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Die achtundvierzigjährige Witwe Melli Marshal arbeitet ehrenamtlich in einer Hilfsorganisation für alte und/oder kranke Leute in einem kleinen Ort im Süden von England. In der ländlichen Idylle werden mehrere Männer ermordet. Da es kaum Spuren gibt, steht die Polizei vor einem Rätsel. Durch Melli kommt Detective Chief Inspector Tom Badham den Tätern auf die Spur. Als Melli selbst attackiert wird, helfen ihre Hunde, wie im ersten Roman dieser Reihe, ("Der Tod zahlt alte Schulden") bei der Überwältigung des Täters.
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Seitenzahl: 170
Veröffentlichungsjahr: 2018
Die letzte Stunde tötet
Marley Hobrok
Dem dunkel gekleideten Mann war etwas mulmig zumute, als er um 23:30 Uhr durch den Wald schlich. Dieser Treffpunkt mitten im Wald war so hirnrissig! Wer kommt denn auf so was? Er hätte gar nicht kommen sollen, aber er wollte auch wissen, wer in Gottes Namen ihm so eine Nachricht schickte!
Je weiter er sich vom Parkplatz fortbewegte, desto dunkler wurde es um ihn herum. Als er das erste Mal über eine Baumwurzel stolperte, holte er seine Taschenlampe heraus und beleuchtete den Waldboden vor sich.
War da nicht ein Geräusch von Schritten oder ein Knacken? Obwohl es kalt war in dieser Novembernacht, brach ihm langsam der Schweiß aus.
Plötzlich stand er mitten im Licht einer sehr starken Taschenlampe – oder war das so eine Handwerkerlampe? Aber die braucht doch Strom!
Während er noch darüber nachdachte, traf ihn der erste Schuss in den Kopf, der zweite Schuss traf seine Brust, aber da lebte er schon nicht mehr.
Der Mörder schlich zu seinem Opfer hinüber, vergewisserte sich, dass der Mann auch wirklich tot war, ging dann zu seiner Lichtquelle zurück und dachte, da hat sich die Anschaffung dieser Akku-Lampe aber gelohnt. Dann packte er die Lampe und sein Gewehr, ging zum Waldrand, verstaute alles ordentlich und fuhr mit seinem Fahrrad nach Hause.
Melli war um 22:00 Uhr auf dem Rückweg von einer Veranstaltung von „Every Little Helps“, einer Helferorganisation für alte oder kranke Mitbürger.
Der Novemberabend war sehr dunkel, feucht und kalt.
Das Radio spielte Songs aus den Achtzigern, und Melli summte die Melodien mit. In Gedanken war sie noch bei den Worten des Bürgermeisters, der den Helfern, zu denen sie auch seit einiger Zeit gehörte, für ihre ehrenamtliche Tätigkeit dankte. Die Statistiken für das letzte Jahr wurden auf der Leinwand gezeigt und neue Projekte wurden vorgestellt. Danach gab es wie in jedem Jahr das warme Buffet und ein nettes Zusammensitzen mit alten und neuen Helfern. Es war ein interessanter Abend gewesen.
Plötzlich sah sie im Fernlicht ihres Autos auf der Landstraße eine Bewegung. Ein Tier? Sie wurde sofort langsamer und erkannte, dass es sich um einen Menschen handelte, der am Straßenrand lag und die Arme bewegte.
Melli hielt in der Nähe der Person an, so dass sie sie im vollen Scheinwerferlicht sehen konnte. Ihr Gesicht sah blutig aus.
Soll ich aussteigen? dachte sie. Lieber nicht. Das könnte ja auch eine Falle für einen Überfall sein. Außerdem bewegt sich der Mensch, dann ist wohl eine Herzmassage nicht nötig. Bei Herzmassage fiel ihr verrückterweise sofort der richtige Rhythmus dafür ein: „Staying alive“ von den Bee Gees.
Melli rief mit ihrem Handy die Feuerwehr an und schilderte, was sie vorfand.
Sie hatte sicherheitshalber den Schalter der Warnblinkanlage gedrückt und blieb mit dem Auto vor Ort, damit die Person nicht noch überfahren wurde.
Endlich kam der Rettungswagen. Sie stieg aus ihrem Auto aus und sah, dass es sich bei der Person am Boden um eine Frau handelte, die über einem T-Shirt nur eine leichte Strickjacke trug und nur Pantoffeln an den Füßen. Wie war sie so hierher gekommen?
Zwei Sanitäter traten auf die Frau zu. „Können Sie mich hören?“ Die Frau jammerte nur in hohen Tönen.
„Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus.“
Die Frau fuchtelte hektisch mit Armen und Beinen: „Nein, nein! Kein Krankenhaus! Kein Arzt!“
Sie legten die Frau auf eine Krankentrage, während sie die ganze Zeit: „Nein, nein, nein …“ jammerte.
„Wie heißen Sie?“
„Nein, nein, nein …“
„Sie scheint nicht ansprechbar zu sein“, sagte einer der Sanitäter zu Melli, „wir fahren sie jetzt ins Hospital nach Southampton.“
Melli gab noch ihren Namen an und fuhr danach bedrückt nach Hause.
Die Frau tat ihr leid. Warum hatte sie so seltsam auf die Hilfe reagiert? So als ob sie gar keine Hilfe wollte.
Nach 500 m bog Melli in die Hauptstraße des kleinen Ortes ein und erfreute sich wie immer an den gemütlichen kleinen und größeren Häusern, in denen auch einige Läden untergebracht waren. In der dunklen Novembernacht sahen die hellen Lichter in den Schaufenstern gemütlich und heimelig aus. Danach bog sie rechts ab in ihre eigene Straße, eine Sackgasse, an deren Ende ihr Haus stand.
Bei diesem ungemütlichen Wetter freute sie sich besonders, nach Hause zu kommen.
Zu Hause wurde sie stürmisch von ihren Hunden Arina und Frodo begrüßt. Das lenkte sie etwas von ihren Gedanken ab.
Dann ging sie zu Tom ins Wohnzimmer und küsste ihn zur Begrüßung: „Tom, stell dir mal vor, was ich auf dem Rückweg eben erlebt habe! Auf der Landstraße fand ich im Dunkeln eine verletzte Frau, die auf der Straße lag, mit blutigem Gesicht, und sie konnte allein nicht aufstehen. Ich hab einen Krankenwagen gerufen, und der hat sie nach Southampton gebracht.
Das Komische war,“ erläuterte sie weiter, „die Frau wollte gar nicht, dass man ihr hilft, und sie war für November viel zu dünn angezogen – Pantoffeln und Strickjacke! Und dann rief sie immer ‚Kein Krankenhaus, kein Arzt!’ und ‚Nein, nein!’ Sie sagte auch ihren Namen nicht.“
„Vielleicht eine Illegale?“
„Glaube ich nicht, ihre Sprache war normal, ohne Akzent. Morgen werde ich mal Melody anrufen. Die kennt hier jeden und weiß bestimmt, wer das war. – Und bei dir? Gibt’s was Neues bei der Polizei?“
„Nichts Besonderes. Dienst wie immer.“
Sie setzte sich neben Tom, er legte den Arm um ihre Schultern und fragte: „Na, mein Engel, war es denn schön bei der Versammlung?“
„Ja, es war mal wieder ganz nett, und ich soll dich sehr von Melody grüßen.“
„Meinst du etwa Dr. Melody Silver-Onnington? Unsere Super-Ärztin im Ruhestand, die nicht in Rente gehen kann?“, fragte Tom leicht ironisch.
„Genau die. Du scheinst ja bei den letzten Fällen hier großen Eindruck auf sie gemacht zu haben – sie erkundigte sich sehr eingehend nach deinem Befinden. Und ob wir nicht bald mal heiraten, wollte sie wissen.“
„Tja, ich wirke eben auf Frauen. Dich hab ich ja auch rumgekriegt!“
„Das stimmt!“, lachte Melli.
„Und das mit dem Heiraten, mein Schatz, das liegt bei dir. Du weißt ja: ein Wort von dir, und du bist Mrs. Badham.“
„Ich weiß, Tommy. Aber wie sagt das Sprichwort? Kommt Zeit, kommt Tat – nicht Rat!“
Melli gab Tom einen Kuss: „Dann gehe ich mal ins Bad, ich bin ganz schön müde.“
Während der automatischen Tätigkeiten im Bad schweiften ihre Gedanken zum März dieses Jahres ab. Da kannte sie Tom Badham, Detective Chief Inspector der Mordkommission von Southampton, noch nicht.
Sie war damals eine Witwe von 47 Jahren, die sich in einem Leben ohne ihren verstorbenen Ehemann Peter etwas nutzlos fühlte. Daher kam sie auf die Idee, sich bei „Every Little Helps“ als ehrenamtliche Helferin für alte und/oder kranke Menschen zu engagieren, und zwar in den Bereichen Fahrdienst, Begleitdienst, Schreibdienst und vor allem Tiersitting – ihre Lieblingsbeschäftigung.
Als dann im letzten Jahr diese Morde (siehe auch „Der Tod zahlt alte Schulden“) in ihrem idyllischen Ort passierten, hatte sie Tom kennengelernt, da zwei von den Mordopfern ihre Kundinnen gewesen waren.
An diese aufregende Zeit dachte sie gern zurück. Bei den Mordermittlungen hatte sie mithelfen können, und Tom und sie waren sich sehr nahe gekommen, besonders weil beide ins Visier von Verbrechern geraten waren.
Die Erlebnisse und die Gefahr hatten sie zusammengeschweißt, und jetzt waren sie ein Paar.
Mellis Gedanken schweiften zu ihren Hunden Arina und Frodo, mit denen sich Tom so gut angefreundet hatte, dass er sich ein Leben ohne die beiden nicht mehr vorstellen konnte – obwohl er vorher eine tiefe Abneigung gegen Haustiere hatte.
Besonders Frodo, ein mittelgroßer schwarzer Pudel-Rüde, hatte sich gut entwickelt. Er war der Hund eines der Mordopfer, und Melli hatte ihn nach dem Tod seiner Besitzerin aufgenommen. Frodo hatte den Mord an seiner Bezugsperson miterlebt und war vom Mörder misshandelt worden.
Arina, Mellis Eurasier-Hündin in den Farben black and tan, mit einer Schulterhöhe von 55 cm, war bei Frodos Traumabehandlung eine große Hilfe. Sie lebte ihm vor, wie sich ein selbstbewusster Hund benimmt, und wenn Angst oder Panik ihn zu überwältigen drohte, leckte sie ihm beruhigend den Kopf.
Dann gab es noch den eigentlichen Hausherrn – Fritz, ein graugestreifter Kater mit weißer Blesse, Brust und Pfötchen. Jedenfalls hielt er sich selbst für die wichtigste Persönlichkeit in Haus und Garten.
Genug geträumt, dachte sie, das Bett ruft.
Dort wurde sie schon erwartet. Tom hatte das andere Bad benutzt und war schneller als sie.
Sie kuschelten sich aneinander und schliefen zufrieden ein.
Arina und Frodo lagen auf ihren Hundematratzen auf dem Boden an Mellis Bettseite, und Fritz schlich heimlich, als das Licht aus war und alles ruhig lag, zum Fußende von Mellis Bett und schmiegte sich dort eng an ihre Wade.
Mellis vorletzter Gedanke war, dass sie morgen Melody anrufen musste, um mehr über die verletzte Frau zu erfahren.
Ach ja, und für übermorgen war ja auch wieder ein Treffen der „Vierer-Bande“ vereinbart. Das durfte sie nicht vergessen.
Melli und Tom verabschiedeten sich nach dem Frühstück mit zärtlichen Küssen und ein paar verliebten Worten an der Haustür. Sie betrachtete ihn gern. Sein lässiger Chic hatte ihr schon von Anfang an gefallen, seine Figur und seine kraftvollen Bewegungen, seine Größe von 1,85 cm, die dunklen Haare und die blauen Augen, alles gefiel ihr. Sie fühlte sich leicht und glücklich. Aber so sehr sie Tom liebte – sie liebte auch die Zeit, die sie für sich allein hatte.
Nachdem sie ihren Kaffee in Ruhe ausgetrunken und die Zeitung zu Ende gelesen hatte, blickte sie auf und sah zwei Augenpaare gespannt auf sich gerichtet. Ja, Arina und Frodo kannten ihre Gewohnheiten und warteten nur noch auf das Signal: „Wollen wir los?“
Kater Fritz lag entspannt auf der warmen Marmorfensterbank, die durch den darunter installierten Heizkörper erwärmt wurde und genoss seine erhöhte Stellung. Er kannte das aufgeregte Gehabe der Hunde, wenn es zu einem Spaziergang ging und schüttelte wahrscheinlich jedes Mal innerlich den Kopf über soviel Unbeherrschtheit.
Man zeigt einem Menschen doch nicht so unverhohlen seine Freude! Bei aller Liebe bleibt man beherrscht und souverän – meistens jedenfalls. Wenn Katzenminze im Spiel ist, kann auch Fritz leidenschaftlich reagieren.
„Wohin gehen wir denn heute? Vorne raus oder hinten raus?“ Die Frage war berechtigt – und Arina hatte sie verstanden, weil diese Frage seit ihrem Welpenalter sehr oft kam. Die Hündin hatte ganz schnell verstanden, dass „vorne raus“ bedeutete: zur Haustür raus, durch den Vorgarten, auf die Straße mit dem Wendehammer, und anschließend kam dann der Mischwald.
„Hinten raus“ bedeutete: durchs Wohnzimmer, den Wintergarten, den hinteren Garten und das hintere Gartentor direkt in den Tannenwald. Wenn Arina nicht entscheiden sollte, hieß es zum Beispiel einfach: „Wir gehen vorne raus!“
Heute wollte Arina hinten raus, und Frodo wollte immer das, was Arina wollte.
Als sie aus dem hinteren Gartentor in den Tannenwald traten, trafen sie auf ihre direkte Nachbarin und Freundin Glenda Preston. Sie wurde begleitet von ihrem Airdaileterrier Aro und ihrem eineinhalbjährigen Sohn Max in einem leichten Buggy.
Max freute sich lautstark "Ina, Fodo!", als er Arina und Frodo erblickte und wollte sofort aus dem Wagen raus, um die Hunde zu streicheln, weil sie ein viel weicheres Fell haben als sein Hund Aro.
Glenda stellte Max auf die Erde, und er lief sofort auf die Hunde zu und versuchte, ihnen das Fell zu kraulen.
Arina wurde von kleinen Kindern nicht gern gestreichelt und wich immer aus. Aber damit Max wieder zufrieden in seinem Kinderwagen sitzen konnte, rief Melli ihre Hündin zu sich und kraulte Arina selbst am Hals, so dass auch Max das weiche Fell streicheln konnte, ohne dass Arina sich davonmachte. Dann kam dieselbe Prozedur bei Frodo, danach war Max zufrieden und ließ sich wieder in seinen Buggy setzen, damit alle schneller vorankamen.
Während des Spaziergangs sprach Melli mit Glenda über ihr gestriges Erlebnis. Glenda war auch entsetzt über die geschundene Frau, die keine Hilfe wollte und tippte auf eine geistige Behinderung oder einen Schock.
„Wie geht es Lisa und Anna?“, fragte Melli nach Glendas Töchtern.
„Anna muss ich gleich aus dem Kindergarten abholen, und Lisa geht, wie immer, gern zur Schule und stöhnt, wie immer, über die Hausaufgaben. Sie macht immer noch ein großes Drama darum und möchte, dass ich die ganze Zeit daneben sitze. Dabei kann sie alles!“
„Ich kann es mir so richtig vorstellen“, lächelte Melli. Sie hatte Lisas Dramatik schon oft miterlebt. „Vielleicht wird sie später ja mal Schauspielerin, da kann sie ihr dramatisches Talent so richtig ausspielen.“
Glenda lachte: „Wer weiß, wer weiß?!“
Als alle wieder in ihrem eigenen Zuhause angekommen waren, sah Melli auf dem Telefondisplay, dass Dr. Melody Silver-Onnington, die Erste Vorsitzende von „Every Little Helps“ eben angerufen hatte. Ein neuer Auftrag?
Sie rief sofort zurück.
„Melody, hast du etwas Schönes für mich?“
„Ja, eine Isabella Baker muss heute Nachmittag zum Hautarzt nach Salisbury gefahren werden. Das hat sonst ihre Tochter Sophie Thomson erledigt, weißt du, die Frau von Thomas Thomson, von dem großen Hof in Stonefield. Das ist zwar ein bisschen kurzfristig, aber seine Frau liegt in Southampton im Krankenhaus, und deshalb hat er mich angerufen.“
„Seit wann liegt sie im Krankenhaus?“
„Seit heute Nacht. Warum?“
„Weil ich gestern Abend gegen 22:00 Uhr eine verletzte Frau auf der Landstraße gefunden habe. Ich habe den Notarzt alarmiert, und sie ist ins Krankenhaus nach Southampton transportiert worden. Sie rief immer ‚Nein, nein’ und wollte weder Arzt noch Krankenhaus. Ist sie irgendwie verwirrt?“
„Dieser Mist …Hat er wieder ..!“, murmelte Melody vor sich hin, um dann in normaler Lautstärke weiterzusprechen: “Aber nein, verwirrt ist sie auf keinen Fall. Ich werde mich um sie kümmern und zum Krankenhaus fahren.“
Nachdem Melli die Adresse und Telefonnummer von Thomsons erfahren hatte, beendete sie sehr nachdenklich das Telefongespräch.
Was war so geheimnisvoll an diesem Unfall? Und warum sprach Melody in Halbsätzen?
Sie rief bei Thomsons an und erreichte Isabella Baker, die zum Arzt musste. Mrs. Baker war ihr sehr dankbar, dass sie sie fahren wollte, und sie verabredeten sich für 14:30 Uhr.
Das Navi ihres Autos führte Melli über die Landstraße an einsam gelegenen Höfen vorbei, bis sie endlich die richtige Adresse erreicht hatte. Zu dieser Jahreszeit sah alles sehr grau aus, und wenn sie daran dachte, auf so einem tristen, einsamen Hof leben zu müssen, bekam sie Gänsehaut.
Sie war schon öfter mal diese Strecke gefahren, zuletzt zu der Zusammenkunft von „Every Little Helps“ und zurück, aber ihr war noch nie aufgefallen, dass die großen Höfe so weit voneinander entfernt lagen, vielleicht, weil sie vorher auch noch nie nach einem Hof gesucht hatte.
Sie bog in die Hofeinfahrt ein und sah sich gleich einem großen, kräftigen Mann gegenüber, der aus einer Scheune kam. Er sah nicht schlecht aus, hatte volles, dunkles Haar, braune Augen, vom Sommer noch leicht gebräunte Haut, war circa 1,80 m groß und ungefähr vierzig Jahre alt.
Als Melli aus dem Auto stieg, kam er auf sie zu, die Daumen lässig in den Gürtelschlaufen seiner Jeans. Er lächelte sie gewinnend an und tönte mit voller Stimme: „Wen haben wir denn da?“
Dann betrachtete er ihre 1,70 m ungeniert von oben bis unten, verweilte etwas länger an den markanten Punkten wie ihren blonden Haaren, den grünen Augen, den vollen roten Lippen und den schlanken Beinen in den eng anliegenden blauen Jeans. Der Rest war wegen der Kälte mit einer gefütterten Lederjacke zum Glück verhüllt.
Sie kam sich vor wie ein Tier, das zum Kauf angeboten wird.
Melli ging ihm trotzdem höflich lächelnd entgegen und sagte: „Mein Name ist Melli Marshal, und ich will Mrs. Baker zum Arztbesuch abholen.“
„Ah, Melli! Ich bin Thomas Thomson, sagen Sie Tom zu mir.“
Auf keinen Fall! dachte sie, Tom ist mein Tom.
„Wo ist Mrs. Baker? Wir sind verabredet.“
„Kommen Sie mit, ich bringe Sie zu ihr. Wo kommen Sie her? Sind Sie schon lange hier in der Gegend? Ich hab Sie ja noch nie gesehen! Sie wären mir aufgefallen!“
Seine Fragen beachtete sie nicht. „Einen schönen Hof haben Sie! Oh, und einen schönen Hund! Ein Gordonsetter!“
Melli ging mit ausgestreckter Hand auf den Hund zu, der neugierig an ihrer Hand schnupperte.
„Ich sehe, Sie kennen sich mit Hunden aus! Ja, Bendix ist mein ganzer Stolz. Wir gehen zusammen auf die Jagd, und er gehorcht mir aufs Wort!“
Inzwischen waren sie in der Diele angekommen, wo eine kleine, gebrechliche Frau im Wintermantel mit einer Gehhilfe auf Melli wartete. Mit ihren weißen, ondulierten Haaren und dem schicken Mantel sah sie zugleich würdig, furchtsam aber auch kämpferisch aus.
„Danke, dass Sie mich fahren wollen. Wir können sofort los“, sagte sie freundlich zu Melli, und an ihren Schwiegersohn gewandt in kaltem Ton: „Bis später!“
Während der Fahrt sagte Mrs. Baker bedrückt: „Sonst hat mich meine Tochter immer gefahren, aber die ist jetzt im Krankenhaus.“
„Das tut mir leid. Ist es was Schlimmes?“
„Weiß ich noch nicht.“
„Ich frage deshalb, weil ich gestern Nacht hier auf dieser Landstraße eine verletzte Frau gefunden habe, die nicht allein aufstehen konnte. Ich habe den Notarzt gerufen, obwohl sie das nicht wollte, und der hat sie nach Southampton ins Krankenhaus gebracht.“
Mrs. Baker zog erschrocken die Luft ein und sagte nichts mehr.
„Mrs. Baker, wenn Sie wollen, kann ich Sie auch gern nach Southampton zu Ihrer Tochter fahren. Das muss auch niemand erfahren.“
„Nein“, rief sie, „das geht nicht, der kriegt doch alles raus!“ Sie hielt sich schnell die Hand vor den Mund, damit ihr nicht noch mehr Worte entschlüpften.
Ganz langsam legte sich kurz darauf eine schmale, zittrige Hand auf Mellis Unterarm. „Ich danke Ihnen sehr für den Vorschlag, aber heute geht das nicht. Vielleicht komme ich aber darauf zurück. Das muss alles sehr genau überlegt werden.“
Und dann fing sie an zu weinen.
Auf dem Parkplatz des Hautarztes hatte sie sich wieder beruhigt. Im Wartezimmer merkte Melli während des Blätterns in einer Zeitschrift die freundlichen, vertrauensvollen Blicke von Mrs. Baker auf sich ruhen. Wenn Melli sie ansah, lächelte die alte Frau, nickte und schaute dann wieder weg.
Sie überlegt bestimmt, wie sie das mit dem Besuch bei ihrer Tochter hinkriegen soll, dachte Melli ‚ihren Schwiegersohn hat sie ja sehr kalt verabschiedet. Es sieht fast so aus, als wenn der eigene Mann seine Ehefrau so furchtbar zugerichtet hat.
Auf dem Rückweg zum Hof sprachen sie nur über Belanglosigkeiten, über das Wetter, über Frau Dr. Silver-Onnington, die früher die Hausärztin von Mrs. Baker und ihrer Familie gewesen war und einiges mehr.
Als sie auf dem Hof eintrafen, kam Thomas Thomson wieder aus der Scheune, und Melli meinte, einen lauernden Ausdruck in seinen Augen wahrzunehmen. Er versuchte wohl zu erkennen, ob seine Schwiegermutter „geplaudert“ hatte.
„Melli, kann ich Ihnen noch was anbieten? Ein Bier oder einen Kaffee?“ fragte er freundlich lächelnd.
„Nein, danke, ich muss schnell nach Hause.“
Sie verabschiedete sich zügig von beiden und war froh, dieser merkwürdigen Stimmung entkommen zu sein.
Als Melli in ihre ruhige Straße fuhr und sich ihrem Haus im Wendehammer näherte, freute sie sich auf ihr schönes Zuhause. Sie fuhr in die Einfahrt neben dem Haus, öffnete das Garagentor per Fernbedienung, und als sie in ihrem sicheren Hafen war, schloss sie das Tor wieder elektrisch. Von der Garage aus hatte sie direkten Zugang durch eine Tür ins Haus. Das war vor allem abends oder nachts sehr angenehm. Sie war zwar kein ängstlicher Typ, aber sie war ihrem verstorbenen Mann Peter immer wieder sehr dankbar, dass er so auf Sicherheit bedacht war und alles dafür getan hatte, um sie und sich zu schützen.
Sie trat in die große, gemütliche Küche und fand Toms Zettel auf dem Tisch: „Ich habe deine Hunde! Lösegeld: tausend Küsse!“
„Mein kleiner Witzbold!“, musste Melli lächeln. Es tat gut, einen humorvollen Mann zu haben. Das machte das Leben viel leichter.
Da er mit den Hunden unterwegs war, konnte sie noch schnell Melody anrufen. Sie ging mit dem tragbaren Telefon ins Wohnzimmer, setzte sich in einen Sessel und fragte, ob Melody nicht tagsüber mal vorbeikommen könnte, weil sie einiges zu besprechen hätten. Sie verabredeten sich für den nächsten Vormittag.
Als Tom, ihr Tom, mit Arina und Frodo wiederkam, lief sie ihm entgegen, wurde natürlich von den erfreuten Hunden erstmal aufgehalten, dann konnte sie ihn endlich umarmen.
„Was ist los, mein Engel? So lange war ich doch gar nicht weg! Oder willst du sofort das Lösegeld bezahlen?“
„Ach, Tom! Ich glaube, ich habe gestern einen Teil einer schrecklichen Ehe gesehen – und heute den anderen Teil.“ Melli erzählte die heutige Begegnung mit der Mutter der gestern aufgefundenen Verletzten und wahrscheinlich ihrem Ehemann, diesem Thomas, den sie Tom nennen sollte!
„Ja, es ist traurig, dass es in der heutigen Zeit immer noch Männer gibt, die sich wie mittelalterliche Herrscher in ihrem Reich aufführen. Leider können die Behörden nichts unternehmen, wenn die Frau ihren Mann nicht anzeigt.“
„Und was wird dann unternommen? Entweder behält die Frau die Wohnung, und der Mann darf sich ihr und der Wohnung nicht nähern, oder sie zieht an einen unbekannten Ort. Was ist das für ein Leben? Ganz abgesehen davon, dass ein gewalttätiger Mann sich von solchen Kleinigkeiten kaum aufhalten lässt.“
„Ich habe da leider auch kein Patentrezept, Melli. Sei froh, dass du