Nachmittag dringend einen Fahrer nach Salisbury zu einem Arzttermin. Sie hatten sich ja freundlicherweise bereit erklärt …“
„Ja, gerne, aber ich brauche die genauen Adressen von der Arztpraxis und von dem, den ich fahren soll.“
„Die gebe ich Ihnen gleich. Zuerst noch mal zu den Modalitäten: Merken Sie sich bitte die gefahrenen Kilometer. Dafür berechnen Sie dann zwanzig pence pro Kilometer. Und für die Zeit, die Sie für die Hin- und Rückfahrt brauchen, und natürlich für den Aufenthalt, nehmen Sie pro halbe Stunde zusätzlich zwei Pfund. So steht es auch in unserem Flyer. Das ist zwar ein Ehrenamt, aber wenn man gar nichts nimmt, wird es nicht geschätzt – nach dem Motto: Was nichts kostet, ist auch nichts wert.“
Melli versprach, auf Kilometer und Minuten zu achten.
Nachdem Mellis Ehemann Peter innerhalb von achtzehn Monaten an Krebs gestorben war und die Beerdigung vorbei und alle Formalitäten erledigt waren, hatte sie sich schon ein bisschen nutzlos gefühlt. Sie hatte wegen Peters Erkrankung ihre Stelle als Sekretärin der Geschäftsleitung einer Firma in Southampton aufgegeben, hatte sich dann von morgens bis abends mit ihm und seiner Pflege beschäftigt weil beide wussten, dass ihre gemeinsame Zeit sehr begrenzt sein würde – und plötzlich war da ein Vakuum.
Das war nun auch schon wieder ein halbes Jahr her. Es war eine sehr schwere und traurige Zeit, aber zum Glück hatte sie gute Freunde, die ihr zur Seite standen, sie trösteten oder ablenkten, je nachdem was sie gerade brauchte.
Ihre Stelle im Büro war vergeben, und jetzt musste eine neue Aufgabe her! Sicher, Arina und Fritzchen brauchten sie auch und sie war auch froh, dass sie die beiden hatte, denn ohne Tiere hätte sie es in dem stillen Haus nicht so gut ausgehalten. Nicht, dass sie Angst hatte, allein zu sein, aber nach diesem Schicksalsschlag etwas Lebendiges um sich zu haben, tat richtig gut. Aber das alles allein reichte ihr nicht, sie wollte mit ihren 47 Jahren auch noch etwas anderes tun.
Ihre Ärztin und Freundin Dr. Ann Rushton, die ihr in der schweren Zeit oft mit Trost und Rat zur Seite gestanden hatte, hatte die Idee:
„Wie wäre es, wenn du stundenweise als Tiersitterin arbeiten würdest? Du liebst doch Tiere, und dafür gibt es bestimmt Bedarf.“
„Hier auf dem Land?“, fragte Melli skeptisch. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Hier sind alle miteinander verwandt, und wenn der eine nicht kann, geht eben der andere mit dem Hund oder füttert die Katze. Und wie soll das gehen? Soll ich Zeitungsanzeigen schalten?“
„Nun, wenn mich Patienten ansprechen, dass sie jemanden für ihr Haustier brauchen, werde ich ihnen auf jeden Fall deine Telefonnummer geben. Das klappt bestimmt, du wirst sehen.“
Eines Tages fiel Melli ein Flyer der Stadtverwaltung in die Hände, in dem Werbung für das Projekt „Every Little Helps“ gemacht wurde. Sie dachte sofort an den Song der Beatles: „A little help from my friends“. Das gefiel ihr. Man konnte sich dort ehrenamtlich engagieren und alten und/oder kranken Menschen helfen oder auch selbst Hilfe anfordern.
Voller Tatendrang und Vorfreude bot sie ihre Hilfe bei der Ansprechpartnerin Dr. Melody Silver-Onnington an in den Bereichen Fahrdienste, Briefe schreiben, Formulare ausfüllen, Einkäufe erledigen und vor allem auch als Tiersitter, denn gerade alte Leute haben oft Haustiere, wenn sie allein leben.
Dr. Silver-Onnington freute sich: „Das ist aber schön, dass Sie sich ehrenamtlich engagieren wollen. Ja, herzlich willkommen! Aber Sie sagten, dass Sie sich auch um Haustiere kümmern wollen – so was hab ich noch nie gehört. Ich weiß auch gar nicht, ob das hier gebraucht wird. Aber wenn ich darauf angesprochen werde, will ich gern an Sie denken. Man weiß ja nie, was manche Leute so brauchen.“
Jetzt also eine Fahrt zu einem Arzttermin: Eine Rollstuhlfahrerin, Mrs. Menning, sollte zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt gebracht werden mit Begleitung innerhalb der Arztpraxis und Rückfahrt. Das war schon eine umfangreichere Aufgabe: Sie wohnte im ersten Stock, konnte mit großer Mühe mit Stock und Festhalten am Geländer die Treppe hinuntergehen, der Rollstuhl musste nach unten getragen, zusammengeklappt, in den Kofferraum gelegt und die Patientin auf dem Beifahrersitz verstaut werden. Auf dem Parkplatz vor der Arztpraxis musste die ganze Prozedur rückwärts ablaufen – nur ohne Treppe – und dann waren sie in der Praxis. Auf dem Hinweg konnte keine Kommunikation stattfinden, da Mrs. Menning beide Ohren dicht hatte und außer bei lautem Schreien absolut nichts hören konnte.
In der Arztpraxis wurde Melli ausgefragt und sollte einen Fragebogen ausfüllen, wie Mrs. Mennings Arzt heißt, welche Tabletten sie nimmt usw. Melli schrie Mrs. Menning die Fragen ins Ohr – die Aufmerksamkeit des gesamten Wartezimmers war ihnen gewiss – aber es hatte alles keinen Zweck. Mrs. Menning rief bei jeder Frage „Hä?“ oder „Ich hör nichts!“ Und Melli und die Arzthelferin gaben auf. Die anderen Patienten stellten nach und nach ihr Schmunzeln ein.
Im Wartezimmer kam Melli mit einem netten älteren Herrn ins Gespräch über das Wetter, über den Arzt, und urplötzlich sagte er: „Man sieht es mir zwar nicht an, aber ich bin schon einundachtzig!“ „Ist ja doll!“, sagte Melli leicht ironisch und wandte sich ihrer Zeitung zu.
Wieso geben alte Leute, vor allem Männer, immer so mit ihrem Alter an? dachte sie. Ist das irgendeine Leistung, die sie vollbracht haben? Oder ist das ein Rückfall in ihre Kindheit: „Ich bin schon fünf Jahre alt!“? Für kleine Kinder mag das ja ein Ereignis sein, aber für Erwachsene?
Vor kurzem hatte sie das schon einmal erlebt, im Wartezimmer eines anderen Arztes. Der anfänglich nette ältere Herr sagte zu ihr: „Schätzen Sie mal, wie alt ich bin.“
Geht das schon wieder los, dachte sie.
„Keine Ahnung“, erwiderte sie lustlos.
„Ich bin schon zweiundachtzig!“ Damit hatte er sich für weitere Gespräche disqualifiziert, und Melli las dann doch lieber die Geschichten in einem Klatschblatt weiter.
Nachdem die Ohren gesäubert waren, war Mrs. Menning begeistert von ihrem neu erworbenen Hörvermögen und erzählte Melli während der halbstündigen Rückfahrt aus Dankbarkeit ihre gesamte Lebensgeschichte.
Als Melli der alten Dame gerade die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf half, kam die Mieterin aus dem Erdgeschoss aus ihrer Wohnung gelaufen und rief: „Elfie, Elfie, stell dir mal vor – Mary ist tot!“ – „Welche Mary?“ – „Mary White, die ein paar Häuser die Straße runter wohnt! Ich komm mal zu dir rauf, dann erzähl ich es dir.“
Nachdem Melli mit Mrs. Menning die Fahrt abgerechnet und sich verabschiedet hatte, dachte sie: Zum Glück kenne ich keine Mary, da brauch ich mir auch keine Gedanken zu machen und gehe jetzt erstmal mit Arina los.
Beim Spaziergang trafen sie Butch, einen Irish Setter, mit seinem Herrchen. Butch war Arinas Freund. Als ihre Hündin circa drei Jahre alt und gerade läufig war, trafen Arina und Frauchen Butch und Herrchen zum ersten Mal im Wald. Arina hielt Butch immer wieder ihr Hinterteil zum Decken hin aber Butch in seiner Unschuld wusste nichts damit anzufangen. Er war gerade dem Welpenalter entwachsen – und wahrscheinlich noch nicht aufgeklärt. Seitdem waren die beiden ein Herz und eine Seele, auch außerhalb der Läufigkeit. Wenn andere Rüden ihr zu nahe kamen, zeigte sie ihnen auch schon mal die Zähne und knurrte – Butch dagegen wurde zu jeder Zeit kokett angemacht. Vielleicht reizte es sie, dass er als Jagdhund mehr an den Spuren im Wald interessiert war als an einem Tête-à-tête. Tja, so sind manche Frauen, dachte Melli, will ein Mann sofort „das Eine“, wird er abgewiesen, interessiert er sich für etwas anderes, wird er umgarnt.
Butchs Herrchen, auch im mittleren Alter, und Melli hatten nie ihre Namen ausgetauscht, obwohl sie sich schon öfter im Wald getroffen haben. Er war ganz nett, erzählte viel von Frau und Kindern – Melli hörte immer zu – und dann kam irgendwann immer wieder die Frage: „Was ist Arina eigentlich für ’ne Rasse?“
„Ein Eurasier.“
„Aha. Was ist das nochmal?“
Melli dann dozierend: „Der Eurasier ist eine Kreuzung zwischen Wolfsspitz, Chow-Chow und Samojeden. Zuerst wurde nur der Wolfsspitz mit dem Chow-Chow verpaart – die Nachkommen waren aber zu beißfreudig. Daraufhin wurde der familien- und menschenfreundliche Samojede eingekreuzt – und voilà, dabei ist diese gute Rasse herausgekommen: ein Familienhund, auch geeignet für Anfänger und Rentner, nicht zu groß, nicht zu klein, Schulterhöhe zwischen 45 und 60 cm, mit dem Willen, es seinen Leuten recht zu machen. Er ist fremdenabweisend, das heißt, er liebt in erster Linie seine Familie und ist Fremden gegenüber misstrauisch, und er ist nicht bellfreudig.“
„Aha.“
Vielleicht sollte ich mir diese Hundekunde auf Karten drucken lassen und sie bei Nachfragen verteilen, überlegte Melli. Witzig war es immer, wenn Spaziergänger selbst rieten. Vor kurzem kamen ihr zwei Frauen mit ihren Laufstöcken entgegen: „Oh, schau mal, ein Spitz.“
„Nicht ganz“, meinte Melli, „aber schon nicht schlecht. Versuchen Sie es noch mal.“
„Nein, ein Wolfsspitz“, sagte die zweite Frau, „das sieht man doch!“
„Sie meinen, weil das Fell schwarz mit hellen Abzeichen ist?“
„Ja, genau!“, erwiderte die zweite Frau.
„Leider null Punkte. Das ist ein Eurasier!“, lächelte Melli.
„Was istdasdenn??“, riefen beide erstaunt aus.
Jetzt hätte sie die Karten wieder gut verteilen können. Nach ihrem Vortrag über die Entstehung und Eigenschaften der Rasse hatte sie den Eindruck, dass die beiden wohl dachten, sie „verkaufe“ ihnen einen Mischling als Rassehund. Egal, sollten die Leute ruhig denken, dass Arina ein Mischling war. Mischlinge wurden meist nicht gestohlen und weiterverkauft, bei Rassehunden kam das leider hin und wieder vor.
Am nächsten Morgen trafen sie im Wald mal wieder Butch und sein Herrchen.
„Haben Sie schon von dem Mord gehört?“, fragte Herrchen.
„Mord? Nein, wer ist denn ermordet worden?“
„Eine Mrs. White. Die Tochter hat sie gefunden; sie soll erstochen worden sein!“
„Das ist ja furchtbar! Ich hatte nur gehört, dass sie gestorben ist – aber Mord?! Das ist ja schrecklich, hier in unserer ruhigen Gegend!“
Durch dieses Gewaltverbrechen abgelenkt hatte Butchs Herrchen ganz vergessen, mal wieder nach Arinas Rasse zu fragen.
Trotz des Sonnenscheins wirkte der Wald plötzlich dunkler als vorher, und unwillkürlich umfasste Melli ihr Schlüsselbund fester, als wolle sie sich damit gegen Angreifer schützen.
Nachdem sich Hunde und Menschen getrennt hatten, merkte Arina, dass Melli in dunkle Gedanken verstrickt war. Sie hopste herum, wie zur Spielaufforderung, und als das nichts nützte, ging sie bei Fuß, ließ ihre sonst auf dem Rücken getragene Rute hängen und schaute immer wieder in Mellis Gesicht, als wollte sie fragen, ob sie vielleicht an Frauchens Laune schuld sei.
Da sie ein eingespieltes Team waren, merkte Melli, was los war, wuschelte ihrer Hündin durchs Fell und versicherte ihr: „Nein, mein Schätzchen, Du hast alles fein gemacht. Aber es gibt böse Menschen, die andere Menschen umbringen. Wir müssen schön aufpassen.“ Arina hatte die Worte „Schätzchen“, „fein gemacht“, „böse“ und „aufpassen“ verstanden; und es war mal wieder faszinierend mit anzusehen, wie sich ihre Haltung sofort änderte – ihr Blick wurde selbstbewusst, die Rute landete wieder auf dem Rücken, wo sie hingehörte, ihre Körperhaltung war sehr aufrecht, und sie lief wie ein Wachsoldat circa drei Schritte vor Melli her und ließ ihren Blick dabei aufmerksam umherschweifen.
So traurig die ganze Angelegenheit war, musste Melli lächeln, wie die Kommunikation zwischen Mensch und Hund mal wieder klappte. Melli hatte von Anfang an immer wieder die gleichen Worte für bestimmte Dinge benutzt, bei all ihren Tieren. Alle Hunde, die sie in Ihrem Leben schon erzogen hatte, haben so oder so ähnlich auf ihre Worte reagiert wie jetzt Arina. Und alle Katzen, die sie schon hatte, verstanden sie auch wunderbar, entschieden dann aber jedes Mal, ob es sich lohnte, ihre Worte zu beachten oder ob man sich besser taub stellen sollte.
Kurz vor ihrem Grundstück winkte Margaret, eine Nachbarin, sie zum Zaun: „Hast du schon gehört? Eine von den „Landfrauen“ ist umgebracht worden! Erschlagen! Und ihr ganzer Schmuck ist weg!“
Melli war sprachlos – erstochen, erschlagen und beraubt, vielleicht auch noch erwürgt? Das war schon wieder grotesk. Sie erlaubte sich ein innerliches Grinsen und erzählte ihre Version der Geschichte.
Auf jeden Fall wollte Margaret ab jetzt immer nachts ihre Rollläden herunterziehen.
„Ist denn auch eingebrochen worden?“
Margaret zögernd: „Nein, das nicht, aber man weiß ja nie!“
Da es offensichtlich keinen Einbruch gegeben hatte, würden die Rollläden bestimmt viel nützen, dachte sich Melli ironisch und schalt sich sofort selbst: Bah, bist du wieder fies!
Am nächsten Abend sollte es eine Zusammenkunft von „Every Little Helps“ geben – vielleicht wusste dort jemand etwas Neues.
Melli war durch ihre Freundin Ivy Hensley seit ein paar Monaten auch bei den „Landfrauen“ und viele Landfrauen waren auch bei „Every Little Helps“. Sie wollte erst gar nicht mit, weil sie keine „Vereinsmeierin“ war, aber Ivy setzte ihr zu, dass es nicht gut sei, wenn man immer allein zu Hause sei, dass die "Landfrauen" viel unternähmen, man so unter Leute käme und sie ein lustiges Völkchen seien. Außerdem habe Ivy selbst es auch so gehalten, als sie Witwe geworden war, und das habe ihr als auch Zugereiste sehr gut getan.
Nachdem Melli ein Mal zur Probe eine Busfahrt mit mehreren Stopps und Besichtigungen sowie einem leckeren Kaffee- und Kuchen-Treffen mitgemacht und sich in der lustigen Gemeinschaft wohlgefühlt hatte, war sie Mitglied geworden und wurde jetzt immer schriftlich von den Unternehmungen unterrichtet. Man konnte sich dann anmelden, wenn es etwas Interessantes war oder es auch bleiben lassen, ohne dass man schief angesehen wurde.
Meine Güte, jetzt war sie schon in zwei Vereinen, obwohl sie Vereine immer abgelehnt hatte, und sie wunderte sich selbst, dass sie zu beiden Vereinen ziemlich schnell ein Zugehörigkeitsgefühl entwickelt hatte. Ivy hatte doch recht gehabt!
Auf der Fahrt zur Zusammenkunft der „Every Little Helps“ um 19:00 Uhr musste Melli an das erste Treffen denken, das sie mitgemacht hatte und von dem sie wegen des Fehlerteufels in der Gemeinde nur durch Zufall erfahren hatte.
Sie hatte sich chic angezogen, aber nicht zu chic, da sie die Damenwelt nicht gegen sich aufbringen wollte. Als sie sich in ihrem großen Spiegel im Schlafzimmer betrachtete, war sie mit sich zufrieden – 1,70 m groß, BMI 25, blonde, halblange Haare, grüne Augen, lange dunkelblaue neue Jeans, passendes dezentes dunkelblaues Oberteil über einem hellen Polohemd, flache Schuhe und für draußen noch eine warme Jacke.
Das Treffen sollte in einer Schule stattfinden. Aber eine Schule ist groß, und kurz vor 19:00 Uhr findet man auch niemanden auf der Straße, den man fragen könnte. Außerdem war es schon dunkel. Es war still und ein bisschen unheimlich. Nach vielen vergeblichen Versuchen, eine Tür an der Schule zu öffnen, fand Melli endlich den richtigen Eingang, hörte Stimmengewirr aus einem hell erleuchteten Raum, hängte im Flur ihre Jacke an Schülerhaken auf, ging in den Raum mit den Stimmen – und die Stimmen verstummten abrupt, als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte.
Ungefähr dreißig Menschen, die an Stehtischen standen und etwas Trinkbares in der Hand oder vor sich stehen hatten, starrten sie verdutzt an und sagten nichts – und in diese Stille hinein fragte Melli lächelnd: „Sind Sie hier alle kleine Helfer?“ Ein Lachanfall war die Antwort, und Melli lachte mit. Mehrere Männer (komisch, keine Frauen!) riefen: „Ja, genau, wir sind alles kleine Helfer, kommen Sie rein, wir können noch mehr davon gebrauchen!“
Direkt nach ihr kam Dr. Melody Silver-Onnington, begrüßte Melli, führte sie zu einem Stehtisch und stellte sie dem dort stehenden Paar vor: „Das ist Melli Marshal, die sich auch ehrenamtlich betätigen möchte.“
Melli lächelte dazu und sagte höflich: „Guten Abend“.
Keine einzige Reaktion von dem Paar – beide circa 1,80 m groß und stark übergewichtig. Melli dachte, vielleicht sind die Armen taub und haben Schwierigkeiten, die Worte von den Lippen abzulesen.
Dr. Silver-Onnington stellte weiter vor: „Und das ist Mr. und Mrs. … ich weiß leider Ihren Namen gar nicht.“
Sie nannten leise ihren Namen, als wäre er ein Geheimnis – nennen wir sie mal „Smith“, und Melli sagte noch einmal artig „Guten Abend.“
Die Smiths gaben einen Ton von sich, der sich wie „Mhm“ anhörte und nickten einmal dazu. Das muss ja wirklich ein schockierendes Erlebnis für diese Eingeborenen gewesen sein, dass da urplötzlich, man denkt an nichts Böses, ein fremder Mensch hereinkommt und man noch mit dem sprechen soll!
Dr. Silver-Onnington und Melli gingen noch zu einigen anderen Tischen, und sie stellte fest, dass diese anderen Teilnehmer weltoffener waren, dort erntete sie sogar ein Lächeln und nette Worte. „Das ist ja schön, dass Sie auch bei uns mitmachen wollen.“ Oder: „Wohnen Sie auch in Nomansland?“ Oder: „Sind Sie neu im Ort? Ich hab Sie noch nie gesehen.“ Was man eben so sagt und fragt, wenn man sich kennenlernt.
Die Smiths verfolgten Melli mit abweisenden Blicken – warum auch immer. Vielleicht sind sie und Melli sich ja in einem früheren Leben mal negativ begegnet. Man weiß es nicht.
Das vorherrschende Thema bei dem jetzigen Treffen, auf dem sie auch schon ein paar Leute kannte, war natürlich der Mord an Mrs. White. In diesem Ort kannte jeder jeden und alle waren sehr betroffen. Melli stand in einem Pulk von Leuten und hörte Stimmen von allen Seiten:
„Und ich war morgens noch bei ihr, weil ich ihr was einkaufen sollte. Die Tochter muss ja den ganzen Tag arbeiten; sie ist extra von Winchester hierher gezogen, und jetzt ist die Mutter tot! Schrecklich!“
„Gestern war ich noch mit Mary beim Arzt. Die Polizei hat mich schon verhört. Der ganze Ort wird befragt!“
„Mary war ja auch in allen möglichen Vereinen, da kann sie jeden reingelassen haben!“
„Es soll wohl die Tochter gewesen sein, die verstanden sich nicht so gut, was man so hört.“
„War das denn auch ein Einbruch? Oder nur Mord?“
„Ich hab gehört, dass sie mit Nachbarn Streit hatte. Da ging es wohl um Zweige im Garten oder so was.“
„Geld und Schmuck sollen auch gestohlen worden sein. Ich wusste gar nicht, dass die viel von dem Zeug hatte.“
Melli schwirrte schon der Kopf und sie war froh, als nach einigen Ansprachen die Zusammenkunft zu Ende war. Zum Glück brauchte sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen, sie kannte Mary White nicht.
Einen Tag später fand Melli in der Zeitung einen großen Artikel „Mord in Nomansland“. Hier hatte es noch nie einen Mord gegeben – jedenfalls keinen, der ans Licht gekommen wäre. Eine Mrs. Mary W. sei am 25.03. zwischen 20:00 Uhr und 21:00 Uhr mit einem stumpfen, flachen Gegenstand erschlagen worden.
Weiter hieß es, der örtliche Police Inspector James Moor bekäme Unterstützung von Detectives aus Southampton, und die Bevölkerung wurde gebeten, die Polizei tatkräftig zu unterstützen, wenn man etwas gesehen oder gehört hatte, das vielleicht zur Aufklärung des Verbrechens beitragen könnte. Die Detectives würden sich im „Lamb Inn“ einquartieren, damit sie die Untersuchung des Falles vor Ort vornehmen konnten.
Als Melli mit dem Auto losfuhr, um in Salisbury einzukaufen, merkte sie schnell die veränderte Atmosphäre auf den Straßen und in den Gärten. Die Leute waren aufgeregt, standen in Grüppchen zusammen, diskutierten, gestikulierten, und die Zeit schien irgendwie stillzustehen. Sie fuhr mit den eingekauften Lebensmitteln nach Hause und machte sich mit Arina auf zum Hundespaziergang.
Der Wald war leergefegt, kein Jogger, kein Radfahrer, kein Hund mit Familie, auch kein Butch mit Herrchen – sie war die einzige Spaziergängerin.
Urplötzlich blieb Arina ganz still stehen, Melli dann auch. Drohte Gefahr? Versteckte sich hinter dem Baum ein Angreifer? Nein, ihr fiel ein Stein vom Herzen: nur circa fünfzig Schritte entfernt überquerte ein Rudel Rehe den Weg von links nach rechts. Welch ein schöner Anblick! Da Mensch und Hund sich nicht bewegten und der Wind günstig stand, erschreckte sich auch das Wild nicht. Als das letzte Reh rechts im Wald verschwunden war, wurde Arina kräftig gelobt und mit einem Hundekeks belohnt. Melli freute sich immer dann besonders, wenn Arina ohne direkten Befehl so reagierte, wie sie es ihr als Welpe einmal beigebracht hatte.
Zuerst genoss sie und auch ihr Hund die Ruhe und das Vogelgezwitscher an diesem sonnigen Märztag, man musste nicht für Jogger oder Radfahrer zur Seite springen, aber es war eine beklommene Stille, die sich leicht aufs Gemüt legte, und so kehrten die beiden nach kurzer Zeit wieder um.
Zu Hause fühlte sie sich direkt wohler – die Sonne schien in die Fenster, und Kater Fritz lag auf der tiefen, breiten Sonnenfensterbank im Wohnzimmer auf einem Kissen zwischen zwei Palmen und ruhte. Sein graugestreiftes Fell mit den weißen Pfötchen und der weißen „Hemdbrust“ sah wie immer makellos aus, und man sah ihm nicht an, dass er die ganze Nacht die Mäusefamilien im Garten terrorisiert hatte. Beim Anblick dieses gemütlichen und beruhigenden Bildes und nach einer Tasse Kaffee verflog bei Melli auch die gedrückte Stimmung.
Als das Telefon klingelte, zuckte sie zusammen und schüttelte über sich selbst den Kopf, weil sie sonst gar nicht so schreckhaft war. Es war Dr. Silver-Onnington mit einem Tiersitter-Auftrag.
Eine Mrs. Elly Francis in Stonefield sei krank und könne mit ihren zwei kleinen Hunden nicht mehr Gassi gehen.
Nachdem Melli zugesagt und alle Informationen hatte, kamen die beiden natürlich wieder auf das Stadtgespräch. Dr. Silver-Onnington hatte auch noch nichts Konkretes gehört, erzählte aber von den Gerüchten:
„Ich habe gehört, dass es eine Zeugin gibt, die etwas gehört oder gesehen haben soll, aber wer das nun ist, das weiß ich nicht. Die Tochter von Mrs. White hat inzwischen alles durchgesehen und hat festgestellt, dass der ganze Schmuck ihrer Mutter weg ist. Einige sagen, die Tochter hätte kein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt, und es gab Gerüchte, dass die Tochter ihre Mutter vielleicht im Streit … Aber dann ist rausgekommen, dass die Tochter an dem Tag Überstunden machen musste. Also kann sie es dann ja doch nicht gewesen sein. Da sieht man mal wieder, wie schnell man in Verdacht geraten kann!“
„Um die eigene Mutter umzubringen, braucht man aber ganz schön viel Hass und kriminelle Energie!“, meinte Melli.
„Ja, das stimmt. Auf jeden Fall werden alle, die am 25.03. mit Mrs. White Kontakt gehabt hatten, befragt. Hoffentlich wird diese schlimme Sache schnellstens aufgeklärt!“
Nach diesem Gespräch rief Melli Mrs. Francis an und fragte, nachdem der Hustenanfall am anderen Ende der Leitung abgeklungen war, ob sie heute schon mit den Hunden gehen solle. „Ja, da wäre ich Ihnen sehr dankbar.“
Melli nahm Arina mit – ob sie nun mit zwei oder drei Hunden spazieren ging, das spielte keine Rolle, außerdem war Arina sehr gut sozialisiert und gehorchte auch ohne Leine. Sie fuhr fünf Kilometer zu der angegebenen Adresse in Stonefield – ein Haus mitten in Feldern, auf denen man im Moment noch nicht erkennen konnte, was darauf einmal wachsen wird – ließ Arina im Auto und klingelte bei Francis.
Die Haustür ging nach einiger Zeit auf, und vor ihr stand eine ausgemergelte spitznasige Frau undefinierbaren Alters – zwischen fünfzig und siebzig – mit schwarz gefärbten Haaren mit breitem, grauem Haaransatz, straff nach hinten zu einem Knoten zusammengezogen, sehr schmalen Lippen und einem stechenden Blick aus schwarzen Augen.
In Mellis Kopf formte sich sofort das Wort „böse“ als Charakterisierung. Diese Frau könnte in einem Märchen sehr glaubhaft die Hexe spielen. Der Jogginganzug war ihr mindestens drei Nummern zu groß und schlabberte an ihrem Körper herum. Sie bekam immer wieder Hustenanfälle, was sie aber nicht daran hinderte, sich auch immer wieder eine neue Zigarette anzuzünden – wahrscheinlich, um besser husten zu können.
Mrs. Francis versuchte, sehr freundlich zu sein, es wirkte allerdings aufgesetzt und unecht. Mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme erzählte sie gleich von ihren Krankheiten.
„Ich habe Rheuma, aber das ich ja auch kein Wunder, die Wohnung ist nicht richtig isoliert. Und dann hab ich auch noch COPD, eine Lungenkrankheit. Ich kriege nur ganz schlecht Luft.“
„Dann dürften Sie aber eigentlich gar nicht rauchen.“
„Ach, ich rauche ja schon viel weniger als früher. Die Ärzte sagen, ich dürfe nicht plötzlich mit dem Rauchen aufhören, dann könnte ich sterben.“
Das allerdings hielt Melli für ein Gerücht, aber das behielt sie aus Höflichkeit für sich.
Zwischen zwei Hustenanfällen fragte Mrs. Francis: „Haben Sie auch von dem Mord gehört? Wie kann man nur so blöd sein und abends noch Leute in die Wohnung lassen?! Das könnte mir nicht passieren!“ Nee, dachte Melli, hier kommt keiner freiwillig zu Besuch und zu holen ist hier bestimmt auch nichts.
„Soll ich Ihnen mal was Schönes zeigen?“, fragte Mrs. Francis plötzlich mit einem stolzen, verzückten Gesichtsausdruck.
„Was denn?“, fragte Melli misstrauisch.
„Kommen Sie, kommen Sie!“
Mrs. Francis ging ins Nebenzimmer und winkte Melli, ihr zu folgen. Was wird da wohl zu sehen sein, dachte Melli, und ging seufzend hinter ihr her.
Der Raum war vollgestellt mit einfachen Holzregalen, nicht nur an den Wänden, sondern auch quer zum Raum, weil alle Wände schon überfüllt waren. In den Regalen saßen Puppen und Stofftiere in allen nur denkbaren Variationen und Größen, alle bekleidet mit selbstgehäkelter Bekleidung. Wie ein Museumsführer zeigte Mrs. Francis stolz auf die einzelnen Sammlerstücke und erzählte, auf welchem Flohmarkt sie das jeweilige Stück ergattert hatte, und welches Häkelteil sie für welche Figuren noch herstellen wollte.
„Schön“, sagte Melli aus Höflichkeit. „Jetzt muss ich aber mal mit den Hunden los.“
Das Beste an der Wohnung waren die beiden kleinen Hunde: eine Dackel-Terrier-Hündin „Mimi“ und ein kastrierter Westhighland-Mischlingsrüde „Zappi“. Die beiden überschlugen sich vor Freude, obwohl sie Melli gar nicht kannten. Melli drängte dann zum Aufbruch, da sie die ungepflegte, muffige Wohnung gern verlassen wollte.
Jeder Hund bekam ein Halsband angelegt und je eine Langlaufleine,
Melli ging mit ihnen aus der Haustür hinaus, holte Arina aus dem Auto – und schon ging das Theater los. Mimi überschlug sich fast vor aggressivem Bellen, Zappi machte mit. Arina warf nur einen vorwurfsvollen Blick auf dieses Gekeife und kümmerte sich nicht weiter darum, sondern schnüffelte herum. Melli schnauzte die beiden kleinen Hunde an mit „Ausss!“, stampfte dabei mit einem Fuß auf und sagte ruhig, mit festem Blick auf Mimi als Rädelsführerin und mit drohend erhobenem Zeigefinger: „Ganz still!“ Und schon war Ruhe.
Als die beiden Kleinen merkten, dass die frei laufende Arina sie wie Luft behandelte, benahmen sie sich auch wie normale Hunde, suchten nach Spuren und erledigten ihre Geschäfte. Und ab dem Zeitpunkt war es eine Freude, mit dem kleinen Rudel spazieren zu gehen.
Bei der Rückkehr war Mrs. Francis entsetzt und empört, dass Melli einfach ohne sie zu fragen einen Hund mitgebracht hatte, wo ihre kleine Mimi doch mal gebissen worden sei. Melli erklärte ihr, dass Arina mit ihrem normalen und sozialen Wesen bei jedem Hund dessen friedliche Eigenschaften hervorrufen würde. Bei einem Angriff würde Arina sich natürlich wehren. Aber angegriffen werden konnte sie ja nicht, da Melli die beiden Kleinen an ihren Leinen hatte. Mrs. Francis beruhigte sich wieder, und Melli machte mit ihr gleich die nächsten Termine aus.
Nach diesem aufregenden Ausflug fuhr sie mit Arina gemächlich nach Hause. Melli freute sich auf ihr schönes Haus mit dem großen eingezäunten Garten am Ende der ruhigen Anliegerstraße mit dem Wendehammer. Direkt daran grenzte ein großes Waldgebiet mit Mischwald. Auf der Rückseite ihres Grundstücks gab es einen direkten Ausgang zu einem großen Tannenwald.
In heißen Sommern konnte man sogar in der Mittagszeit dort auf den herrlich kühlen Schattenwegen bei einer leichten Windbrise spazieren gehen. Doch seit gestern zog sie nichts in den dunklen Tannenwald; der Wald, den sie immer so geliebt hatte, war ihr nun ein wenig unheimlich. Wenn man nur wüsste,warumMrs. White umgebracht worden ist, dann könnte man schon eher einschätzen, ob überhaupt noch jemand in Gefahr war.
Voller Erleichterung stellte sie fest, dass endlich ihre direkten Nachbarn Glenda und Raimon Preston aus dem Urlaub zurückgekommen waren. Sie merkte es daran, dass die achtjährige Lisa und die vierjährige Anna in ihrem Garten mit ihrem Airdaleterrier Aro herumtobten.
Lisas strenge Stimme rief: „Aro, du sollst keine Löcher buddeln! Komm sofort her!“ –
„Lass ihn doch buddeln!“, rief die kleine Anna, „das ist doch nichtdeinGarten! Der gehört uns allen, auch dem Aro!“
Melli kannte diese Art von Wortwechsel schon, musste lächeln und freute sich, dass alle wieder da waren. Sie nahm sich vor, später mal rüberzugehen und von dem Mord zu berichten.
Von zu Hause rief sie Dr. Silver-Onnington an, um zu hören, ob sie etwas Neues über das Verbrechen gehört hatte.
„Gut, dass Sie anrufen, ich habe noch eine Tiersitteraufgabe für Sie. Ich hätte gar nicht gedacht, dass hier soviel Bedarf besteht. Über das andere reden wir später.“
Melli erhielt die näheren Einzelheiten für den Auftrag: Eine alte Dame, auch eine „Landfrau“, die auch in der Nähe von Mrs. Francis in Stonefield wohnte, hatte sich das Knie verrenkt, so dass sie mit ihrem Hund, einem Pudel, nicht vor die Tür gehen konnte. Sie könne ihn nur in den umzäunten Garten lassen für eilige Geschäfte, aber mehr nicht.
„Und nun zu der bösen Tat! Die Detectives wenden sich ab und zu an mich, da ich sowohl mit den „Landfrauen“ als auch mit „Every Little Helps“ zu tun habe und sie immer wieder wissen wollen, wer wann wo war. Ganz im Vertrauen: Das Alibi von Miss White ist geplatzt. Sie hatte angeblich Überstunden gemacht, als ihre Mutter überfallen wurde – aber niemand kann das bezeugen. Sie war – wenn es denn stimmt – leider allein in der kleinen Schreinerei in Salisbury und hat dort Buchhaltungsarbeiten gemacht. Tja, hat sie – oder hat sie nicht? Es ist also noch alles offen.“
Melli rief bei der alten Dame mit dem verletzten Knie an. Mrs. Harper wirkte am Telefon liebenswürdig und patent, und Melli freute sich auf den Einsatz. Auch das Mitbringen von Arina wurde begrüßt, da ihr Pudelrüde sich bestimmt darüber freuen würde.
Sie aß noch schnell das Stück Schokoladentorte, das sie sich vom Bäcker mitgebracht hatte, zu einer Tasse Kaffee und genoss dieses luftige, leichte Stück Sünde mit geschlossenen Augen: „Mmmhhh, lecker! Dafür laufen wir gleich beim Spaziergang ein bisschen schneller, was, Mausi?“ Arina kaute unbeeindruckt auf ihrem Schweineohr herum, gönnte ihrem Menschen aber ein Lächeln mit leichtem Schwanzwedeln, denn wenn Frauchen „Mausi“ zu ihr sagte, hatte sie besonders gute Laune, vielleicht fällt dann noch was Gutes für einen braven Hund ab. Arina hätte auch gern mal die Leckereien getauscht, das Tortenstück roch sehr gut – aber Melli war einfach nicht für Schweineohren zu begeistern.
Nach der kleinen Pause fuhren Melli und Arina fünf Kilometer zu Mrs. Harper und „Frodo“. Gegensätzlicher konnten neue Begegnungen nicht sein: